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Der Eine – Mr. Proctor-Gould – ist ein findiger Wanderer zwischen den Welten: er unterhält – im Dienste der Völkerverständigung, versteht sich – in Moskau einen gut florierenden Servicebetrieb, indem er westlichen Institutionen vor Ort den jeweils passenden Alltagsrussen für ihre Völkerverständigungsveranstaltungen vermittelt. Der Andere – Mr. Manning – sitzt in Moskau an seiner Doktorarbeit, bis Mr. Proctor-Gould ihn gegen ein verlockendes Honorar als Übersetzer in seine vielfältigen Geschäfte einspannt. Die allerdings beginnen Manning recht bald höchst suspekt zu werden: Steckt am Ende der Geheimdienst mit drin? Und wenn ja, welcher? Geht es um Spionage, Schmuggel, den illegalen Vertrieb von Manuskripten und Tantiemen? Bevor es für die beiden vollends ungemütlich zu werden verspricht in dieser spannenden, heiterernsten Spionagesatire, rettet sie ein Düsenjet gnädig in die Lüfte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2016
Michael Frayn
Zwei Briten in Moskau
Roman
Aus dem Englischen von Renate Sommer
FISCHER Digital
NATÜRLICH SIND DIE FIGUREN
UND SITUATIONEN DIESES BUCHES
FREI ERFUNDEN.
Mannings alter Freund Proctor-Gould war in Moskau und wollte sich unbedingt mit ihm treffen. So hatte man es Manning wenigstens mitgeteilt. Er freute sich auf die Begegnung. Er besaß nicht viele Freunde in Moskau, schon gar nicht alte Freunde und schließlich überhaupt keinen, weder in Moskau noch irgendwo sonst auf der Welt, der sich Proctor-Gould nannte.
Und trotz alledem fing Proctor-Gould langsam an, ihm vertraut zu erscheinen. Chylde von der Botschaft zum Beispiel, der Manning hin und wieder zu den trostlosen Cocktailparties einlud, die er und seine Frau für die englische Kolonie gaben, hatte Proctor-Gould getroffen; außerdem jemand von der Reuter-Agentur und schließlich Pylny, ein walroßbärtiger Greis, der Propaganda-Schriften in englischer Sprache publizierte und sich liebedienerisch an die Besucher aus dem Westen heranpirschte. Sie alle sagten, Proctor-Gould habe große braune Augen und ziehe sich beim Sprechen unentwegt an seinem Ohrläppchen. Sie machten es vor und versuchten damit, Manning zu helfen, sich an Proctor-Gould zu erinnern. Dabei lächelten sie, als habe das Bild von Proctor-Gould für sie irgendwie etwas Rührendes. Sie wußten, daß er im Hotel ›National‹ abgestiegen war und sich aus geschäftlichen Gründen in Moskau aufhielt. Aber keinem von ihnen hatte er gesagt, daß Manning sich mit ihm in Verbindung setzen sollte.
Proctor-Gould kam langsam näher. Eines Morgens sagte Hurwitz, er habe ihn gesehen. – Hurwitz war ein schlaksiger Biochemiker aus der Tschechoslowakei und bewohnte das Zimmer neben Manning im Sektor B, dem Flügel des Universitäts-Wolkenkratzers auf dem Leninhügel, den man für Ausländer reserviert hatte. Als er zu Manning ins Zimmer kam, war er lediglich mit einer Pyjamahose bekleidet und putzte sich gerade die Zähne. Er spuckte kleine Zahnpasta-Sprenkel auf Mannings Teppich und an die Wände.
»Hab’ gestern einen alten Freund von Ihnen getroffen«, sagte er. Die Bürste zwischen seinen entblößten Zähnen machte sein ohnehin recht sonderbares Russisch noch unverständlicher.
»Ah ja?« sagte Manning.
Er und Hurwitz vertrugen sich nicht allzu gut. Manning war nahezu pedantisch ordentlich und versuchte, sich durch eine kleine Festung der Penibilität gegen die riesenhafte Wirrnis Rußlands abzuschirmen. Hurwitz und seine Gewohnheiten bildeten einen Teil dieser Wirrnis, und ihre beiden Welten überschnitten sich aufs unglücklichste im Badezimmer, das sie miteinander teilten.
»Er stand unten am Empfang, als ich gestern abend nach Hause kam«, sagte Hurwitz. »Sie waren nicht da, deshalb ließ man ihn natürlich nicht durch.«
Er ging aus dem Zimmer, spuckte ins Waschbecken und kam wieder zurück.
»Er sprach kein Russisch. Wir haben es dann auf deutsch versucht, aber das konnte er auch nicht besonders. Na egal, jedenfalls hat er mich gebeten, Ihnen das hier zu geben.«
Er reichte Manning eine Visitenkarte, vollgespuckt mit Zahnpasta und feucht von seinen nassen Händen. Darauf stand in kyrillischen Lettern:
GORDON PROCTOR-GOULD M.A. (CAMBRIDGE)
Mißtrauisch betrachtete Manning die Karte. Warum hatte sein guter alter Freund Gordon Proctor-Gould eine russische Visitenkarte? Und warum hinterließ er auf ihr keinerlei Nachricht für ihn?
»Ich glaube, Ihr Freund hatte was mit seinem Ohr«, sagte Hurwitz. »Er zog immer dran, so – bum, bum, bum.«
»Ja, schon gut. Vielen Dank.«
»Ein Mädchen war bei ihm. Er hatte seinen Arm um sie gelegt. Sie heulte.«
Als Hurwitz gegangen war, wischte Manning mit einem Schwamm die Zahnpasta vom Teppich und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Schlecht gelaunt lief er über die kilometerlangen, mit blauen Teppichen ausgelegten Korridore, dann die breiten Treppen hinunter und schließlich durch die halligen Marmorfoyers. Die Sache mit Proctor-Gould war typisch, dachte er. Alles in Moskau war so: unnötig kompliziert und immer nur bis zur Hälfte erklärt. Die elementarsten Dinge des Lebens mußten gegen die unendliche Schwerkraft der Gleichgültigkeit und der Schlamperei behauptet werden. Immer gab es zwei linke Schuhe und sechs Finger an einer Hand. Manning war todmüde, wie jetzt so oft, und hätte sich gern gleich wieder hingelegt.
Als er endlich nach draußen kam, schien ihm alles noch verwirrender. Es war ein strahlender Tag. Der letzte Schnee war fast überall geschmolzen. Der milde nasse Winter hatte sich plötzlich der ersten wunderbaren Wärme ergeben, die manchmal dem Frühling voraneilt. Manning mißtraute alldem; nicht einmal der Winter war durchschaubar und frei von Zweideutigkeiten.
Als er über den großen, leeren Platz vor der Universität schritt, folgten ihm starr und gleichgültig die Blicke der monumentalen, so nutzlosen Frauenstatuen, die über ihm Hammer und Zahnrad schwangen. Alles schien übertrieben, maßlos und aus den Angeln geraten. Am Ende des Platzes vor den strengen Ziergärten bewegten sich vereinzelte Fußgänger wie Beduinen hin und her, die Wüsten leerer, brauner Blumenbeete und vertrockneter Tarmakadam voneinander trennten. Sie wirkten nicht größer als Ungeziefer. Die Behörden hätten DDT-Puder gegen Menschen streuen sollen, um sich ihrer zu entledigen.
Er spazierte durch den Park. Die Luft war mild. Betagte Gärtnerinnen dösten hier und da auf den Marmorbänken in der Sonne; ihre Rechen und Spaten staken neben ihnen in der Erde. Auf Manning wirkte ihr Anblick merkwürdig rührend. Wieder andere lagen ausgestreckt im nassen Gras am Ende des Gartens neben der kleinen weißen Kirche. Die Kirche stand direkt am Saum der Gartenanlage. Dahinter fielen die Wiesenhügel und Birkenwälder steil ab, hinunter in den großen blitzenden Silberbogen des Flusses. Dann, wie gefangen und festgehalten von mäandrischen Linien, die Kathedralen, Hochhäuser, Parks, Sportpaläste und rauchenden Fabrikschornsteine Moskaus. Manning starrte das Panorama an. – Herrgott, was für eine unerträgliche Stadt! – Und dennoch waren ihm seine Gefühle für sie nie ganz klar. Drunten, genau in der Mitte des Flusses, glitten gerade zwei blitzweiße Dampfer aneinander vorüber. Ein Zug mit wohl tausend Güterwagen rangierte bedächtig im Süden der Stadt und pustete helle Schneebälle von Rauch in den Sonnenschein. Der Lärm drang zu ihm herauf und verlor sich wieder mit dem leichten Wind in der Ferne.
Manning dachte an den Sommer, und plötzlich überkam ihn Sehnsucht. Er dachte an weite Reisen, an kalte Getränke, serviert an Tischen in der Sonne, und an Mädchen mit weißen Seidentüchern über ihren aufgesteckten Haaren und leichten Baumwollkleidern auf entzückenden sonnengebräunten Körpern. Er wollte irgendwo hinfahren, sich verlieben. Ja, diesen Sommer würde er ganz sicher mit einem sonnengebräunten Mädchen in einem weißen Baumwollkleid, das ihn manchmal mit besorgten Augen anschaute und dann seine Hand an ihr Gesicht legte, eine Liebelei beginnen …
Ein prächtiger Morgen für die Komödianten in der Untergrundbahn.
»Genossen, drückt mich doch nicht so«, bettelte ein kleiner Mann, der im Gedränge des Zuges nach Frunzenskaja gefangen war. »Ich bin doch keine Ziehharmonika.«
»Verdammt noch mal, dann hören Sie doch endlich auf zu jammern«, sagte ein großer Mann, der ihn wie eine Reißzwecke an die Tür drückte.
An manchen Tagen waren sie alle Komiker. Dann wieder lasen sie nur ernste Bücher. Manning mußte den Zug nehmen, weil er in einer der Fakultäten arbeitete, die noch immer nicht von der Innenstadt in das riesige Mausoleum auf dem Leninhügel verlegt worden waren. Einen Augenblick ergriff ihn Panik, als er sah, daß seine Aktentasche, die die kostbaren Notizen seiner Doktorarbeit über ›Dezentralisierung der Administration für Öffentliche Verkehrsmittel‹ enthielt, zwischen zwei dieser Spaßvögel eingeklemmt und ihm fast aus der Hand gerissen wurde.
Von Zeit zu Zeit überfiel ihn die schreckliche und quälende Vorstellung, daß vielleicht mal auf irgendeine Weise der einzige dokumentierte Beweis seiner achtmonatigen harten Arbeit in der Stadt wie Wasser im Sand vor seinen Augen verschwinden könnte. Er fühlte, daß er sie beschützen müsse. Wie häßlich sie auch immer aussehen mochte, er wollte sie pflegen, aufpäppeln und zusehen, wie sie zur vollen Reife anwuchs. Sie schaute aus wie seine Lebensarbeit. Er hatte sie in Cambridge zur Welt gebracht, für ein Jahr an der Schule für Staatsbürgerkunde in London gestillt und schließlich mit nach Moskau genommen, damit sie dort groß und stark werde. Aber sie war noch immer recht mager. Nächstes Jahr wollte er sie in ein warmes Klima bringen – vielleicht nach Berkeley oder Akkra. Diese kränkelnde Dissertation war eine furchtbare Last. Aber wenn sie dann schließlich erwachsen und zu einem ›Doktor der Philosophie‹ geworden war, dann würde sie ihn bis in sein hohes Alter begleiten.
An der Lenin-Bibliothek stieg er aus und lief die Mokhowaja-Straße bis zu dem Manegeplatz hinauf – ein ungeheures Terrain für Paraden, ohne den Glanz einer Parade. Fast verschluckt von diesen Dimensionen, standen winzig kleine Taxis und Omnibusse in der Sonne. Eine Schar von Tauben flatterte zu Boden, landete und trippelte dann in der Mitte der großen Asphaltfläche auf und ab. Dahinter erhoben sich die roten Mauern des Kremls wie eine stumme Kette von Bergen. Nur am Rande dieser Einöde tummelten sich die Menschen auf dem Bürgersteig geschäftig. Autorisierte Straßenhändler verkauften Eis, Kwas, das beliebte Sommergetränk, und heiße Pfannkuchen. Ein Mann in einem fleckigen blauen Anzug torkelte mit geschlossenen Augen und schlaff herunterhängenden Armen auf Manning zu. Erst im letzten Augenblick öffnete er die Augen, sah Manning vor sich und blieb stehen. Er wich tolpatschig zur Seite aus, machte einen Schritt zurück und stolperte über die niedrige Mauer vor der historischen Fakultät und fiel der Länge nach in die Hecke. Dort blieb er liegen, und nur noch seine Stiefel ragten aus dem Gebüsch auf den Bürgersteig hinaus. Niemand nahm Notiz von ihm.
Zwischen einer Postkartenbude und einem Pfannkuchenstand bog Manning in einen kleinen Privatweg ein, der auf einen Hinterhof führte und von unregelmäßigen Gebäude-Rückfronten umgeben war. Zwei große Holzschuppen und ein Schober für Brennholz nahmen fast den ganzen Platz ein. Hier zeigte sich die Sonne selten. Die Hauswände waren von der lange gespeicherten Nässe des Winters durchtränkt.
In einer Ecke des Hofes eine dunkelbraun getünchte Tür, von der die rissig gewordene Farbe abblätterte. In der oberen Hälfte zugestaubte Fensterscheiben, der kleine kupferne Türgriff hing schlaff herab, durch die langen Jahre locker geworden und blankgescheuert. Neben der Tür ein Schild. Auf dem schwarzen; glänzenden Untergrund kündeten altmodisch-verschnörkelte Goldbuchstaben an:
FAKULTÄT FÜR VERWALTUNGSWISSENSCHAFTEN
Das Schild war von oben bis unten gesprungen.
Als Manning eintrat, glitt ihm die schwere Tür aus der Hand und fiel laut krachend ins Schloß. Die Fensterscheiben klirrten im bröckeligen Kitt. Die Innentür rutschte ihm auch weg und knallte hinter ihm zu. Drinnen im Korridor hockte auf einem zerbrochenen Schemel ein sauergesichtiges altes Weib. Die dicken Brillengläser waren ihr auf die Nase gerutscht, und die Hände hielt sie in ihren Jackenärmeln verschränkt. Manning versuchte wie immer, ungeschoren an ihr vorbeizukommen.
»Ausweis«, befahl sie, wie immer.
»Sie kennen mich doch«, sagte Manning.
»Ich kenne niemand.«
Manning kramte in seiner Tasche herum und stieß einen unwilligen Seufzer aus, um ihr seinen Ärger zu zeigen. Früher hatte er sie jedesmal angeschrien, aber es hatte ihn ermüdet, nun seufzte er nur noch.
»Es war jemand da gestern abend, der Sie gesucht hat«, sagte die Alte, während sie wartete, um wieder einmal zu erfahren, wer Manning sei.
»Ein Engländer?«
»Wie soll ich das wissen, er sprach kein Russisch.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Weggeschickt. Er hatte keinen Ausweis.«
Er zeigte ihr seinen Passierschein von der Universität und stieg die kahlen Treppen zum ersten Stock hinauf. Die vierte, fünfte, siebte und elfte Stufe knarrten unter seinen Füßen. Das ganze Gebäude war die Geräuschkulisse von Akademikern bei der Arbeit in ›Admin-Upraw‹. Hier die gleichmäßige, monotone Geschäftigkeit eines Dozenten – zweifellos Ginsberg, ›Arbeitsrecht‹; da die spürbare Terminnot und das Zögern eines anderen – Rubeschtschenskaja, Professorin für Sozialstatistik, der es nie gelang, ihre statistischen Beispiele an der Wandtafel aufzuschlüsseln; dann der stetige, unerschütterliche Pulsschlag von Korolenko, dem Dekan der Fakultät, der gerade seine vielbesuchte Vorlesung über die ›Notwendigen Attribute eines sowjetischen Verwaltungsbeamten‹ hielt. Scharren der Füße auf nackten Brettern, respektvolles Lachen, grölendes Gelächter. Und schließlich alles durchdringend der Geruch von ›Admin-Upraw‹, dieser lästige, penetrante Geruch von dünner Kohlsuppe und fettem Pirozhki, der aus der Kantine im Keller heraufdrang.
Ich muß hier weg, dachte Manning, und zwar schleunigst. Vielleicht könnte ich ein paar Tage nach Finnland fahren. Ob sie mich wohl weglassen würden? Er versuchte, sich wieder die Bräune der Schenkel vorzustellen, die er auf dem Leninhügel vor sich gesehen hatte, und dann die Leichtigkeit der Baumwollkleider, die sie so wenig zu verbergen vermochten. Aber sie entschwanden ihm wieder. Im Treppenhaus und in den Korridoren von ›Admin-Upraw‹ gab es kein Tageslicht, und hier merkte man nicht, daß draußen der erste warme Tag des Jahres war.
Im ersten Stock von ›Admin-Upraw‹, in einem kleinen, unordentlichen Büro, unter dem Porträt von Lenin, auf dem sich von der linken Ecke aus langsam braune Flecken ausbreiteten – dort saß Sascha Zaborin. Er blickte auf, noch ehe Manning ganz im Zimmer war. Sein unruhiges, sensibles Gesicht spiegelte schon im voraus alle nur mögliche Vorsicht und Aufmerksamkeit für den Besucher, wer immer es dann sein mochte. Als er sah, daß es Manning war, lächelte er. Es war ein warmes, besorgtes, väterliches Lächeln.
»Paul«, sagte er. »Sie kommen spät. Ich dachte, Sie wollten heute morgen in Romms Vorlesung gehen.«
»Ich bin statt dessen in der Sonne spazierengegangen.«
»Das muß schön gewesen sein.«
»Ja. Es tut mir leid, Sascha.«
»Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen, Paul. Ich habe es Ihnen vorgeschlagen, weil ich dachte, es würde Ihnen gut tun, nicht mir.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
Sie sprachen englisch. Sascha konnte mindestens so gut Englisch wie Manning Russisch, und zudem hatte er das Gefühl, es sei seine Pflicht, eher dem Gast der Universität gefällig zu sein.
Sascha war ein jugendlicher Mann, nur ein paar Jahre älter als Manning. Er war groß, hatte eine hohe Stirn, über der spärlich ein trockener, dunkler Haarschopf wuchs, der nie glatt anlag und den der Wind auf dem Weg zur Fakultät nun vollends durcheinandergeweht hatte. Seine konsequente Gewissenhaftigkeit hatte Falten um seine Augen hinterlassen.
Er sah aus wie ein dunkler, besorgter Eisenstein. Man wäre deshalb nicht erstaunt gewesen, hätte man ihn, mit einer Soutane bekleidet, durch irgendwelche Armutsviertel schreiten sehen, wo ihn eine Schar bewundernder Kinder begleitete. Manning nannte ihn manchmal Pater Zaborin, ein Scherz, den Sascha nicht sehr schätzte.
»Nun, lassen wir das«, sagte er. »Wie kommen Sie voran?«
»Nicht besonders gut.«
»Nein? Warum, was ist los?«
Manning stellte seine Aktentasche ab und ging ans Fenster. Er blickte auf das ihm so vertraute Bild – die Mauer, über die sich lange Zungen von Feuchtigkeit zogen, die wie Hängepflanzen aussahen. Mitten hindurch lief ein Abflußrohr, das den Durchmesser eines Ascheimers hatte und aus dem es ununterbrochen in den Schlamm eines kleinen Innenhofes tröpfelte. Den blauen Himmel konnte er nur sehen, wenn er das Gesicht ganz nah an die Scheibe hielt und seinen Hals verrenkte.
»Ich weiß es nicht. Allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben.«
»Sie sind schnell unzufrieden, Paul. Aber an einem Tag wie diesem, wo man den Sommer nahezu in der Luft fühlen kann …«
»Dann kommt’s heraus.«
»Paul, Sie müssen erkennen, daß Ihre Unzufriedenheit kein objektives Phänomen ist. Sie ist ein subjektiver Zustand, den Sie kontrollieren können, wenn Sie es wirklich wollen. Schließlich ist ein Mann Herr seiner selbst. Denken Sie mal an Bazarow, der sagte: ›Der, der sein Leiden verachtet, wird es überwinden.‹«
»Und sehen Sie, wie’s ihm erging – er ist gestorben.«
Sie schwiegen, und Manning merkte, als er sich nach einer Weile von dem tröpfelnden Abflußrohr im Hof abwandte, daß Sascha ihn außerordentlich beunruhigt ansah. Er hatte es vermutet.
»Sie machen sich wieder einmal Sorgen um mich, nicht wahr, Sascha?«
»Ich muß manchmal ein wenig besorgt sein, Paul. Ich habe das Gefühl, daß diese unschöpferischen Launen Ihre Arbeit beeinflussen. Und natürlich spüre ich darin auch einen leisen Vorwurf für mich.«
»Sascha, nun fangen Sie nicht wieder damit an.«
»Ich weiß, daß es nicht leicht ist, in einem fremden Land zu leben. Und ich habe dafür zu sorgen, daß Sie sich hier wohl fühlen.«
»Das ist es eben, Sascha. Das ist nicht Ihre Aufgabe, sondern meine. Sie sollen mich nur in Frieden lassen und nicht immer wieder von morgens bis abends diese Umstände machen.«
»Paul, Sie waren ganz durcheinander, als Sie durch diese Tür kamen.«
»Na gut, und jetzt ist es noch schlimmer.«
Sascha blickte Manning noch immer aufmerksam an. Dann lächelte er plötzlich.
»Ich verordne mehr Zerstreuung«, sagte er. »Ich werde uns Theaterkarten besorgen.«
Manning fühlte sich wie ein verwöhntes Kind und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft.
»Ich will nicht ins Theater gehen«, sagte er, »es gibt nichts als Blödsinn.«
Sascha war verletzt. Sein Gesicht verkrampfte sich für einen Augenblick, ehe er dann nach Bazarows Prinzip sein Leiden verachtete, es überwand und Manning verzieh. Immer wieder verletzte ihn Mannings Verachtung für nationale Institutionen, da man Sascha gelehrt hatte, stolz auf sie zu sein. Einmal hatte er zwei Tage lang nicht mit ihm gesprochen, weil Manning, verärgert wegen irgendeines Scharmützels mit der Bürokratie, gesagt hatte, Schweine würden in England besser behandelt als die Menschen in Rußland. Schließlich hatte Sascha ihm geantwortet, mit fast verstörtem Staunen, das manchmal seinen Schmerz zu lindern schien: »Das ist einfach nicht wahr, Paul. Der Mensch in der Sowjetunion spürt, daß man ihn braucht, und das ist der größte Respekt, der irgend jemandem gezollt werden kann.«
Jetzt schlug er ein Konzert vor.
»Ich will auch nicht ins Konzert gehen«, sagte Manning. »Ich will für eine Weile von Moskau weg.«
»Gut, ich werde etwas arrangieren. Vielleicht könnten wir noch einmal nach Sagorsk fahren. Oder wenn das Wetter so warm bleibt wie heute, könnten wir vielleicht einen Ausflug an die Oka machen und dort picknicken.«
»Ich will aus dem Land raus. Für eine Woche nach Finnland.«
»Was – jetzt?«
»– So schnell wie möglich.«
»Ich weiß nicht, ob sich das machen läßt, Paul. Warum wollen Sie nicht bis zu den Sommerferien warten? Ich weiß nicht, was das Komitee dazu sagen würde, wenn Sie jetzt aus Rußland fortwollen.«
»Sie könnten ja anfragen.«
»Ja, das stimmt.«
»Man würde alles genehmigen, was Sie vorschlagen. Sie könnten mich für eine Weile von der Leine lassen.«
Sascha sah beunruhigter aus denn je.
»Sehen Sie mal, Paul«, sagte er, »ich bin persönlich für Sie vor dem Komitee verantwortlich. Ich habe dafür zu sorgen, daß Sie mit Ihren Recherchen gut vorankommen, solange Sie sich hier in unserem Land befinden. Also, es ist einfach nicht wahr, daß ich Sie an der Leine halte. Sie sind vollkommen frei. Ich verlange von Ihnen nur, daß Sie mir Bescheid sagen, wo Sie gewesen sind, und daß Sie mit mir reden, bevor Sie irgendwelche größeren Reisen unternehmen. Ist das nicht die Wahrheit?«
Es kam der Wahrheit nahe. Manning machte seinem Ärger mit einem tiefen Seufzer Luft. Es war nicht leicht, sich über die Art, wie Sascha ihn behandelte, zu beklagen. Und er schämte sich, daß er Saschas Herzlichkeit und Aufmerksamkeit mit so undankbarer Gereiztheit erwiderte.
»Ehrlich gesagt, im Augenblick habe ich sowieso nicht genug Geld, um nach Finnland zu fahren«, sagte Manning düster und blickte von neuem aus dem Fenster.
Sascha schwieg.
»Es tut mir leid, Sascha.«
»Wenn Sie sich entschließen, doch zu fahren«, antwortete er, »dann werde ich selbstverständlich für Sie fragen.«
»Nein, nein, es war ja nur so eine Idee.«
»Ich will nur Ihr Bestes, Paul.«
»Das weiß ich. Es tut mir leid.«
Sascha sah ihn mit seinen sanften Augen voll ehrlicher Sympathie an.
»Ich kenne dieses Gefühl, Paul«, sagte er. »Diese große Unruhe. Mich überfällt sie auch an so einem Tag wie heute. Ich werde Ihnen sagen, was wir tun. Wir werden heute abend ins Konservatorium gehen. Mein Freund Yuri Schtschedrin – ich habe Ihnen schon einmal von ihm erzählt; als Jungen haben wir Duette gesungen – wird dort heute abend zwölf Schubert-Lieder vortragen. Wir werden unseren Kummer vergessen, wir werden sowjetische öffentliche Einrichtungen vergessen. Wir werden Moskau vergessen.«
Angeregt, wie immer, wenn er Musik hörte oder an Musik dachte, begann er, in seinem süßen weichen Tenor den ›Frühlingsglauben‹ zu singen: ›Die linden Lüfte sind erwacht …‹
»Das wäre nett«, sagte Manning.
»Und danach könnten wir in den Georgian-Grill in der Arbat gehen, ein Schaschlik essen, eine Flasche Wein trinken und uns hübsche Mädchen anschauen.«
»Ich freue mich darauf«, sagte Manning.
Und plötzlich tat er es wirklich. Da war er wie ein Kind, das eine kleine Freude vor sich hat. Auf manche angenehme oder unangenehme Weise gab ihm Sascha oft das Gefühl, ein Kind zu sein. Er nahm seine Aktentasche auf und ging zur Tür.
»Verzeihen Sie, daß ich mich so kindisch benommen habe!« Sascha winkte seine Entschuldigung ab.
»Übrigens«, sagte er, als Manning die Tür öffnete, »ich habe gehört, daß gestern abend jemand hier war, der Sie sprechen wollte.«
»Die Portiersfrau hat es mir schon erzählt.«
Sascha sah ihn fragend an, aber als Manning keine weitere Erklärung gab, sagte er: »Das wäre dann wohl Ihr Freund Gordon Proctor-Gould, nicht wahr, Paul?«
»Meinen Sie?«
»Ich dachte, es könnte sein. Ich glaube, er versucht, Sie zu erreichen.«
»Sie haben ihn getroffen, nicht wahr, Sascha?«
»Nein, nein, ich habe nur von ihm gehört.«
»Durch wen?«
»Von irgendwelchen Freunden. – Sie werden in der Bibliothek sein, nicht wahr, falls er sich heute wieder melden sollte?«
»Ja.«
»Vielleicht könnte ich Sie beide irgendwann einmal zum Essen einladen. Sie wissen, daß ich mich immer freue, wenn ich jeden Ihrer Freunde kennenlerne, Paul.«
»Ja«, sagte Manning, »ich weiß.«
»Ganz besonders einen so guten alten Freund wie Gordon Proctor-Gould.«
»Ganz recht. Sie werden bestimmt nicht der letzte in Moskau sein, der ihn trifft, Sascha, das versichere ich Ihnen. Ich selbst habe ihn noch nie gesehen.«
Manning schloß die Tür, ging den Korridor entlang und dann auf seinen gewohnten Arbeitsplatz in der Fakultätsbibliothek. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Sascha würde nun den ganzen Morgen wegen Proctor-Gould beunruhigt sein.
Wieder ging ein kristallklarer Tag zu Ende. Die späten Schatten breiteten sich über die großen Zentralplätze aus, deckten sie schließlich vollkommen zu und ließen nur noch die Hochhäuser im blaß-goldenen Licht der letzten Sonnenstrahlen leuchten.
An den Springbrunnen vom Swerdlow-Platz stand schon Katerina und wartete auf Manning. Sie warf kleine scheue, nervöse Blicke um sich wie ein Vogel. Sie trug noch immer ihren Wintermantel und die braunen Wollsocken. Unter ihren aufgesteckten Zöpfen war ihr Gesicht weiß und rosa – ein Wintergesicht. Sie sah Manning, als er die Straße überquerte, und lief ihm mitten über die Fahrbahn entgegen. Sie legte einen Augenblick ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihn hastig und scheu an.
»Du siehst so groß und dunkel und unzufrieden aus«, sagte sie und überließ es ihm, sie am Ellbogen durch den Verkehr zu leiten. »Du mußt lernen, mit dir selber auszukommen.«
»Es sind die Umstände um mich, die mich unzufrieden machen.«
»Die Umstände sind ein Teil von dir. Die Menschen tragen ihr Leben mit sich umher wie Schildkröten ihren Panzer.«
Manning empfand diesen düsteren Aphorismus als einen Trost. Obgleich er dachte, sie hätte ebensogut sagen können: Die Umstände sind unwichtig. Die Menschen werfen ihr Leben ab wie Schlangen ihre Haut. Das hätte er als genauso tröstend empfunden.
Ohne bestimmtes Ziel, freundschaftlich, doch ohne einander zu berühren, schlenderten sie schweigend durch die Stadt. Sie verließen die überfüllten Bürgersteige des Zentrums und liefen planlos durch Straßen, an Appartementblocks vorbei, von denen die braune Farbe abblätterte. Aus den Fenstern der kleinen Kellerwerkstätten drangen Hitze, Lärm und der Geruch von geölten Maschinen herauf.
Manning dachte, daß Katerina etwas jünger als er sein mußte. Aber er wußte es nicht. Er wußte überhaupt sehr wenig von ihr und dem Leben, das sie mit sich herumtrug. Über diese Dinge sprachen sie nie. Er wußte nicht einmal, wo sie wohnte. Er schrieb ihr postlagernd an das Hauptpostamt und schlug für sie einen Treffpunkt vor. Dann liefen sie ein oder zwei Stunden durch die Straßen – manchmal im Gespräch, manchmal schweigend.
»Sieh dir den Himmel an«, sagte sie, »Blau und Gold von Horizont zu Horizont. Jetzt blickst du in die Iris von Gottes Auge.«
»Im Ernst, Katja?«
»O ja, der Himmel ist die Iris Gottes. Aber er ist auch Gottes Traurigkeit und sein unendliches Alter. Alle Eigenarten Gottes sind ein Teil von Ihm.«
»Und trotzdem habe ich dich sagen hören, Katja, daß Gott in uns ist.«
»Ja – Er in uns und wir in Ihm. Wir sind Gott, Paul.«
»Aber wir sind frei in der Entscheidung, Ihm zu gefallen oder zu mißfallen?«
»Natürlich. Wir sind in jeder Beziehung vollkommen frei. Aber es ist logisch, daß unsere Freiheit in Gottes Freiheit einbegriffen sein muß.«
Katerina sprach oft über Gott. Sie wurde Seiner an jeder Straßenecke gewahr, fühlte Seine Anwesenheit in der Luft, die sie in ihre Lungen zog, und sah Seine Hände von Hochhäusern durchbohrt. Manning hörte sie gern über Gott sprechen, und er trieb sie immer wieder durch Fragen an. Er liebte es, sich heißgelaufene Drehbänke in Kellerwerkstätten oder die Trägheit vorzustellen, mit der die Maurer in den öffentlichen Gebäuden arbeiteten – für ihn war all das durchdrungen von menschlichen Merkwürdigkeiten und Sensibilitäten. Und er versuchte genauso gern, sich die schaubare Welt vorzustellen, von der er selbst, Katja und all die Menschen, die auf ihrem Nachhauseweg von der Arbeit aus den Bussen quollen, ein Teil waren – so, als seien sie nichts weiter als ein kompliziert ausbalanciertes Netz von elektrischen Drähten. Das war eine erstaunliche Vision – als wenn man plötzlich einen Blick auf sich selber von hinten durch einen zweiten Spiegel erhaschte.
»Du weißt«, sagte er, »von alldem, was du über Gott sagst, verstehe ich kein Wort.«
»Ich auch nicht. Das können wir nicht erwarten. Alles, was wir tun können, ist, Beschreibungen, Definitionen zu wagen, die dann unfaßbare Unendlichkeiten und unlösbare Widersprüche heraufbeschwören, und diese mit Demut zu betrachten.«
Manchmal sprach Katerina von den Leiden der Menschen, die sie kannte; ganz besonders von denen ihres Freundes Kanysch, der sich ein Jahr lang ohne polizeiliche Erlaubnis in Moskau aufgehalten hatte, nur um ihr nahe zu sein. Er hatte keine Arbeit gefunden, weil er ein Kosak war. Er war in einer hoffnungslosen Lage, halb verhungert. Im November hatte man ihn nach Ulan-Bator deportiert.
Das alles war gerade passiert, als Manning Katerina an der Tür der Bibliothek für Ausländische Literatur getroffen hatte. Sie weinte, weil sie ihren Ausweis vergessen hatte und man sie nicht einlassen wollte. Katja holte die Briefe von Kanysch im Hauptpostamt, Fach Nr. 734, ab und las sie, während sie durch die Straßen lief. Manning hatte sie gesehen. Die Briefe waren mit einer engen, schrägen Schrift auf einem dicken Stoß billigen blauen Papiers geschrieben. Sie trug sie mit sich herum und las sie wieder und wieder, so lange, bis sie an den Faltstellen brachen und auseinanderfielen.
Wovon Katerina lebte, wußte er nicht. Er glaubte, daß sie bei ihrer verwitweten Mutter und einer Tante wohnte und daß sie irgendwelche Verbindungen zur Philologischen Fakultät haben müsse. Er hatte das Gefühl, er würde eine Grenze in ihrer Beziehung überschreiten, wenn er sie danach fragte. Er wußte, daß sie Rilkes ›Geschichten vom lieben Gott‹ ins Russische übersetzte. Aber selbstverständlich würden sie nie veröffentlicht werden. Er hatte keine Ahnung, wie weit sie damit vorangekommen war. Manchmal schienen ihre Bemerkungen anzudeuten, daß sie im Begriff war, eine bereits beendete Übersetzung zu redigieren. Dann wieder schien sie andeuten zu wollen, daß es weit über ihre Fähigkeiten gehe, überhaupt damit anzufangen.
Sie gingen eine lange, gerade Allee entlang. Hinter den Backsteinmauern an der Seite stieg der Rauch aus den Fabrikschornsteinen auf. Mit der einbrechenden Abenddämmerung flammten die Straßenlaternen an.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« fragte Katerina.
»Ja, ich würde gern eine deiner Geschichten hören.«
Sie dachte einen Augenblick nach:
– »In einem Land, irgendwo weit, weit weg«, sagte sie, »lebte ein alter Mann mit seinen drei Söhnen. Der alte Mann lag im Sterben. Er versammelte seine drei Söhne an seinem Lager und sagte, daß er noch einen letzten Wunsch habe: bevor er sterbe, wolle er noch einmal den Menschen sehen, der sein ganzes Leben in restlosem Glück verbracht habe. Also machten sich die drei Söhne auf, in der ganzen Welt nach solch einem Menschen zu forschen. Der älteste Sohn, Petya, suchte in den kalten Ländern des Nordens. Der zweitälteste, Kilja, suchte in den heißen Ländern des Südens. Und der jüngste Sohn, Wanja, nahm ein Schiff und suchte in dem Reich des Königs der Meere …« –
Später sprachen sie über Sascha.
»Ich wünschte, er verliert seine Beherrschung, wenn wir diese Szenen haben«, sagte Manning. »Aber er ist nur verletzt und verzeiht mir.«
»Es ist besser, jemanden zu verletzen, der in der Lage ist, dir zu verzeihen, als jemanden, der es nicht kann«, sagte Katerina.
»In dem Augenblick scheint es nicht so.«
»Es ist sinnlos, Tugenden zu haben und sie nicht zu gebrauchen.«
»Das klingt zynisch.«
»So war es nicht gemeint.«
»Aber Katja, du würdest doch nicht wollen, daß ich dich verletze, nur damit du Verzeihung üben kannst?«
»Nein, weil ich nicht so stark bin wie Sascha. Ich bin schwach, und deshalb sollte ich dir nicht verzeihen.«
Sie gingen für ein paar Minuten schweigend nebeneinander her. Dann sagte Manning: »Er nahm mich gestern abend mit, um Schtschedrin zu hören. Er kennt ihn persönlich, sie waren während des Krieges zusammen im Waisenhaus. Anschließend haben wir mit Schtschedrin und seiner Frau zu Abend gegessen.«
»Haben sie dir gefallen?«
»Ja, das haben sie.«
»War Schtschedrin bescheiden? Erzählte er mit leiser Stimme Anekdoten, und ihr habt mit einem höflichen und respektvollen Lachen geantwortet?«
»Kennst du ihn?«
»Nein, aber ich kann ihn mir vorstellen. Ein ordentlicher, dunkelblauer Anzug. Weiche Haut, ein nettes, ruhiges Gesicht, das an den Wangen ein wenig voller wird …«
»Das ist eine Karikatur …«
»Nein, eine Beschreibung. Saschas Freunde sind alle so.«
»Du hast weder Sascha noch seine Freunde je kennengelernt.«
»Aber du hast von ihnen erzählt. Und ich kenne ihre Art.«
»Ihre Art? Katja, warum sprichst du so verächtlich von ihnen? Es sind gute Menschen.«
»Natürlich sind sie gut. Es sind starke, gute, fähige Menschen, deren Stärke, Güte und Befähigung sie über ihre Brüder hinauswachsen läßt. Nun gut, Gott beschütze sie. Aber ich will, daß es ganz klar ist, daß ich zu den anderen gehöre – zu denen, die nicht stark oder gut genug sind, eben jene, über die sich die anderen erheben.«
»Sascha und Schtschedrin mögen höher bezahlt sein …«
»Mit Geld hat das nichts zu tun, natürlich nicht. Selbst wenn Schtschedrin die Straße unter seine Füße nehmen und sich sein Brot zusammenbetteln müßte, so bliebe ihm immer die Gewißheit, daß er wie ein Engel Gottes singen kann. Das ist eben wahrer Reichtum.«
»Und du willst ihm das wegnehmen?«
»Nein. Ich will mich lediglich zu jenen bekennen, die diese Reichtümer nicht besitzen. Das ist der eigentliche Kampf im Leben – der zwischen den Starken und den Schwachen.«
»Und du bist schwach, Katja?«
»Ja, ich bin schwach, weil ich vor so vielen Dingen Angst habe. Aber ich erkenne meine Schwäche, und ich benutze sie als meinen Ausweis, um dahin zu kommen, wo ich sein will – in die Reihen der Verlierer.«
»Bin ich schwach, Katja?«
»O ja. Aber du würdest es dir selbst nie zugeben. Du möchtest gern, daß dich die Menschen für stark halten. Deshalb versteckst du es hinter einer guten Fassade und hältst dich eng an die Starken – wie ein kleiner Junge, der mit den Soldaten in den Straßen mitmarschiert.«
Es war ziemlich dunkel und plötzlich sehr kalt geworden. Der Hauch von Frühling, der vorher in der Luft gelegen hatte, war mit dem Tageslicht verschwunden.
»Ich habe gestern abend jemanden getroffen, der gesagt hat, er sei ein alter Freund von dir«, sagte Katerina schließlich nach einer langen Pause.
»Proctor-Gould? Wo bist du ihm begegnet?«
»Im Sektor B unten am Empfang. Ich habe dich gesucht.«
»Oh«, sagte Manning, »das warst du.«
»Die Frau hinter dem Pult wollte mich nicht einlassen, und sie wollte mir auch nicht sagen, ob du da warst oder nicht. Deshalb fing ich an zu heulen, du weißt, wie das immer bei mir ist.«
»Und dann kam Proctor-Gould vorbei?«
»Ja. Er hat versucht, mich aufzuheitern. Er sprach ein bißchen Deutsch, übrigens sehr schlecht.«
»Welchen Eindruck hattest du von ihm?«
»Ich weiß nicht genau. Zuerst fand ich, daß er sich ziemlich vertraulich benahm – er legte seinen Arm um mich, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Aber dann habe ich mir überlegt, daß er vielleicht zu den Menschen gehört, die nur so dreist und selbstsicher auftreten, um sich selber zu beeindrucken – die sich von außen her zu beweisen versuchen, daß es richtig ist, was sie tun. Es ist, wie wenn jemand sich durch Geldausgeben einzureden versuchte, er sei reich – eine Art Überzeugungstrick, den man an sich selbst anwendet. Eines Tages sind die Rechnungen fällig, und man stellt fest, daß man sich betrogen hat.«
Manning sah auf die Uhr. Sie waren über eine Stunde gelaufen.
»Sollen wir uns ein Restaurant suchen und etwas essen?« Katerina schüttelte den Kopf.
»Man kann nicht beides: essen und reden. Außerdem können sich zwei Menschen nicht richtig unterhalten, wenn sie sich dabei in die Augen sehen. Es ist viel besser, auf der Straße zu reden, wenn man nebeneinanderher geht.«
»Dann möchtest du also noch ein bißchen weitergehen?«
»Nein, heute gibt es nichts mehr, was ich dir noch sagen will. Auf Wiedersehen, Paul.«
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