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Die Geschichte des Anwalts Wihelm Schweiger spielt im Westberlin der 80er Jahre. Schweiger, gefangen in den konservativen Konventionen seiner Familie und aufgewachsen in der bedrückenden Nachkriegsatmosphäre, übernimmt die Kanzlei seines Vaters. Doch insgeheim führt er von seiner Familie unbemerkt ein Parallelleben, in dem er Grenzen überschreitet. Eines Tages geschieht das Unfassbare: Er wird selbst zum Straftäter und muss sich den Konsequenzen stellen. Ein folgenreicher Unfall sowie unverhoffte Begegnungen stellen zusätzlich sein gesamtes Leben und das seines Umfeldes auf den Kopf.
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Seitenzahl: 938
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Zwei Leben – Die Strafsache Wilhelm Schweiger
Pamela Pabst
Impressum:
Texte: Copyright by Pamela Pabst
Umschlaggestaltung: Copyright by M. Hoppe
Verlag:
Pamela Pabst
Mohriner Allee 118c
12347 Berlin
Der 21. Juli 1986 war ein Montag. Er begann gewöhnlich, und dennoch sollte er sein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Am Vormittag hatte er einen Strafprozess in »Moabit«, Berlins altehrwürdigem Kriminalgericht, geführt und war danach weiter zu einer Zivilstreitigkeit am Landgericht gehastet. Er hatte gewissenhaft seine Post erledigt, am Nachmittag drei Mandanten empfangen, und nun war es fast 19.00 Uhr geworden... - wieder ein Arbeitstag vorüber.
»Frau Genest, haben Sie den Schriftsatz ans Amtsgericht Charlottenburg schon fertig?« fragte Wilhelm Schweiger und betrat mit einem gewaltigen Aktenstapel vor der Brust das Vorzimmer, wo seine Sekretärin noch immer eifrig auf die Tastatur ihrer Schreibmaschine einhämmerte. Wilhelm Schweiger war eine würdige, konservative Erscheinung Anfang fünfzig, groß und schlank. Er hatte silbergraues, volles Haar und trug einen schwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und eine dezent gemusterte, um nicht, zu sagen biedere Krawatte. »Ich bin gerade fertig geworden, Herr Schweiger«, sagte Frau Genest und zog das Blatt aus der Maschine. Mit den Worten »Das hier kann weggehängt werden« legte er ihr eine der Akten auf den Tisch und wuchtete den Rest unter großer Kraftanstrengung auf einen der Registraturschränke gegenüber. »Was ist eigentlich mit der Sache da am Kammergericht?« »Das habe ich Ihnen doch ins Zimmer gebracht, genauso wie die Unterlassungsklage für Frau Dörfler«, entgegnete Frau Genest, sich keiner Schuld bewusst, während sie den Schriftsatz zusammenfaltete und kuvertierte. Frau Genest war eine Sekretärin wie sie im Buche stand, ein mütterlicher Typ, Mitte sechzig, mit grauem, lockigem Haar und einem lieben Gesicht. Sie trug ein blaugraugestreiftes Kleid mit einem weißen Kragen und balancierte eine goldene Lesebrille auf der Nase. Seit Jahrzehnten war sie stets der gute Geist der Kanzlei, eine herzerfrischende Person mit einer Engelsgeduld, die nur für ihren Chef zu leben schien, fleißig war für drei und dabei auch noch Spaß hatte. »Können Sie mal schauen, wie mein Terminplan für morgen aussieht?« fragte er fast beiläufig, während er wieder auf sein Zimmer zusteuerte, und Frau Genest blätterte eine Buchseite auf. Diese Zeremonie wiederholte sich seit nun fast zwanzig Jahren jeden Abend: »9.00 Uhr Moabit in Sachen Hermann Geiger, 12.00 Uhr Landgericht Tegeler Weg Schmidtke gegen Rufus, um 14.00 Uhr kommt Frau Kreidel, um 15.00 Uhr Herr Lange, das ist die Sache mit dem Testament, wissen Sie?« »Ach ja, ich erinnere mich dunkel.« »Um 16.30 Uhr ist dann Ulrich gegen Breitenbach dran – da könnte man noch was zwischenschieben – und um 17.00 Uhr Herr Vierlich.« »Und wann soll ich meine Post machen? Hoffentlich dauert das nicht wieder so lange in Moabit morgen«, nörgelte er, fing sich dann aber schnell wieder. »Dann können Sie von mir aus auch nach Hause gehen. Es ist ja schon spät. Ich mach noch was, das leg ich Ihnen hier vorne hin, wenn ich gehe. – Schönen Abend noch.« »Danke schön, Ihnen ebenso, und grüßen Sie Ihre Frau.« »Mache ich.« Damit verschwand er wieder in seinem Zimmer und ließ die Tür ins Schloss gleiten.
Frau Genest hatte bereits fast alle Akten zurück in die Registraturschränke geräumt, als es plötzlich an der Tür läutete. »Wer ist da bitte?« fragte sie über die Gegensprechanlage, und im Lautsprecher auf ihrem Schreibtisch ertönte eine junge Frauenstimme: »Guten Abend, mein Name ist Neelsen«, sagte sie. »Ich möchte zu Herrn Schweiger.« »Der Herr Schweiger und der Herr Boysen sind aber nicht mehr da«, antwortete sie knapp, doch die Frau ließ nicht locker: »Lügen Sie mich doch nicht an. Ich weiß, dass Ihr Chef noch da ist«, erwiderte sie mit erbostem Unterton. »Lassen Sie mich gefälligst rein!« »Wie käme ich dazu? Kommen Sie morgen wieder. Wir haben von 14.00 bis 18.00 Uhr Sprechstunde.« Frau Genest glaubte, dass damit die Sache erledigt sei, was im Nachhinein betrachtet auch das Beste gewesen wäre, doch da öffnete sich plötzlich die Tür hinter ihr, und Wilhelm Schweiger stand im Zimmer. »Was ist denn noch?« fragte er. »Ich dachte, Sie seien längst weg.« »Da ist eine Frau Neelsen draußen. Sie weiß offenbar, dass Sie noch da sind“, berichtete Frau Genest. »Ich habe ihr gesagt, sie soll morgen wiederkommen, aber sie lässt sich nicht vertrösten.« »Eine Frau Neelsen?« wiederholte er halb in Gedanken und gab äußerlich nichts preis von der plötzlichen Aufgewühltheit, die ihn durchfuhr, seit er diesen Namen gehört hatte. »Lassen Sie sie nur rein«, entschied er schließlich scheinbar großzügig, und Frau Genest drückte auf den Türöffner. »Wenn Sie meinen.« Nur wenige Minuten später kam eine junge Frau die knarrende Altbautreppe hinaufgestiegen. Sie war Mitte zwanzig, schlank und hatte dunkelbraunes, mittellanges Haar. Sie trug ein knappes rotes Kleid und dazu hochhackige Schuhe. »Da haben Sie aber Glück gehabt, dass der Chef so großzügig ist«, empfing sie Frau Genest, als sie scheu zu ihr ins Vorzimmer schaute und hilfesuchend Blickkontakt zu Schweiger aufnahm. »Das würde ich mir an Ihrer Stelle gut bezahlen lassen, Herr Schweiger«, spornte Frau Genest ihn an, doch er kommentierte dies lediglich mit einem zurückhaltenden Lächeln.
Während Frau Genest ging, führte Schweiger seine unangemeldete Besucherin in sein Zimmer, wo er ihr vor seinem noch immer aktenüberladenen Schreibtisch – einem Erbstück seines Vaters – einen Stuhl anbot. Hannah Neelsen setzte sich, er zog es vor stehenzubleiben. »Für eine Mandantin kommst du zu einer etwas ungelegenen Zeit. – Eigentlich habe ich jetzt gar keine Lust mehr, meinen Kopf anzustrengen«, gestand er und begann sie von oben bis unten zu betrachten, »besonders in deiner Gegenwart.« Sein vor Frau Genest noch reserviertes Gesicht wurde rot und zeigte ein Lächeln. Wie vertraut war sie ihm doch. – Augenblicklich war es ihm unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden und einen klaren Gedanken zu fassen. Alles ringsum schien vergessen, es gab nur noch Hannah Neelsen und ihn, und sie waren allein. Er dachte daran, wie gierig er sie in der Vergangenheit erwartet hatte, wenn sie verabredet gewesen waren, um miteinander Sex zu haben: schnell, unverbindlich, seelenlos; wie er sich förmlich nach ihr, ihrem Körper, ihrem Geruch und ihrem Geschmack gesehnt hatte. Doch nun, da sie unangemeldet erschienen war, war es einfach überwältigend. - So extrem hatte er es noch nie erlebt. »Ich brauche einen Rat von dir. Es ist, ja es ist wegen meines Lebensgefährten«, begann sie betont sachlich, so als würden sie sich gar nicht kennen, und versuchte seine unangenehmen Blicke zu ignorieren. »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Niels dreht krumme Dinger, weißt du«, doch er hörte ihr schon längst nicht mehr zu.
Langsam ging er um den Schreibtisch herum, sie immer im Blick, und legte ihr schließlich die Hände auf die Schultern. Er musste es einfach tun, er musste ihren warmen, weichen Körper berühren. Er spürte, wie sie unter dem dünnen Stoff ihres Kleides zitterte. Das gefiel ihm, doch obwohl langsam Panik in ihr aufkam, ließ sich Hannah Neelsen nichts anmerken. »Jeden Abend ist er irgendwo und ich weiß nicht, was er wieder ausheckt«, fuhr sie tapfer fort und begann noch heftiger zu zittern. Sie hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde. Doch sie nahm sich fest vor, an diesem Abend jedes wie auch immer geartete Angebot von ihm auszuschlagen. »Du bringst mich noch um den Verstand. Komm, es ist gerade so gut. So gut war es noch nie«, hauchte er voller Erregung, angespornt durch ihr Zittern, und packte sie hart am Arm. Hannah Neelsen blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Sie kannte ihn schon eine ganze Weile und hatte ihn eigentlich immer als sehr angenehm empfunden, doch so hatte sie ihn noch nie erlebt. Wie von Sinnen riss er sie plötzlich zu sich herum und bohrte seine Finger wie Krallen in ihre Oberarme. »Nein, lass mich! Au! Du tust mir weh«, schrie sie panisch, fast starr vor Angst und sprang auf. »Ich habe dir gesagt, dass es nicht mehr geht!« Damit erinnerte sie ihn schmerzvoll an ihre Unterredung von vor zwei Tagen, doch ihr Nein konnte er nicht akzeptieren. – Sie hatte sich ihm nicht zu verweigern. Sie nicht. »Bitte Hannah, bitte. - Nur ganz schnell – bitte«, flehte er sie regelrecht an und lockerte die Umklammerung ihrer Arme. Seit vier Tagen hatten sie sich nicht gesehen, und er sehnte sich so sehr nach ihr. Doch nach dieser Entgleisung hätte sie immer abgelehnt. »Du bist ja verrückt. Total verrückt! Erniedrige dich doch nicht so!« schrie sie ihn angewidert an und wollte einfach nur noch weg, weg von hier aus diesem Zimmer. »Ja, verrückt nach dir, Hannah, du kleines Biest!« Es gelang ihm, sie auf den Boden zu drücken, und dann ging alles ganz rasch. Er wusste selbst nicht wie. »Lass mich! Lass mich los!« flehte und weinte sie, als er an ihrer Kleidung riss. Sie hoffte, das Schlimmste noch abwenden zu können, doch vergeblich. »Hilfe!« rief sie, doch niemand kam ihr zu Hilfe. »Schrei nur, dich hört sowieso keiner«, sagte er grob, ohne nachzudenken, was er sagte, und fuhr wie von Sinnen fort. Hannah Neelsen glaubte, an ihrem eigenen Haar ersticken zu müssen, das ihr wild durch das Gesicht flog, und sein heißer Atem rief bei ihr einen Brechreiz hervor. Obwohl sie heftig strampelte und um sich schlug, ließ er nicht von ihr ab, doch für ihn war es nicht mehr Hannah Neelsen, die er in Händen hielt. Es war nur noch ein Etwas, ein namenloses Wesen, das unter dem Gewicht seines Körpers rumorte. Die wenigen Minuten kamen Hannah Neelsen vor wie eine Ewigkeit, doch schließlich ließ er von ihr ab. Geistesgegenwärtig sprang sie auf und stürzte zur Tür. »Du Scheusal!« schrie sie verwirrt ins Leere und rannte dann durch das Vorzimmer, den dunklen Flur, die Treppe hinunter auf die Straße. »Du Scheusal!« - Diese Worte wirkten auf ihn wie eine Ohrfeige, die ihn wieder zur Besinnung kommen ließ. Selbst wie benommen saß er auf dem Parkettfußboden seines Büros und starrte auf die offene Tür zum Vorzimmer, durch welche sie entkommen war.
Hannah Neelsen lief und lief, die Potsdamer Straße entlang in Richtung Bülowstraße, wo sich die stillgelegte Hochbahn befand, doch obwohl sie sich hier eigentlich auskannte, wusste sie nicht mehr, wohin sie lief. Einfach nur weg von dort, darauf kam es ihr an. Dass sie ihre Handtasche und ihre Schuhe zurückgelassen hatte, merkte sie erst, als sie sich vor einem Taxistand wiederfand. Sie sah sich um: So weit war sie gelaufen? - Als sie ein Taxi erblickte, steuerte sie darauf zu und ließ sich erschöpft auf die Rückbank sinken. »Zur Katzbachstraße 25 bitte«, sagte sie und war froh, dass eine Frau hinter dem Lenkrad saß. »Mein Gott, was ist denn mit Ihnen passiert? Sind Sie in eine Schlägerei geraten?« wurde sie gefragt, doch sie antwortete nicht. Irgendwann hielt der Wagen vor ihrer Haustür und das Taxameter zeigte 35,60 DM an. Nachdem sie sich vom Hausmeister 40 DM geborgt und ihn darum gebeten hatte, ihr die Wohnungstür aufzuschließen, fiel alle Gefasstheit von ihr ab. Kaum, dass sie allein war, begann sie aus tiefster Seele zu weinen. Hastig und voller Abscheu riss sie sich ihre Kleider vom Leib und schmiss alles in eine Ecke ihres Wohnzimmers. Sie fühlte sich schmutzig und erniedrigt. Obwohl es Juli war, glaubte sie zu frieren. Sie ging unter die heiße Dusche, doch das Zittern hielt an, ging überhaupt nicht mehr weg. Immer wieder sah sie Wilhelm Schweiger vor sich, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Sie glaubte, noch verrückt zu werden, wenn sie nicht sofort jemanden fand, mit dem sie darüber sprechen konnte, was ihr zugestoßen war. Hastig griff sie zum Telefon und rief ihre beste Freundin Corinna Schuster an, mit der sie früher einige Semester zusammen Germanistik studiert hatte, doch anstatt ihr einfach nur zuzuhören und sie zu trösten, setzte diese ihr noch weiter zu: »Was, er hat dich vergewaltigt! Hannah, du musst diesen Mann anzeigen. Du musst ihn anzeigen«, rief sie aufgebracht, nachdem sie die ganze Geschichte gehört hatte, doch das wollte Hannah Neelsen nicht. »Nein, nein, bloß das nicht«, sagte sie. »Natürlich! Er muss dafür bestraft werden, was er dir angetan hat. Du musst zur Polizei gehen, Hannah«, drängte sie sie weiter, doch Hannah Neelsen hatte Angst. »Corinna, das kann ich nicht, ich kann nicht zur Polizei gehen und dort alles erzählen.« Sie schämte sich so sehr dafür, was ihr zugestoßen war, und ein bisschen gab sie sich auch selbst die Schuld daran. Warum war sie nur so naiv gewesen und hatte geglaubt, er würde ihr Nein akzeptieren. Hätte sie doch vor zwei Tagen nicht abgelehnt. Hätte sie doch gemacht, was er wollte, wenigstens einmal noch, dann wäre es gar nicht dazu gekommen. Wäre sie doch am besten gar nicht erst zu ihm gegangen! Doch was hätte sie denn tun sollen? Zu wem, wenn nicht zu ihm, hätte sie denn wegen Niels gehen sollen? Die bei der Polizei würden ihr auch nur sagen, dass sie doch selbst schuld sei an alledem. Vielleicht würden sie ihr nicht einmal glauben. Für die war sie doch auch nur das Letzte. Eine lästige »Halbkriminelle«, die ihnen die Zeit stahl. - Sie fühlte sich unendlich hilflos. »Du willst nicht, dass er verurteilt wird?!« riss sie Corinna Schuster aus ihren Gedanken, die kaum glauben konnte, was sie da gehört hatte. »Solchen arroganten Typen muss mal klargemacht werden, dass sie mit den Frauen nicht alles machen können, was sie wollen. Auch nicht, wenn sie dafür Geld bezahlen.« »Schon, aber er würde doch alles abstreiten«, lenkte sie ein. »Warum trifft er sich denn mit mir heimlich? Weil das seinem Ruf schadet. – Nein Corinna, eine Anzeige bringt überhaupt nichts.« »Also wenn du es dir doch anders überlegen solltest, dann komme ich mit zur Polizei.« »Danke, das ist nett. – Sag, aber kannst du nicht vorbeikommen? Ich halt’s nicht alleine aus hier. Niels kommt erst spät, und dann ist er sicher wieder betrunken.« »Ja, gleich kann ich nicht, aber vielleicht um halb neun?« »Gut, halb neun ist besser als gar nicht. Dann bis um halb neun.« »Bis nachher.« Damit legten sie auf und Hannah Neelsen war erleichtert.
Noch minutenlang hatte er nach ihrer Flucht regungslos auf dem Boden gesessen, doch dann war er aufgestanden, hatte seine Hose geschlossen und versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, doch dies misslang. Zu aufgewühlt war er. Das Oberhemd klebte klatschnass an seinem Körper und der Krawattenknoten schien ihm die Luft abzudrücken. Oh Gott, was hatte er nur getan, er, der das Gesetz schließlich besser kannte als manch anderer!? Im selben Augenblick wies er alle Schuld von sich. Das konnte er nicht getan haben! Unmöglich! - So ungeheuerlich war die Vorstellung, und so wenig passte es zu dem Bild, das er von sich hatte oder haben wollte. Alles kam ihm vor wie ein böser Traum, und nur Bruchteile später packte ihn die Angst: Was war, wenn alles an die Öffentlichkeit kam!? Dann war er ruiniert. Hoffentlich ging sie nicht zur Polizei. Hoffentlich! Und wenn doch, was sollte er dann seiner Frau erzählen? Erneut flammte Panik in ihm auf. »Wahrscheinlich traut sie sich gar nicht zur Polizei«, versuchte er sich einzureden. Außerdem, was war schon die Aussage einer kleinen, primitiven Prostituierten gegen seine Darstellung. Sie hätten Streit gehabt und jetzt hänge sie ihm aus Boshaftigkeit eine solche Tat an. – Das könnte er behaupten. Aber selbst, wenn er alles würde erfolgreich abstreiten können, allein dieser Vorwurf war eine Blamage sondergleichen. Vielleicht sollte er bei ihr vorbeigehen, reumütig um Verzeihung flehen und ihr Geld geben? Mit zitternden Händen zog er seine Brieftasche aus dem Jackett und sah nach, wie viel er in bar zur Verfügung hatte. Reichten 400 Mark? Das war alles, was er am Morgen bei der Bank abgehoben hatte. Unaufhörlich hämmerte es in seinem Kopf. Er sah auf die Uhr. Es war 19.17 Uhr. Nervös ging er im Zimmer auf und ab, die vier 100-Mark-Scheine in den schweißnassen Händen knetend. Er brauchte Zeit. Erst einmal brauchte er jetzt mehr Zeit, um nachzudenken, was das Geschickteste wäre. Mit zitternden Händen wählte er seine eigene Telefonnummer und wartete. Ein Klingelton erklang und noch ein weiterer. »Hallo!« meldete sich ein vergnügtes Kinderstimmchen. Es war seine Tochter Nina. Nina war gerade vier Jahre alt geworden und sein Ein und Alles. »Nina-Maus, hier ist Papa. Gib mir mal die Mami«, trug er ihr mit warmherzigem Tonfall auf, doch bevor sie antworten konnte, nahm ihre Mutter ihr schon den Hörer aus der Hand. »Schweiger?! – Nina, du gehst jetzt sofort ins Badezimmer Zähne putzen.« »Margot, ich bin es. Du, ich kann dir jetzt nicht alles erklären, aber ich wollte dir nur sagen«, stotterte er, - »ich wollte dir nur sagen, dass ich noch eine dringende Sache fertigmachen muss und etwas später komme«, log er und bemühte sich, seiner Stimme einen Tonfall zu geben, der unterstrich, wie überaus wichtig diese Angelegenheit war. »Wir haben es gleich halb acht!« entgegnete seine Frau gereizt. »Deine Tochter fragt schon nach ihrem Papa. Und ich weiß auch schon nicht mehr, wie du aussiehst.« «Gib ihr einen Kuss von mir«, sagte er mit schuldbewusstem Tonfall. »Ich bin um halb zehn spätestens da.« »Was machst du denn noch?« »Ich muss noch was für morgen vorbereiten. Du weißt doch, dass ich morgen um neun in Moabit bin«, schwindelte er halb weiter und sagte halb die Wahrheit. »Nun geh endlich ins Bett, Nina! – So, da bin ich wieder. Gut dann also bis nachher!« »Bis nachher.« Er hielt den Telefonhörer noch in der Hand, als sein Blick plötzlich auf Hannah Neelsens Handtasche fiel, die noch immer neben dem Tisch auf dem Boden lag. Schwarzer Lack mit goldener Schnalle. – »Auch das noch.« Mit spitzen Fingern hob er sie auf und durchsuchte sie. Was genau er darin zu finden glaubte, wusste er selbst nicht. Ein Lippenstift, ein Handspiegel, ihr Portemonnaie, ihre Papiere, Präservative und ihr Hausschlüssel kamen nach und nach zum Vorschein.
Bei Hannah Neelsen war inzwischen ihr Lebensgefährte Niels Naumann aufgekreuzt. Sie lag gerade im Wohnzimmer auf der Couch, als er das Zimmer betrat. »’n Abend Schatzi!« lallte er, und es war nicht zu übersehen, dass er betrunken war. »Du bist ja schon wieder besoffen«, schalt sie ihn, doch er machte sich nichts daraus. »Na und«, sagte er trotzig und zündete sich eine Zigarette an. »Wo hattest du das ganze Geld her?« »Besorgt«, antwortete er lapidar und öffnete eine Bierdose. »Was hast du gemacht?« »Ich? Ich habe gar nichts gemacht«, wies er alle Schuld von sich. »Lüg mich doch nicht an!« rief sie wütend und setzte sich auf. »Kalle hat den Bruch gemacht. Ich habe nur Schmiere gestanden.« Er nahm einen Schluck. »Irgendwann kriegen sie dich. Du bist schon siebenmal vorbestraft.« »Na und?« »Na und!« wiederholte sie lauter. »Das reicht mir langsam.« »Willst du mich etwa erziehen? Das brauchst du gar nicht erst zu versuchen. Ich lasse mich von niemandem bevormunden. Erst recht nicht von dir.« »Bevormunde ich dich etwa?« fragte sie und fand seinen Vorwurf eine dreiste Unterstellung. »Ich soll sagen, dass du nicht hier wohnst, wenn jemand anruft, ich soll die Polizei anschwindeln, damit du ein Alibi hast... Niels, ich habe da keinen Bock mehr drauf, das steht mir bis hier oben! Ich will nicht auch irgendwann in den Knast wegen dir. Du kannst deine Sachen nehmen und abschwirren.« »Red doch nicht so’n Müll. Den glaubst du doch selbst nicht.« »Du kannst dir eine andere dumme Kuh suchen, die zu dir hält«, schrie sie ihn an, aber Naumann zeigte sich völlig unbeeindruckt. »Du lässt die Pfoten von anderen Typen. Du bleibst bei mir, ist das klar“, sagte er fies und rülpste. »Hast du mich nicht verstanden?! Es ist aus! Du ekelst mich an! Ihr Männer, ihr seid doch alle gleich!« schrie sie halb weinend und fand ihn widerlich wie nie zuvor seit sie ihn kannte. »Was hast du gesagt?!« fragte er drohend, kam langsam auf sie zu und schüttelte sie kräftig durch. »Was du gesagt hast!?« Hannah Neelsen bekam panische Angst und all die furchtbaren Bilder von eben tauchten erneut vor ihren Augen auf. Wieder sah sie Wilhelm Schweiger vor sich, wie er sie gepackt und auf den Boden gezerrt hatte, als sei sie ein lebloses Bündel. Und nun packte Niels sie auch noch schmerzhaft am Arm und begann sie zu schütteln. Es war, als durchlebe sie das alles noch einmal. »Lass mich, nein, lass mich los!« bettelte sie in ihrer Angst, doch Niels war so betrunken, dass er völlig die Kontrolle über sich verloren hatte. »Hör auf zu schreien!« Sagte er grob. »Ich kann so laut schreien, wie ich will«, schrie sie ihn trotzig an, doch er schlug sie daraufhin nur mit der flachen Hand ins Gesicht. »Hör bloß auf zu flennen, du dummes Stück!« – Und genauso fühlte sie sich auch. Wie ein dummes Stück, das jeder nach Belieben herumschubsen und misshandeln durfte, von dem man keine Widerworte duldete, das einfach nur funktionieren sollte, weil es so am bequemsten war. »Du bist ja so gemein«, weinte sie. Diese Erfahrung gleich zweimal in so kurzer Zeit zu machen, empfand sie als besonders demütigend. »Denk doch mal nach, vielleicht bin ich noch was Schlimmeres«, lallte er und kickte seine leere Bierdose in eine Ecke, bevor er das Zimmer verließ. Nun war das Maß voll. Morgen würde sie ihre Sachen nehmen und verschwinden, ganz egal wohin, Hauptsache weg.
Gegen 20.30 Uhr hatte Wilhelm Schweiger in der Katzbachstraße einen Parkplatz gefunden. Er stellte seinen roten Mercedes ab, ging mit Hannah Neelsens Handtasche unter dem Arm zum Haus Nummer 25 und drückte entschlossen dreimal auf den Klingelknopf neben dem verblichenen Schildchen »Neelsen«. Einige Minuten vergingen, doch es geschah nichts. Er erinnerte sich daran, dass sich in der Handtasche auch ihr Hausschlüssel befand und nahm ihn heraus, um sich auf diese Weise Zutritt zu verschaffen. Woanders zu läuten, traute er sich nicht. Nach der Anordnung der Klingelschilder zu urteilen, wohnte Hannah Neelsen im ersten Stock. Langsam stieg er die ausgetretenen Stufen hinauf. Es roch muffig, nach Putzmittel und Essen. Irgendwo schrie ein Baby. Auf halber Höhe begegnete ihm ein Mann, doch dieser beachtete ihn nicht weiter. Schließlich stand er vor ihrer Wohnungstür und läutete nach kurzem Zögern abermals, doch wieder geschah nichts. Auf die Idee, dass sie nicht zu Hause sein könnte, kam er nicht. Er nahm noch einmal ihren Schlüssel, den er inzwischen im Jackett verstaut hatte, und schloss die Wohnungstür auf. Er ging davon aus, dass sie ihn gesehen hatte und daher nicht öffnete. Nie zuvor war er in ihrer Wohnung gewesen. Sie hatten sich immer außerhalb getroffen. In seinem Büro, unterwegs oder in einem billigen Hotel, doch die Wohnung schien ihm übersichtlich zu sein. Da würde er sie schon finden. Zunächst befand er sich in einem langen, dunklen Korridor, von dem rechts und links Räume abzweigten. »Hannah!?« rief er halblaut, aber nichts rührte sich. Er blickte in das erste spärlich erleuchtete Zimmer auf der rechten Seite, wo sich die Küche befand. »Hannah, bist du da?!« Dann öffnete er eine klemmende Tür auf der linken Seite und sah ins dunkle Badezimmer. »Hannah!« Die Szenerie war gespenstisch. Er fühlte sich ein wenig wie ein Einbrecher und fragte sich, ob wohl gleich ihr krimineller Lebensgefährte hinter einer Tür hervorspringen und ihn niederschlagen würde. Seine Knie waren weich vor Angst. Nachdem er auch die Tür zu ihrem Schlafzimmer geöffnet und sie dort nicht gefunden hatte, betrat er schließlich das Wohnzimmer am Ende des Ganges. Fast stockte ihm der Atem, als sein Blick auf Hannah Neelsen fiel. Halb angezogen lag sie auf dem Fußboden vor einer weißen Stoffcouch, eine klaffende Wunde am Kopf. »Hannah! Mein Gott, Hannah«, brachte er halblaut hervor und stürzte zu ihr, um zu sehen, ob sie noch am Leben war. Er kniete neben ihr nieder und betrachtete sie prüfend im spärlichen Licht der Jalousie vor dem Fenster. Ihren Körper zu berühren, traute er sich nicht. Sie musste tot sein. So wie sie da lag musste sie tot sein. Augenblicklich packte ihn Panik. Was sollte er jetzt tun? »Ich muss die Polizei anrufen«, dachte er und griff zum Telefon, das in Reichweite auf einem Sessel stand. Mit schweißnassen Händen wählte er zitternd 110, doch kaum hatte sich jemand gemeldet, da wurde ihm bewusst, wie unsinnig sein Anruf war und er legte wieder auf, ohne etwas gesagt zu haben. Wäre er doch nie in diese Wohnung gegangen. Noch einmal sah er zu Hannah Neelsen hinüber. Hatte sich ihr Brustkorb nicht gerade ein wenig gehoben? Vielleicht war sie gar nicht tot? - So musste sich mancher Mandant gefühlt haben, bevor er zu ihm gekommen war. Welcher Richter in Moabit würde ihm denn glauben, dass er sie nach alledem nicht umgebracht hatte? Das hier war doch der perfekte Verdeckungsmord. Das Musterbeispiel für jede Strafrechtsklausur im Staatsexamen. Da läutete es an der Wohnungstür. Erschrocken fuhr er zusammen. Das durfte alles nicht wahr sein. Schlimmer konnte es doch gar nicht mehr kommen. Das passierte nur im Krimi, aber das hier war kein Krimi, das hier war die bittere Wirklichkeit. Was machte er jetzt bloß? »Das Fenster! Ja, natürlich!« grübelte er halblaut vor sich hin. Das war der letzte Ausweg. Hastig zog er die Jalousie hoch und öffnete das Fenster. Bis zum Erdboden waren es etwa dreieinhalb Meter. Er setzte sich auf die Fensterbank und ließ die Beine baumeln, dann wandte er sich um und ließ sich rückwärts hinunter. Er hatte Angst sich fallen zu lassen, doch eine andere Chance hatte er nicht mehr. Seine Hände lösten sich von dem schmalen Fensterbrett, und im nächsten Augenblick landete er wohlbehalten auf seinen Füßen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte er zu seinem Auto und fuhr davon, als sei der Teufel hinter ihm her.
Im Auto plagte ihn das Gewissen. Was hatte Hannah Neelsen noch unternommen, nachdem sie aus dem Büro geflohen war? Inzwischen war es 20.45 Uhr. Genug Zeit hätte sie gehabt. War es richtig gewesen, sie da so einfach liegen zu lassen? Er war sich seines Unrechtes bewusst, aber was hätte er denn sonst tun sollen? Am liebsten hätte er jemandem von den Ereignissen der letzten anderthalb Stunden erzählt, doch wem sollte er sich damit anvertrauen? Seiner Margot konnte er es unmöglich sagen. Würde sie ihn überhaupt verstehen? Würde überhaupt jemand je verstehen, warum er dies alles getan hatte? Konnte man das überhaupt verlangen? Er verstand sich ja selbst nicht.
Inzwischen hatte Corinna Schuster bei ihrer Freundin Hannah Neelsen sturmgeklingelt. Sie wunderte sich. In der Wohnung brannte Licht, doch niemand kam, um ihr aufzumachen. Dabei hatte Hannah sie doch gebeten, an diesem Abend zu kommen. »Hannah! Hannah, ich bin es, Corinna!« rief sie und trommelte lautstark gegen die braune Holztür. Als sie etwa zehn Minuten unermüdlich geklingelt und geklopft hatte, versuchte sie es eine Tür weiter bei ihrer Nachbarin Frau Glaser. Nach längerem Warten öffnete eine ältere Dame im Bademantel die Tür einen Spalt. »Unverschämtheit! Sind Sie denn völlig wahnsinnig geworden?!« »Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht wecken. Wirklich.« »Sparen Sie sich das!« entgegnete die Nachbarin missgelaunt und wollte die Wohnungstür wieder zuschlagen, doch Corinna Schuster konnte dies verhindern. »Bitte nur einen Moment. Haben Sie vielleicht gesehen, dass Ihre Nachbarin das Haus verlassen hat?« »Nein, ich habe nichts gesehen«, sagte sie genervt, doch Corinna Schuster ließ nicht locker: »Wissen Sie, ich war mit ihr verabredet, und sie ist nicht da. Ich mache mir Sorgen, dass vielleicht etwas passiert sein könnte. Haben Sie vielleicht einen Wohnungsschlüssel? Das macht man doch manchmal so, oder?“ “Nein. Mir hat niemand einen Schlüssel gegeben.« Damit knallte sie endgültig die Tür zu und es war nichts mehr zu machen. So musste Corinna Schuster, wenn auch mit einem unguten Gefühl, unverrichteter Dinge gehen. Als sie vor dem Haus stand, warf sie noch einmal einen Blick zur Wohnung ihrer Freundin hinauf. Sie sah das weit offenstehende Fenster, doch da es draußen warm war, machte sie sich keine Gedanken. Dennoch beschloss sie, in regelmäßigen Abständen anzurufen, um zu erfahren, wo Hannah Neelsen gewesen war, wenn nicht zu Hause.
Gegen 21.30 Uhr traf Wilhelm Schweiger zu Hause ein. Er bewohnte mit seiner Familie eine um das Jahr 1910 erbaute weiß gestrichene Villa in guter Lage, die von einem großen Garten umgeben war und ihm viel Arbeit machte. Wenn er ehrlich war, dann war das Haus nicht mehr auf dem neuesten Stand: Wasser- und Stromleitungen gehörten erneuert, außerdem zog es durch die Fenster, dafür fehlte jedoch im Augenblick das Geld, doch dieser Umstand tat der positiven Wirkung des Gebäudes auf Außenstehende keinen Abbruch. Seine Frau stand in der geöffneten Haustür, als er auf das Grundstück fuhr. Sie war 19 Jahre jünger als er und einen ganzen Kopf kleiner; eine zierliche, liebevolle Erscheinung mit schulterlangem, goldbraunem Haar, das sie oft zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst trug, weil es so am praktischsten war. »Hallo Schatz, da bist du ja endlich«, begrüßte sie ihn freudig - wie sie es jeden Abend tat - umarmte und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Doch an diesem Abend war ihm jede körperliche Berührung unangenehm. »’n Abend Schatz!« sagte er knapp und bedachte sie ebenfalls mit einem Kuss auf die Wange, da er jedes andere Verhalten als ungebührlich empfand. Außerdem wollte er auf keinen Fall den Verdacht aufkommen lassen, dass irgendetwas anders sein könnte als sonst. Und gleichgültig war sie ihm ja schließlich auch nicht. Gedankenversunken, ja fast mechanisch, hängte er sein Jackett im Esszimmer über einen Stuhl und band die Krawatte ab. Immer wieder hatte er dabei den Anblick der verletzten Hannah Neelsen vor Augen. Er fragte sich, ob seine Margot ihm wohl anmerkte, dass etwas nicht in Ordnung war - doch wie sollte sie erraten, was sich zugetragen hatte? Dass irgendetwas los sein musste, ging auch an Margot Schweiger nicht vorbei, doch was es war, ahnte sie nicht einmal. »Ist die Sache so schwierig? Schaffst du es nicht?« fragte sie behutsam, als er begann, sich Cognac einzugießen - was sonst gar nicht seine Art war - und glaubte, dass er einen komplizierten Rechtsstreit zu führen hatte. Es tat ihm leid, dass er ihre Fürsorglichkeit an diesem Abend als höchst lästig empfand, doch er glaubte sich jederzeit in irgendeiner Weise verraten zu können. Hatte er womöglich noch Lippenstift am Kragen oder etwas ähnlich Verfängliches? »Bitte, Margot, ich bin jetzt nicht interessiert daran den ganzen Fall zu erklären«, sagte er gereizt und bemerkte, dass er mit dieser Antwort nicht einmal gelogen hatte. Dann stürzte er den scharfen Inhalt seines Cognacglases mit einem Mal hinunter. »Hast du was?« fragte sie weiter und schaute ihn besorgt an. »Nein.« Er goss das Glas erneut voll. »Ich habe nur an der Sache ein bisschen zu knabbern, verstehst du?« »Ist es wegen morgen?« bohrte sie weiter. »Nein. – Bitte lass mich jetzt.« »Möchtest du noch was essen?« »Nein, ich habe bereits unterwegs was gegessen.« Auch das war zwar gelogen, doch ihm war jeder Appetit vergangen. »Welches Hemd willst du morgen anziehen?« »Ein weißes, aber lass mich doch jetzt damit zufrieden. Leg eins hin und ich zieh’s an. Bitte nimm es mir nicht übel, aber ich geh’ jetzt in mein Bett.« Er wusste, dass sie es gut mit ihm meinte, aber er konnte an diesem Abend einfach nicht anders. Sie mochte es ihm nachsehen. Er trank aus und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, das sich im Obergeschoß befand. Als er in der Diele am Kinderzimmer seiner Tochter vorbeikam, blieb er stehen und drückte die Türklinke herunter. Süß, wie sie da in ihrem Bettchen lag, ihren Stoffhasen im Arm, und friedlich schlief. Mit ihren vier Jahren hatte sie noch keine Ahnung von der Welt, doch er, er musste jetzt mit seinem schlechten Gewissen ins Bett.
Aus Erfahrung wusste Schweiger, dass er mindestens vier Stunden Schlaf brauchte, um am nächsten Morgen für seine Strafsache in Moabit wenigstens halbwegs fit zu sein, doch diese Nacht war alles andere als erholsam. Entweder er lag wach und drehte sich verschwitzt von einer Seite auf die andere, weil es in seinem Kopf wie wahnsinnig hämmerte und er immer und immer wieder daran denken musste, was mit ihm und Hannah Neelsen geschehen war, oder er wurde geschüttelt von einem grauenvollen Alptraum, der gar nicht enden mochte und sich in jeder der wenigen, kurzen Schlafphasen fortsetzte. Zuerst träumte er von seinem morgigen Prozess. Der vorsitzende Richter hatte sich das Bein gebrochen und der Mandant rief in der Kanzlei an, um sich zu vergewissern, dass er ihn auch wirklich auf dem Weg zum Gericht abholte. Dann schwenkte die Geschichte plötzlich um. Alles fing damit an, dass er bei dem Versuch, mit Hannah Neelsen zu sprechen und alles wieder gut zu machen, in deren Wohnung einen kleinen Zettel mit einem notierten Aktenzeichen verloren hatte. Dieser fiel der Polizei in die Hände, als sie am Tatort erschien, um in der Mordsache Hannah Neelsen zu ermitteln und brachte ihn in die Schusslinie. Er konnte nicht mehr abstreiten, in der Wohnung gewesen zu sein, außerdem fanden sich zwei Personen, die ihn gesehen hatten. Seine Frau, die inzwischen von seiner Beziehung zu Hannah Neelsen erfahren hatte, fiel ihm in den Rücken und sagte vor Gericht aus, dass er zur Tatzeit nicht zu Hause gewesen sei, außerdem fand sich ein Tagebuch, in dem Hannah Neelsen alles über ihr Erlebnis bei ihm in der Kanzlei aufgeschrieben hatte. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch ihrer Freundin davon berichtet und an ihren Kleidungsstücken hatte man nach einer Spurensicherung sein Sperma gefunden. Tage später kam Hannah Neelsens Freundin aufgebracht in sein Zimmer gestürmt und beschimpfte ihn vor seiner Mandantschaft. Dies veranlasste Frau Genest, zu ihm zu kommen und ihm zu beichten, dass sie alles mitbekommen hatte, was an besagtem Abend geschehen war. Auch wenn er glaubte, dass Niels Naumann Hannah auf dem Gewissen hatte, die Vorsitzende Richterin der 18. Großen Strafkammer, Gabriele Hassler, vor der er nach der außergewöhnlich langen Zeit von 414 Tagen Untersuchungshaft angeklagt wurde, wollte ihn unbedingt wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes verurteilt sehen. Um ein Haar wäre er wegen versuchten Mordes tatsächlich im Gefängnis gelandet, wenn nicht plötzlich noch weitere Tagebuchseiten aufgetaucht wären, die Niels Naumann, dieser Gauner, aus dem Tagebuch seiner Freundin gerissen hatte. Sie gaben Auskunft über die Gewalttätigkeiten ihr gegenüber, so dass es gelang, bei der Strafkammer Zweifel zu säen und die Sache so zu beleuchten, dass es nicht mehr ausgeschlossen war, dass Niels Naumann seine Freundin im Streit fast getötet hatte. So blieb es bei einer Verurteilung wegen Vergewaltigung, die den Verlust seiner Anwaltszulassung zur Folge gehabt hatte, und einem Jahr Haft in Tegel, der Berliner Haftanstalt für Männer. Der krönende Abschluss war schließlich die Scheidung von seiner Frau, bei der man ihm das Umgangsrecht für seine Tochter aberkannte, und die Übernahme seines Dezernats durch die Kollegin Dallinger. Er hatte nicht nur sein Ansehen verloren, sondern auch seine Arbeit, seine Familie und seinen Lebensmut. Er war nur mehr ein Nichts. Er hatte sich selbst zugrunde gerichtet, und so besiegelte er sein Schicksal, indem er mit 120 km/h gegen einen Alleebaum fuhr.
Schweißgebadet und wie gerädert wachte er gegen 23.00 Uhr auf, nachdem er endlich einmal eingeschlafen war. »Um Himmels Willen, was war das denn für ein Traum«, seufzte er und richtete sich auf. Sein Kopf schmerzte. Leise verließ er das Bett und tastete sich im Dunkeln die Treppe hinunter zur Garderobe, wo seine Margot das Sakko hingehängt hatte. Er schaltete die Lampe am Flurspiegel ein und begann es gründlich zu durchsuchen. Ja er sah sogar nach, ob etwas zwischen Außenstoff und Futter gerutscht sein könnte, denn er war sich ganz sicher, dass er den kleinen weißen Zettel mit dem Aktenzeichen im Beisein seines Kollegen Rechtsanwalt Paul Boysen eingesteckt hatte. Er sollte morgen die zwei Akten für ihn vom Gericht mitbringen. Doch so sehr er auch suchte, da war kein Zettel. In seiner rechten Tasche nicht, nicht in der linken und auch nicht unter dem Futter. Ihn packte die Angst, ein Gefühl, das für lange Zeit sein ständiger Begleiter werden sollte. Hatte er den Zettel womöglich tatsächlich bei Hannah Neelsen verloren? Doch das war nur ein Traum gewesen, ein widerlicher Alptraum, sagte er sich, um wieder ruhig zu werden, nur, wenn es wirklich so gewesen war, was sollte er dann tun? Er wollte doch nicht so enden wie in seinem Traum. Um Himmels Willen, nur das nicht! Seine Angst steigerte sich zur Panik. Er kannte dieses Gefühl, nur jetzt war es die um ein Vielfaches potenzierte Form eines Zustandes, in welchem er sich zu Studentenzeiten befunden hatte, wenn er in der Nacht vor der Abgabe einer wichtigen Arbeit zu der Erkenntnis gelangt war, dass er bislang einen schwerwiegenden Fehler in seinen Aufzeichnungen übersehen hatte und es ein Kampf gegen die Uhr gewesen war, diesen zu korrigieren. Da entdeckte er plötzlich, dass er Hannah Neelsens Wohnungsschlüssel noch immer in der Tasche hatte. Wenn das keine Chance war! Langsam stieg er wieder die Treppe hinauf und bemühte sich, das alte Holz dabei nicht knacken zu lassen. Im Flur lagen noch seine Sachen vom Vortag über dem Stuhl. Hastig zog er seine Hose an und streifte sich sein Oberhemd über. Was er vorhatte, war Wahnsinn, absoluter Wahnsinn, doch dies war seine einzige Chance. Er musste noch einmal in die Wohnung zurück und nach dem verdammten Zettel suchen. Er musste einfach! Mit weichen Knien ging er leise wieder hinunter, zog sein Sakko an und verließ das Haus, hoffend, dass seine Margot nicht die Haustür klappen gehört hatte.
Corinna Schuster hatte sich inzwischen ernstlich Sorgen um ihre Freundin gemacht und wieder und wieder versucht sie telefonisch zu erreichen – vergeblich. Schließlich hatte sie deren Schwester Marianne aufgesucht, die nachts kellnerte. Vielleicht war sie bei ihr. Marianne Neelsen wusste jedoch noch gar nichts von alldem, was passiert war, und ihre Schwester war erst recht nicht bei ihr vorbeigekommen. Sie hatte aber wenigstens einen Wohnungsschlüssel, den sie ihr geben konnte.
Als er Minuten später ins Auto stieg und mit zitternden Händen den Zündschlüssel umdrehte, war es 23.14 Uhr. Um diese Zeit waren die Straßen wie leergefegt. Er brauchte nur 15 Minuten bis zu ihr. Dann stellte er das Auto in einer Nebenstraße ab und ging den Rest zu Fuß. Vor dem Haus warf er einen prüfenden Blick nach oben zu dem erleuchteten Fenster, aus dem er geflüchtet war, und zögerte: Sollte er es wirklich tun? Er dachte an seine Tochter Nina, ihr und seiner Margot gegenüber hatte er Verantwortung zu tragen, und steckte schließlich den Schlüssel in die Haustür. »Das ist Wahnsinn, was ich hier mache, absoluter Wahnsinn«, sagte er sich immer wieder, während er abermals mit klopfendem Herzen die Stufen hinaufschritt und hoffte, dass ihn niemand sah. Sicherheitshalber machte er kein Licht im Treppenhaus. Ihre Wohnung würde er auch so finden. Außerdem stand eine Laterne direkt vor der Tür. Was sollte er tun, wenn die Polizei inzwischen dagewesen war und die Wohnung versiegelt hatte? Sollte er das Siegel aufbrechen? Das war strafbar. - Aber dann hatte man ohnehin schon seine Spuren gefunden, und es war alles sinnlos. Im Dunklen tastete er nach dem Türschloss und verschaffte sich abermals mit ihrem Schlüssel Zutritt. Die Tür ließ sich ohne weiteres öffnen. Erleichtert atmete er auf. Man hatte sie also noch nicht gefunden. Zielstrebig ging er auf das Wohnzimmer zu. Er wollte in ihrer Wohnung nicht mehr Zeit verbringen als unbedingt nötig. Obwohl er darauf gefasst war, eine Schwerverletzte oder gar Tote vorzufinden, ließ es ihn nicht kalt, als er sie da am Boden liegen sah. Hätte er doch etwas unternommen, als er sie gefunden hatte. Vielleicht war sie ja noch gar nicht tot gewesen. Falls man ihm später nicht geglaubt hätte, dass er mit ihren schweren Verletzungen nichts zu tun hatte, dann hätte er immer noch einen versuchten Mord gestehen und es so hindrehen können, dass er ihr zur Wiedergutmachung habe helfen wollen. Das Gericht hätte ihm dann eingeräumt, dass er von seiner Tat »zurückgetreten« sei - wie das Gesetz es nannte - und ihn nicht bestraft. Doch jetzt, da sie tot war, hatte er diese Chance vertan. Allerdings hätte ihm das Gericht den Rücktritt auch erst einmal glauben müssen. Hätte es das nicht getan, dann wäre er dennoch wegen versuchten Mordes bestraft worden. Aber eine Tötung gestehen, die er gar nicht begangen hatte, nur um mildernde Umstände zu bekommen, das konnte er doch auch nicht tun. Am liebsten wollte er gar nicht in dieser Wohnung gewesen sein. Er bemühte sich, nicht zu ihr hinzusehen, als er den Telefonhörer und die Fenstergriffe mit einem Papiertaschentuch reinigte. Einen Zettel auf dem Fußboden fand er jedoch nicht. Nachdem er glaubte, alle Spuren beseitigt zu haben, trat er auf demselben Wege den Rückzug an und lag um 00.08 Uhr bereits wieder neben seiner Margot im Ehebett. »Wo warst du?« fragte diese ihn verschlafen. Sie hatte zwar seine Rückkehr bemerkt, dachte aber nicht im Traum daran, dass er außer Haus gewesen sein könnte. »Ich habe noch etwas nachgesehen. Mir kam da noch eine Idee für morgen«, sagte er. »Mitten in der Nacht? Du arbeitest zu viel«, sagte sie sorgenvoll. »Ein guter Anwalt muss viel arbeiten.« Mit einem Kuss beendete er die Unterhaltung. »Hoffentlich stirbt sie nicht - falls sie doch noch gelebt hat«, dachte er, bevor der Schlaf ihn übermannte. »Und wenn doch? Dann sind all meine Probleme gelöst, falls sie noch mit niemandem darüber gesprochen hat«, ging ihm durch den Kopf - doch so etwas durfte er nicht denken.
Hannah Neelsen starb nicht. Um 23.52 Uhr fand Corinna Schuster sie und alarmierte sofort Krankenwagen und Polizei. Sie war sich sicher, dass es Wilhelm Schweiger gewesen war, der sie so übel zugerichtet hatte. Und wenn Hannah Neelsen noch so sehr dagegen sein würde, jetzt war auch eine Anzeige wegen der anderen Sache fällig. Corinna Schuster kochte innerlich. Das hätte sie Schweiger nun doch nicht zugetraut, dass er sogar versuchen würde, ihre Freundin umzubringen.
Auch wenn der Zettel nicht in der Wohnung zurückgeblieben war, ihn interessierte doch brennend, wo er diesen verdammten Zettel gelassen hatte. »Margot, hast du etwas aus meinen Taschen genommen?« fragte er seine Frau daher, als er am Morgen des 22. Juli 1986 in schwarzer Hose und weißem Oberhemd im Flur vor dem Spiegel stand und sich mit seinen goldenen Manschettenknöpfen abquälte, die sie ihm zum dritten Hochzeitstag geschenkt hatte. »Nein, wie käme ich dazu!? - Was suchst du denn überhaupt?« fragte sie und musterte sein Äußeres zufrieden. »Gut siehst du aus.« »Ich hatte mir gestern Abend etwas aufgeschrieben und war mir nicht ganz sicher, ob ich den Zettel eingesteckt habe. Aber vielleicht liegt er noch im Büro.« Wenn ihn Margot auch nicht hatte, dann hielt er allein dies für eine denkbare Variante. »Dann wird ihn Frau Genest schon gefunden haben. - Du siehst gut aus«, wiederholte sie anerkennend und blickte ihn verliebt an, doch er übersah es, dachte nur an den Zettel. »Ich muss sowieso noch ins Büro. Dann werde ich ihn sicher finden.« Damit gab er ihr einen raschen Kuss auf die Wange und verließ das Haus.
Seine Sekretärin Frau Genest und sein Kollege, Rechtsanwalt Paul Boysen, mit dem er sich die Kanzlei teilte, waren bereits da, als er kam. Boysen war einen Kopf kleiner als er, eher kompakt in der Figur und hatte etwas von einem großen Jungen. Obwohl Schweiger nur zwei Jahre älter war als Boysen, wirkte dieser bedeutend jünger, was vor allem daran lag, dass sein Haar noch tadellos braun war und seine Kleidung insgesamt farbenfroher. Mit einem freundlichen »Guten Morgen!« grüßte er höflich und wurde ebenso freundlich von Frau Genest zurückgegrüßt. Paul Boysen schien ihn dagegen gar nicht wahrzunehmen. »Heften Sie das bitte ab, Frau Genest«, erteilte er ihr Anweisungen und wedelte mit einem Schriftstück vor ihrer Nase herum, während er ihm direkt gegenüberstand. Er ging daher in sein Zimmer, um für den Gerichtstermin Akten und Robe zusammenzupacken, doch sogleich holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Der eine Stuhl stand immer noch genauso schräg da wie gestern Abend, und vor dem Bücherregal lagen noch immer ihre hochhackigen Schuhe. Mit zitternden Händen hob er sie auf, als seien sie elektrisch geladen, und ließ sie hinter einer Schranktür verschwinden. Dann dachte er wieder an den Zettel. »Frau Genest, haben Sie hier irgendwo so einen kleinen, weißen Zettel gefunden?« fragte er, als er wieder zurück im Vorzimmer war, und wusste nicht, ob er wirklich eine Antwort auf diese Frage erhalten wollte. »Meinen Sie vielleicht den hier, Herr Schweiger?« Freundlich lächelnd - als wisse sie, wie wichtig er für ihn war - hielt sie ihm besagten Zettel hin. Und ihm fiel buchstäblich ein Stein vom Herzen. »Genau den meine ich. Bin ich froh, dass der wieder da ist. Ich habe schon überall danach gesucht«, sagte er erleichtert und steckte ihn hastig in die Hosentasche. Damit konnte ihn nun niemand mehr belasten, und niemand würde wissen, dass er in Hannah Neelsens Wohnung gewesen war. »Der scheint ja lebenswichtig zu sein«, scherzte Paul Boysen in der ihm so eigenen Art und ahnte nicht einmal, wie recht er ausnahmsweise damit hatte.
»Um was geht’s denn bei Ihnen, Herr Kollege?« fragte Boysen und goss sich einen Kaffee ein. »Mord, Totschlag, Raub oder Brandstiftung? Welche Schwurgerichtskammer ist es denn heute?« Die Tasse war so voll geworden, dass der Inhalt beim Anheben über den Rand schwappte und Boysen über die Finger lief. »Amtsgericht«, sagte er nüchtern, doch er wusste ja, wie gern sein Kollege übertrieb. »Fahrraddiebstahl in drei Fällen, aber unser Herr Geiger ist geständig, das kann heute nicht lange dauern.« Doch kaum, dass er den Satz beendet hatte, läutete das Telefon. »Das ist sicher mein Mandant.« Frau Genest nahm ab und traute ihren Ohren kaum, denn er war es tatsächlich. »Herr Geiger möchte wissen, ob es dabei bleibt, dass Sie ihn abholen!?« fragte sie und hielt dabei eine Hand auf die Sprechmuschel. »Das geht in Ordnung«, antwortete er und blickte zufrieden in Boysens verdutztes Gesicht. »Nun bin ich aber platt. - Können Sie hellsehen, Herr Kollege?« fragte dieser, doch Schweiger wäre es lieber gewesen, es nicht zu können. Das durfte alles nicht wahr sein, aber es war so. »Sicher ist es nur ein dummer Zufall«, beantwortete er Boysens Frage lapidar, »ich kenne halt meine Mandanten.« Und dennoch beschlich ihn einen Augenblick lang das ungute Gefühl, dass vielleicht doch alles so kommen könnte, wie er es geträumt hatte. »Aber nein, das geht ja gar nicht«, sagte er sich dann und fühlte sich schon bedeutend besser. Der dumme Zettel hatte sich ja schließlich wieder angefunden.
Als er an diesem Morgen auf seinem Weg zum Sitzungssaal die gewaltige Haupthalle des Kriminalgerichts durchquerte, um die große Freitreppe hinaufzusteigen - von der sein Namensvetter Kaiser Wilhelm II einst behauptet hatte, dass man die Angeklagten da ja gleich nach der Verhandlung hinunterwerfen könne - fand er das neobarocke Gebäude aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts plötzlich längst nicht mehr so anziehend wie sonst. Und er ertappte sich dabei, dass er permanent nach einer Richterin Gabriele Hassler und seiner Kollegin Christine Dallinger Ausschau hielt, die es beide natürlich gar nicht gab und ihm somit weder die eine noch die andere begegnen konnte. Doch in seinem Kopf, da waren sie stets präsent. Der Prozess verlief dann auch weniger erfolgreich als erwartet, obwohl es eigentlich reine Routine für ihn sein sollte, doch er war nicht recht bei der Sache, der Richter nicht gut vorbereitet und unausgeschlafen, die Staatsanwältin offenbar rachsüchtig, oder sie hatte gerade ihre Tage. Außerdem stellte sich zwanzig Minuten vor den Schlussplädoyers heraus, dass ihm sein Mandant nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Das Ganze endete nach gut zwei Stunden mit einer Beinahemandatsniederlegung und einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 50 Mark.
Während Wilhelm Schweiger zu seinem anderen Termin am Landgericht fuhr, rollte die Ermittlungsmaschinerie in Sachen Hannah Neelsen an. Corinna Schuster erzählte Kriminalkommissar Leopold Schumann alles, was sie von Hannah Neelsen am Telefon erfahren hatte, und war selbst nicht sparsam mit eigenen Vermutungen zum Tathergang. Es wurden in der Wohnung Fingerabdrücke genommen, sämtliche Kleidungsstücke eingesammelt und dutzende Anwohner dazu befragt, ob sie jemanden beobachtet hätten, der gestern gegen 20.30 Uhr das Haus Nummer 25 betreten habe. Wann Hannah Neelsen jedoch selbst befragt werden konnte, war zu diesem Zeitpunkt noch äußerst ungewiss. Vorerst lag sie auf der Intensivstation und war nicht vernehmungsfähig. Lebensgefahr bestand Gott sei Dank jedoch nicht mehr.
Immer noch getrieben von seinen schrecklichen Albträumen suchte Wilhelm Schweiger an diesem Vormittag am Landgericht heimlich weiter nach Personen, von denen er eigentlich wusste, dass es sie nicht gab. So betrachtete er auch die dortige Proberichterin Doris Aalatt prüfend, nachdem er seine Robe angezogen und in seiner Eigenschaft als Klägervertreter hinter dem linken von zwei Rednerpulten - wie sie üblicherweise in alten Gerichtssälen zu finden waren - Aufstellung genommen hatte. Doris Aalatt war Anfang dreißig, zierlich in der Statur und eher etwas bieder. Ihr schulterlanges, blondes Haar bildete einen hübschen Kontrast zu ihrer weißen Bluse und der schwarzen Robe. Kleine goldene Ohrringe blitzten im Licht des großen Kronleuchters, der den alten holzgetäfelten Sitzungssaal erhellte. »Da erscheinen in der Sache Schmidtke gegen Rufus für den Kläger Herr Rechtsanwalt... « »Schweiger«, antwortete er abwesend und konnte den Blick nicht von ihr abwenden. »Rechtsanwalt Schweiger«, diktierte sie äußerlich sicher der Protokollführerin, die sogleich die Angabe in die Schreibmaschine hämmerte und dabei ohrenbetäubenden Lärm veranstaltete. Doch in Doris Aalatt sah es anders aus. Sie war schrecklich aufgeregt, versuchte sich dies jedoch nicht anmerken zu lassen. Zum ersten Mal im Leben musste sie ohne ihre Richterkollegen verhandeln, hatte allein das Zepter in der Hand und konnte sich nicht auf eine stumme Betrachterrolle zurückziehen. »Nein, sie sieht nicht aus wie Gabriele Hassler aus meinem Traum«, dachte er und nahm den ohrenbetäubenden Lärm, bei dem man in dem ohnehin stets hallenden großen Saal das eigene Wort kaum noch verstehen konnte, nicht mehr wahr. »Aber hübsch ist sie.« Doch fiel nicht nur ihm sie auf. Auch Doris Aalatt nahm ihn in besonderer Weise wahr. Aus irgendeinem ihr nicht näher erfindlichen Grund stach er für sie heraus aus der Masse der Anwälte, die sich seit Wochen vor ihr in diesem Saal die Klinke in die Hand gaben.
Als er gegen 13.00 Uhr zurück in die Kanzlei kam, machte ihn Frau Genest darauf aufmerksam, dass er Besuch habe. »Wer ist es denn?« fragte er und hatte überhaupt keine Vorstellung, wer auf ihn warten könnte. »Ich kenne die Dame nicht. Sie sitzt seit einer halben Stunde im Wartezimmer. Ich habe ihr gesagt, dass Sie nicht da seien, aber das störte sie offenbar nicht. – Ach ja, und ein Kommissar Schumann hat angerufen.« Das Wort »Kommissar« ließ ihn innerlich zusammenzucken. Hoffentlich war er nicht schlagartig weiß im Gesicht geworden. »Ich habe gesagt, dass Sie noch bei Gericht seien. Er will sich wieder melden.« »Da bin ich ja gespannt.« Das bezog sich sowohl auf den Besuch als auch auf das Anliegen des Kommissars, wobei er sich bei letzterem denken konnte, worum es höchstwahrscheinlich ging. Nachdem er Robe und Akten in sein Zimmer gebracht und den noch immer schräg stehenden Stuhl geradegerückt hatte, ging er ins Wartezimmer, um zu sehen, wer ihn sprechen wollte. Bei seiner Besucherin handelte es sich um niemand anderes als Marianne Neelsen. Er kannte sie jedoch nicht, und dementsprechend war ihr Zusammentreffen eine ziemliche Überraschung für ihn, rechnete er doch mit einer Mandantin. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?« begrüßte er sie steif, aber höflich, als er das Wartezimmer betrat. Er wollte ihr die Hand reichen - wie er es immer tat, wenn er Mandanten empfing - doch sie ergriff seine Hand nicht. »Ihnen gebe ich nicht die Hand!« fuhr sie ihn stattdessen an und sprang erbost auf. »Ich wollte mir nur mal dieses Schwein aus der Nähe ansehen, dass meine Schwester so übel zugerichtet hat. Sie glauben wohl, Sie können alles mit ihr machen!? - Ich hasse Sie! Ich würde Sie am liebsten umbringen, wissen Sie das?!« Damit hatte er nicht gerechnet. »Das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen! Raus hier, aber sofort«, gab er ihr Kontra, nachdem er die erste Schrecksekunde überwunden hatte. »Ich sag’s Ihnen aber, mitten ins Gesicht, Sie perverser Lustmolch, Sie! Sie haben meine Schwester vergewaltigt und versucht, sie danach umzubringen. Aber das ist Ihnen nicht geglückt. Meine Schwester lebt!« Das Wort »vergewaltigt« ertrug er nicht. Er begann zu zittern, doch das durfte er sich nicht anmerken lassen. »Noch ein Wort und ich hole die Polizei! – Raus!« schrie er sie an, doch Marianne Neelsen hatte stärkere Nerven als er. »Das musste mal gesagt werden! Die wissen schon, was Sie gemacht haben«, sagte sie und verließ eilig das Zimmer.
»Ich hätte es wissen müssen. Eigentlich hätte ich es wissen müssen«, warf er sich selbst vor, während er das Wartezimmer verließ. Wäre er doch gar nicht erst dort hingegangen. Und als ihm bewusstwurde, dass schon wieder etwas aus seinem Traum wahr geworden war, schien ihm förmlich der Boden unter den Füßen weggezogen zu werden. So sehr er auch erleichtert darüber war, dass Hannah Neelsen noch lebte, so sehr begannen ihn diese Ähnlichkeiten zunehmend zu zermürben. Jetzt stand er vor Boysens Zimmertür und hörte diesen drinnen reden. Er klopfte zaghaft an, trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten und sah, dass er Mandantschaft hatte. Vor seinem Schreibtisch saß eine junge Frau. Wortlos, seinem Kollegen kurz zunickend, griff er nach einem dicken roten Buch, das hinter Boysens Rücken im Regal stand, verließ ebenso lautlos das Zimmer und verschwand damit hinter seiner Tür. Dort entnahm er der Attrappe eine halbvolle Cognacflasche und setzte sie - noch immer zitternd - an die Lippen. Doch er hatte noch keinen richtigen Schluck zu sich genommen, als plötzlich Frau Genest wie aus dem Boden gewachsen vor seinem Schreibtisch stand. »Herr Schweiger!« rief sie vorwurfsvoll und ließ ihn ertappt zusammenzucken. »Es ist ja nur ganz ausnahmsweise«, versuchte er sie zu beruhigen und ließ die sündige Flasche sinken. »Was wollte die Dame denn nun?« fragte sie. »Ach die! – Ein bisschen verrückt, wenn Sie mich fragen. Ich habe sie rausgeschmissen«, heuchelte er Abgeklärtheit und schraubte die Flasche zu, doch seine Knie waren nach wie vor butterweich und sein Herz raste. »Sie wissen genau, dass Sie jetzt schwindeln«, sagte Frau Genest ergriffen. Und noch bevor er sie fragen konnte, wie sie zu dieser Behauptung kam, traten ihr Tränen in die Augen. »Sie haben mich sehr enttäuscht, Herr Schweiger. Das hätte ich Ihnen niemals zugetraut – niemals! Und ich wäre froh, wenn es mir erspart geblieben wäre«, sagte sie, um Fassung ringend, und verunsicherte ihn damit sehr. »Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Frau Genest!? War ich zu schroff zu Ihnen? Mir wächst im Augenblick alles ein wenig über den Kopf«, entschuldigte er sich und wusste im ersten Augenblick wirklich nicht, worauf sie hinaus wollte, oder er wollte es nicht an sich heranlassen. Hatten sich seine Traumerlebnisse womöglich schon auf sein Verhalten ausgewirkt? »Das meine ich nicht. Und das wissen Sie auch, Herr Schweiger«, sagte sie voller Strenge. – »Ich meine das, was hier gestern Abend vor sich gegangen ist.« Sie sah ihn an, er sah sie an - und dann wartete er auf das Donnerwetter. »Sie haben mit ihr so ziemlich das Widerlichste gemacht, was ein Mann einer Frau nur antun kann! - Ich hab’s doch gehört, wie Sie mit ihr gesprochen haben! Wie sie geschrien hat, geschrien hat, damit Sie sie loslassen!« Frau Genest hatte am Vorabend auf der Treppe festgestellt, dass sie ihre Lesebrille neben der Schreibmaschine vergessen hatte und war noch einmal in die Kanzlei zurückgekehrt. Bei dieser Gelegenheit war sie unfreiwillig Zeugin seiner Tat geworden. »Was haben Sie denn noch alles gehört?« fragte er erschüttert und wirkte plötzlich klein und hilflos. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Diese Nachricht traf ihn wie ein Schlag. »Alles, Herr Schweiger, ich habe alles gehört.« Wie gelähmt vor Schreck und Enttäuschung hatte sie im Dunkeln des Flures gestanden und war von der flüchtenden Hannah Neelsen fast umgerannt worden. Gott sei Dank hatte sie die Tür zur Kanzlei offenstehen lassen. So hatte sie der Ärmsten wenigstens noch bei der Flucht helfen können. Eigentlich hatte sie nur die Brille nehmen und sogleich wieder gehen wollen. »Möchten Sie jetzt kündigen?« fragte er betreten, doch Frau Gentests Loyalität zur Kanzlei hatte diesen Gedanken trotz alledem nicht aufkommen lassen. Sie tat so, als habe sie die Frage nicht gehört. »Wie können Sie diesem Mädchen das nur antun! - Und Ihrer Frau noch dazu!?« wollte sie stattdessen wissen, doch darauf hatte er keine Antwort. In seinem Kopf herrschte diesbezüglich gähnende Leere. Er konnte nicht einmal darüber nachdenken. Sein Puls tickerte wie wahnsinnig, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. »Haben Sie schon mit jemandem darüber gesprochen?« fragte er nach Luft ringend und hoffte, dass noch etwas zu retten war. Eigentlich war diese Frage völlig überflüssig. Er kannte sie schließlich seit Jahren und glaubte fest daran, dass sie die Sache diskret behandeln würde, doch der Schreck, ertappt zu sein, machte ihn unfähig, dies zu bedenken. »Nein. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen, Herr Schweiger.« »Wenigstens etwas«, dachte er und war ein wenig erleichtert, wenngleich er vor Scham am liebsten augenblicklich im Erdboden versunken wäre. Und dann erinnerte er sich wieder an den Anruf der Polizei. »Hat der Kommissar deshalb angerufen?« fragte er. »Ich weiß nicht, warum er Sie sprechen wollte«, antwortete sie. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Außer ihr wusste niemand, was wirklich an dem Abend passiert war. »Frau Genest, Sie dürfen niemandem davon erzählen«, bettelte er sie förmlich an und bäumte sich auf seinem Stuhl auf. »Bitte, ich flehe Sie an, das müssen Sie mir versprechen«, forderte er noch eindringlicher, noch verzweifelter, und hätte er nicht gesessen, er wäre möglicherweise sogar vor ihr auf die Knie gefallen. »Und wie geht es dann weiter? Ist das nicht ungesetzlich?« fragte sie pflichtbewusst - doch, dass sie ihm in dieser so schweren Lage einfach auswich, war für ihn unerträglich. Mit jedem Bruchteil einer Sekunde, den sie ihn in dieser Ungewissheit schweben ließ, machte sie ihn aggressiver. Wie konnte sie jetzt noch an Verbote denken? »Vergessen Sie doch jetzt mal den ganzen Gesetzesquatsch«, fuhr er sie ungeduldig an und wollte endlich, dass sie ihm Verschwiegenheit zusicherte, doch diese Haltung enttäuschte Frau Genest nur noch mehr. »Das sagen ausgerechnet Sie mir?«, rief sie erschrocken und war wieder den Tränen nahe. Plötzlich tat es ihm leid, dass er so schroff zu ihr gewesen war, und er versuchte, sich in all seiner Angst zusammenzunehmen. »Bitte Frau Genest, bitte! Ich werde alles wieder in Ordnung bringen«, versprach er, »aber bitte sagen Sie nichts! Ersparen Sie mir diese Peinlichkeit, bitte!« Und nun war die passende Gelegenheit gekommen. Er holte tief Luft, um endlich loszuwerden, was ihm allmählich den Hals abzuschnüren schien: »Da ist nämlich noch etwas.« »Noch etwas?« fragte Frau Genest und sah ihn erstaunt an. »Ja. - Ich bin danach zu ihr gefahren, und da fand ich sie halbtot in ihrer Wohnung liegen. - Können Sie sich vorstellen, wie geschockt ich war? Alles passt perfekt zusammen. Diese Tat, und dann ein Verdeckungsmord. – Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen.« »Um Himmels Willen, das ist ja schrecklich!« rief sie voller Mitgefühl, und augenblicklich waren ihr Zorn und all ihre Enttäuschung verflogen. »Ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Das darf alles nicht wahr sein. Aber es weiß ja niemand, dass ich dort war, und solange Aussage gegen Aussage steht...« Sie verstand, was er ihr damit sagen wollte. Während der Mandantensprechstunde meldete sich Kommissar Schumann abermals, doch anweisungsgemäß stellte Frau Genest ihn nicht durch, sondern einigte sich mit ihm auf einen Termin am nächsten Vormittag.