Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens - Franz Fühmann - E-Book

Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens E-Book

Franz Fühmann

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Beschreibung

Es soll ein heiteres, beschwingtes, fröhliches, luftiges Reisebüchlein werden und entwickelt sich zu einer der spannendsten Selbstauseinandersetzungen der neueren Literatur. 1971 reist Franz Fühmann nach Budapest. Hinter ihm liegen die ungeheuren... Erfahrungen des August 1968, der mir so etwas gegeben hat wie eine letzte Chance. Die Krise führt zum bewussten Durchdenken des eigenen Lebens. Das fing mit der Vergangenheit an: Aussagen wie "Was hätte ich gemacht, wenn ich in Auschwitz gewesen wäre" macht man ja nicht aus frohem Herzen. Eine Reflexion, geführt in einer rigorosen (Christa Wolf) Offenheit, die nicht nur wegen ihres mutigen Gestus ́ weiterhin eine sehr hohe Aktualität besitzt.

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Was ursprünglich ein heiteres, beschwingtes, fröhliches, luftiges Reisebüchlein werden sollte, entwickelt sich zu einer der spannendsten Selbstauseinandersetzungen der neueren deutschen Literatur. Ein Text, in dem sich die Brüche des 20. Jahrhunderts – die Hoffnungen, Verblendungen, Enttäuschungen – ungeschönt widerspiegeln.

1971 reist Franz Fühmann nach nach Budapest. Hinter ihm liegen die ungeheuren … Erfahrungen des August 1968, der mir so etwas gegeben hat wie eine letzte Chance. Die Krise wird zum Ausgangspunkt für einen konsequenten Neuanfang. Ziel ist ein wirklich bewußtes Leben, was bedeutet: zunächst einmal bewußt dein Leben durchzudenken. Das fing mit der Vergangenheit an: Aussagen wie »Was hätte ich gemacht, wenn ich in Auschwitz gewesen wäre» macht man ja nicht aus frohem Herzen.

Eine Reflexion, geführt in einer rigorosen (Christa Wolf) Offenheit, deren aufklärerischer und mutiger Gestus typisch werden sollte für den Franz Fühmann der siebziger und achtziger Jahre – und der seinen Texten weiterhin hohe Aktualität verleiht.

Franz Fühmann

Zweiundzwanzig TageoderDie Hälfte des Lebens

HINSTORFF

Inhalt

14. 10.

15. 10.

16. 10.

17. 10.

18. 10.

19. 10.

20. 10.

21. 10.

22. 10.

23. 10.

24. 10.

25. 10.

26. 10.

27. 10.

28. 10.

29. 10.

30. 10.

31. 10.

1. 11.

2. 11.

3. 11.

4. 11.

14. 10.

Ostbahnhof, Bahnsteig A, Nord-Süd-Expreß, 23.45 –

dieser nächtliche Bahnhof wirkt wie immer so überaus traulich: die Nacht ist schwarz und die Lichter sind mild, der Himmel wölbt sich eisern über festem Grund, und Tauben schlafen in seinen sicheren Nestern. Wölkchen ziehen milchweiß und prall, gezähmte Drachen schnauben in ihren Sielen, und was sonst Wolf und Schaf ist, Löwe und Lamm, Pardeltier und Gazelle, liegt ganz ohne Arg und Furcht einander im Arm und wünscht sich gegenseitig von Herzen das Beste. Gott ist nah und erreichbar, seine Ordnung verständlich, der Erzengel trägt eine rote Mütze, der Schutzengel eine rote Schärpe, die Schlange hat hier keinen Zutritt, und noch der Verrußte leistet nützliche Arbeit. O wackre heile Welt

Man sollte vielleicht noch Palmen einbaun

Nationalcharaktere im Abschiednehmen: Ich glaube, der Deutsche fühlt sich geläutert

Zwangsvorstellung: Das Coupé mit jemandem teilen müssen, der gerade seine Doktorarbeit über das Thema »Das epische Theater und der Dramatiker Bertolt Brecht» vollendet hat. Aufatmen: das andre Bett ist hochgeklappt

Nebenan im offnen Abteil zwei Generäle mit offenen Krägen. Einer liest Zeitung – das ist ein ganz merkwürdiger Anblick. Ein Buch wäre denkbar und hätte auch Tradition. Eine Zeitung verfremdet. Warum?

(Ich glaube, ich weiß es

und natürlich prompt die Erinnerung: der General im Lager im Kaschakessel. Er war, mit dem Auskratzen an der Reihe, kopfüber dermaßen hineingekrochen, daß man – und dies vor dem leeren, fahlgrauen Horizont – nur seine Beine mit den Biesen herausragen sah; ich hielt Generäle danach nicht mehr für Götter

Ejaculatio praecox eines Taschentuchs, das sich schon entfaltet, da der Zug noch nicht fährt

Der Zeiger der Bahnhofsuhr gleitet nicht, er springt ruckhaft von Minute zu Minute, und dies mit solcher Betulichkeit, daß sein Gebaren ungemein tröstet

Am Bahnsteig erscheinen, im Geist in die Hände spuckend, zwei Scheuerfrauen mit riesigen Besen (vielleicht ein Einfall für meinen Prometheus: Am Schluß von Mekone

Der Poseidon hat in meiner Vorstellung oft Züge eines Bahnhofsvorstehers; den Apollo könnt’ ich mir ganz gut so denken, den Hermes und Ares zur Not, den Hephaistos, Hades, Dionysos gar nicht. Auch Zeus nicht, ihn am wenigsten: Dies Amt wäre für ihn viel zu groß

Den Prometheus auch nicht, der spielte herum … Aber Epimetheus wäre die ideale Besetzung

Interieur mit echten Wolken

Ein schriller Pfiff wie der Peitschenknall eines Dompteurs, und vor meinem Fenster die Hallenwand gleitet lautlos, wie sie’s gelernt hat, zurück

Verblüffte Funken

Den Gang herab eine große, junge Rumänin, blauschwarzer Mantel unterm nachtblauen Seidentuch überm schwarzblauen Haar über den blau und schwarz schattierten Augen, und auf dem Bahnsteig stößt, schwankend auf Zehenspitzen und von zwei schwankenden Burschen gestützt, ein bis zur Sprachlosigkeit bewegter, sehr schmächtiger, sehr verwahrloster Mann unbestimmbaren Alters einen fuselumwölkten Kuß in den weißen Dampf, den die Frau, die plötzlich aufschluchzt, nicht mehr erwidert

»Der schöne Mensch ist eigentlich nur einen Augenblick schön» – wo nur habe ich dieses furchtbare Wort gelesen

Eisenschnurren der Räder wie von Katzen

und pünktlich kommt die Mitternacht … Ein Blick auf die Uhr bestätigt: Die Zeit geht auf die Sekunde genau! O wackre heile Welt

15. 10.

Gespenstischer Gedanke, daß jeder Tag mit der Mitternacht beginnt, der Geisterstunde, der Stunde bis eins. Noch viel gespenstischer aber ist die Entdeckung, daß dies ja gar nicht der Fall ist: Die Mitternacht beginnt nicht um o, sie beginnt um 24 Uhr, das ist es … Der alte Tag schleift in den neuen, der dauerlose Zeitpunkt stockt eine volle Stunde, heute bleibt erst einmal gestern – da ächzen die Toten in ihren Gräbern, und die wachsamen, furchtsamen Hunde heulen

Ein Zeitpunkt – was ist das eigentlich? Dimensionslose Zeit, wie soll man sie sich vorstellen? Der dimensionslose Raum, der Punkt also, ist die Schnittfläche von zwei eindimensionalen Gebilden – was aber schneidet die Linie der Zeit? Der Meridian? Der schneidet die Projektion der Sonnenbahn. Eine zweite, andere Zeitlinie? Wie aber wäre die denkbar, und wäre sie denkbar: wie wäre sie dann zu denken? Und: Kann ein Zeitpunkt auch nur für ein Nu so existent sein, wie ein Punkt existent ist? Er ist doch immer nur das, was noch kommt oder schon gegangen ist, die Mitte zwischen zwei Grenzen, die ohne Mitte zusammenstoßen, das Präsens (– und damit auch das Präteritums)lose. Ob es Sprachen gibt, die solche Verben haben, also nur mit Zukunft und Vergangenheit

Und das Adverb für dies Gegenwartslose heißt doch »jetzt», nicht wahr (wie »da» für das Raumlose), das ist ein Geheimnis

Linien, die einander schneiden – der Sadistenclub in der Geometrie

Jene Abschiedsszene vor fünf Minuten war wohl letzten Endes darum so merkwürdig, weil es eine Frau war, die Abschied – im Sinn des Weggehens – nahm. Dies ist ein neues, noch unentfaltetes Mythologem – in den überlieferten nehmen stets die Männer von den Frauen Abschied, ich kenne wenigstens kein andres. Ariadne geht zurück, nicht fort; Helena wird geraubt, und wenn Kore Abschied nimmt, verläßt sie nicht den Mann, da verläßt sie die Mutter

Reiselektüre: Einer bewährten Praxis folgend, sollte man stets etwas Andersartiges wählen, für eine Krimreise etwa die Schilderung einer Nordpolexpedition. Was sucht man da aus, wenn man nach Ungarn fährt, diesem Kreuzpunkt aller nur denkbaren historischen und geistigen Linien? Ich habe lange gesucht und immer wieder verworfen; ich wollte schon die Bibel mitnehmen, schließlich entschied ich mich für Jean Paul: Des Feldpredigers Attila Schmelzle Reise nach Flätz – ich glaube, das müßte trotz des Namens zu Ungarn ein Anderes sein

Belustigend fratzenhaft die Idee zu einer Geschichte, ein häßlicher Einfall, und plötzlich wie ein vergeltender Faustschlag die Müdigkeit

Einschlafen im fahrenden Zug: Erinnerung aus frühesten Tagen, vielleicht aus frühesten Zeiten der Wanderschaft: gedämpftes Stampfen von vielhundert Füßen, Rhythmen, Geborgenheit, huschendes Dunkel und sanftestes Schaukeln, Geraun fremder und doch vertrauter Laute, und dazu diese seltsam körperlosen und doch so bestimmt dich an Schulter und Hüfte fassend- und führenden Schübe und Züge der Fliehkraft in den Kurven ins Unbekannte

Nach Paß und Zoll, Zoll und Paß und langem, traumlosem Schlaf: Wo sind wir? Eine Böschung, darüber nur einzelne Kronen junger Kiefern, ganz würdevoll-ungestüm unterm gleichmäßig grauen Himmel – wo

Im Spiegel des Toilettenschränkchens wandert die Gegend entgegengesetzt zur Bewegung, die sie dem Blick aus dem Fenster bietet, und wenn sie dort von dir zu fliehen scheint, kommt sie im Spiegel auf dich zu. Die Zukunft zeigt sich als Gegenwart; Gestalt und Dauer der Welt draußen wird verdoppelt; ein magischer Gewinn, aber diese Doppelung erzeugt auch Schwindel, man kann seinen Platz nicht mehr bestimmen; die Frage: vorwärts oder rückwärts wird sinnlos, und die zerteilte Welt läuft in der Fuge von Spiegel und Fenster zusammen und schiebt sich in sich und hebt sich auf: Antimaterie und Materie, einander lautlos in einem Flimmern treffend und sich lautlos eins im andern vernichtend

Ist in jedem Jetzt Zukunft da? Es scheint so

Kalkweiß, mondweiß: Kilometersteine vor dem dunkelgrünen Wald hinter der sumpfigen Wiese: Wolfszähne in einem Walfischrachen. Jedesmal sehe ich diese eine, kaum zehn Zugsekunden lange Stelle, und jedesmal weiß ich, daß es jetzt langweilig wird, und schaue doch noch lange hinaus

Bratislava: Vier Soldaten, im Laufen aus Biergläsern trinkend, und hinter ihnen eilig trippelnd eine zarte kleine Frau mit einem riesigen Teddy quer in der Hängetasche, eine merkwürdige, auch durch die Bewegung so merkwürdige Pietà

Zigarettenpaffende Frauen: Ungarn ist nahe

Zwei Bauernmädchen mit Regenschirmen

Der frappierende Anblick auf einem Bahnhof: ein Schornsteinfeger mit Leiter, Kugel und Hut. Warum verblüfft, ja erschreckt einen dies so? Ein Indianer im Kriegsschmuck würde staunen machen, aber nicht so verblüffen. Nicht das Durcheinanderbringen von Geographischem bestürzt, sondern das von Tätigkeiten. Nicht der exotisch Fremde ist uns unheimlich, sondern der, von dem wir nicht wissen, was er tut oder eigentlich tut – Hoffmanns Hofräte zum Beispiel, oder, im Passiv, Gogols Aktenkopisten

Schmutz, wie bekannt, ist Materie am falschen Ort. Wäre Schrecken falsches Funktionieren? Dies erklärte auch seine Nähe zum Gelächter

Hinterm Bahnhof zwischen Krähenschwärmen massenhaft braune und graue Papierfetzen wie kleine Drachen, in heftigen winzigen Rucken sich hochschnellend oder stürzend und von erschreckender Bösartigkeit

Letzter Gruß aus der Slowakei: eine Zeile grüngedachter bunter Bienenhäuser, die Vorderfronten blau, grün, rot, gelb in allen Kombinationen wie Standarten von Vaterländern, eine summende friedliche Koexistenz! Und noch ein Gruß: vorm Maisfeld ein himmelblaues Auto, umringt von spielenden weißen Hühnern, an denen vorbei zwei Fasane schreiten

Nicht mehr in dem einen, noch nicht in dem andern Land: Drei Stunden Verspätung! Da hast du deine Mitte zwischen zwei Grenzen! Und ich hatte doch gerade diesen (unbequemen) Zug gewählt, um mit einer Schilderung Esztergoms über der Abenddonau mein geplantes Reisebüchlein zu beginnen

Die Doppeldeutigkeit des Wortklangs »grüngedacht» ist ganz lustig, etwa um eine Enttäuschung auszudrücken:

Ich hatt’ es mir ganz grün gedacht,

nun aber ist’s nur grüngedacht.

Was es ja gibt. Es wird schon ein Sinn hinter solchen Gleichklängen stecken

Zu schreiben (vielleicht im Széchenyi-Familienbad): ein Heftchen Gedichte, bei denen die Überschrift allemal länger als das ihr folgende Gedicht wäre

Budapest, Westbahnhof, Taxistand, Matsch und Regen. Ein schmuddliger, angetrunkener und überhaupt rundum unsympathischer Strizzi betätigt sich als unerbetner Helfer beim Koffereinladen; man läßt es ihn merken, daß er unerwünscht ist, und gelingt es ihm doch, jemandem das Gepäck zu entreißen und in den Kofferraum zu stopfen, übersieht man seine tief ins Auto gestreckte, wippende Hand. Auch ich bin entschlossen, mir nicht helfen zu lassen, und Gábor ist es offenbar auch, doch Elga läßt ihn ihren Einkaufsbeutel verstauen und steckt ihm beim Einsteigen etwas zu. »Ja doch», sagt sie auf meine vorwurfsvolle Verwunderung, »ja doch, ein paar Forint», und begütigend, ehe ich noch schimpfen kann: »Hast du denn nicht gesehn, der muß doch jetzt trinken, und ihm fehlen noch drei, vier Forint zur Flasche, da trägt er halt Koffer, und jetzt ist er glücklich!» – »Auch ein Glück», sage ich aufgebracht, und Elga erwidert, Glück sei Glück, das habe mit Moral nichts zu tun, höchstens mit dem Gesetzbuch, und was für mich ein neues Buch sei, das sei für ihn heut abend die Flasche! Ich knurre gereizt; Gábor lächelt in sich hinein wie immer, und Elga sagt, mit dem Kopf nach mir deutend: »Er kommt halt frisch aus Preußen!» Doch da halten wir schon beim Astoria

Was diese Jahrhundertwendehotels so zauberhaft macht, ist ihre Verwandtschaft mit der Sesamhöhle. Auch wenn sie in vielem ihr Gegenstück sind (zum Beispiel aus dem Gestein der Umgebung hervortreten, statt sich ihm anzugleichen, und das Tor, statt es unsichtbar zu machen, betonen), gehören sie doch in den Bannkreis Ali Babas und Sindbads. Beim Duna-Continental oder Stadt Berlin oder Hilton-Havanna käme man gar nicht auf diesen Gedanken, sie haben zum Märchen nicht die geringste Beziehung, wohl aber zu der vollautomatischen Hühnerfabrik. Was nicht anders funktionieren könnte, als es funktioniert, ist kein Märchen, hier aber sind wir in der Sphäre des Zaubers und nehmen dafür gern auch Unbequemlichkeiten, so jetzt für die erste Woche ein Behelfszimmer (Interhotels hätten keines) in Kauf

Astoria: Auf dem Tresen der Rezeption hat jedes Telephon eine andere Farbe (rot, grün, braun, weiß); vor der Direktion kämpft lebensgroß ein Bronzekentaur mit einem Lapithen, und dahinter der Chef schreibt zwischen Marmor und Stuck surreale Gedichte – hätte mein Gastgeber, der Magyar PEN-Club, ein besseres Stammquartier wählen können

Und in meinem Zimmer der Wandschrank: ein Gemach, von Frankenstein oder Meyrink entworfen, ein Eichenverlies, ein Enakssarg, eine Goliathkammer: drei Meter hoch, zwei Meter breit, einen Meter tief, fächerlos, und quer durch den Kasten eine armdicke Stange, und ein Riegel wie vor Blaubarts siebenter Tür. Dieser Riegel aber ist innen, nicht außen, und wer das Sesam-öffne-dich seines Geheimnisses wüßte, erführe die tausendundzweite Nacht

Gábor wartet; ich wollte noch eine Fischsuppe essen, aber scharf, und mit richtigem Paprika, also nicht hier im Hotelrestaurant, und Gábor beginnt entzückt die Beiseln herzuzählen, doch da ich zu meinen Ansprüchen hinzufüge: »Und heiß, verstehst du, richtig heiß, nicht bloß lau, gleich vom Feuer weg auf den Tisch», da runzelt auch er besorgt die Stirn. »Wie könnt ihr nur so ungesund essen», meint er, »da verbrennt man sich doch die Eingeweide

Es gibt hundert Gründe für die ungarische Küche; der erste: Sie schmeckt. Und vier dagegen: Wenig Gemüse; ausschließlich Schweineschmalz; oftmals lau, und ausschlaggebend: Es schmeckt zu gut

Das berühmte Wildrestaurant war überfüllt; wir hätten zwar noch zwei Plätze an einem Vierertisch gefunden, allein es gilt als taktlos, Paare oder Gesprächspartner zu stören. Der Wunsch, seinen Abend ungestört zu verbringen, schließt hier die Bereitschaft ein, auch den anderen dies Recht zuzubilligen, und diese Sitte integriert sogar meine Landsleute … Gewiß, an Wohnraum herrscht Mangel, an Restaurants Überfluß, aber es ist auch eine andere Haltung, das Leben ist öffentlicher und zugleich intimer als etwa in Berlin oder Erfurt, und dort schließt das Eine das Andere aus, hier aber bedingen sich diese Pole. Ob Restaurant, ob Café, man nimmt sich Zeit und kann sie sich nehmen: Kein Ober drängt zu ununterbrochenem Bestellen; Wartende gedulden sich ohne Quengeln und Drängeln, und wer, wie wir, wirklich hungrig ist oder Eile hat, kann ja ein paar Schritte weitergehen

Und schon im nächsten Restaurant ist Platz, viel Platz, im Speisesaal sind wir fast allein. Acht Tische, davon nur zwei besetzt, und eine Fischsuppe wird aufgetragen, nein, eigens nach Gábors Bestellung bereitet, eine Fischsuppe (»Wo?» wird Elga morgen aufgeregt fragen, »eine richtige Fischsuppe? Scharf? Heiß? In Pest? Unmöglich!» – und recht wird sie haben, denn wir sind ja in Buda!) – eine Fischsuppe also, ein dampfender Höllenkessel, der aber trotz aller Schärfe den Gaumen nicht betäubt oder ätzt. Der Karpfen kernig, schneeweiß, weder moosig noch zerkocht und dennoch locker und von einem Geschmack, als habe er sich zeitlebens nur von Nüssen genährt, und der regierende Maître des Tisches offenbart uns in einem Ton, der jeden Widerspruch zur Beleidigung machte: »Und danach, meine Herren, werden Sie Topfennockerln essen, ich hab’ sie schon in der Küche bestellt!» – Oben ist’s schummrig, aber, welch Labsal, keine Kapelle, denn unten, ein paar Stufen hinunter, wird Karten gespielt, ein gut ausgeleuchteter großer, fast quadratischer schmuckloser Raum mit weißen Holztischen; helles Licht unter grünen Schirmen; man spielt konzentriert, still, kaum Redensarten, kein Streit, die Kiebitze schweigen, fast keine Frauen. Man trinkt wenig; natürlich spielt man um Geld, natürlich scharf, natürlich nicht Hasard: Préférence, Tarock, Mariage, Sechsundsechzig. Das Geld, in Häufchen neben jedem Spieler, klirrt leise; die Kiebitze schweigen; die Ober bewegen sich geräuschlos; an einem Tisch starrt ein sehr schönes Talisman-Mädchen fasziniert auf die ausgeworfenen Karten

Nieselregen am Heimweg: die gespiegelten Lichter verfließen auf der Donau zu großen, zitternden, bunten Flecken: Im Regen blühen die Blumen auf, große Blumen, die Donau füllend, blühendes Grau unterm schwarzen Hügel, in dessen Mitte hell angestrahlt Sankt Gellért, der eifernde Heilige Budapests, steht

Ein Programm für die drei Wochen würden wir morgen machen, meint Gábor – das des PEN-Clubs wird erfahrungsgemäß human sein, und was mich betrifft, so habe ich keins. Ein Büchlein Reisenotizen soll werden, irgendwas Loses, Buntes, nicht einmal auf Ungarn beschränkt, ein bißchen erweitertes Tagebuch, und das führe ich ohnehin jeden Abend. Mit den Übertragungen von Füst bin ich längst fertig; der Prometheus ist vorerst im ersten Viertel abgeschlossen; ein paar Interlinearübersetzungen der späten Gedichte Józsefs habe ich im Koffer, und eine ungarische Grammatik und ein Ungarischlehrbuch wie immer auch. Wollen will ich nur Ruhe, Dösen, Faulsein, Nichtstun, Herumschlendern, Antiquariate, eben Urlaub; ich werd’s zwar auch hier nicht länger als drei Tage aushalten, aber das wäre ja auch schon etwas

Und noch ein Blick in den Wandschrank: Sitzt Kasim oder gar Mardschanah drin? Der Riegel blitzt. Und ganz tief unten raschelt’s: ein Mäuslein

Und schlafen