Zwei Mädels, ein Boot, kein Plan - Anna Lange - E-Book
SONDERANGEBOT

Zwei Mädels, ein Boot, kein Plan E-Book

Anna Lange

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit zwei Handbreit Mut unterm Kiel   Anna und Malin haben einen Traum: einfach aufzubrechen und die Welt zu bereisen. Nach Abi und Berufsausbildung starten sie von der Oldenburger Heimat aus in ein "anderes" Leben. Ein Segelboot wird Fortbewegungsmittel und neues Zuhause zugleich. Im Gepäck die Hoffnung, so viele Jahre unterwegs zu sein, bis sie keine Lust mehr auf Ortswechsel haben. Sie wollen wissen: was passiert, wenn man sich aus der Komfortzone herauswagt und plötzlich die Natur die Richtung vorgibt. Nachdem sie es bis Norwegen geschafft haben, folgen sie beherzt ihrem Drang, mutig das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Sie überwintern im hohen Norden auf ihrem Schiff, um weitere Segelabenteuer folgen zu lassen.  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 331

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hinweis zur Optimierung

Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

POLYGLOTT ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Silke Tauscher

Lektorat: Regina Carstensen

Bildredaktion: Silke Tauscher

Kartographie: Favoritbüro Gbr, Bettina Arlt

Schlusskorrektur: Heidemarie Herzog

Covergestaltung: Favoritbüro Gbr, Bettina Arlt

eBook-Herstellung: Christina Bodner

ISBN 978-3-8464-0880-3

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Coverabbildung: Jule Dirks

Fotos: Anna Lange und Malin Knodel, Jannes Rix, Jule Dirks, Tim Schamborski, privat

Syndication: www.seasons.agency

GuU 4-0880 09_2021_01

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

Wichtiger Hinweis

Die Daten und Fakten für dieses Werk wurden mit äußerster Sorgfalt recherchiert und geprüft. Wir weisen jedoch darauf hin, dass diese Angaben häufig Veränderungen unterworfen sind und inhaltliche Fehler oder Auslassungen nicht völlig auszuschließen sind, zumal zum Zeitpunkt der Drucklegung die Auswirkungen von Covid-19 auf das Hotel- und Gastgewerbe vor Ort noch nicht vollständig abzusehen waren. Für eventuelle Fehler oder Auslassungen können Gräfe und Unzer und die Autoren keinerlei Verpflichtung und Haftung übernehmen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet. Es gilt gleichermaßen für alle Geschlechter.

Anna und Malin haben einen TRAUM: einfach aufzubrechen und die Welt zu bereisen. Nach Abi und Berufsausbildung starten sie in ein »anderes« Leben. Ein Segelboot wird Fortbewegungsmittel und neues Zuhause zugleich. Im Gepäck die Hoffnung, so viele Jahre unterwegs zu sein, bis sie keine Lust mehr auf Ortswechsel haben. Sie wollen wissen: was passiert, wenn man sich aus der Komfortzone herauswagt und plötzlich die NATUR die Richtung vorgibt. Nachdem sie es bis an die Grenze zu Norwegen geschafft haben, folgen sie beherzt ihrem Drang, mutig das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Sie überwintern im hohen Norden auf ihrem Schiff, um weitere SEGELABENTEUER folgen zu lassen.

SCHIFF AHOI

VORWORT

Dies ist ein Buch über eine Geschichte. Unsere Geschichte. Die Geschichte unseres Abenteuers, zweier junger Frauen, die ihren Alltag eingetauscht haben. Die die Leinen losgeschmissen haben, bevor sie überhaupt irgendwo auf dieser Welt wirklich festgemacht wurden. Um diese inspirierende Erde zu erkunden, fremde Länder kennenzulernen, interessante Menschen zu treffen und die Freiheit unseres Lebens zu genießen. Die ihren Alltag eingetauscht haben gegen das Ungewisse.

Anna und Malin, das sind wir. Anfangs Mitschülerinnen und nun unzertrennlich, als Team, als Freundinnen, als Familie, als Partnerinnen, als Segelcrew mit einer gemeinsamen Vision: diese wunderbare Welt vom Wasser aus zu bereisen. Mit der Kraft des Windes. Sie nicht nur zu sehen, sondern auch zu spüren und zu entdecken und dadurch langsam und nachhaltig zu reisen.

Wir sind zwei Mädels, die unterschiedlicher nicht sein können. Malin – sportlich, blond, eher klein. Ehrgeizig, positiv und immer gut gelaunt. Die Stimmungsmacherin auf jeder Party und für jeden Quatsch zu haben. Anna – groß, schlank, eher unsportlich, brünett. Impulsiv, ordentlich und dickköpfig. Die Entschlossene, die ihre spontanen Einfälle durchzieht, komme, was wolle. Doch irgendwie und tief im Inneren sind unsere Seelen sich doch sehr ähnlich oder durch das enge Beisammensein sich ähnlich geworden. Und trotzdem nehmen wir viele Dinge noch immer unterschiedlich wahr.

Unser Buch ist eines übers Reisen, über Mut, das Fernweh, das Leben und die Freiheit. Was auch immer diese Begriffe für dich bedeuten. Wir erzählen dir hier, wie sie Teil unserer Geschichte wurden. Und all das, was uns auf unserer Reise berührt und bewegt hat. All die kleinen und großen Abenteuer. Aber vor allem soll unser Buch daran erinnern, wie es sich anfühlt, frei zu sein.

Es ist die Reise unseres Lebens, sie begann sehr spontan und ohne Plan. Wir kauften uns nach unseren beendeten Ausbildungen gemeinsam ein kleines Segelboot aus Stahl, das wir Fiete tauften, fuhren damit durch die Flüsse und Kanäle Europas bis ins Mittelmeer. Mussten unser schwimmendes Zuhause dort schweren Herzens zurücklassen und starteten unser Segelabenteuer von Deutschland aus erneut. Diesmal gemeinsam mit Annas Opa Heiko, welcher uns sein Schiff, die Hevandelli, nach der Trennung von Fiete im Mittelmeer großzügig überließ. Er begleitete uns anderthalb Monate und brachte uns so viel wie möglich über das Schiff und das Segeln bei, bis er uns in Kiel allein ins unendliche Blau lossegeln ließ. Und von dort aus nehmen wir dich mit auf unsere Reise. Eine Reise, bei der noch lange kein Ende in Sicht ist, aber aus der, auch mit offenem Ende, schon eine eigene Geschichte geworden ist. Denn Geschichten brauchen kein Ende, um geschrieben zu werden. Sie brauchen bloß einen Anfang.

DAS ABENTEUER BEGINNT KIEL — STRÖMSTAD

Das Abenteuer beginnt: Wir starten unsere Reise 2.0, und Opa Heiko, der uns in den letzten Monaten viel beigebracht hat, überlässt uns sein Schiff. Häufig denken wir an unsere erste Segeltour mit Fiete, die nicht gerade glücklich endete. Das wird uns aber nicht mehr passieren! In Kiel brechen wir auf, segeln über die Ostsee gen Norden. Wir werden von Tag zu Tag mutiger und begegnen tollen Menschen.

ANNA, 19. JULI 2020 –KIEL

Ich blicke mich um, neben mir Malin, mit Tränen in den Augen. Ich kann nicht begreifen, was hier gerade passiert. Kann mich mal jemand kneifen? Ich will laut schreien, gleichzeitig weinen und laut loslachen. Aber nichts kommt aus mir heraus.

Und so stehen wir bestimmt zehn Minuten einfach da. Nebeneinander. Überwältigt von unseren Gefühlen. In meiner rechten Hand halte ich die Pinne und steuere das Schiff. Der Rest meines Körpers ist wie erstarrt, dabei will ich tanzen, springen, rennen. Wie bin ich nur hier gelandet, auf diesem Schiff, mit Malin, mitten auf der Kieler Förde? Die Segel stehen und der Wind drückt uns geradewegs hinaus auf die Ostsee, nur unendliches Blau voraus. Umgeben von etlichen anderen Segelbooten gleitet der Rumpf unseres schwimmenden Untersatzes durchs Wasser. Die Wellen plätschern und die Sonne brennt auf der Haut. Es ist Hochsommer in Deutschland an diesem Sonntag, und heute hält er, was er verspricht. Mir ist warm. Warm vor Glück und Freude. Ein wenig Angst ist ebenfalls dabei. Ich bekomme Gänsehaut.

Tränen laufen an meinen Wangen herunter, sie kühlen mein Gesicht. Ich drehe mich zu Malin, auch ihre Wangen sind nass, gepaart mit dem breitesten Grinsen, das ich je zuvor an ihr gesehen habe. Es steht ihr. »Ist das zu fassen, ab heute sind wir allein unterwegs, ohne meinen Opa«, flüstere ich. Ich erwarte keine Antwort, sie fühlt genau wie ich, da bin ich mir sicher. Dann umarmen wir uns.

Würde uns jemand beobachten, würde derjenige wahrscheinlich total verwirrt von unserem Anblick sein und könnte nicht einordnen, was mit uns los ist. Zwei Mädels, die dort mitten auf einem Boot stehen und aufs offene Meer hinaussegeln. Hätte mir jemand nach meinem Abitur 2015 gesagt, dass ich fünf Jahre später in genau dieser Situation sein würde, ich hätte ihn vermutlich für verrückt erklärt. Doch nun bin ich genau in diesem Ausnahmezustand. Es scheint, als stünde mir die ganze Welt offen. Als könnte ich alles schaffen.

Nur ein einziges Mal hatte ich ähnliche intensive Gefühle, und das war zu Anfang dieses wahnsinnigen Abenteuers. 2019, heute vor fast genau einem Jahr, haben Malin und ich den Motor unseres kleinen Acht-Meter-Schiffs namens Fiete erstmals angeschmissen. Leinen los und abhauen ins Ungewisse, ohne viel Ahnung zu haben oder einen ausgeklügelten Plan, wie es werden würde. Seitdem ist viel passiert. Es war ein Jahr voller Ups und Downs. Ein Jahr, in dem ich eine Menge über mich selbst gelernt habe, vor allen Dingen war es ein Jahr großer Freiheit. Was hatte uns nur geritten, einfach ein Boot zu kaufen und damit loszufahren?

Im Nachhinein kam mir das ein bisschen unüberlegt und leichtsinnig vor. Waren wir naive Träumerinnen gewesen? Nein. Wir sind es auch jetzt nicht. Allerdings würde ich rückblickend einiges anders machen. Damals hatte unsere Ahnungslosigkeit dazu geführt, dass wir mit unserem Boot fast im Mittelmeer untergingen. Aber das ist eine andere Geschichte. Nun, beim heutigen Neustart unseres Abenteuers, mit dem zweiten Schiff, der Hevandelli, haben wir einen Plan. Wir wollen die Erde unter Segeln entdecken, nicht erst durch tausend schmale und breite Flüsse und Kanäle motoren. Deshalb entscheiden wir uns zunächst, in der Ostsee zu starten, um richtig segeln zu lernen. Der Winter im Süden muss zunächst warten.

Mehr Planung braucht es für uns nicht, um loszuziehen.

Aus einer Idee wurde eine Geschichte, die sich aus vielen kleinen und großen Puzzleteilen zusammensetzt. Das erste Teil des Puzzles ist wohl Malin. Unsere Wege kreuzten sich in der fünften Klasse, als wir auf dieselbe Schule kamen. Richtig kennengelernt haben wir uns erst während der Oberstufe, und im Sommer 2015 wurden wir als stolze Abiturienten in eine Welt voller Möglichkeiten entlassen. Während unserer Ausbildung bezogen wir eine kleine Zweizimmerwohnung in Bremen. Dort entwickelte sich nach und nach der Gedanke einer großen Reise.

Ich löse mich aus unserer Umarmung, überreiche Malin das Steuer, verschwinde im Inneren unseres Schiffs und klettere im Bikini wieder heraus. Das Leben kann kommen. Juuuuhu! Immer noch etwas neben der Spur segeln wir die deutsche Ostseeküste entlang, zuallererst Richtung Norden. Wir wollen uns einen geschützten Ankerplatz suchen, um am nächsten Tag so schnell wie möglich unser Heimatland zu verlassen.

MALIN, 19. JULI 2020 – KIEL

Es ist ein trauriger Abschied mit Tränen. Und als wäre so ein Abschied auf ungewisse Zeit nicht schon genug, entscheiden wir uns, unter Segeln abzulegen. Das machen nicht einmal erfahrene Segler, aber wir wollen Annas Großvater Heiko nach all der gemeinsamen Zeit auf dem Schiff beweisen, dass wir jetzt segeln können. Wir möchten ihm damit versichern, dass er beruhigt von Bord gehen und uns auf große Fahrt schicken kann. So segeln wir mit viel Stress und Hektik, die er vom Anleger aus hoffentlich nicht mitbekommt, aus der Box hinaus und kreuzen gegen den Wind aus der engen Ankerbucht auf die Kieler Förde.

Jetzt ist es nach einiger Anstrengung geschafft, und in Gedanken bin ich schon bei dem morgigen Törn. Es sind fünf Windstärken vorhergesagt, und bislang sind Anna und ich noch nie wirklich zu zweit segeln gewesen. Nun liegt die Verantwortung bei uns. Fürs Schiff und für unsere Sicherheit.

Auf der offenen Ostsee segeln wir in Richtung Schlei, ein kleiner Fjord zwanzig Seemeilen nördlich von der Kieler Förde. Hier soll es einen ruhigen Ankerplatz geben, ein optimaler Ausgangspunkt für die Überfahrt nach Dänemark. Da der Wind unerwartet stärker wird, verkleinern wir beide Segel, reffen sie, denn das ist es, was uns Opa Heiko in den letzten zwei Monaten beigebracht hat.

»Wenn der Wind zunimmt und ihr ans Reffen denkt, dann refft!«, sagte er immer wieder. Das tun wir jetzt.

»Wie war das noch mal?«, frage ich. »Welche Leine muss ich jetzt zuerst losmachen, welche festziehen? Und kann dabei eigentlich das Vorsegel stehen bleiben?«

Es ist das erste Mal, dass ich diese Fragen an Anna richte. Richten muss. Wir sind nun auf uns allein gestellt. Und nachdem die Segel gerefft sind und wir weiter Kurs auf die Schlei setzen, hake ich noch mal nach, ob die Segel so richtig stehen.

»Passt schon, wir segeln ja, wir kommen ja voran«, sagt Anna.

Im Gegensatz zu ihr, die die ganze Zeit davon schwärmt, dass das Abenteuer erst jetzt richtig losgehe, wie schön der Sommer werden würde und wir endlich zu zweit unterwegs sind, mache ich mir Gedanken, ob wir abermals reffen müssen, ob es mit der Einfahrt in die Schlei klappen und der Anker heute Nacht halten wird. Auch kreist in meinem Kopf, ob wir wirklich morgen schon nach Dänemark segeln sollten. Haben wir uns da nicht zu viel vorgenommen? Anna will von meinen Bedenken nichts wissen. »Hey, Malin, wir können jetzt machen, was wir wollen. Wie krass ist das denn?«

Recht hat sie, überlege ich, und auch, dass ich mir in den nächsten Monaten bestimmt noch wünschen werde, dass Annas Opa Heiko, unser Segellehrer, dabei wäre und mir Sicherheit gibt und die Verantwortung übernimmt, wenn es brenzlig wird. Aber ich gestehe mir ein, dass wir dann nicht über uns hinauswachsen können. Nach dieser Feststellung fühlt sich auf einmal alles richtig an. Das, was wir hier gerade machen. An einem Sonntagnachmittag auf der Ostsee, bei 25 Grad Celsius und strahlend blauem Himmel, an der wunderschönen Küste entlang zu segeln und nicht einmal zu wissen, wo wir übermorgen sind, geschweige denn in fünf Monaten. Ich fühle mich frei wie ein Vogel, besser gesagt wie ein Fisch, der alle Ozeane der Welt bereisen kann, wenn er sich nur traut. Ist das Freiheit? Ich weiß es nicht, ich werde es hoffentlich noch herausfinden. Es fühlt sich auf jeden Fall unfassbar und überwältigend an.

Dank Annas Leichtigkeit freue ich mich jetzt auf den schönen Abend vor Anker. Über den morgigen Segeltörn mache ich mir jedoch immer noch Sorgen.

ANNA, 20. JULI 2020 – VON DER SCHLEI NACH DÄNEMARK

6:30 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich muss mich nicht aus der Koje quälen. Ich habe ohnehin nicht sonderlich gut geschlafen, denn die Aufregung, was der heutige Tag bringen wird, ist riesig. Werden wir es packen, nach Dänemark zu segeln und dort einen geeigneten Platz für die Nacht zu finden? Es ist das erste Mal, dass wir einen Segeltörn von dieser Strecke alleine durchziehen. Bis gestern war Opa Heiko noch als Schiffsführer und Segellehrer mit dabei gewesen. Meine Freiheit auf dem Wasser beginnt mit großer Ungewissheit. Dennoch habe ich diesem Moment entgegengefiebert. Das Dreivierteljahr, seitdem wir vom Mittelmeer ohne Fiete zurückgekehrt waren und uns auf den Neustart mit Hevandelli vorbereiteten, fiel mir nicht leicht. Es war ein regelrechtes Warten darauf, endlich wieder unterwegs zu sein. Nicht zu wissen, wo wir am Ende eines Tages mit unserem mobilen Zuhause übernachten werden, habe ich sehr vermisst.

Die Ankerkette rattert, wir setzen die Segel und gleiten langsam dahin. Es läuft perfekt, fast zu schön, um wahr zu sein. Heute können wir endlich die erste Gastlandflagge setzen. Die dänische. Dazu gibt es am Mast eine Extraleine, an dem eine kleine Flagge des jeweiligen Lands, in dem man sich gerade befindet, hoch in den Mast gezogen werden kann. Das ist Pflicht. Ebenfalls sind wir dazu verpflichtet, eine etwas größere Flagge des Heimatlands am Heck zu führen, am hinteren Teil des Schiffs. Eine veraltete Tradition, wie ich finde, aber auch praktisch, da man die vorbeifahrenden Schiffe dann gleich zuordnen kann. Irgendwie schon toll, auf der Ostsee eine spanische oder eine neuseeländische Flagge zu sehen. Das zeugt meistens von sehr erfahrenen Seglern, die schon weit gereist sind. Ich knote also die rot-weiße Flagge an die Leine und ziehe sie nach oben. Da weht sie nun munter vor sich hin. Kurz hinter der dänischen Insel Ærø lassen wir nach einem traumhaften Segeltörn den Anker fallen. Ich atme auf. Geschafft. Wir haben Deutschland verlassen und sind bereit für ein neues Land, mit neuen Leuten und einer neuen Kultur.

Abends will ich von unserer Badeleiter ins Wasser springen. Kurzerhand ziehe ich mich bis auf die nackte Haut aus. Hier kennt mich sowieso keiner. Ich bin frei und so will ich mich auch fühlen, und hüpfe ins kühle Nass. Herrlich, diese Erfrischung. Nicht von dieser Welt.

Vor lauter Dankbarkeit denke ich an Opa Heiko. Wie es ihm wohl geht?

Anna als kleines Mädchen mit ihrem Opa Heiko

Seit gestern ist Opa Heiko wieder zu Hause in Niedersachsen, genauer gesagt in Oldenburg. Seiner, Malins und ja auch meiner Heimatstadt. In Kiel hatte er uns mit Tränen in den Augen verabschiedet. Ich stelle mir vor, wie er im Hinterhof seines Hauses sitzt, auf dem Gartenstuhl neben der Garage, und genüsslich raucht. Unter uns Enkelkindern hat er den Spitznamen »Kamin«, weil immer dann, wenn es irgendwo nach Rauch riecht oder man eine kleine Wolke sieht, jeder weiß, dass Opa nicht fern ist. Würde er das herausfinden, würde er bestimmt schmunzeln. Aber pst – nichts verraten! Von seinem Stammplatz aus hat er einen Blick auf das Haus meiner Eltern. Dort bin ich aufgewachsen. Ein Hauch von Heimweh überkommt mich.

Was wird Opa Heiko fühlen, jetzt, wo es eine abgeschlossene Sache ist und es kein Zurück mehr gibt? Vermissen wird er sein Schiff sicherlich manchmal, doch was er sich in den Kopf gesetzt hat, wird durchgezogen. Ohne Wenn und Aber. Denn er hat mir, seiner Enkeltochter, sein Ein und Alles überlassen. Sein Schiff. Seit vorgestern ist es mein Schiff, auch wenn ich es noch immer nicht glauben kann.

Ich klettere über die Badeleiter zurück aufs Boot, trockne mich ab, blicke noch einmal zur untergehenden Sonne am Horizont und husche in die Koje. Seit langer Zeit bin ich nicht mehr so schnell und glücklich eingeschlafen.

ANNA, 21. JULI 2020 – TROENSE BEI SVENDBORG

Nach einem entspannten sonnigen Morgen mit ausgiebigem Frühstück machen wir uns auf den Weg quer durch die dänische Südsee Richtung Svendborg. Das Segeln kann nicht besser laufen. Ich komme mir vor wie in einem Bilderbuch. Rechts und links Segelboote. Ausgelassenes Rüberwinken. Nach dem Passieren des Svendborgsunds landen wir vor Troense in einer ziemlich überfüllten Ankerbucht – eine Empfehlung von Erik. Erik ist ein treuer Verfolger unseres Abenteuers in den Sozialen Medien, in denen wir unsere Reise täglich dokumentieren. Auch er hat heute den Weg nach Troense gewählt. Erik ist Mitte zwanzig und segelt Einhand, also allein, ein kleines nordisches Folkeboot von 1959. Folkeboote sind traditionelle Segelboote aus Holz, die speziell für die Ostsee gefertigt wurden. Als Erik mit seinem Schiff in die Bucht segelt, erinnert er mich an einen Wikinger. Hellblonde Haare, kräftig gebaut, Vollbart. Er macht bei uns auf einen Kaffee Halt, dazu gibt es dänisches Gebäck und wir quatschen über den herrlichen Tag auf See.

Genau diese Begegnungen werden hoffentlich unsere gesamte Reise ausmachen.

Denn die Begegnungen sind, was das Reisen mit Leben füllt. Und weil es für diesen Tag noch nicht genug ist, segeln wir mit dem Folkeboot und unserem Schlauchboot im Schlepptau zu dritt quer durch die Ankerbucht zu einem Zweimaster namens Scarlett. Bewohnt von Toni und Paul. Die beiden sind um die dreißig, haben sich eine einjährige Auszeit genommen und waren wie wir zuvor in den französischen Kanälen unterwegs gewesen. Diesen Sommer genießen sie auf der dänischen Ostsee. Übers Internet hatten wir uns für heute zum Abendessen verabredet.

»Wir waren im Winter mit dem Schiff eingefroren, selbst die Schleusen konnten nicht mehr geöffnet werden«, lausche ich Toni, die von ihren Erlebnissen auf den Kanälen erzählt. Toni stammt aus Kiel, hat lange dunkle Haare und eine sehr offene Art. Für mich sieht sie mit ihrer Brille aus wie eine Studentin. Auch Paul habe ich sofort ins Herz geschlossen. Er ist groß und schlank und trägt wie seine Freundin eine Brille. Von Anfang an ist es so, als würden wir uns schon länger kennen. »Wir steckten dort fast einen Monat lang fest, es gab kein Vor und kein Zurück«, höre ich Paul sagen, während ich an Fiete denke. Im letzten Jahr hatten wir dieselbe Strecke gewählt. Über die großen Flüsse wie die Saône und die Rhône bis ins Mittelmeer. Dort entdeckten wir unsere Segel-Leidenschaft, uns war klar geworden dass wir weiter auf einem Boot leben wollen, wenn auch auf einem anderen. Denn Fietes Substanz war mehr Rost als Stahl, das hat ein altes Schiff, was keine Pflege genossen hat, manchmal leider an sich. Und so kam es, dass wir kurz vor der spanischen Mittelmeerküste einen Wassereinbruch hatten und Fiete samt uns und unserem Hab und Guts fast gesunken wäre. Wir konnten das Schlimmste verhindern. Nach angefangenen Reparaturen und wildem Pläneschmieden hatten wir jedoch auf unseren Verstand gehört und uns dazu entschieden, Fiete nicht weiter zu behalten, kein Geld mehr in ein Rennen gegen die Zeit zu stecken und unsere Zelte am Mittelmeer abzubrechen und zurückzukehren nach Deutschland. Ohne unser Schiff.

»Wie seid ihr überhaupt dazu gekommen zu segeln?«, höre ich Paul fragen.

Malin beginnt zu erzählen: »Annas Familie war wohl unsere ursprüngliche Inspiration, ohne sie hätten wir das vermutlich gar nicht in Erwägung gezogen.«

Das ist richtig, meine Großeltern segeln, seitdem ich denken kann. In meinen Schulferien war ich oft bei ihnen an Bord gewesen. Aber das Segeln an sich hatte mich nie wirklich interessiert, mehr gefiel mir das Keschern von Krebsen und kleinen Fischen im Hafenbecken oder das Sandburgenbauen mit Oma am Strand. Meine Mutter hat als Kind ebenfalls viel Zeit auf dem Boot verbracht. Wenn sie davon erzählt, hat man das Gefühl, es muss jede freie Minute gewesen sein. Nicht unbedingt, weil sie es wollte, sondern weil es alternativlos war. Vielleicht einer der Gründe, warum sie heute nicht mehr segelt. Als sie sechzehn war, nahmen sich meine Großeltern eine Auszeit und reisten mit der gesamten Familie ein ganzes Jahr mit dem Schiff durch Westeuropa und quer durchs Mittelmeer. Für die damalige Zeit eine Seltenheit. Meinen Onkel, ihr jüngstes Kind, mussten sie dafür sogar aus der Schule nehmen. Und die Geschichte, dass der Schulleiter das nicht genehmigte und sie trotzdem die Leinen losgeschmissen hatten, höre ich heute noch gern.

Langzeitreisen sind inzwischen schon längst nicht mehr nur bei frisch gebackenen Rentnern geschätzt, sondern werden in jeder Altersklasse immer beliebter. Und möglich. So wie bei Malin und mir. Opa Heiko, der in diesem Punkt ein großes Vorbild für mich ist, segelte 1972 ganz allein über den Atlantik. Über 3000 Seemeilen auf einem kleinen, 8,50 Meter langem Schiff. Sechsundvierzig Tage auf dem offenen Meer der Natur ausgesetzt, kein Land in Sicht, mehrere tausend Meter dunkle, unerforschte Tiefe unterm Schiff. Eine bewundernswerte Leistung, nicht nur heute, aber ganz besonders in den Siebzigern. Ohne jegliche Technik an Bord. Wie die frühen Seefahrer orientierte er sich an den Sternen, um zu navigieren. Wenn das keine Anregung für uns ist, ein Abenteuer auf dem Wasser zu starten.

Die Uhr zeigt inzwischen kurz vor eins. Zum Abschied machen wir noch ein Polaroid mit Tonis Kamera. Schade, noch so viel länger hätte ich mit diesen Menschen reden können. Für heute soll es reichen. Erik macht sich auf den Weg in den Hafen und wir paddeln im Dunkeln zurück zu unserem Ankerplatz. Was für eine tolle Begegnung. Ohne einen Schluck Alkohol oder eine sonstige Droge fühle ich mich wie beflügelt. Ein Gefühl, das wir High of Life nennen werden. Dabei heißt es im Englischen ja eigentlich »High on Life«, doch irgendwie haben wir es von Anfang an so gesagt, um einen vollkommenen Moment zu beschreiben.

MALIN, 24. JULI 2020 – MUSHOLM

Entschlossen lichten wir den Anker, den wir gestern hier vor der dänischen Hafenstadt Nyborg fest eingefahren haben. Es weht ein schöner Wind, das heißt für uns beide, dass er mit höchstens vier Beaufort weht. Ab fünf Beaufort wird’s stressig, alles ab sechs Beaufort haben wir bisher nur mit Annas Opa Heiko zusammen erlebt, und ich brauche es nicht noch mal. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt, an dem uns auch bei schönen Windverhältnissen die vielen Leinen, die riesigen Segel, der schwere Anker samt Kette und das Steuern des Schiffs genug herausfordern.

Wir wissen, dass der Wind heute von vorne kommt. Logisch, dass man nicht gegen den Wind segeln kann, also kreuzt man, um voranzukommen. Zunächst segelt man in die eine Richtung, mit einem Winkel zum Wind, dass der gerade noch so in die Segel pustet und das Schiff vorantreibt, dann dreht man das Schiff durch den Wind und lässt ihn von der anderen Seite in die Segel pusten. Das nennt man »hoch am Wind« segeln, denn man versucht so hoch an den von vorn kommenden Wind zu fahren. Probiert man noch mehr gegen den Wind zu segeln, bläst der Wind nicht mehr ins Segel, das Schiff verliert dann an Fahrt und treibt sogar zurück. Man segelt also einen Zickzackkurs und verlängert auf diese Weise die Strecke um zirka das Doppelte. Hört sich anstrengend und kompliziert an, ist es auch.

Kommt der Wind von vorne, kommt es die Welle in den meisten Fällen auch. Und genau das jagt uns Angst ein, denn bei jeder Welle taucht der Bug ins Wasser, es spritzt übers Deck bis ins Cockpit. Windiger als vorhergesagt ist es außerdem, und so ändern wir den Kurs. In den letzten Wochen haben wir gelernt, dass das Segeln vor dem Wind, sprich: wenn der Wind und die Welle von hinten kommt, ein fast gegensätzliches Segeln im Vergleich zum Segeln hoch am Wind ist. Das kann ein Unterschied wie Tag und Nacht sein. Da wir nicht zurückfahren wollen – das würde sich anfühlen wie verlieren –, steuern wir so, dass der Wind von der Seite bläst. Das nennt man halben Wind, und es ist schon deutlich angenehmer. Aber die dunkelgrauen Wellen mit ihren weißen Schaumkronen beunruhigen mich immer noch. Okay, ich habe Angst. Ich habe richtig Schiss. Der Wind wird mehr und mehr. Wir reffen das Großsegel dreimal. Ich hatte gedacht, das macht man erst bei Sturm. Puh.

Jetzt einen rauchenden und tiefenentspannten Opa Heiko in Schlappen neben mir zu haben, der mir zumindest sagen könnte, ob wir gerade das Richtige tun, das wäre was.

Da wir mitten im Großen Belt segeln, befindet sich rechts und links von uns Land. Durch den Nieselregen sehen wir es zwar nicht, allerdings gibt uns das die Möglichkeit, in jede Richtung zu steuern und anzukommen. Irgendwo anzukommen. Wo, ist mir heute wirklich egal. Mitten auf dem Atlantik kann man nicht einfach sagen: »Komm, wir segeln jetzt statt nach Westen Richtung Norden, weil der Wind plötzlich von vorne kommt«, dann landet man auf Grönland statt in der Karibik. Gut, dass wir erst mal nur im Großen Belt unterwegs sind.

Auf dem Plotter, unserem Navigationsgerät, schaue ich, wo wir mit dem angenehmeren, immer noch angsteinflößenden Kurs ankommen würden.

»Musholm«, sage ich laut. »Die Insel sieht sehr klein aus, aber es ist ein Anker eingetragen. Das heißt doch sicher, dass sich der Meeresboden zum Ankern eignet, oder?«

»Denk ich auch! Da sollten wir hin!«

Nach zwei Stunden Schaukeln und krampfhaften Festhalten an der Reling sehen wir die Insel, die uns für diese Nacht hoffentlich Schutz bieten kann. Sie wirkt wie eine aufgeschüttete Sanddüne, die gerade mal ein Meter über dem Meeresspiegel liegt.

An manchen Stellen, an denen sie nur ein paar Meter breit ist, ist sie durch den starken Wellengang einfach überspült. Auch wenn sie für diese Nacht keinen Schutz vor dem Wind bieten wird, schafft sie es trotzdem, die Wellen zu brechen, sodass wir ohne Schaukelei in die Bucht hinter der Insel segeln und dort den Anker schmeißen.

»Geschafft! Das war ein wilder Ritt!«, rufe ich Anna vom Bug aus zu, während ich die Klappe zum Ankerkasten schließe.

Während wir Penne mit Tomatensoße kochen – wohlverdient –, macht sich spürbar Erleichterung bei uns breit.

»Ich hab mir bei den Wellen fast in die Hose gemacht!«, sage ich lachend.

»Ging mir nicht viel anders, aber eigentlich wissen wir ja, dass das Schiff für eine viel höhere Belastung gebaut wurde. Wovor haben wir denn eigentlich Angst? Kentern wird’s schon nicht.« Anna klingt so, als sei sie völlig überzeugt von dem, was sie gerade ausgesprochen hat.

»Nein, kentern wird sie nicht. Oder Hevi?«, frage ich erwartungsvoll in den Raum und klopfe gegen die Außenwand unseres Schiffs. Ich sitze auf der linken Seite, Backbord, und warte auf die Nudeln. Die Soße steht bereits auf dem Tisch und riecht himmlisch. Nudeln sind meine Leibspeise. Rechts von mir sind kleine Schränke angebracht, in denen wir Teller, Schüsseln, Gewürze, Kaffee und Tee lagern. Unter den Schränken, auf dem Boden, steht ein hüfthoher Schrank, den man von oben öffnen kann. Das ist unser Kühlschrank. Rechts davon befinden sich unser Gasherd und Gasofen sowie ein kleiner Stauraum für Pfannen und Töpfe. An der Spüle, die ihren Platz in der Mitte des Schiffs hat, haben wir einen Wasserhahn, der uns Süßwasser liefert, und auch einen Salzwasserhahn. Den benötigen wir nur, wenn wir unsere 200 Liter aus dem Wassertank aufgebraucht sind und wir auf Salzwasser zum Abwaschen wechseln müssen. Anna steht quasi im Eingangsbereich, denn wenn man die drei Stufen des Niedergangs heruntersteigt, befindet man sich genau vor der Spüle. Hinter der Spüle zieht sich ein schmaler, robuster Tisch aus hellem Holz bis zur Vorschiffskabine. Links und rechts kann man Seitenflächen ausklappen, sodass der Tisch eine beträchtliche Esstischgröße erreicht. Ich habe mir meine Seite hochgeklappt, und die Teller stehen schon bereit.

Hier sieht man unsere Küche, sowie die Tür zur Koje.

Auf der rechten Seite des Tischs bleibt die Fläche meistens eingeklappt, denn dann kann man zwischen Tisch und einem kleinen Sofa hindurchlaufen, um zur Vorderkabine zu gelangen. Hier befindet sich die ein Meter achtzig lange, dreieckige Kapitänskoje, die für uns eher als Stauraum für Segel, zwei fast unbenutzte Gitarren und meine Klamotten dient. Wir empfinden die Achterkabine als deutlich gemütlicher, zudem läuft sie nicht an den Füßen schmal zur Spitze zusammen, sondern ist ein Meter vierzig mal zwei Meter breit. Wie eine passable Matratze eigentlich.

Die Tür zur Achterkoje, auch Hundekoje genannt, befindet sich neben dem Gasofen. Außer der Matratze und Annas kleinem Kleiderschrank und zwei Fenstern ist hier sonst nichts. Wir schlafen also an der linken Außenwand des Schiffs. Gegenüber von uns, genau an der rechten Außenwand des Schiffs, sind unsere Toilette und ein großer Stauraum, Backskiste genannt. Hier sind Leinen, Rettungswesten, Diesel, Benzin, Fender, weitere Segel und vieles mehr untergebracht.

»Vorsicht, heiß«, sagt Anna und holt mich aus meinen Gedanken über unser kleines Zuhause. Mittlerweile fühlen wir uns hier an Bord pudelwohl, es fühlt sich wirklich wie ein Zuhause an. Ein schwimmendes Zuhause.

»Guten Appetit. Lass es dir schmecken, Malin!«

ANNA, 26. JULI 2020 – INSEL SAMSØ

Die Augen kann ich nur noch schwer aufhalten, der Wind weht uns um die Nase. Eingepackt in unseren Bettdecken sitzen wir draußen in der Finsternis. Eine Ankerwache fast die ganze Nacht über haben wir bislang noch nicht gemacht. Na ja, irgendwann ist immer das erste Mal. Bei dieser Wache geht es um die Kontrolle des Ankers. Ob der auf dem Meeresgrund hält und das Schiff somit nicht vertreibt. Normalerweise überprüfen wir das vor dem Schlafengehen, bei viel Wind noch einmal in der Nacht. In dieser Nacht war sehr viel Wind, weshalb wir es vorgezogen haben, unser Bett nach draußen zu verlegen.

Hinter der Hevandelli wird es heller, es ist 4:30 Uhr. Nicht eine Minute haben wir die Augen schließen können, auch wenn sie langsam von selbst zufallen. Während der letzten, eher ruhigen Tage ging es für uns zwischen den dänischen Inseln Fyn (Fünen) und Seeland über den Großen Belt Richtung Norden zur Insel Samsø. Es waren Segeltage, an denen wir das Schiff immer besser handeln lernten, Aufregung unser ständiger Begleiter war und wir das Wasser, den Wind und alles um uns herum nur so in uns aufsaugten. Es gab reichlich Wind, und das Passieren der Großen-Belt-Brücke hatte uns einige Nerven gekostet. Wir steuerten Musholm an, schon auf dem Weg dahin nahmen Wellen und Wind ordentlich zu. Hinter der Insel wollten wir unbedingt unter Segeln in die Ankerbucht fahren, auch wenn uns bewusst war, dass sie wesentlich einfacher mit dem Motor zu erreichen gewesen wäre. Unsere Seglerehre verbat uns das. Wir kreuzten Schlag um Schlag dem Wind entgegen. Erschrocken blickte ich dann irgendwann auf unseren Tiefenanzeiger. Keine fünfzig Zentimeter mehr unter unserem Schiff. Mist. Hektisch drehten wir um. Und plötzlich bauten sich vor uns Netze einer Fischfarm auf. Laut Karte hätte sie eine halbe Seemeile weiter östlich liegen sollen. Hatten wir uns so versehen? Wir wussten, dass wir auf keinen Fall in die Netze hineingeraten durften, denn ohne Hilfe kann man sich aus solchen Farmen nicht befreien. Am Ende hatten wir der Situation aber entkommen können – und nahmen den Weg in die Bucht unter Motor. Einer der Tage, die uns trotz angekratzter Ehre wachsen ließen.

Ich merke, dass ich zu träumen angefangen habe. Erschrocken reiße ich die Augen auf und blicke erneut auf die Uhr. 4:32 Uhr. In dieser Nacht haben wir in einer Bucht vor Langør direkt neben dem Hafen geankert, um die Hafengebühr zu sparen. 27 Euro für ein nicht einmal zehn Meter langes Schiff und das für eine einzige Nacht – Wahnsinn. Ein Low-Budget-Reisen ist mit dem Segelboot nur vor Anker möglich, denn das Übernachten in einer Ankerbucht ist in der Regel kostenlos. Mit unserem Ersparten aus drei Jahren Ausbildung, was nicht besonders viel ist, wäre ein Hafenplatz bei den Preisen Luxus. Zugegeben, unser Reisebudget ist relativ klein. Neben den geringen Ersparnissen hatten wir noch alles, was wir nicht mit aufs Boot nehmen konnten, verkauft: Möbel und Kleidung. Während unserer ersten Reise mit Fiete kamen wir mit ungefähr 500 Euro im Monat aus, aber Hevandelli ist größer als Fiete, und je größer das Boot ist, desto höher sind die Unterhaltungskosten. Reparaturen, Ausrüstung, Hafenkosten und alles, was dazugehört, wachsen mit den Schiffsmetern. Das Geld ist unser einziges Limit, wir sind jedoch nicht abgeneigt, unterwegs ein wenig Geld dazuzuverdienen. Irgendwo auf der Welt zu kellnern, das würden wir schon hinbekommen. Hauptsache ist, unsere Reise kann weitergehen.

Wir hatten gewusst, dass die Nacht sehr windig werden würde, und im Nachhinein wäre es wahrscheinlich schlauer gewesen, in den Hafen zu fahren. Aber wer kann schon alles vorher erahnen. Wir lagen in der Koje, als wir das Schwert, den untersten Teil unseres Schiffs, auf dem Meeresgrund schliddern hörten.

Ein Horrorgeräusch für jeden Segler. Grundberührung.

Wir waren auf den Strand getrieben worden, der Anker hatte sich ausgegraben. Mein Herz pochte stark, mein ganzer Körper bebte und meine Hände zitterten. Schlagartig waren wir hellwach. Wir stolperten an Deck und griffen uns auf dem Weg noch schnell die dicken Öljacken. Schwarze Nacht umhüllte uns. Nur die Ankerlichter der anderen Boote waren sichtbar. Was nun? Den Motor starten und Gefahr laufen, die Schraube zu zerstören? Weiter treiben lassen war auch keine Option. Weiter hinten, im flacheren Wasser, konnten größere Steine auf uns warten. Dann würde es noch schwerer werden, aus dem flachen Wasser wieder herauszukommen. Ein Heraussegeln war mit auflandigem Wind einfach nicht möglich. »Wir haben keine Wahl! Das Risiko, an der Schraube etwas kaputtzumachen, müssen wir eingehen«, rief Malin. Es blieb uns tatsächlich nichts anderes übrig. Ich startete schnell den Motor, Malin holte vorn an Deck den Anker hoch. Gang rein. Puh, alles hörte sich wie gewohnt an. Langsam schlängelten wir uns an den anderen Booten vorbei aus der Bucht, um weiter draußen erneut einen Ankerversuch zu starten. Es war schwer, in der Dunkelheit überhaupt etwas zu erkennen. »Lass fallen!«, schrie ich über das Motorengeräusch hinweg. Aufatmen, der Anker schien zu halten. Was für eine Aufregung.

Ein weiterer Blick zur Uhr. 5:02 Uhr. Als der Himmel in der Morgendämmerung Feuer fängt, entscheiden wir uns, in den Hafen zu fahren, um dort die Leinen festzumachen und beruhigt unseren Schlaf nachzuholen.

Hevandelli liegt jetzt sicher am Steg, und meine Augen fallen zu. Diesmal dürfen sie es auch. Der Name unseres Boots ist übrigens eine Zusammensetzung aus drei verschiedenen Namen: Da sind Heiko und Elli, das sind meine Großeltern mütterlicherseits, seit sechzig Jahren miteinander verheiratet, ihnen gehörte die Hevandelli zehn Jahre, und als Drittes Horst van der Linde, ein guter Freund der beiden. Er hat meinen Großvater bei all seinen verrückten Segelabenteuern immer unterstützt und mir sogar einmal ein Schlauchboot geschenkt, mit dem ich in jedem Hafenbecken herumpaddelte. Kurz vor dem Einschlafen kommt mir nochmals Opa in den Sinn, nie hatte er daran gezweifelt, dass wir es schaffen könnten, schnell segeln zu lernen und ein Schiff auszurüsten. Von Anfang an hat er uns ohne jeglichen Zweifel ganz selbstverständlich in allem bestärkt. Meine Dankbarkeit dafür wehrt vermutlich ewig.

MALIN, 30. JULI 2020 – AARHUS

Noch immer ist unsere letzte Nacht in meinem Kopf. Seitdem male ich mir ständig aus, wie es gewesen wäre, wenn wir nicht ohne Hilfe vom flachen Strand weggekommen wären. Oder wenn wir auf ein anderes Schiff getrieben wären. Oder auf die Steinmole. Ich sehe jedoch ein, dass es außer noch mehr Panik und Angst vor der nächsten Nacht vor Anker nichts bringt, weiter über dieses Erlebnis nachzudenken. Stattdessen lasse ich die letzten Tage Revue passieren.

Was bin ich froh, dass es für mich nicht, wie für Jannes und Malte, nach Hause geht. Deren dreiwöchiger Sommerurlaub ist vorbei, sie müssen wieder zurück an ihren Arbeitsplatz. Aber sie wirken nicht so unglücklich, wie ich es immer war, wenn die Ferien vorüber waren. Als wir die beiden nach unserer schlaflosen Ankernacht im Hafen von Samsø kennenlernten, hatten sie begeistert von ihrem Job erzählt. Malte ist gelernter Versicherungskaufmann und Jannes arbeitet als Servicetechniker bei einem Marine Service. Die zwei sind in unserem Alter, kommen aus der Nähe von Hamburg und segeln jedes Jahr zusammen mit dem Boot – es gehört Maltes Familie – durch die dänische Südsee. Zusammen fuhren wir mit ihnen von Samsø nach Aarhus. Durch unsere lückenhafte Planung waren wir offen für eine spontane Kursänderung, denn Aarhus hatten wir nicht auf dem Schirm gehabt. Wir hatten auch noch nichts anderes geplant, und da wir den bisher spaßigsten Abend der Reise mit den beiden Jungs hatten, entschieden wir uns, deren letzte Urlaubstage zusammen zu verbringen.

Sie hatten uns auf dem Steg in Samsø angesprochen, Jannes kannte uns schon über die Sozialen Medien, und wenn man sich als so junge Segler über den Weg läuft, ist man fast verpflichtet, stehen zu bleiben und Small Talk zu machen, denn Crews in unserem Alter trifft man eher selten.

Nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt hatten, Anna und ich noch super verschlafen in Jogginghosen, fragte Malte, ein großer, blondhaariger Hemdträger mit blondem Bart, ob wir Lust auf eine Spritztour zum nächsten Supermarkt hätten. Die gemieteten zwei Stunden des kleinen Elektroautos, welches am Hafenrestaurant an einer Ladestation wartete, würde in fünf Minuten anfangen abzulaufen. Ich schaute kurz rüber zu Anna, und an ihrem verschmitzten Lächeln sah ich, dass sie eigentlich Lust darauf hätte, aber an unsere Jogginghosen dachte. Sie würde also dazu tendieren, nein zu sagen, aber bevor sie überhaupt dazu kam, sagte ich: »Klar, wir sind dabei. Wir sind in zwei Minuten beim Auto!« Während wir zum Schiff liefen, meinte ich zu Anna: »O Gott, ich hoffe, er hat es nicht nur aus Nettigkeit angeboten.« Anna zuckte nur mit den Schultern. Auf dem Boot sprühten wir uns schnell Trockenshampoo ins Haar und tauschten die ausgewaschenen Jogginghosen gegen Jeans aus, die auch schon länger nicht gewaschen worden waren. Doch halb so schlimm, ich hatte mal gehört, dass sich Jeanshosen von selbst reinigen.

Und so begann der Roadtrip über die halbe Insel, denn wir hatten nach dem Einkauf im Supermarkt noch fünfunddreißig Kilometer und über eine Stunde Zeit, bis das Auto stehen bleiben würde. Malte, der hinter dem Steuer saß, war strikt gegen Navigationsanweisungen über Jannes’ Handy, denn, so erklärte er, er hätte noch Kindheitserinnerungen an die Insel und würde auch so den Weg nach Ballen, einem Ort auf der südöstlichen Seite von Samsø, finden. Als wir uns dann über vier Kilometer auf einem Feldweg fortbewegten, der immer schmaler wurde und letztlich nicht mehr befahrbar war, musste Malte doch auf Google Maps zurückgreifen. Ich sah Jannes durch den Seitenspiegel auf dem Beifahrersitz grinsen. Jannes ist etwas kleiner als Malte, hat braune, kurze Haare und einen ähnlichen Klamotten-Style wie ich. Sneakers, enge Jeans und weite, lässige Shirts.

Bei einer Restreichweite von fünf Kilometern schaltete Malte endlich vom Sport- in den Eco-Modus, denn wir hatten noch drei Kilometer bis zum Hafen in Langør, wo unsere Boote lagen.

»Danke für den Trip! Wir sehen selten mal was vom Binnenland. Das war echt cool!«, sagte Anna zu den Jungs, während Malte ihr den Vordersitz vorklappte, damit die ein Meter siebenundachtzig lange Frau aus dem kleinen weißen Auto steigen konnte.