Zweite Chancen - Monica Murphy - E-Book

Zweite Chancen E-Book

Monica Murphy

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Beschreibung

Die Geschichte um Faible und Drew geht weiter ...

Wenn ich Faible doch nur überreden könnte, mir eine zweite Chance zu geben! Dann würden sie und ich uns beide nicht mehr so verloren fühlen. Wir könnten zusammenfinden. Für immer.

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Aus dem Amerikanischen von Evelin Sudakowa-Blasberg

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Das Buch

Verloren.

Dieses eine Wort beschreibt mein aktuelles Leben am besten. Ich habe mit meinem Team die Saison-Endspiele verloren, und jetzt geben die Spieler und der Trainer mir die Schuld. Ich habe die letzten beiden Monate verloren, weil ich wie der totale Loser in meiner Verzweiflung versunken bin. Und auch die Einzige, die mir je etwas bedeutet hat, habe ich verloren – vor lauter Angst, das Zusammensein mit mir könnte sie kaputt machen.

Aber jetzt wird mir klar, dass ich völlig verloren bin, wo sie nicht mehr da ist. Sie ist ein Teil meines Lebens … und obwohl sie so tut, als würde sich ihre Welt ohne mich weiterdrehen, denkt sie noch genauso oft an mich wie ich an sie. Das weiß ich. Sie ist schön, süß – und so verdammt verletzlich, dass ich nichts mehr will, als ihr zu helfen. Für sie da zu sein.

Sie zu lieben.

Wenn ich Fable doch nur überreden könnte, mir eine zweite Chance zu geben! Dann würden sie und ich uns beide nicht mehr so verloren fühlen. Wir könnten zusammenfinden.

Für immer.

Die Autorin

Die New York Times-, USA Today- und internationale Bestseller-Autorin Monica Murphy stammt aus Kalifornien. Sie lebt dort im Hügelvorland unterhalb Yosemites, zusammen mit ihrem Ehemann und den drei Kindern. Sie ist ein absoluter Workaholic und liebt ihren Beruf. Wenn sie nicht gerade an ihren Texten arbeitet, liest sie oder verreist mit ihrer Familie. Zweite Chancen ist der zweite Band der TOGETHERFOREVER-Serie.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

Second Chance Boyfriend bei Bantam Books.

Originalausgabe 07/2015

Copyright © 2013 by Monica Murphy

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur GmbH, München.

unter Verwendung von plainpicture/Fancy Images

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-16287-0

www.heyne.de

Meiner Familie, die es gelassen erträgt,

dass ich ständig vor dem Computer sitze –

danke für eure Liebe und Unterstützung.

Ihr bedeutet mir alles.

»Du kannst die Augen vor den Dingen verschließen, die du nicht sehen willst, aber du kannst dein Herz nicht vor den Dingen verschließen, die du nicht fühlen willst.«

– Johnny Depp

Hast du jemals etwas so unfassbar Dummes getan, dass Schuldgefühle und Reue wie eine dunkle, schwere Wolke über dir hängen? Dir dein Urteilsvermögen vernebeln und an deiner Seele nagen, bis du nichts anderes mehr sehen, hören oder denken kannst?

Auf mich trifft das zu. Ich habe eine Menge Dinge angestellt, die ich bereue, die mir Schuldgefühle bereiten. Doch am allerschlimmsten ist das, was ich gestern getan habe.

Ich habe das Mädchen, das ich liebe, nackt in seinem Bett zurückgelassen. Wie irgend so ein Macho-Arschloch, jemand, der ein Mädchen benutzt, Sex mit ihm hat und danach abhaut – genauso bin ich. In diesen Typen habe ich mich verwandelt.

Doch ich bin nicht wirklich dieser Typ. Ich liebe das Mädchen, das ich nackt in seinem Bett zurückgelassen habe. Nur verdiene ich sie nicht.

Und das weiß ich.

Manchmal musst du dich allein durchbeißen, nur um sicherzugehen, dass du es noch kannst.

– Unbekannt

Fable

Zwei Monate. Seit zwei gottverdammten Monaten habe ich ihn weder gesehen noch von ihm gehört. Ich meine, wer tut einem anderen Menschen so etwas an? Wer bringt es fertig, mit einer anderen Person die intensivste Woche seines Lebens zu verbringen und ihr seine intimsten Gedanken, seine verrücktesten und dunkelsten Geheimnisse anzuvertrauen, Sex mit ihr zu haben – und wir reden hier von sensationellem, welterschütterndem Sex –, ihr einen Zettel zu schreiben, auf dem »Ich liebe dich« steht, und sich dann vom Acker zu machen? Ich kann dir sagen, wer so etwas fertigbringt.

Drew, dem-ich-einen-Tritt-in-die-Eier-verpasse-wenn-ich-ihn-das-nächste-Mal-sehe, Callahan.

Aber das Leben geht weiter. Das rede ich mir jedenfalls ein. Die Zeit bleibt nicht stehen, nur weil mein Herz stillsteht, und ich habe eine Menge Verpflichtungen. Mit den dreitausend Dollar, die ich dafür bekommen habe, dass ich eine Woche lang die Freundin dieses Vollidioten gespielt habe, bin ich sehr gut über die Runden gekommen. Ich habe sogar noch etwas Geld auf meinem Sparkonto. Ich habe meinem Bruder Owen ein paar richtig coole Weihnachtsgeschenke gekauft. Und für meine Mom habe ich auch ein Weihnachtsgeschenk besorgt.

Sie hatte weder für meinen Bruder noch für mich etwas. Nicht mal eine winzige Kleinigkeit. Owen hat mir eine Schale geschenkt, die er in der Schule im Keramikkurs angefertigt hat. Er war so stolz, als er sie mir überreichte. Und auch ein wenig verlegen, vor allem, als ich sein Werk in den höchsten Tönen lobte. Er hatte die Schale in glänzendes Weihnachtspapier gehüllt, so richtig mit Schleife und allem. Ich war hin und weg, dass er sich tatsächlich die Mühe gemacht hatte, selbst etwas für mich zu machen. Die Schale steht nun auf meiner Kommode, und ich bewahre meine Ohrringe darin auf.

Wenigstens einem Menschen bin ich nicht scheißegal.

Meiner Mom hat er nichts geschenkt. Was mich – boshafte Hexe, die ich bin – maßlos gefreut hat.

Der Januar ist angeblich eine Zeit der Genesung. Ein neues Jahr, neue Ziele, Vorsätze, als was immer man es bezeichnen will, wenn sich ein Neuland an hoffnungsvollen Möglichkeiten vor einem erstreckt. Ich habe mein Bestes versucht, dem Jahreswechsel positiv zu begegnen, aber ich musste weinen. Die Uhr schlug zwölf, ich war mutterseelenallein, und die Tränen strömten mir über das Gesicht, während ich im TV den Ballgästen beim Anstoßen zuschaute. Ein bemitleidenswertes, einsames Mädchen, das in sein Sweatshirt heult und den Jungen vermisst, den es liebt.

Der Monat ist bald vorbei, und das ist gut so. Doch gestern Abend überfiel mich schlagartig die Erkenntnis: Statt jeden einzelnen Tag, der mir bevorsteht, zu fürchten, sollte ich ihn lieber auskosten. Ich sollte herausfinden, was ich mit meinem Leben anstellen möchte, und es dann auch in die Tat umsetzen. Wenn ich könnte, würde ich woanders hingehen, aber ich kann Owen nicht im Stich lassen. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm ohne mich ergehen würde, und dieses Risiko will ich gar nicht erst eingehen.

Also bleibe ich hier. Und gelobe, das Beste aus meinem Leben zu machen. Ich habe es satt, unglücklich zu sein.

Ich habe es satt, mich selbst zu bedauern. Ich habe es satt, dass ich meine Mutter ständig schütteln möchte, um ihr klarzumachen, dass sie Kinder hat, um die sie sich kümmern sollte. Oh, und dass sie sich endlich einen Job suchen sollte. Den ganzen Tag zu pennen und die Nächte mit Larry, dem Loser, durchzufeiern, ist da nicht gerade hilfreich.

Und ich habe es satt, den Verlust eines schönen und ziemlich verkorksten Typen zu beklagen, der sich unentwegt in meine Gedanken stiehlt.

Ja, das habe ich am allermeisten satt.

Energisch schiebe ich die trüben Gedanken beiseite und gehe zu dem Tisch hinüber, an dem ein Gast darauf wartet, dass ich seine Bestellung aufnehme. Er ist vor ein paar Minuten gekommen, ein großer Mann, der sich schnell bewegte und zu gut gekleidet war für einen Donnerstagnachmittagsausflug ins La Salle’s. Das Lokal brummt vor allem abends, wenn es voll mit College-Studenten ist, die sich bis zur Bewusstlosigkeit besaufen. Aber tagsüber? Hauptsächlich Penner, die keinen Platz haben, an den sie sonst gehen könnten, und hin und wieder jemand zum Mittagessen. Die Burger sind ganz annehmbar und entsprechend beliebt.

»Was darf es sein?«, frage ich, als ich vor dem Tisch stehen bleibe und mit gesenktem Kopf meinen Bestellblock zücke.

»Wie wäre es mit ein wenig Beachtung?«

Seine Antwort – mit tiefer samtiger Stimme gesprochen – lässt mich von meinem Block aufblicken.

Mitten hinein in die blausten Augen, die ich jemals gesehen habe. Blauer als Drews, wenn das überhaupt möglich ist.

»Ähm, Verzeihung.« Ich schenke ihm ein zaghaftes Lächeln. Er macht mich sofort nervös. Er ist viiiiel zu attraktiv. Absolut atemberaubend, mit dunkelblondem Haar, das ihm in die Stirn fällt, und klassischen, ebenmäßigen Zügen. Kräftige Kinnpartie, markante Wangenknochen, gerade Nase – er könnte einer Reklametafel entsprungen sein. »Haben Sie sich schon für etwas entschieden?«

Er lächelt, enthüllt gerade weiße Zähne, und ich presse die Lippen zusammen, damit mir der Mund nicht offen stehen bleibt. Ich wusste nicht, dass Männer derart attraktiv sein können. Ich meine, Drew sieht superklasse aus – das muss ich ihm zugestehen, obwohl ich wütend auf ihn bin. Aber dieser Typ … er stellt alle anderen Männer in den Schatten. Sein Gesicht ist so verdammt perfekt.

»Ich nehme ein Pale Ale.« Mit dem Kinn deutet er auf die schmuddelige Speisekarte, die vor ihm auf dem Tisch liegt. »Können Sie irgendwas aus der Vorspeisenkarte empfehlen?«

Das kann nicht sein Ernst sein. Mal abgesehen von den Burgern würde ich diesem Bild von einem Mann nichts empfehlen, was im La Salle’s angeboten wird. Es könnte seine Schönheit beflecken, was der Himmel verhüten möge! »Worauf haben Sie denn Appetit?«, frage ich mit matter Stimme.

Er hebt eine Braue an, nimmt die Speisekarte zur Hand, überfliegt sie und sieht mich dann an. »Nachos mit Rinderhack?«

Ich schüttle den Kopf. »Das Fleisch ist nur selten gut durch.« Meistens kommt es mit einem rosa Stich auf den Teller. Ekelhaft.

»Überbackene Ofenkartoffeln?« Er schüttelt sich leicht.

Ich schüttle mich ebenfalls. »Zu sehr Neunzigerjahre, finden Sie nicht?«

»Was ist mit den scharfen Hähnchenflügeln?«

»Wenn Sie sich den Mund verbrennen wollen. Hören Sie …« Rasch sehe ich mich um, um mich zu vergewissern, dass niemand – zum Beispiel mein Boss – in der Nähe ist. »Wenn Sie etwas essen wollen, schlage ich das Café ein Stück die Straße hinunter vor. Die haben dort klasse Sandwiches.«

Er lacht und schüttelt den Kopf. Der volle, vibrierende Klang spült über mich hinweg, wärmt meine Haut, was sogleich eine hohe Dosis an Argwohn in mir erweckt. Normalerweise reagiere ich auf Männer nicht so. Der Einzige, der ebenfalls diese Art von Reaktion in mir hervorrufen konnte, war Drew, und der ist nicht da. Warum bin ich dann immer noch so besessen von ihm?

Vielleicht weil du immer noch wie eine arme, zwanghafte Irre in ihn verliebt bist?

Ich schiebe die nörgelnde leise Stimme, die sich immer zu den unpassendsten Gelegenheiten meldet, in den hintersten Winkel meines Kopfes.

»Ihre Ehrlichkeit gefällt mir«, sagt der Mann, während sein kühler blauer Blick über mich hinweggleitet. »Dann nehme ich nur das Bier.«

»Kluge Wahl.« Ich nicke. »Bin gleich wieder da.«

Ich gehe nach hinten, schlüpfe hinter die Bar, schnappe mir eine Flasche Pale Ale, blicke auf und ertappe den Typen dabei, wie er mich anstarrt. Und er wendet den Blick auch nicht ab, was mich ziemlich irritiert. Er beobachtet mich nicht wie so ein Perverser, einfach nur sehr … aufmerksam.

Es nervt.

Ich verspüre einen Anflug von Wut. Trage ich ein unsichtbares Schild um den Hals? Eines, auf dem steht: Hey, ich bin leicht zu haben? Denn das bin ich nicht. Okay, ich habe ein paar Fehler gemacht, an den falschen Orten nach Anerkennung gesucht, aber ich ziehe mich nun wirklich nicht so an, dass mir die Titten oder der Arsch heraushängen. Ich wackle nicht übertrieben mit den Hüften oder recke die Brust nach vorn, wie ich es bei vielen Mädels sehe.

Warum mustert mich dann jeder Typ, dem ich begegne, so unverfroren, als wäre ich ein Stück Fleisch?

Mit der festen Absicht, diesen Scheiß nicht länger mitzumachen, gehe ich an seinen Tisch zurück und knalle das Bier mit einem lauten Klonk vor ihn hin. Ich will gerade wieder wortlos verschwinden – Scheiß auf das Trinkgeld –, als der Typ plötzlich fragt: »Wie heißen Sie?«

Ich werfe ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Was geht Sie das an?« Oh, ich bin so eine dumme Tusse! Riskiere es glatt, dass der Typ sauer wird und ich gefeuert werde. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt.

Ich bin fast so schlimm wie meine Mom. Sie hat ihren Job wegen ihrer Sauferei und ihrem unmöglichen Benehmen verloren. Zumindest falle ich nur durch schlechtes Benehmen auf.

Könnte ich mich selbst in den Hintern treten, würde ich das jetzt tun.

Er lächelt und zuckt die Achseln, als würde ihn meine unverschämte Bemerkung nicht tangieren. »Ich bin neugierig.«

Langsam drehe ich mich ganz zu ihm um und mustere ihn genauso intensiv wie er mich. Die langen Finger seiner rechten Hand sind um den Flaschenhals geschlungen, sein anderer Arm liegt auf der zerkratzten, vernarbten Tischplatte. Er wirkt entspannt und locker, und langsam schmilzt meine Abwehr.

»Ich heiße Fable«, gestehe ich und bereite mich schon einmal innerlich auf die Reaktion vor. Seit ich denken kann, habe ich wegen meines Namens endlose Witze und blöde Sprüche über mich ergehen lassen müssen.

Doch er zieht mich nicht auf. Seine Miene bleibt neutral. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Fable. Ich heiße Colin.«

Ich nicke, weiß nicht, was ich noch sagen soll. Er wirkt auf mich beruhigend und beunruhigend zugleich, sodass ich total verwirrt bin. Und er passt definitiv nicht in dieses Lokal. Er ist zu gut angezogen und strahlt eine Autorität aus, die an Dominanz grenzt, als würde er über den Dingen stehen – was vermutlich zutrifft. Er verströmt den Geruch von Klasse und Geld.

Doch er benimmt sich nicht wie ein Arschloch, und das könnte er, so unhöflich, wie ich ihn behandelt habe. Er führt die Bierflasche an die Lippen, trinkt einen Schluck, und ich sehe ihm unverblümt dabei zu. Er ist attraktiv. Er ist arrogant. Und er bedeutet Ärger.

Ich will nichts mit ihm zu tun haben.

»So, Fable«, sagt er, als er die Hälfte der Flasche hinuntergekippt hat. »Darf ich Sie etwas fragen?«

Ich scharre mit den Füßen und werfe einen Blick zur Bar hinüber. Niemand schenkt uns Beachtung. Ich könnte vermutlich eine Viertelstunde hier stehen bleiben und mit Colin, dem mysteriösen Gast, plaudern, ohne dass irgendjemand protestieren würde. »Sicher.«

»Warum arbeitet eine Frau wie Sie in so einem Scheißladen?«

»Warum trinkt ein Mann wie Sie in so einem Scheißladen ein Bier?«, pariere ich und bin für einen kurzen Moment verletzt. Doch dann dämmert es mir … er macht mir ein Kompliment. Und er spricht von mir als Frau. Das tut sonst niemand. Nicht einmal ich.

Er hebt sein Bier, als wollte er mir zuprosten. »Touché. Würde es Sie überraschen, wenn ich sage, dass ich wegen Ihnen hier bin?«

Überraschen? Eher beängstigen. »Ich kenne Sie ja gar nicht. Wieso sollten Sie wegen mir hier sein?«

»Ich muss das wohl anders formulieren. Also, ich kam hierher, in der Hoffnung, ich würde jemanden finden, den ich mir schnappen kann.« Angesichts meiner irritierten Miene lacht er. »Ich habe ein neues Restaurant in der Innenstadt eröffnet. The District. Schon mal davon gehört?«

Ja, hatte ich. So ein nobler Schuppen, der auf die reichen College-Kids abzielt, die unendlich viel Geld zur Verfügung haben, das sie zum Essen, Trinken und Feiern ausgeben können. Also nicht meine Kragenweite. »Ja, klar.«

»Waren Sie schon einmal dort?«

Langsam schüttle ich den Kopf. »Nein.«

Er lehnt sich zurück und sieht mich an, nimmt mich mit zusammengekniffenen Augen ins Visier. Jetzt taxiert er mich wirklich, und ich merke, wie meine Wangen vor Verlegenheit zu glühen beginnen. Was für ein Idiot.

Ich hatte schon immer eine Schwäche für Idioten.

»Begleiten Sie mich heute Abend in mein Restaurant. Ich werde Sie herumführen.« Sein Mund krümmt sich zu einem ziemlich netten Lächeln, und ich gerate in Versuchung.

Doch ich habe den Männern abgeschworen, deshalb ist dies eine schlechte Idee. »Danke, aber ich bin nicht interessiert.«

»Ich versuche nicht, Sie um ein Date zu bitten, Fable«, sagt er, die Stimme gesenkt, die Augen funkelnd. Ich trete einen Schritt zurück, werfe einen Blick durch das Lokal. Ich muss weg von diesem Typen. Doch seine nächsten Worte führen dazu, dass ich wie angewurzelt stehen bleibe. »Ich versuche, Ihnen einen Job anzubieten.«

Drew

»Reden wir über Fable.«

Sofort spanne ich mich an, nicke jedoch. Bemühe mich um eine unbeteiligte Miene, als würde mich unser neues Thema kalt lassen. »Was wollen Sie wissen?«

Meine Therapeutin beobachtet mich, ihr Blick ist wachsam und aufmerksam. »Den Namen zu hören berührt Sie immer noch.«

»Das stimmt nicht«, lüge ich. Ich versuche mein Bestes, gelassen zu erscheinen, doch in meinem Inneren krampft sich alles zusammen. Es macht mir Angst, Fables Namen zu hören, und gleichzeitig lechze ich danach. Ich möchte sie sehen. Ich muss sie sehen.

Doch ich schaffe es einfach nicht, zu ihr zu gehen. Und sie hat mich eindeutig schon abgeschrieben. Ich verdiene es nicht anders. Schließlich habe ich als Erster aufgegeben, oder?

Besser gesagt, du hast dich selbst aufgegeben.

»Sie brauchen mich nicht anzulügen, Drew. Es ist in Ordnung, wenn es immer noch schwierig für Sie ist.« Dr. Sheila Harris hält inne, tippt mit dem Zeigefinger an ihr Kinn. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, ob Sie nicht versuchen sollten, Fable wiederzusehen?«

Ich schüttle den Kopf. Ich denke jeden Tag daran, jede Minute meines Lebens, doch diese Gedanken sind sinnlos. »Sie hasst mich.«

»Das wissen Sie nicht.«

»Ich weiß, dass ich mich an ihrer Stelle hassen würde. Ich habe mich abgeschottet, sie zurückgestoßen, wie ich es immer tue. Unentwegt hat sie mich gebeten, es nicht zu tun. Hat mir versprochen, für mich da zu sein, egal was passiert.« Trotzdem habe ich sie verlassen. Und nur ein paar dumme Zeilen hinterlegt, für die ich viel zu lange brauchte und die eine geheime Botschaft enthielten, die mein kluges, schönes Mädchen sofort herauslas.

Aber sie ist nicht mein Mädchen. Ich kann keinen Anspruch auf sie erheben. Ich habe sie abgewiesen. Und nun …

Habe ich sie verloren.

»Warum haben Sie sie zurückgestoßen? Das haben Sie mir nie erzählt.«

Meine Psychotherapeutin liebt es, unangenehme Fragen zu stellen, das ist ihr Job. Ich hasse es nach wie vor, darauf zu antworten. »Das ist die einzige Art, die ich kenne, Probleme zu bewältigen«, gestehe ich. Die Wahrheit schlägt mir tagtäglich ins Gesicht. Ich laufe immer weg.

Das ist so viel leichter.

Ich habe Dr. Harris aus eigenem Antrieb aufgesucht. Niemand hat mich dazu gedrängt. Nach unserer Rückkehr aus Carmel, nachdem ich mich sang- und klanglos aus Fables Leben verabschiedet und ihr nur diese beknackten Zeilen hinterlassen hatte, habe ich mich mehr denn je in mich zurückgezogen. Ich habe als Spieler versagt. Ich habe meine Zensuren verbockt. Die Winterferien kamen, und ich bin weggelaufen. Bin tatsächlich zu einer einsamen Hütte mitten im Wald gelaufen, die ich von einem netten alten Paar am Lake Tahoe gemietet hatte.

Mein Plan? Winterschlaf halten wie ein Bär. Mein Telefon abschalten, mich verkriechen, meine scheiß Probleme lösen. Doch ich hatte nicht vorhergesehen, wie hart es sein würde, allein mit meinen Gedanken zu sein. Meine Erinnerungen, die schönen wie die schlimmen, verfolgten mich. Ich dachte an die Bombe, die meine Stiefmutter Adele hatte platzen lassen. Ich dachte an meinen Dad und wie sehr die Wahrheit – sollte es die Wahrheit sein – ihn verletzen würde. Ich dachte an meine kleine Schwester Vanessa und daran, wie sie gestorben war. Und dass sie vielleicht gar nicht meine Schwester war …

Aber vor allem dachte ich an Fable. Wie wütend sie gewesen war, als ich auf ihrer Türschwelle auftauchte, und wie sie mich dann trotzdem hereingelassen hatte. Wie ich sie berührte, wie sie mich berührte und wie sie meine selbst errichteten Mauern zum Einsturz brachte und mein wahres Ich sah. Ich ließ sie herein. Ich wollte sie hereinlassen.

Und dann verließ ich sie. Mit ein paar Zeilen, die im Grunde überflüssig waren, weil sie alles, alles versucht hatte, um mich zu retten, und ich das nicht zuließ. Sie schickte mir genau zwei SMS. Die zweite überraschte mich, da ich dachte, Fable sei stur und würde aufgeben, wenn ich auf die erste Nachricht nicht antworte.

Wie hätte ich darauf auch antworten sollen? Alles, was sie sagte, war richtig. Und alles, was ich gesagt hätte, wäre falsch gewesen. Also war es besser, nicht zu antworten.

Sie hat mir auch eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Ich habe sie immer noch. Manchmal, wenn es mir richtig beschissen geht, spiele ich sie ab. Lausche ihrer sanften, tränenweichen Stimme, den unglaublichen Worten, die sie zu mir sagt. Und wenn die Nachricht dann endet, tut mir tatsächlich das Herz weh.

Ihrer Stimme zu lauschen ist eine Folter, doch ich schaffe es auch nicht, die Nachricht zu löschen. Zu wissen, dass es sie gibt, dass Fable für eine letzte Minute lang wirklich etwas an mir lag, ist besser als diese Worte und ihre Stimme zu löschen und so zu tun, als existierte sie nicht.

»Ich hoffe, ich kann Ihnen dabei helfen. Bei Ihren Bewältigungsstrategien, meine ich«, sagt Dr. Harris und reißt mich aus meinen Gedanken. »Ich weiß, wie viel Fable Ihnen bedeutet. Und ich hoffe, Sie werden irgendwann zu ihr gehen und ihr sagen, dass es Ihnen leidtut.«

»Und was, wenn es mir nicht leidtut?« Ich stoße die Worte hervor, doch sie sind bedeutungslos. Es tut mir so leid, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen sollte, um zu erklären, warum ich mich wie ein Arschloch verhalte.

»Dann ist das ein weiteres Thema, das wir uns näher anschauen werden«, sagt sie freundlich.

Auf diese Weise geht es eine Viertelstunde weiter, und dann kann ich endlich entfliehen, spaziere hinaus in den kalten, klaren Winternachmittag. Die Sonne ist trotz der Temperatur warm auf meiner Haut, und ich eile den Gehweg hinunter zu der Stelle, wo ich meinen Pick-up geparkt habe. Dr. Harris’ Praxis befindet sich in einem unscheinbaren Gebäude in der Innenstadt, und ich hoffe inständig, dass ich niemandem begegne, den ich kenne. Der College-Campus ist nur ein paar Blocks entfernt, und in den kleinen Läden und Cafés entlang der Straße hängen jede Menge Studenten herum.

Es ist nicht so, dass ich wahnsinnig viele Freunde hätte, trotzdem bildet sich jeder ein, dass er mich kennt. Doch niemand kennt mich wirklich. Mit Ausnahme einer Person.

»Hey, Callahan, warte!«

Ich bleibe stehen, blicke mich um und sehe einen meiner Teamkameraden, der mit einem tölpelhaften, breiten Grinsen im Gesicht auf mich zurennt. Jace Hendrix ist eine Nervensäge, aber im Großen und Ganzen ein anständiger Kerl. Er hat mich nie dumm angemacht, doch das hat kaum einer aus dem Team. »Hey.« Ich winke ihm kurz zu, schiebe die Hände wieder in die Jackentaschen und warte, bis er vor mir stehen bleibt.

»Lange nicht gesehen«, sagt Jace. »Nach dieser letzten Katastrophe von einem Spiel bist du irgendwie abgetaucht.«

Ich zucke zusammen. Diese letzte Katastrophe von einem Spiel war einzig und allein meine Schuld gewesen. »Ich habe mich deswegen ziemlich beschissen gefühlt«, gestehe ich.

Wow, ich kann nicht glauben, dass ich mich gerade zu meinen Fehlern bekannt habe, doch Jake wirkt unbeeindruckt. »Yep, wir auch, Mann. Hey, was hast du am Wochenende vor?«

Die Art, wie Jace meine Äußerung abtut – Herrgott, wie er mir beipflichtet –, haut mich um. »Was geht ab?«

»Logan hat Geburtstag. Wir wollen in dem neuen Restaurant feiern, das ein paar Blocks weiter eröffnet hat. Hast du davon gehört?« Jace wirkt aufgeregt, er tänzelt tatsächlich auf der Stelle, und ich frage mich, was zum Teufel mit ihm los ist.

»Kann sein.« Ich zucke die Achseln. Was interessiert mich das? Eine Party ist das Letzte, wonach mir zumute ist.

Doch dann klingen mir Dr. Harris’ Worte wieder im Ohr. Dass ich mehr aus mir herausgehen, mich wie ein normaler Mensch verhalten soll.

»Jedenfalls findet die Feier dort statt. Wir haben einen Raum für uns. Ich war noch nicht dort, aber soweit ich gehört habe, sind die Kellnerinnen allesamt sehr hübsch, die Drinks gut und stark, und es gibt dieses Nebenzimmer, das Logans Eltern angemietet haben. Angeblich sollen sogar Stripperinnen auftreten. Logan wird einundzwanzig, da soll für ihn so richtig die Post abgehen.« Jace wackelt mit den Augenbrauen.

»Klingt super«, lüge ich. Es klingt grässlich. Aber ich muss hingehen. Mich zumindest kurz dort blicken lassen. Dann kann ich meiner Therapeutin davon erzählen. Und sie kann mir für meine Heldentat einen Orden verleihen.

»Du kommst?« Jace wirkt geschockt, und ich weiß auch, warum. Ich unternehme selten etwas mit den Jungs, und in den letzten Monaten war ich völlig abgetaucht.

»Ich werde da sein.« Ich nicke, habe keine Ahnung, wie ich die Energie aufbringen soll, auf diese Party zu gehen, aber ich muss es tun.

»Echt? Super! Die Jungs werden staunen, wenn ich es ihnen erzähle. Wir haben dich vermisst. Du warst eine ganze Weile verschwunden, und wir wissen ja alle, wie sehr du an den letzten Spielen zu knabbern hattest. Ging uns allen so.« Jace hat eine feierliche Miene aufgesetzt, und einen Moment lang frage ich mich, ob er mich verarscht.

Doch dann merke ich, dass er es ernst meint. Komisch, dass ich die volle Verantwortung für diese letzten Niederlagen übernommen habe, obwohl mir hätte klar sein müssen, dass jeder Einzelne aus meinem Team sich genauso verantwortlich fühlte.

»Sag den Jungs, dass ich mich auf sie freue.« Die Worte gehen mir leicht über die Lippen, weil sie die Wahrheit sind. Ich muss aufhören, mich in meinem Unglück zu suhlen. Muss aufhören, mir über meinen Dad und diese Schlampe von Stiefmutter Gedanken zu machen und über das kleine Mädchen, das starb, weil ich zu beschäftigt damit war, mit seiner Mom zu streiten und ihr zu sagen, sie solle ihre Pfoten gefälligst bei sich behalten.

Eine der Sachen, die ich am meisten bedaure, ist die, dass ich Fable nie wirklich erklärt habe, was an jenem Tag geschah. Ich weiß, sie nimmt an, ich sei weg gewesen, um mit Adele zu vögeln. Ich würde das an ihrer Stelle auch denken. Doch es war der Tag, als ich Adele mitteilte: Nie wieder. Was immer sie versuchen würde, ich sei nicht interessiert. Es sei vorbei. Es war der Tag, an dem ich mich befreite.

Und der Tag, an dem ich ein Gefangener meiner eigenen Schuld wurde.

Für immer.

»Bis dann, Drew.« Jace winkt, dreht sich um und entfernt sich mit einem vergnügten Pfeifen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, schaue ihm nach, bis er nur noch ein verschwommener Fleck in der Ferne ist, und wünsche mir sehnlich, ich könnte ebenso unbeschwert sein. Dass meine größten Sorgen meine Zensuren wären und welches Mädchen ich als Nächstes rumkriegen könnte und wie wohl die große Party werden würde, die in wenigen Tagen stieg.

Vielleicht, nur vielleicht, könnte ich mich eine kleine Weile mit alltäglichem Kram ablenken. Mir vormachen, es würde nichts zählen außer Freunden, Schule und Party. Dr. Harris meint, ich könne keine Fortschritte machen, solange ich mich nicht der Vergangenheit stelle.

Aber was zum Teufel weiß sie schon darüber?

Sie ist innerlich völlig zerbrochen, doch das wird niemand jemals bemerken.

– Unbekannt

Fable

»Hm.« Owen schlürft den XXL-Softdrink, den ich ihm an der Tankstelle gekauft habe, als wir angehalten haben, um die Schrottkiste unserer Mom aufzutanken. »Kann ich in dem Laden, wo du arbeitest, umsonst essen?«

Ich schüttle den Kopf. »Zu vornehm. Kinder sind dort nicht wirklich willkommen.« Die Untertreibung des Jahres. Das Restaurant ist definitiv nicht kinderfreundlich. In der Tat ist es auch nicht wirklich Fable-freundlich, doch ich bin bereit, ihm eine Chance zu geben. Colin behauptet, ich könne massenhaft Kohle durch Trinkgelder verdienen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das abnehme.

Meine Gedanken wandern zu Colin. Das Restaurant gehört ihm, weil sein reicher Daddy es ihm geschenkt hat – als Spielzeug. Das habe ich von ihm erfahren, als wir das erste Mal dort waren. Er ist nett. Er ist attraktiv. Er ist charmant.

Abgesehen von ein wenig Geplauder zwischen einer Angestellten und ihrem Boss gehe ich ihm möglichst aus dem Weg. Ich bin auf sein Angebot zurückgekommen, obwohl es fast zu gut klingt, um wahr zu sein.

Das Witzige ist, dass ich im La Salle’s noch nicht gekündigt habe. Aber indem ich mir diesen Job warmhalte, bis ich sicher weiß, dass der neue Job sich lohnt, riskiere ich keinen Verdienstausfall.

Denn am Allerwichtigsten ist es, dass regelmäßig Geld reinkommt. Unsere Mom tut nichts, um das sicherzustellen.

Owen plustert sich auf, zieht eine empörte Miene. »Spinnst du? Ich bin doch kein Kind. Scheiße noch mal, ich bin vierzehn Jahre alt!«

Ich gebe ihm einen Klaps auf den Arm, und er jault auf. »Keine Schimpfwörter!«, warne ich, denn er muss lernen, seine freche Klappe im Zaum zu halten. Und seit wann ist die offizielle Volljährigkeit um vier Jahre herabgesetzt worden? In seinen Träumen vielleicht.

»Ach, komm, Fab, kannst du mich nicht reinschmuggeln?« Owen schüttelt den Kopf, zeigt unverhohlen seinen Ärger. »Ich habe gehört, die Mädels, die dort abhängen, sind ziemlich scharf.«

Ich habe keinen Bock, mir anzuhören, wie mein kleiner Bruder über scharfe Mädels und was auch immer redet. Es ist schon schlimm genug, dass ich, als ich vor einigen Tagen die Wäsche machte, in seiner Jeanshose ein Tütchen mit Gras gefunden habe. Ich habe es meiner Mom gezeigt, und sie zuckte erst die Achseln und forderte mich dann auf, ihr das Tütchen zu geben.

Sie öffnete das Tütchen, schnupperte hinein und verkündete, das Gras sei von hervorragender Qualität. Ich weiß, dass sie es später zu Larry mitgenommen hat und die beiden sich vermutlich total zugekifft haben. Ich fasse es einfach nicht. Wie konnte ich so normal und solide werden, wenn meine Mutter so ein … Kind ist?

Dir blieb keine andere Wahl.

Das ist die traurige Wahrheit, oder?

»Pass auf, das Essen, das dort serviert wird, kostet pro Gericht um die fünfzig Piepen. Es ist für Paare und so. Und es gibt eine Bar. Nach zehn ist der Laden für Leute unter einundzwanzig gesperrt«, erkläre ich. Es ist tatsächlich das schönste, eleganteste Restaurant, das ich je gesehen, geschweige denn, in dem ich je gearbeitet habe. Es ist total durchorganisiert, alles und jeder hat seinen festen Platz. Das Personal ist allerdings nicht sonderlich freundlich. Eher arrogant. Ich bin mir sicher, sie ziehen über mich her, lästern hinter meinem Rücken über die White-Trash-Schlampe, die sich erdreistet, in ihren elitären Reihen zu arbeiten.

Egal. Mich interessieren einzig die Trinkgelder. Und die Tatsache, dass Colin an mich glaubt. Es ist lange her, dass jemand an mich geglaubt hat. Ich dachte, Drew würde das tun, doch je länger er aus meinem Leben verschwunden ist, desto mehr erkenne ich, dass alles eine Täuschung war. Wir haben uns etwas zu sehr in unsere Fantasien verstrickt.

»Kannst du mir nicht mal Reste mitbringen?« Owens Frage reißt mich aus meinen Gedanken, und als ich ihm einen Blick zuwerfe, sehe ich das Grinsen in seinem Gesicht.

Er wird von Jahr zu Jahr hübscher. Ich habe keine Ahnung, ob er eine Freundin hat oder nicht, aber ich hoffe sehr, dass er noch eine Weile von diesem ganzen Kram verschont bleibt. Beziehungen bringen nichts als Probleme mit sich.

»Du bist echt krass drauf.« Ich verdrehe die Augen. Aus dem La Salle’s habe ich ihm immer Burger mitgebracht. Wie sich nun zeigt, habe ich ihn total verwöhnt.

»Also Mom wird mich bestimmt nicht durchfüttern, das ist eine gottverdammte Tatsache. ’Tschuldigung«, stößt er hervor, als er meinen strengen Blick ob dieser Gotteslästerung bemerkt. »Ich komme mir nur langsam ziemlich blöd vor, weil ich ständig bei Wade herumhänge. Seine Mom muss schon tierisch genervt von mir sein.«

Schuldgefühle durchströmen mich. Ich brauche diesen Job. Ich brauche beide Jobs, und das bedeutet, ich kann für Owen nicht da sein. Ihm Essen kochen, seine Hausaufgaben überwachen, ihn zwingen, seinen Saustall von Zimmer aufzuräumen. Die Wohnung verfügt über drei Schlafzimmer, eine Seltenheit, aber in einer College-Stadt sehr gefragt, und die Miete wird immer teurer. Nachdem meine Mom so gut wie nie da ist und meistens nur Owen und ich dort wohnen, spiele ich mit dem Gedanken, eine andere Wohnung zu suchen. Nur für Owen und mich.

Wenn ich das Mom erzähle, wird sie stinksauer sein. Es spielt keine Rolle, dass sie den Großteil ihrer Zeit mit Larry verbringt. Es spielt keine Rolle, dass sie kaum da ist und keinen Job hat und sich die Miete nicht leisten kann. Sie wird trotzdem wütend sein und es persönlich nehmen, als wollten Owen und ich sie rausdrängen.

Irgendwie will ich das auch. Ich will sie nicht mehr bei uns haben. Ich will mich nicht mehr mit unnötigen Dramen befassen. Denn das ist meine Mom. Ein einziges Drama.

Mein Handy piepst, weist darauf hin, dass ich eine SMS erhalten habe, und ich schaue nach und sehe, dass die Nachricht von meinem Boss ist. Als ich sie lese, überfällt mich ein ungutes Gefühl.

Was machen Sie gerade?

Ich tippe die brave Angestellten-Antwort ein.

Mach mich für die Arbeit fertig.

Hey, das ist die Wahrheit.

Bin in der Gegend. Kann Sie abholen und mitnehmen.

Ich starre etwas zu lange auf diese Nachricht, ignoriere Owen, der darüber meckert, dass er sich selbst etwas zu essen machen muss. Was zum Teufel will Colin? Was hat er in dieser abgefuckten Gegend zu tun? Es ergibt keinen Sinn. Es sei denn, er ist eigens wegen mir hier …

Ich muss erst in einer Stunde dort sein, antworte ich.

Ich zahle Ihnen die Überstunde. Okay?

Seufzend tippe ich meine Antwort ein: Geben Sie mir fünf Minuten.

»Ich muss los«, sage ich zu Owen, während ich in mein Zimmer eile. Ich bin noch nicht in meiner Arbeitsuniform, falls man das überhaupt als solche bezeichnen kann. Alle Kellnerinnen müssen die gewagtesten Outfits tragen, dir mir je untergekommen sind. Es gibt mindestens vier verschiedene Outfits, und die sind sexy wie nur was, also knalleng oder tief ausgeschnitten. Es hat was mit Sexappeal zu tun. Wir sehen nicht nuttig aus oder so, aber wenn ich mich zu weit vorbeuge, gewähre ich jedem einen Blick auf meinen Po. Unter den Kleidern tragen wir knappe Boy-Panties.

Als ich mir meine Uniform vom Kleiderbügel schnappe, bemerke ich Owen, der nervös zappelnd in der Tür steht. »Was gibt’s?«, frage ich ihn.

Er druckst ein wenig herum. »Was hältst du davon, wenn ich mir ein Tattoo stechen lasse?«

Einen Moment wird mir schwindlig. Oh, mein Gott, woher hat er diesen Scheiß? »Erstens, du bist erst vierzehn, du darfst dir also ohne Zustimmung eines Erwachsenen kein Tattoo stechen lassen. Zweitens, du bist erst vierzehn. Welches Tattoo würdest du denn für immer auf deiner Haut haben wollen?«

»Keine Ahnung.« Er zuckt die Achseln. »Ich dachte einfach, ein Tattoo wäre cool. Ich meine, du hast dir gerade erst eines machen lassen, warum kann ich das nicht auch?«

»Vielleicht weil ich erwachsen bin und du nicht?« Ein paar Wochen vor Weihnachten, als ich noch glaubte, Drew und ich hätten eine Chance, habe ich mir eines stechen lassen. Das bekloppteste Tattoo, das man sich vorstellen kann. Ich dachte, wenn ich das tue, wenn ich einen Teil von ihm, wie winzig auch immer, unauslöschlich in meine Haut ritzen lasse, könnte ich ihn irgendwie an mich binden.

Hat nicht funktioniert. Und jetzt muss ich mit dem Ding leben. Gott sei Dank ist es klein. Ich könnte es wahrscheinlich unkenntlich machen lassen, wenn ich wollte.

Im Moment will ich das nicht.

»Wenn du die Initialen von irgendeinem Typen auf deiner Haut verewigst, ist das cool, aber wenn ich mir ein Kunstwerk auf den Rücken tätowieren lassen will, einen Drachen oder so, ist das alberner Kinderkram. Echt unfair.« Er schüttelt den Kopf, sein straßenköterblondes Haar fällt ihm in die Augen, und ich würde ihm am liebsten eine knallen.

Gleichzeitig will ich ihn in die Arme nehmen und fragen, wo der süße, unkomplizierte Junge von vor nicht einmal einem Jahr geblieben ist. Denn hier ist er nicht mehr.

»Das ist etwas anderes.« Ich wende mich von ihm ab, ziehe das Outfit vom Kleiderbügel. »Ich muss mich umziehen, also raus mit dir.«

»Wer ist der Typ überhaupt? Das hast du mir nie erzählt.«

»Er ist unwichtig.« Die Worte tropfen wie flüssiges Blei von meinen Lippen. Er war definitiv nicht unwichtig. Für eine kurze Zeit, der intensivsten Zeit meines Lebens, war er alles für mich.

»So unwichtig kann er nicht sein. Er hat dir das Herz gebrochen.« Owens Stimme bebt vor Hass. »Wenn ich je herausfinde, wer er ist, verpasse ich ihm eine Abreibung.«

Ich lächle, kann nicht anders. Sein Bestreben, mich zu beschützen, ist … herzzerreißend. Wir sind ein Team, Owen und ich. Wir haben nur uns.

Ich schlüpfe aus der Wohnung, weil ich nicht möchte, dass Colin an meine Tür klopft und Owen kennenlernt. Oder schlimmer noch, unsere schäbige Wohnung von innen sieht. Wo immer Colin wohnt, ich wette, es ist umwerfend. Wenn sein Haus nur halb so beeindruckend wie sein Restaurant ist, dann muss es umwerfend sein.

Kaum bin ich die Stufen hinuntergestiegen, fährt er in einem glänzenden schwarzen Mercedes vor, mit schnurrendem Motor, der Wagen so neu, dass er noch keine Nummernschilder hat. Ich trete einen Schritt zurück, als er die Tür öffnet und aus dem Wagen steigt, ein blonder Gott mit einem hinreißenden Lächeln und funkelnden blauen Augen.

ENDE DER LESEPROBE