Zwielicht 11 - Michael Schmidt - E-Book

Zwielicht 11 E-Book

Michael Schmidt

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Beschreibung

Zwielicht - das deutsche Horrormagazin in seiner 11. Ausgabe. Das Titelbild ist von Björn Ian Craig unter Verwendung von Elementen aus einer Fotografie von Alessio Lin (linalessio.co) Geschichten: Thomas Stumpf - Der Mann, der Jimmy Page kannte Abel Inkun - Die Essenz des Veronesen Gordon McBane - The Hanky Panky Girl Leander Milbrecht - Phelesto Markus K. Korb - 80 Grad Carmen Maria Machado - Abstieg Karin Reddemann - Das samtrote Sofa Carl Denning - Ein Porträt von Shirley Love Manuel Otto Bendrin - Der perfekte Moment Matthias Schulz - Beschreibung einer norwegischen Spezies von Theraphosidae sowie der mysteriösen Ereignisse im Rahmen ihrer Untersuchung Lea Reiff - Adze Harald A. Weissen - Eisberg Blues Algernon Blackwood - Der Blutweiher David Wright O'Brien - Ausstrahlung Artikel: Matthias Kaether - Die Horror- und SF-Stories von O'Brien und Yerxa Matthias Kaether - Museum des Wundervollen Karin Reddemann - Verführerin mit Biss Michael Schmidt - Die einflussreichen Werke des Genre Horror und Unheimliche Phantastik Ralf Steinberg - Das Durchdrehen der Schraube Christian Weis, 1966-2017

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Hrsg. Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Zwielicht 11

Horrormagazin

Horrormagazin Zwielicht

Band 11

Herausgegeben von Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Kontakt: [email protected]

Das Copyright der einzelnen Texte liegt beim jeweiligen Autor und Autorin

Titelbild: Björn Ian Craig

Unter Verwendung von Elementen aus einer Fotografie von Alessio Lin (linalessio.co)

Lektorat: Marianne Labisch

März 2018

Inhalt

Vorwort

Thomas Stumpf – Der Mann, der Jimmy Page kannte

Abel Inkun – Die Essenz des Veronesen

Gordon McBane – The Hanky Panky Girl

Leander Milbrecht – Phelesto

Markus K. Korb – 80 Grad

Carmen Maria Machado – Abstieg

Karin Reddemann – Das samtrote Sofa

Carl Denning – Ein Porträt von Shirley Love

Manuel Otto Bendrin – Der perfekte Moment

Matthias Schulz – Beschreibung einer norwegischen Spezies von Theraphosidae sowie der mysteriösen Ereignisse im Rahmen ihrer Untersuchung

Lea Reiff – Adze

Harald A. Weissen – Eisberg Blues

Algernon Blackwood – Der Blutweiher

David Wright O'Brien – Ausstrahlung

Artikel

Matthias Kaether – Die Horror- und SF-Storys von O'Brien und Yerxa

Matthias Kaether – Museum des Wundervollen

Michael Schmidt – Die einflussreichen Werke des Genre Horror und Unheimliche Phantastik

Ralf Steinberg – Das Durchdrehen der Schraube

Karin Reddemann – Verführerin mit Biss

Christian Weis, 1966-2017

Autoreninfos

Vorwort

Liebe Leser unheimlicher Literatur,

Zwielicht bittet zum elften Mal zum Tanz mit den Abgründen des Seins. Wie immer ist es uns gelungen, eine interessante Mischung an Geschichten und Artikel zu vereinen und auf Sie loszulassen.

Zwielicht kennt keinen Rückschritt und befindet sich in ständiger Veränderung. Wundern Sie sich also nicht, wenn Ihnen die Namen der Autoren nicht allzu viel sagen. Sie werden noch öfters von ihnen hören.

Wir haben natürlich auch altbekannte Gesichter. Algernon Blackwood ist mittlerweile schon Inventar von Zwielicht und so haben wir beschlossen, den bisher in unserem Magazin erschienenen Geschichten einen Sonderband zu spendieren, der im Anschluss an diese Ausgabe erscheinen wird und mit Die Tafeln der Götter noch eine deutsche Erstveröffentlichung als Bonus enthalten wird.

In Zwielicht 11 finden Sie Geschichten, die könnten so auch geschehen sein. Fabuliert Thomas Stumpf über die Wahrheit von Led Zeppelin? Hat das Hanky Panky Girl wirklich beim Radio angerufen? Und könnte an 80 Grad viel Wahres dran sein?

Zwei Beispiele für ziemlich moderne Geschichten.

Das samtrote Sofa und Ein Porträt von Shirley Love sind dagegen die Vintage -Version und atmen den Hauch der Vergangenheit.

Die lässt auch Matthias Kaether aufleben und bringt uns die erste Veröffentlichung des amerikanischen Autors David Wright O'Brien, der leider viel zu früh im Weltenbrand des vergangenen Jahrhunderts untergegangen ist.

Auch Lea Reiff widmet sich in Adze der Vergangenheit und erinnert an ein dunkles Kapitel deutscher Kolonialgeschichte.

In den USA werden ja gerade die Waffengesetze diskutiert. Zum wiederholten Male. Carmen Maria Machado, ein amerikanische Autorin, widmet sich dem Thema auf ungewöhnliche Weise.

Ich merke schon, ich gerate ins Fabulieren und verrate viel zu viel vom Inhalt. Sie sollen es ja selbst lesen, daher schweige ich mich jetzt aus.

Wir hatten eine Umfrage gestartet über die einflussreichsten Werke des Genres Horror und Unheimliche Phantastik. Herausgekommen ist eine spannende Liste die wir hier abgedruckt haben. Ralf Steinberg ließ es sich nicht nehmen, eines der Werke einer intensiveren Betrachtung zu unterziehen und wir wollen das in den nächsten Ausgaben auf andere Werke aus der Liste ausweiten.

Am Schluss gedenken wir Christian Weis, Zwielicht-Autor der ersten Stunde, der letztes Jahr leider viel zu früh von uns gegangen ist.

Hinweisen möchte ich noch auf die Schwesterreihe Zwielicht Classic, in der Wiederveröffentlichungen von Geschichten publiziert werden. Aktuell sind 13 Bände erschienen.

Ich wünsche viele wohlige Schauer bei der Lektüre und freue mich auf ein Wiedertreffen im Herbst, wenn Zwielicht 12 auf der Agenda steht.

Mit dunklen Grüßen

Geschichten

Thomas Stumpf – Der Mann, der Jimmy Page kannte

„Und das ist tatsächlich eine Erstpressung?“

„Das sagte ich doch.“

„Und Sie wollen wirklich nicht mehr als hundert Euro dafür?“

„Hundert Euro und sie gehört Ihnen.“

„Ich kann das gar nicht glauben“, sagte Simon und suchte in Gedanken den Haken an der Sache. Das Inserat war zu verlockend gewesen und das anschließende Telefonat mit dem Verkäufer kurz und unkompliziert verlaufen. Jetzt saß er in Heinrich Kinds stickigem Wohnzimmer, wenn man den chaotischen, mit vollgestopften Bücherregalen zugestellten Raum als solches bezeichnen wollte.

Die Schallplatte lag vor ihm auf dem unordentlichen Tisch, auf dem sich Gläser, Teller, Zeitungen und Bücher gegenseitig den Platz streitig machten. Gehüllt in eine schlichte schwarze Papphülle ohne jegliches Cover sollte sich darin ein wahrer Schatz verbergen. Das war zu schön um wahr zu sein. Irgendetwas daran war nicht ganz koscher. Bei dem Preis. Wer verkaufte denn bitte eine Erstpressung von Led Zeppelins viertem Album aus dem Jahre 1971 für einen schlappen Hunderter? Garantiert handelte es sich um Betrug.

Der alte Herr im Sessel gegenüber allerdings machte einen sehr ernsthaften, wenn auch merkwürdigen Eindruck. Die ergrauten Haare standen dem seltsamen Kauz zu allen Seiten des Kopfs ab, das Gesicht hatte schon seit längerem keinen Rasierer mehr gesehen und die Füße steckten in altmodischen, abgewetzten Pantoffeln. Dazu trug er einen schmuddeligen Frotteebademantel über einem Unterhemd, das seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Der Mann roch seltsam. Vielleicht ging das aber von der Wohnung aus, die schon längere Zeit nicht mehr gelüftet worden war. Doch all das konnte täuschen. Vielleicht war Heinrich Kind sich des Wertes seines Besitzes einfach nicht bewusst, dachte Simon, doch irgendwie erschien ihm das unwahrscheinlich. Der stechende Blick des Alten durchbohrte ihn und Simon fühlte sich unbehaglich.

„Ich muss ehrlich sagen, dass ich bei Ihrer Anzeige stutzig geworden bin. So ein geringer Preis für eine Erstpressung ist äußerst ungewöhnlich.“ Simon vermied bewusst das Wort „verdächtig“. Einen Plattenspieler, das war ihm schon kurz nach Betreten der Wohnung aufgefallen, konnte er nirgends entdecken. Eigentlich deutete gar nichts darauf hin, dass er es hier mit einem Musikliebhaber zu tun hatte.

„Ist sie denn überhaupt abspielbar?“

Der Alte beugte sich vor und sah Simon angriffslustig an.

„Und ob sie das ist, junger Mann. Und ob sie das ist“, antwortete er mit krächzender Stimme und schob ein schauriges Lachen hinterher, das in einen trockenen Hustenanfall mündete.

Kratz mir bloß nicht hier ab, dachte Simon, der seine Entscheidung, auf das Inserat zu antworten, mit jeder Sekunde in der engen Wohnung mehr und mehr bereute. Der Hustenanfall klang ab und der Alte nahm einen kräftigen Schluck Rotwein aus einem schäbigen Glas. Es war erst halb Zwölf am Vormittag und die Flasche schon zur Hälfte geleert.

„Okay“, gab Simon unsicher von sich. Die Sekunden dehnten sich. „Darf ich mir die Platte mal anschauen?“, fragte er schließlich.

„Nur zu“, sagte der Mann, während er sein Glas auffüllte. Hinter ihm in einer Ecke tickte laut eine alte Standuhr, wie Simon sie aus alten Horrorfilmen der Hammer-Studios kannte.

Er holte aus seiner Jackentasche ein paar einfache weiße Stoffhandschuhe hervor und streifte sie über. Der Alte beobachtete ihn argwöhnisch. „Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme“, sagte Simon. „Damit ich das gute Stück nicht beschmutze oder beschädige.“

„Das ist mir klar“, antwortete der Mann ohne seinen Gast aus den Augen zu lassen.

Was für ein Freak, dachte Simon und nahm das Album vom Tisch. Der Karton wies einige abgenutzte Stoßkanten, oberflächliche Kratzer und Lagerungsspuren auf, aber sonst war er tadellos. Es überraschte Simon, wie schwer die Schallplatte in seinen Händen wog.

„Ist das 180-Gramm-Vinyl?“

„Was weiß ich“, gab der Alte barsch zurück.

Idiot, schimpfte sich Simon selbst. Warum halte ich nicht einfach meinen Mund?

Simon kippte die Hülle leicht ab und ließ die dünne, ungefütterte Innenhülle mit einer geübten Bewegung in seine rechte Hand rutschen. Sie musste einst weiß gewesen sein, doch nun von einer ungesund gelblichen Farbe und fühlte sich wie Pergament an. Die einzige typografische Gestaltung zeigte in Scharlachrot die berühmten vier Symbole, die dem legendären Album auch den Namen „Four Symbols“ oder „Zoso“ eingebracht hatten. Sie waren in einer Reihe angeordnet und jedes der vier Symbole stand für eines der Bandmitglieder. Links das von Jimmy Page selbst entworfene und ihm zugeordnete alchimistische Symbol-Wort Zoso, dann die drei in einem Kreis eingefangenen Ovale, die für Bassist John Paul Jones standen, gefolgt von den drei ineinander greifenden Ringen, die Schlagzeuger John Bonham repräsentierten und am Ende der Reihe die in einem Kreis eingefasste stilisierte Feder für Robert Plant.

Simon hörte das laute Ticken der Standuhr. Er blickte zu dem Alten auf, der ihn noch immer mit weit aufgerissenen Augen beobachtete. Schließlich ließ Simon die tiefschwarze Vinylscheibe vorsichtig aus der Innenhülle gleiten und nahm sie ehrfürchtig in die behandschuhten Finger. Er hielt die Platte in das spärliche Tageslicht, das sich mühsam seinen Weg durch den halb geschlossenen Vorhang des einzigen Fensters im Raum bahnte. Das Vinyl war blitzeblank. Kein Kratzer, keine Vertiefung, keine Unebenheit, kein Staub. Gekonnt ließ er die Platte zwischen seinen Handflächen eine Umdrehung um die eigene Achse machen, aber auch die B-Seite zeigte sich makellos.

„Sieht gut aus“, sagte er anerkennend. „Sehr gut sogar.“

Auf dem runden Etikett in der Plattenmitte waren lediglich die Buchstaben ‚A’ und ‚B’ für die Markierung der jeweiligen Seite, sowie eine kleinere Ausgabe der vier Symbole zu sehen. Keine Plattenfirma, kein Copyright, keine Jahresangabe, keine Hinweise auf Ort und Zeit der Pressung. Zu Simons Überraschung enthielt das Label jedoch eine handschriftliche Nummerierung. Sie lautete „02/4“.

„Vier?“, fragte er und schaute zu dem schrägen Kauz im Sessel gegenüber. „Es wurden doch mehr als vier Pressungen gemacht. Das verstehe ich nicht.“

„Oh“, grinste der Alte. „Das ist eine besondere Pressung, das sagte ich bereits.“

Simon überlegte. Selbst wenn es keine Erstpressung sein sollte, so war er sich dennoch sicher, dass er hier ein ganz besonderes Sammlerstück vor sich hatte und dass dieses jedenfalls einen gewissen Wert besaß. Und wenn die Nummerierung korrekt und nicht gefälscht war, gab es hiervon nur vier Stück. Weltweit. Die Sache wurde spannend.

„Okay, Herr Kind, ich bin interessiert. Aber die Neugier lässt mir keine Ruhe. Warum wollen Sie diese Rarität verkaufen? Noch dazu zu diesem Preis?“

„Ich will sie nicht mehr“, herrschte ihn der Alte mit unerwarteter Vehemenz an. „Ich will sie nicht mehr in meinem Haus! Wollen Sie die Platte nun haben oder nicht? Wenn nicht, verschwinden Sie einfach!“ Der Alte war jetzt richtig in Fahrt und Simon hatte nicht die geringste Ahnung, durch welches Verhalten er hierzu Anlass gegeben haben könnte.

„Äh, okay. Dann bleibt es also bei hundert Euro?“

„Sie hat mir nur Unglück gebracht“, fuhr der Mann jetzt fort und ignorierte Simons Frage.

„Was meinen Sie damit?“

„Erworben habe ich diese Platte im Winter 1970. Wie ich den Tag verfluche.“

Simon zögerte und wog ab, ob er es auf eine weitere Konfrontation mit dem Alten ankommen lassen, oder ob er nicht einfach einen Hunderter auf den Tisch legen und sich mit seiner Beute verabschieden sollte. Am Ende siegte der Nerd in ihm. „Entschuldigung, aber das kann nicht sein. Die Platte ist erst im November 1971 erschienen. Sie meinen sicherlich Winter 1971.“

„Ich weiß, was ich gesagt habe und ich sagte Winter 1970! Halten Sie mich für einen weichbirnigen alten Sack?“, geiferte der Kerl und sah in seinem schlabbrigen Morgenmantel immer verrückter aus. Das Ticken der Uhr trieb Simon langsam in den Wahnsinn.

„Nein, vielleicht irre ich mich auch, ich wollte nicht ...“

Ich bin so dämlich, halt doch einfach die Schnauze, verfluchte er sich erneut.

„Sie irren sich keinesfalls, mein junger Freund“, unterbrach ihn der Kerl. „Die Platte erschien offiziell tatsächlich erst im November 1971. Aber ich habe diese Version vorab erhalten als ich Jimmy Page in Boleskine House besuchte.“

Simon ließ diese Information sacken. Nein, jetzt war endgültig klar, dass er es hier mit einem hochgradig Bekloppten zu tun hatte.

„Sie kennen Jimmy Page persönlich?“

„Oh ja, Junge.“ Er nahm einen weiteren großen Schluck Rotwein.

„Und Sie haben ihn 1970 in Boleskine House in Schottland besucht?“

„Gewiss doch.“

„Und er händigte Ihnen eine Schallplatte aus, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab?“

„Ich weiß, wie sich das anhört. Aber wussten Sie, dass dieses Haus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert für über ein Jahrzehnt Aleister Crowley gehörte, dem berüchtigten Okkultisten und Satanisten?“

„Ja, ist mir bekannt. Ich weiß, wer Aleister Crowley war. Jeder weiß das, seit Ozzy seinen Song ‚Mr. Crowley’ geschrieben hat“, antwortete Simon. Er konnte es nicht fassen, welche Richtung dieses Gespräch einschlug. „Und?“

„Oh, Sie halten das alles für ausgemachten Blödsinn, ist es nicht so? Das kann ich in Ihren Augen sehen. Sie denken, der Alte ist verrückt und erzählt nur Schwachsinn, man sollte ihn einweisen.“

In der Tat, dachte Simon.

„Crowley war zu Lebzeiten ein Widerling durch und durch. Zahlreiche Geschichten ranken sich um seine Person. Und ich weiß“, fuhr sein Gegenüber fort, „was Crowley in diesem Haus für Rituale und Zeremonien abgehalten hat.“

„Zeremonien?“

„Kennen Sie die Geschichte von Crowley und dem Fleischermeister?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der Alte fort. „Der ortsansässige Fleischer war zu Boleskine House rausgefahren, um wie üblich Aleisters Bestellung entgegenzunehmen. Doch dieser öffnete ihm nach mehrmaligem Klingeln nicht. Erst nachdem der Metzger sturmgeläutet hatte, riss Crowley völlig entnervt die Tür auf und fragte, was der Störenfried denn wolle. Er war, was der Metzger nicht wusste, gerade in ein magisches Ritual vertieft gewesen und das Klingeln hatte ihn aus seiner tiefen Konzentration gerissen. Crowley nahm einen Zettel und notierte wütend seine Bestellung. Den Zettel drückte er dem verdutzten Fleischer in die Hand, dann schlug er ihm die Tür vor der Nase zu. Der Metzger begab sich in seine Fleischerei zurück. Auf der Rückseite des Zettels, auf den Crowley seine hastige Bestellung geschmiert hatte, befand sich auch ein von Crowley aufnotierter Zauber. Kurz darauf hackte sich der arme Kerl mit einem Fleischerbeil alle Finger der rechten Hand ab. Etwas hatte ihn abgelenkt und seine Konzentration gestört.“

„Nette Geschichte“, sagte Simon.

„Das ist nicht bloß eine Geschichte. Ich weiß von den sexuellen Ausschweifungen, Opferungen und den Anbetungen, und Jimmy wusste es natürlich auch. Er war besessen davon.“

„Ach, jetzt ist es schon ‚Jimmy’? So eng waren Sie beide?“

„Werden Sie nicht frech! Was wissen Sie denn schon, was mich und Jimmy damals verband? Diese Schallplatte, besser, die vier Platten aus dieser Serie wurden mit einem besonderen Zauber Crowleys belegt und in ‚Stairway to heaven’ steckt die geballte schwarzmagische Kraft der Zerstörung.“ Die Augen des Alten leuchteten vor Ereiferung.

Simon brach in lautes Gelächter aus.

„Die geballte schwarzmagische Kraft der Zerstörung? Verzeihung, aber das ist der größte Mist, den ich je gehört habe. Okay, jetzt weiß ich es: Sie nehmen mich auf den Arm? Das ist ein Test, nicht wahr?“

Dann prustete er wieder los, Tränen schossen ihm in die Augen. „Gleich erzählen Sie mir noch, dass, wenn man ‚Stairway to heaven’ rückwärts abspielt, eine satanische Botschaft zu hören ist. Gott, ist das herrlich.“

„So ist es“, schrie der Alte, der aus dem Sessel aufgesprungen war. Simon zuckte zurück. „Ganz genau so ist es. Und es ist wahr! Jede Silbe davon ist wahr!“ Der pure Wahnsinn spiegelte sich in seinen Augen.

„Hören Sie“, versuchte Simon sich zu beruhigen und den Alten zu besänftigen. „Es tut mir leid, Herr Kind, das ist Quatsch. Ein PR-Gag, der zahllose Vollidioten dazu veranlasst hat, ihre Platten und Nadeln zu ruinieren, indem sie versuchten, die Scheibe rückwärts laufen zu lassen. Da der Plattenspieler das nicht kann, machen sie es per Hand und schrotten ihre Platten, sodass sie gezwungen sind, neue zu kaufen. Und durch den ganzen Hype von wegen geheimer Botschaften und Satanismus werden noch mehr Alben umgesetzt. Ein Marketingtrick. Das ist alles.“

„Das ist nicht alles.“ Eins musste man dem Alten lassen: Er war standhaft.

„Ich habe es ausprobiert. Ich war einer dieser Vollidioten.“

Alle Kraft wich plötzlich aus seiner Stimme und er ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. „Natürlich hatte ich meine Zweifel, aber ich habe es ausprobiert. Ein einziges Mal nur. Gleich in der Woche, in der ich aus Schottland zurückkehrte. Es ist diese Stelle ‚If there´s a bustle in your hedgerow don´t be alarmed now’. Wenn man ab hier die Platte rückwärts abspielt, kann man die Teufelsbotschaft wahrnehmen. ‚I sing because I live with Satan’, beginnt es. Ich habe die Botschaft gehört und dann kam das alles. Auf den regulären Pressungen, die in den Handel kamen, ist davon nichts zu hören. Aber diese vier …“

„Was meinen Sie mit‚ und dann kam das alles.“

Der alte Mann sah ihn mit leerem Blick an. Er wirkte jetzt nicht mehr verrückt, sondern nur alt und traurig. Plötzlich tat er Simon leid.

„Ich habe alles verloren.“

Der Alte schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein, nahm eines der benutzten Gläser vom Wohnzimmertisch und goss auch Simon ungefragt ein halbes Glas ein, womit er die Flasche leerte. Simon wollte nicht pingelig sein und nahm einen Schluck. Der Wein schmeckte besser als erwartet.

„Im Sommer 1970“, begann sein Gastgeber, „hatte mich Jimmy eingeladen, nachdem er in Boleskine House bei Loch Ness eingezogen war. Aleister Crowley und seine okkulten Theorien faszinierten ihn. Ich war damals, das kann man getrost sagen, ein anerkannter Kenner dieser Materie und hatte mich bereits zuvor intensiv mit Crowleys Schriften befasst. Wussten Sie, dass er auch Bergsteiger war und beim Erstbesteigungsversuch des K2 dabei? Seine Bergsteigerkarriere endete allerdings auf sehr unrühmliche Weise.“

„Ich weiß, angeblich hat er Bergkameraden im Stich gelassen, es gab Tote.“

„Ja, so sagt man. Irgendwie endete alles bei Crowley auf recht unrühmliche Weise. Jedenfalls hatte mich Jimmy schon kurz nach Erwerb des Anwesens kontaktiert, ob ich ihm bei der Aufarbeitung und Auswertung von Crowleys Arbeiten nicht behilflich sein könnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jimmy schon eine beachtliche Sammlung an Memorabilia zusammengetragen und ich war erstaunt, ja beeindruckt ob seines Wissens über Okkultismus. Bis dahin hatte ich ihn lediglich für einen Rockmusiker gehalten. Ich dachte mir: Ein Sommer mit Jimmy Page, das hieße Drogen, Alkohol, Frauen, interessante Leute und ausufernde Partys. Was hatte ich schon zu verlieren? All das gab es, aber wir befassten uns ernsthaft mit Crowleys Wirken. Vieles davon war dummes Zeug, aber nicht alles. Oh nein, nicht alles.“

Der Alte schaute eine Weile aus dem Fenster, dann fuhr er fort.

„Und dieses Anwesen. Boleskine House. Es war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtet worden und diente ursprünglich als Jagdsitz. Sein Erbauer, Colonel Archibald Campbell Fraser, war zwar kein Satanist oder dergleichen, aber er war nicht weniger narzisstisch veranlagt als Crowley. Die Familie Fraser hatte das Gebäude über die Jahre immer wieder umgebaut und erweitert, bis es am Ende ganz verwinkelt und unübersichtlich war. Einige Anwohner im Dorf behaupteten, der Ort sei bereits vor Errichtung des Anwesens verflucht gewesen. Eine örtliche Legende besagt, an der Stelle habe viele Jahre zuvor eine Kirche gestanden. Während eines Gottesdienstes brach ein Feuer aus und die Türen ließen sich nicht mehr öffnen. Für die versammelte Kirchengemeinde wurde das Gotteshaus zur Todesfalle. Sie konnten nicht raus und alle Gläubigen kamen in den Flammen um. Und ich schwöre Ihnen, Junge, in einer der langen, stillen Winternächte, die ich dort verbrachte, habe ich im Kellergewölbe die Schreie dieser armen Seelen gehört.“

Der Alte war leichenblass. Die Standuhr tickte erbarmungslos laut, der ganze Raum schien in ihrem Rhythmus zu pulsieren. Simon schwitzte.

„Als Jimmy es erworben hatte“, fuhr Kind fort, „befand sich Boleskine House schon in keinem guten Zustand. Dennoch hatte er sich dazu entschlossen, das Anwesen unverändert zu lassen und er ließ so gut wie keine Arbeiten daran verrichten. Er wollte den alten, düsteren Geist des Gemäuers und seine Geheimnisse bewahren. Es übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus und auch ich konnte es spüren. Je länger ich mich dort aufhielt, desto mehr ergriff es Besitz von mir. Oft streifte ich alleine durch die verwinkelten Flure und Zimmer, die düsteren Keller und den verwilderten, zugewucherten Garten. Der verfluchte Keller.“

Heinrich Kind nahm einen Schluck Wein.

„Dort unten hielten wir zu zweit stundenlange Sitzungen ab, bis wir in Crowleys Schriften auf ein altes Blutritual stießen, mit dem es, laut Crowley, gelingen sollte, den Herrn der Finsternis anzurufen. Das taten wir dann. Das Ritual war schmerzhaft und erschöpfend, aber Jimmy bestand darauf. Aus seinem Blut erschufen wir letztlich eine mächtige schwarzmagische Essenz, die Jimmy in einer Phiole aufbewahrte.“

Simon starrte den Alten an.

„Sie verarschen mich?“

„Glauben Sie?“

„Was geschah mit der Essenz?“

„Ich hatte zunächst keine Ahnung, aber einige Tage später offenbarte mir Jimmy, dass er sie beim Produktionsprozess einer kleinen Anzahl von Schallplatten verwenden wollte, um auf diese den Geist des Meisters zu bannen. In einem kleinen Presswerk bei Glasgow ließ Jimmy dann die Platten herstellen. Es waren am Ende vier Stück. Eine davon halten Sie jetzt in den Händen.“

„Das ist einfach nicht wahr“, sagte Simon mit ruhiger Stimme und betonte dabei jede einzelne Silbe.

Der Alte überging die Bemerkung. „Es hat ihn ein Vermögen gekostet, aber das war ihm egal.“

„Sie erfinden das. Die Geschichte ist so dämlich, dass sie schon fast wieder gut ist. Alleine dafür müssten Sie eigentlich mehr als nur hundert Euro verlangen.“

Doch diese als Scherz beabsichtigte Äußerung kam Simon nur halbherzig über die Lippen. Ob es am schummrigen Licht oder dem Rotwein lag, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, aber innerlich wankte er. Konnte das wahr sein? Weiß der Teufel, was die in den Siebzigern alles in diesem abgelegenen Keller getrieben hatten. Vielleicht erlebte der Alte gerade einen schweren Flashback, der auf jahrelangem LSD-Konsum beruhte. Es musste Logiklöcher in der Story geben.

„Was ist mit den anderen drei Platten passiert?“, hakte Simon nach.

„Jimmy hat sie an verschiedenen Stellen des Anwesens einmauern lassen.“

„Er hat was?“

„Jimmy hat den Geist des Meisters in Boleskine House verankert und es in ein Zentrum der dunklen Mächte verwandelt. Er hat den Ort mit dunkler Energie aufgeladen. Wie eine Batterie, verstehen Sie? Ein Ort, an dem man Satan selbst herbeirufen konnte, eine Standleitung in die Hölle.“

Heinrich Kind beugte sich weit in seinem Sessel vor, bohrte die klauenartigen Finger in die Armlehnen, sein Gesicht nur Zentimeter von Simons entfernt. „Verstehen Sie?“

„Was geschah dann?“, fragte Simon nach einigen Sekunden, die sich wie Kaugummi zogen.

Der Alte sackte in seinen Sessel zurück und spähte durch den schmalen Vorhangspalt nach draußen. Im warmen Nachmittagslicht tanzten die Staubpartikel. Das Ticken der Standuhr hallte lauter als je zuvor. Unerbittlich schwang das Pendel hin und her und Simon musste unwillkürlich an Die Maske des Roten Todes von Edgar Allan Poe denken. Heinrich Kind war eine gealterte Version von Prinz Prospero, der durch die bizarren Flure und Hallen seiner verzerrten Erinnerung wanderte. Der Tod würde ihn hier hinter seinen eigenen Mauern doch noch ereilen. Aber erst, wenn er vollständig den Verstand verloren hätte. Er schien auf dem besten Wege zu sein.

„Herr Kind? Was geschah dann? Sie sagten, Sie hätten alles verloren.“

„Sie sind alle gestorben. Einer nach dem anderen“, antwortete der Mann ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

„Was meinen Sie?“

Der Alte blickte ihn wieder an.

„Ende Dezember 1970 kehrte ich Boleskine House den Rücken. Weder wollte ich den Jahreswechsel dort verbringen noch Jimmys Geburtstag im Januar abwarten. Auf meine Bitte hin entließ er mich aus seinen Diensten und gab mir eine der vier Platten. Diese hier“, sagte er und zeigte auf die Vinylscheibe, die Simon mit sicheren Griffen wieder in den Pappschuber eingelegt hatte.

„Natürlich wollte ich wissen, ob der Crowley-Zauber funktioniert hat, den wir in dieses rabenschwarze Stück Vinyl gebannt hatten. Wenige Tage nach meiner Rückkehr habe ich die Platte dann eines Abends abgespielt und ich ließ ‚Stairway to Heaven’ an der besagten Stelle rückwärts ablaufen.“ Kind machte eine Pause. „Ich werde diesen Moment niemals vergessen. Nie werde ich die Stimme aus meinem Kopf kriegen, die aus den Lautsprechern erklang. Es war, als sei jemand aus den Lautsprecherboxen heraus und in mein Zimmer getreten, ganz nah an mich heran.“ Schweißperlen standen auf der Stirn des Alten und er zitterte. „Dann vernahm ich die Botschaft des Meisters, er flüsterte sie mir direkt in mein Ohr.“

Simon lauschte gebannt, traute sich aber nicht, eine Frage zu stellen oder eine unterbrechende Bemerkung zu machen. Wahrscheinlich war der Stimmeneffekt im Studio einfach nur in die eigentliche Tonspur eingeschleift worden. Daher der intensive Klang. Nur Technik, kein Teufelswerk. Led Zeppelin waren nicht die Ersten und nicht die Letzten, die sich dieses Kniffs bedient hatten. Doch diesmal war Simon so klug, seine Weisheiten für sich zu behalten.

„Plötzlich war es vorbei. Ich spielte den Song noch einmal an und ließ ihn ganz normal bis zum Ende durchlaufen. Nichts geschah. Am nächsten Morgen war Henry tot. Henry war mein Beagle. Während meines Aufenthalts in Schottland hatte ich ihn meiner Schwester überlassen, die sich um ihn kümmern sollte. Er lag einfach tot vor meinem Bett.“

„Das kann doch Zufall gewesen sein.“

„Ja, das dachte ich zunächst auch. Eine Woche später ist meine Mutter gestorben. Einen Monat darauf mein Vater. Beide an einem Hirnschlag. Halten Sie das auch für Zufall?“

„Naja“, setzte Simon an. Doch bevor er weitersprechen konnte, fuhr Kind fort.

„Ein halbes Jahr später ist meine Schwester gestorben. In einem Badesee ertrunken. Sie war eine gute Schwimmerin. Taucher mussten sie aus dem See holen, sie hatte sich in Schlingpflanzen verheddert.“

„Ein tragischer Unfall?“

„So sah es aus. Aber ich wusste es besser, ich sah die Spuren an ihrem Knöchel. Die Polizei sagte, es handele sich um die Druckstellen der Schlingpflanzen. Doch in meinen Augen waren es unverkennbar die Male von Fingern. Etwas hatte sie gepackt und in die Tiefe gezogen.“

Simon sah nun keinen geifernden Verrückten mehr vor sich, sondern einen gebrochenen Mann, dem das Leben übel mitgespielt hatte. Und es gab nichts, was er zum Trost hätte sagen können.

„Hören Sie, Herr Kind, das tut mir alles furchtbar leid. Ich bin eigentlich nur gekommen, um vielleicht diese alte Schallplatte zu kaufen. Vielleicht interpretieren sie zu viel in die Sache hinein. Ich will nicht taktlos erscheinen, sie haben viel durchgemacht und einige herbe Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn Sie sich von dieser Schallplatte trennen und die Sache abschließen. Ich bin auch gerne bereit, etwas mehr zu zahlen.“

Der Alte hob den Blick und schaute Simon fest in die Augen. „Sie haben nicht verstanden, mein junger Freund. Das alles hängt doch gerade mit dieser verfluchten Schallplatte zusammen.“

„Warum haben Sie sich nicht früher von ihr getrennt oder sie einfach zerstört?“

„Glauben Sie, das hätte ich nicht versucht? Es hat nicht funktioniert. Damals nicht und heute nicht. Ich konnte nicht, verstehen Sie? Ich konnte nicht. Die Platte ließ es nicht zu.“

„Was meinen Sie damit, die Platte ließ es nicht zu?“

„Ich habe sie an die Wand geworfen, ich habe sie mit dem Hammer zertrümmert, ich bin mit dem Auto darüber gefahren, ich habe sie ins Feuer geworfen. Was auch immer ich tat: am nächsten Morgen lag die Platte neben meinem Bett auf dem Boden. In eben jener Hülle, die da auf Ihrem Schoß liegt. Sehr spät habe ich erkannt, dass nur ein Handel mich erlösen wird. Der Teufel liebt Geschäfte.“

Er sagte das ganz ernsthaft und völlig ironiefrei.

„Was für ein Handel?“

„Ich muss einen neuen Besitzer finden, mich loskaufen.“ Der Alte starrte ihn an. „Verstehen Sie?“

„Ich soll jetzt an Ihre Stelle treten? Damit mich dasselbe Unglück ereilt?“ Simon konnte es nicht fassen. „Das haben Sie sich ja fein ausgedacht. Für wie dämlich halten Sie mich eigentlich? Mal vorausgesetzt, ich nehme Ihnen diesen ganzen Hokuspokus überhaupt ab.“

„Aber Ihnen wird nichts geschehen, junger Mann. Sie haben es selbst in der Hand.“

„Ihnen ist alles Unglück der Welt widerfahren, aber mir wird nichts geschehen?“, fragte Simon.

„So ist es. Sie können die Platte so oft hören, wie Sie wollen, es wird nichts passieren. Sie müssen nur der Versuchung widerstehen, sie auch nur ein einziges Mal rückwärts abzuspielen. Das ist alles.“

Das machte alles überhaupt keinen Sinn, aber Simon war es langsam leid und er hatte schon deutlich mehr Zeit hier verplempert als ihm lieb war. Er wollte die Sache beenden. Der Raum war überhitzt, die Luft zum Schneiden dick, das Ticken der Standuhr mittlerweile unerträglich und ein pulsierender Kopfschmerz hatte sich hinter seiner Stirn eingenistet. Er musste hier raus.

„Okay“, sagte er schließlich, „ich glaube, das schaffe ich. Hundert Euro?“ Simon zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, nahm einen grünen Schein heraus und legte ihn auf den zugemüllten Wohnzimmertisch.

„Hundert Euro“, antwortete der Alte. „Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

Simon erhob sich, nahm die Schallplatte unter den Arm und streckte dem Mann im Sessel die rechte Hand entgegen.

„Werde ich nicht.“

Heinrich Kind schüttelte die ihm gereichte Hand, ohne sich aus dem Sessel zu erheben. „Dann werden wir uns in dieser Welt nicht mehr sehen. Alles Gute, junger Freund.“

„Ihnen auch, Herr Kind.“

Simon wandte sich zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. „Eine Sache noch: Sie wissen, dass Boleskine House letztes Jahr zu großen Teilen niedergebrannt ist?“

Der Alte blickte ihm in die Augen.

„Seit fünfundvierzig Jahren bin nicht mehr dort gewesen. Aber letzten Winter bin ich noch einmal zurückgekehrt. Es musste ein Ende haben. Ich habe dafür gesorgt, dass die anderen drei teuflischen Artefakte ein für alle Mal vernichtet werden und mit dem Haus untergehen. Da sie nie in meinem persönlichen Eigentum standen, war ihre Zerstörung unproblematisch.“

Das war nun der Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit. „Sie haben Boleskine House abgefackelt?“

Der alte Mann starrte wieder aus dem Fenster, so als ob er auf etwas warten würde. Oder auf jemanden.

„Ich hätte es viel früher tun sollen“, sagte er mehr zu sich selbst, ohne Simon eines weiteren Blickes zu würdigen. Simon wartete eine Weile, ob der Alte noch etwas sagen würde, doch der blieb stumm. Simon nickte und ging. Die Standuhr schlug Zwölf, als er die Tür hinter sich zuzog.

Er trat ins Freie trat und atmete tief durch. Was für ein irrer Vormittag und was für ein merkwürdiger, trauriger alter Mann. Den Erwerb dieser Schallplatte würde Simon nicht mehr vergessen, so viel stand fest. Es wäre eine Geschichte, die er seinen Enkeln noch erzählen konnte.

Es folgte ein feuchtfröhlicher Abend mit seinen Freunden und er erzählte ihnen jedes Detail seiner Geschichte. Leicht angetrunken und gut gelaunt kam Simon nach Hause. Um den Abend feierlich abzuschließen, streifte er die Schuhe ab und legte seine Neuerwerbung auf den Plattenteller. Behutsam setzte er die Nadel auf die Rille des letzten Tracks der B-Seite und regelte die Lautstärke hoch. Das weltberühmte Intro von ‚Stairway to Heaven’ erklang kristallklar und voluminös aus seinen B&W-Boxen.

Aus einer Schublade nahm er die gelbe Dose mit Fischfutter heraus und ging zum Aquarium.

„Keine Angst, ich vergesse euch nicht“, sagte er zu den zwei Dutzend bunten Tieren und streute großzügig Futter ein, während er Robert Plants Gesang lauschte. Er holte eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und genehmigte sich einen letzten Schlummertrunk. Simon ließ sich auf dem Zweisitzer nieder, den er zentral zu den Boxen ausgerichtet hatte, und nahm einen großen Schluck aus der Dose. Im Kopf ging er noch einmal das Gespräch mit dem Alten durch.

„Warum eigentlich nicht“, sagte er zu sich selbst. „So ein Schwachsinn.“

Er erhob sich und ging zum Plattenspieler. Mit der Hand stoppte er die Umdrehung des Plattentellers, was mit einem sägenden, verschwurbelten Geräusch aus den Lautsprechern quittiert wurde. Behutsam begann er die Platte rückwärts zu drehen. Ein dröhnendes, kakophonisches Kauderwelsch war zu vernehmen, dann nur noch ein tieffrequentes Wummern und Simon wollte die Platte schon wieder loslassen. Da schlugen ihm so unerwartet heftig und laut Worte aus den Boxen entgegen, dass er vor Schrecken zusammenzuckte.

„I sing because I live with Satan.

The Lord turns me off, there’s no escaping it.

Here’s to my sweet Satan, whose power is Satan.

He will give you 666.

I live for Satan.“

Simons Nackenhaare richteten sich auf, das Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust. Dann war es vorbei und nur ein kratzendes Rauschen drang noch aus den Lautsprechern. Der Alte hatte nicht übertrieben. Die Botschaft war tontechnisch verdammt gut abgemischt.

„Wow“, sagte er überrascht zu sich selbst und gab den Plattenteller frei. Der Song wurde bis zu seinem großartigen Finale fortgesetzt. Simon trank sein Bier aus und legte sich schlafen.

Als er am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen erwachte, drängte sich ihm der Verdacht auf, dass das letzte Bier vielleicht eines zu viel gewesen sein könnte. Er quälte sich aus dem Bett und steuerte das Badezimmer an. Unterwegs warf er einen Blick auf das Aquarium. Seine Fische entdeckte er nicht. Simon rieb sich die Augen und trat einen Schritt näher. Er hatte sich getäuscht. Die Tiere waren nicht verschwunden. Sie trieben mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche. Tot. Jeder einzelne Fisch.

Abel Inkun – Die Essenz des Veronesen

„Na endlich!“, fauchte Berthold Flieder, als sein Enkel Fabius abgehetzt die Buchhandlung betrat. „Wo hast du dich um Himmels willen nur herumgetrieben? Der Laden ist voll, das Telefon klingelt ohne Unterlass, auf dem Tresen stapeln sich die auszuliefernden Bücher … Und wo bleibst du?“ Fabius wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, doch sein Großvater drückte ihm stattdessen eine Plastiktüte in die Hände. „Das muss zu Frau Molte, Schlossparkstraße 12. Und beeil dich diesmal gefälligst ein bisschen.“ Der Alte wandte sich schon ab, um sich einem Kunden zu widmen, der erwartungsvoll vom Krimiregal aus zu ihnen herüberschaute.

Fabius lagen tausend Fragen auf der Zunge, die die nervenaufreibenden Erlebnisse auf seiner heutigen Tour betrafen. Doch er sah ein, dass er das auf später verschieben musste, wenn sie beide ungestört sein würden. Allerdings eines wollte er trotzdem wissen: „Opa!“ Der Buchhändler drehte sich mit unwilligem Gesichtsausdruck zu seinem Enkel um. „Gibt es da vielleicht eine Kleinigkeit zu Frau Molte, die ich wissen sollte und die du in der Eile nicht erwähnt hast?“

Berthold Flieders Miene war das Abbild reinster Unschuld und Ahnungslosigkeit. Nur der Anflug eines Errötens störte diesen Eindruck. „Was meinst du denn damit, mein Junge?“, fragte er mit einem Räuspern. „Frau Molte ist eine langjährige Stammkundin von mir. Sie sammelt begeistert Liebesromane. Letzten Monat kaufte sie Sündige Leidenschaft von Thorsten Doyle und In der Schwüle einer Liebesnacht von Britta Tomsen.“

Schweigen. Für einen kurzen Augenblick herrschte es in der Leseratte trotz der Kunden, die sich in dem kleinen Geschäft gegenseitig auf die Füße traten, gespenstische Stille. „Und das ist alles?“, fragte Fabius. Deutliches Misstrauen schwang in seiner Stimme mit.

„Natürlich ist das alles!“, zischte Flieder. „Und jetzt mach, dass du in die Hufe kommst! Oder hast du etwa Angst vor einer alleinstehenden Dame, die auf ihren neuen Liebesroman wartet? Vermutlich, um von ihrem Märchenprinzen zu träumen, fügte er für sich hinzu.“ Entschlossen schob er seinen verdatterten Enkel Richtung Tür. Auf der Straße musste Fabius zunächst einmal seine wirren Gedanken ordnen. Der Alte hatte es wieder einmal kaltschnäuzig geschafft ihn abzuwimmeln. Aber immerhin besaß er jetzt wenigstens ein paar Informationen über die Kundin, die er als Nächstes beliefern sollte. Eine alte Jungfer, die Liebesromane verschlang, um ihre Einsamkeit zu vergessen … Das klang in der Tat wenig bedrohlich.

Seltsam … dachte Fabius dann bei sich, Sündige Leidenschaft war erst vor wenigen Wochen verfilmt worden und stand wochenlang in den Kinocharts. Seine Freundin Lena hatte ihn dazu genötigt, den Schmöker zu lesen und später mit ihm in den Film zu gehen, damit er lernte, was Romantik bedeutet. Trotzdem konnte er sich nicht daran erinnern, worum es in dem Film oder in dem Buch ging. Und In der Schwüle einer Liebesnacht? Von dem Buch hatte er noch nie gehört oder vielleicht doch?

Er radelte am Oberforster-Bach entlang Richtung Südstadt. Kurz vor Sonnenuntergang trieb ein kühler, frischer Wind ihn an, stärker in die Pedale zu treten. Er fuhr quer durch den Schlosspark, hinter dem parallel die gleichnamige Straße verlief. Das letzte Haus gehörte Frau Molte. Ihr Vorgarten grenzte seitlich direkt an den gusseisernen Zaun des Parks.

Plötzlich trat aus dem Schatten eines dichten Gebüschs eine dunkle Gestalt, die mitten auf den Weg torkelte. Fabius konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, sein Hinterrad schleuderte zur Seite. Fast wäre er gestürzt. Der Mann vor ihm starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Offensichtlich handelte es sich um einen Obdachlosen, der sich nach einem Schlafplatz für die Nacht umsah.

„Passen Sie doch auf, um Himmels willen. Ich hätte Sie fast über den Haufen gefahren!“, rief Fabius ihm verärgert aber gleichzeitig auch erleichtert zu.

„Machts kurz, ich sehn´ mich nach dem Tode!“, antwortete der Mann mit einem leiernden Tonfall. Der Kerl schien angetrunken zu sein. Aufgrund seiner Verwahrlosung konnte er das Alter schwer schätzen. Er hatte wirres, angegrautes Haar und einen ebensolchen Vollbart. Das gebräunte, wettergegerbte Gesicht erinnerte an einen verknitterten Faltenrock. Unter den trüben, grauen Augen hingen tiefe Tränensäcke. Sein dunkelblauer Trainingsanzug war von oben bis unten mit Schmutzflecken bedeckt, deren genaue Herkunft der Betrachter nicht wirklich erfahren wollte. Unterm rechten Arm klemmte ein Schlafsack, in der linken Hand trug er eine Plastiktüte vom Discounter, in der zwei Flaschen mit rotem Weinfusel steckten.

„Mensch, ich krieg kaum Luft, so hab ich mich erschrocken“, japste Fabius und machte eine Geste, als wolle er sich Schweiß von der Stirn wischen.

„Wie kannst du außer Atem sein, wenn du noch Atem hast, um mir zu sagen, dass du außer Atem bist?“ Der Obdachlose machte eine weit ausladende Geste mit dem linken Arm, die ziemlich theatralisch wirkte. Ganz offensichtlich hatte der Kerl einen Dachschaden. Trotzdem stieg Fabius vom Rad und trat näher an den Mann heran.

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte er besorgt. „Fehlt Ihnen was?“

„Wie geht es meiner Julia? Denn nichts kann schlechter sein, wenn's ihr nur gut geht!“ Fabius Gegenüber entblößte beim Sprechen zwei Reihen lückenhafter, bräunlich-schwarzer Zahnreihen. Der verzückte, schwärmerische Gesichtsausdruck stellte einen kaum erträglichen Kontrast zu dem kloakenhaften Gestank dar, der aus dem Mund des Penners strömte.

Fabius kam immer mehr zu der Überzeugung, dass er es mit einem Irren zu tun hatte, der dringlich in eine entsprechende Anstalt eingewiesen werden musste.

„Wie heißen Sie, guter Mann? Haben Sie Angehörige, die ich benachrichtigen könnte?“ Er tastete nach seinem Smartphone, um Hilfe herbeizurufen.

„Was ist schon ein Name? Was uns Rose heißt - wie es auch hieße - würde lieblich duften“, kam die lallende Antwort. Nun reichte es dem Bücherboten endgültig. Er tippte gerade die Notrufnummer ein, da fing der Kauz plötzlich an zu husten und zu würgen. Im Schwall pladderte eine Lache Erbrochenes vor Fabius Füße. Der sprang entsetzt mit einem Aufschrei zur Seite. „Das ist ja widerlich, Mann!“ Der Obdachlose dagegen stand mit einem Mal stocksteif da, wurde ganz bleich um die Nase und starrte Fabius mit weit aufgerissenen Augen an. Nach einer Weile entspannte sich die Körperhaltung des Mannes, so, als fiele eine Last von seinen Schultern. Er atmete einmal tief ein und aus und wandte das Gesicht dem jungen Flieder zu.

„Endlich …, jetzt ist es vorbei. Hast du mal ne Kippe für mich, Junge?“

Kopfschüttelnd steckte Fabius sein Smartphone ein, nachdem er sich vergewissert hatte, dass von der Sauerei nichts auf seine Hose oder die Schuhe geraten war.

„Was – um Zeus Willen – ist mit Ihnen eigentlich los?“, fuhr er sein Gegenüber an, der sich den Mund mit dem Ärmel abwischte.

„Das sind noch die Nachwirkungen des Dopes von der alten Hexe da drüben.“ Er zeigte zum Haus von Frau Molte hinter dem Gitterzaun des Parks. „Ich hab gestern Nacht in ihrem Gartenhaus gepennt und von ihrem selbst gebrannten Kräuterschnaps getrunken.“ Der Penner kicherte amüsiert, als er daran zurückdachte. „Mannomann …, das ging aber ab wie Schmitz Katze! So einen Horrortrip hab ich noch nie erlebt!“

„Dope? Kräuterschnaps?“, fragte Fabius verwirrt. „Moment mal, wir reden hier doch von Frau Molte, einer einsamen Dame, die Liebesromane liest.“

„Ist mir egal, was die Alte liest“, grölte der Obdachlose. „Aber ihr Stoff ist einmalig. Zwischendurch packt mich der Flash und ich fühle mich wie ein brünstiger Liebhaber auf der Pirsch nach seiner Liebsten!“ Mit dreckigem Lachen klopfte er sich auf die ebensolchen Schenkel. Nachdenklich nahm Fabius sein Rad auf, winkte dem seltsamen Kerl noch einmal kurz zu und machte sich auf den restlichen Weg bis zu Frau Moltes Haus.

Inzwischen war es dunkel geworden. Im Licht der Straßenlaterne lehnte er sein Fahrrad an den Jägerzaun vor dem etwas heruntergekommenen Fachwerkhaus. Er nahm die Plastiktüte mit seiner Buchlieferung aus dem Gepäckträger und ging zur Haustür. Er klingelte mehrmals, doch niemand öffnete ihm, obwohl ein uralter Ford-Taunus unter dem Carport stand.

Fabius ging ums Haus herum und gelangte auf ein langgezogenes Gartengrundstück. Tatsächlich sah er etwa sechzig Meter weiter ein Gartenhaus, das mehr einem kleinen, vergammelten Schuppen aus vermoderten Holzbrettern entsprach und in dem Licht brannte. Da er keine Lust verspürte, am nächsten Tag noch einmal hierher zu fahren, lief er kurzentschlossen weiter und betrat nach flüchtigem Anklopfen das Gartenhaus. Er sah sofort, dass niemand da war. Fabius wollte schon enttäuscht hinausgehen, als sein Blick auf sorgfältig aufgereihte Einmachgläser in einer offenen Regalwand fiel, die er sich neugierig anschaute. Auf den Etiketten las er zunächst erwartungsgemäß Aufschriften wie: Pflaumenmus, Kirsch- oder Holundermarmelade. Doch auf dem obersten Brett standen mit Männernamen etikettierte Fläschchen. Bruce Weller stand dort, oder Henry Russel, oder Peter Unger … Peter Unger! Ja … Das war er! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Wie hatte er das nur vergessen können? So hieß der Protagonist und Liebhaber aus Sündige Leidenschaft, dem verfilmten Bestseller. Noch vor vier Wochen stand der Roman in der Spiegel-Bestsellerliste und führte die Kino-Charts an, doch von einem Tag zum anderen schien er in Vergessenheit geraten zu sein. Ganz merkwürdig … Und Henry Russel? Hmm … dämmerte ihm da was? Sein Großvater hatte doch eben im Laden einen Titel erwähnt … In der Schwüle einer Liebesnacht … Genau! Noch vor drei Monaten der skandalträchtigste Erotik-Thriller der letzten Jahre. Henry Russel hieß der standfeste Dauerbeglücker der Damenwelt, nach dem sich pubertierende Teenies und unbefriedigte Vorstadt-Mutties gleichermaßen in ihren Träumen verzehrten, bis – von Jetzt auf Gleich – das Vergessen einsetzte und niemand mehr von dem Buch redete. Irgendetwas stimmte da nicht. Fabius nahm eines der Glasfläschchen in die Hand und hielt es gegen das Licht der nackten Glühbirne. Die Flüssigkeit darin war vollkommen klar wie Wasser. Als Fabius einen Schritt zurücktrat, stieß sein Fuß an einen Gegenstand, der mit leisem Klacken gegen einen Fuß der Regalwand rollte. Er bückte sich und sah, dass es sich um ein weiteres, allerdings leeres Fläschchen handelte. Es musste dasjenige gewesen sein, von dem der Obdachlose getrunken hatte. Auf dem Etikett stand geschrieben: Romeo Montague …

Fabius hielt inne, als er von draußen im Garten eine Art Zischen und Blubbern vernahm. Ein winziges verstaubtes und durch Spinnweben verklebtes Fensterchen erlaubte ihm einen Ausblick. Unter einer von Rosen umwachsenen Pergola hantierte eine etwa 60-jährige, eindeutig zu fette Frau mit mausgrauen, schulterlangen Haaren an einem Tisch mit merkwürdigen Gerätschaften, die an ein mittelalterliches Alchemie-Labor erinnerten. Aus verschiedenen Erlenmeyerkolben und Reagenzgläsern mixte sie Flüssigkeiten von verschiedenster Farbe zusammen und goss das Ergebnis in einen mit kochendem Wasser gefüllten, bronzenen Topf, der über einem offenen Feuer hing.

Dann nahm sie ein Buch vom Labortisch, um … noch einmal die Rezeptur ihres Gebräus zu kontrollieren, dachte Fabius . Doch weit gefehlt! Sie warf das Buch ebenfalls in den Topf und rührte anschließend sorgfältig mit einer Schöpfkelle darin herum. Nach ein paar Minuten nahm sie etwas von dem heißen Gebräu und goss es in eine gläserne Retorte, unter der die gelbe Flamme eines Bunsenbrenners brannte. Fabius hatte genug gesehen. Die alte Hexe hatte nicht alle Tassen im Schrank. Aber als er sich umdrehte, um möglichst unauffällig zu verschwinden, knallte sein Ellbogen gegen die wacklige Regalwand. Ihm entfuhr ein unwillkürlicher Schmerzensschrei. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eines der Fläschchen vom obersten Brett herunterkippte. Im letzten Augenblick konnte er es auffangen, bevor es auf dem Boden zerschellte.

„Wer ist da?“, rief eine Stimme aus dem Garten. „Mist!“, fluchte Fabius und ließ das Fläschchen in seine Jackentasche gleiten. Frau Molte hatte ihn entdeckt. Kurz darauf riss eine massige Gestalt die Tür des Gartenhauses auf. Mit der schweren Schöpfkelle in der Hand stand sie im Türrahmen und verstellte ihm jede Fluchtmöglichkeit.

„Was haben Sie hier zu suchen?“, zischte Frau Molte. „Hier gibt’s nichts zu holen!“

Fabius bemerkte, wie seine Knie anfingen zu zittern.

„Ähh … Ich bin Fabius Flieder. Mein Großvater ist Inhaber der Buchhandlung Leseratte. Ich bringe Ihnen Ihren neuen Roman.“ Mit zitternden Händen hielt er der Frau die Plastiktüte entgegen.

Frau Molte musterte ihn eine Weile mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen von Kopf bis Fuß. Schließlich ließ sie langsam die Kelle sinken und riss Fabius die Tüte aus der Hand. Sie zog das Buch heraus und las genüsslich schmunzelnd den Titel vor: „Rendezvous bei Sonnenuntergang … von Bianca Myers …“ Ihre Augen strahlten vor Verzückung. „Oh Roderick, mein Roderick …“, schwärmte sie mit einem Zungenschnalzen. „Bald bist du mein und gehörst nur mir!“

Fabius lief ein kalter Schauer über den Rücken. Irgendwie erinnerte ihn die Szene an einen gewissen Gollum aus dem Herrn der Ringe. Er hatte nur noch das Bedürfnis, hier schnellstmöglich zu verschwinden. „Kann ich … kann ich nun gehen?“, fragte er mit leiser, heiserer Stimme. Frau Molte, die den Roman fest an ihren üppig ausladenden Busen gepresst hielt, schien aus einer Art Trance zu erwachen. Ihr wütender Blick schien Fabius Stirn durchbohren zu wollen.

„Selbstverständlich!“, fauchte sie und gab die Tür frei. „Verschwinden Sie endlich von meinem Grundstück. Ich hab zu arbeiten.“ Fabius zögerte einen Moment, da ihn die Enge des Gartenhauses dazu zwang, sich dicht an Frau Moltes Leibesfülle vorbeizudrängen. Dann gab er sich einen Ruck und stolperte vor lauter Hast beinahe aus der Tür ins Freie. Erleichtert sog er die kühle, frische Abendluft in seine Lungenflügel und lief durch den Garten Richtung Straße. „Einen schönen Abend wünsch ich …!“, beeilte er sich noch, Frau Molte über seine Schulter zurückblickend, zuzurufen. Doch die Frau war bereits wieder verschwunden.

Als der Bücherbote wieder auf seinem Fahrrad saß, erfasste ihn eine wahre Euphorie, als er fühlte, wie der Fahrtwind den Schweiß auf seiner Stirn trocknete. Vor lauter Erleichterung, dieser widerlichen Hexe entkommen zu sein, fing er an, laut lachend einen alten Schlager zu singen. Aber schon bald fiel ihm sein Großvater ein, der ihm dieses Erlebnis der besonderen Art eingebrockt hatte, und seine Laune verdüsterte sich um zwei Grautöne. Er nahm sich fest vor, seinen lieben Opa noch in dieser Nacht zur Rede zu stellen. Inzwischen durchquerte er den Park und musste sich in der Dunkelheit darauf konzentrieren, tückischen Schlaglöchern auszuweichen.

Am Wegesrand sah er auf einer Bank eine Gestalt im Schlafsack liegen. Fabius war sofort klar, dass es sich um den Obdachlosen von vorhin handeln musste. Der alte Kauz hatte ihn offensichtlich auch wiedererkannt und winkte ihm mit einer matten Armbewegung zu. Fabius hörte, dass der Mann leise vor sich hin wimmerte und stieg daher aus Sorge vom Rad.

„Was ist los mit Ihnen?“, fragte er und trat etwas näher, bis er das Gesicht im Licht des hellen Vollmondes erkennen konnte. „Meine Güte!“, stieß Fabius erschrocken aus. „Sie sehen ja aus wie ein Zombie, der unterm Grabstein hervor gekrochen kommt.“

„Wen selbst noch nie ne Wunde quälte, der macht sich über Narben lustig“, murmelte der Obdachlose erschöpft.

Fabius überlegte, ob er einen Krankenwagen rufen sollte, da kam ihm eine Idee. Aus der Jackentasche zog er das Fläschchen aus Frau Moltes Gartenhaus hervor und dachte bei sich: Warum nicht Teufel mit Beelzebub austreiben?

„Hier, guter Mann … Trinken Sie das. Es wird Ihnen gut tun.“ Das bleiche Gesicht des Alten hellte sich vor Freude auf. „Schnaps! Wunderbare Idee … Besten Dank, mein Guter.“

Er setzte das Fläschchen an den Mund und im Nu gluckerte die klare Flüssigkeit seinen Rachen hinab. Gespannt wartete Fabius auf eine Reaktion des Mannes. Mit zufriedenem Seufzen gab der dem Bücherboten das leere Gefäß zurück und machte Anstalten sich auf der Bank auf die Seite zu drehen, vermutlich, um endlich Schlaf zu finden. Doch abrupt setzte sich der Alte auf, starrte verwirrt in den sternklaren Himmel und stieß einen animalischen Schrei aus. Fabius war das nicht geheuer, deshalbwollte er sich schon auf seinem Fahrrad davonmachen, da rief ihm der Obdachlose zu:

„Oh Baby. Willkommen in meiner Welt.“ Fabius wurde neugierig und sah fasziniert zu, wie der Kerl flink aus dem Schlafsack kletterte und sich vor ihm dynamisch aufbaute, als sei er mit einem Mal zwanzig Jahre jünger geworden.

Etwas unsicher und ängstlich wich Fabius einen Schritt zurück. „Uups … Was ist denn mit Ihnen passiert?“ Während er antwortete, schaute der Obdachlose Fabius mit einem überheblichen Blick von oben herab an. „Ich treffe Entscheidungen, die auf Logik und Fakten basieren und besitze einen gesunden Instinkt, der gute, realistische Ideen und fähige Leute erkennt. Am Ende kommt es immer auf die fähigen Menschen an.“

Vor Staunen fiel dem Bücherboten die Kinnlade herunter. Als er prüfend einen Blick auf das Etikett des Fläschchens warf, las er: Christian Grey.

„Na dann … Prost Mahlzeit!“, konstatierte Fabius mit säuerlichem Gesichtsausdruck. „Und noch viel Spaß mit Ihrem neuen Mitbewohner …“, verabschiedete er sich mit einem letzten Winken und radelte davon.

„Ich würde gerne in diese Lippe beißen“, rief ihm der Alte noch hinterher.

Fabius hätte eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil er dem armen Kerl die Essenz dieses Sado-Maso Milliardärs eingeflößt hatte. Andererseits: Hauptsache, dass Romeos Geist wieder frei war.

Gordon McBane – The Hanky Panky Girl

„Es hatte rote Augen und war kreidebleich. Die Gestalt sagte nichts, sondern starrte mich aus tiefen, leblosen Augen an. Es war, als würde ich in einen Abgrund schauen.“

Auf diese Nachricht brauchte er erst mal einen Schluck. Henry McMillan nahm das Glas Wasser, um seine Stimme zu ölen. Schließlich ließen die Sorgen und Wünsche der Menschen, die ihm ihr Anliegen fünf Mal die Woche mitteilten, seine Zunge nicht zur Ruhe kommen. Das Zuhören und Sprechen waren die beiden wichtigsten Instrumente in seinem Beruf; gleichwohl schaffte er es bis heute nie, beide Anforderungen ganz in der Waage zu halten. Dabei erhielten die Menschen, die ihn um eine Audienz ersuchten, nie die Gelegenheit sein Gesicht zu sehen, sondern hofften einzig auf die Kraft seiner Stimme.

Henry McMillan war ein ungeschlachter Mann mittleren Alters mit drahtigen Augenbrauen, steingrauen Pupillen und schwarzem Haar. Der imponierenden Wirkung seiner markigen Baritonstimme – vor allem beim weiblichen Publikum – durchaus bewusst, war es für ihn stets ein leichtes Spiel, Menschen kennenzulernen. Besondere emotionale Bindungen vermochte er aber über all die Jahre nie auf Dauer aufzubauen, sei es privater oder beruflicher Natur. Warum sollte er auch? Henry McMillan hatte alles, was er wollte und noch mehr. Die Popularität seiner Sendung Shut Up and Talk!, die als Hörfunk in der Nachtschiene eines eigentlich kleinen Senders namens Bay FM in Galway und Umland ausgestrahlt wurde, hatte sich vor allem durch die Aufzeichnungen auf YouTube in den letzten zwei Jahren geradezu überschlagen und wurde als Geheimtipp gehandelt. Mittlerweile wurde die Sendung auch als Podcast angeboten und sollte demnächst landesweit als Pilotprojekt ausgestrahlt werden. Der Fernsehsender TV3 hatte bereits Interesse durchscheinen lassen, dass man bei einer erfolgreichen, landesweiten Zuhörerschaft ein Angebot unterbreiten könnte, welches es McMillan ermöglichte Shut Up and Talk! ins Fernsehen zu bringen – ebenfalls mit ihm als Moderator. Der Gipfel seiner Karriere oder erst Durchbruch zu noch weitaus höheren Sphären?

So oder so, Henry McMillan hatte guten Grund mit seinem Konzept und mit sich zufrieden zu sein. Trotz einiger böser Briefe vonseiten vereinzelter Zuhörer, die ihm Voyeurismus vorwarfen oder ihm unterstellten ein zynischer Heuchler zu sein, der das Leid und die Not seiner Anrufer ausnutze, um in Form eines Seelenstriptease höhere Quoten zu erzielen, überwog deutlich das Gros seiner Fangemeinde. Auf Twitter und Facebook folgte ihm auch das normalerweise schwer zu erreichende, jüngere Zielpublikum. Die Generation U21 galt unter Marktanalytikern als ebenso sprunghaft und unstet wie das Wetter vor der Atlantikküste, das McMillan stets durchs Fenster in seinem Sendestudio bestaunen konnte. Auch heute zog sich wieder ein Gewitter zusammen, das nördlich aus Schottland angebraust kam. Immerhin bedeutete dieses Wetter in der Regel höhere Quoten. McMillans Zuhörerschaft hatte sich gerade durch den späten Sendeplatz verfestigt, da viele Erwerbstätige eine Ablenkung während der einsamen Nachtschicht benötigten und viele ledige Seelen dort draußen hungerten danach, jemanden zum Sprechen zu finden. Wo kommen bloß all diese Verrückten her?, hatte McMillan sich schon bei dem einen oder anderen Kandidaten gefragt. Besondere Affinität hegte er für keinen seiner Anrufer – selbst wenn einer zufälligerweise Fan desselben Rugby-Teams war, hielt sich seine persönliche Anteilnahme in Grenzen. Für McMillan handelte es sich bei den Anrufern um seine Kunden. Und Kunden zählte er nicht zu seinen Freunden, sondern verbuchte sie lediglich als anonyme Nummern. Zahlen. Und McMillan wollte viele Zahlen sehen, besonders auf seinem Konto. Zahlen bedeuteten Macht, das hatte er schon früh gelernt. Seine Anrufer waren wie Auftraggeber und er der Söldner. Der Auftrag lautete, sich ihr Gequatsche anzuhören und hohe Einschaltquoten zu generieren. Jeden Abend wurde dabei ein Thema festgelegt, zu dem Zuhörer anrufen und fünf bis zehn Minuten mit ihm sprechen durften.

Als McMillan vor drei Jahren seinen Job angetreten hatte, war er zunächst froh überhaupt einen Beruf gefunden zu haben, nachdem er sein Studium am Trinity College ohne Abschluss geschmissen hatte, um daraufhin wie viele gescheiterte Existenzen seiner Zunft bei den Medien anzuheuern. Zunächst als ordinärer Late-Night-Talk konzipiert, konnte die Sendung im Laufe der Zeit wachsende Beliebtheit verbuchen, die vor allem auf McMillans zackige Moderationen und der exotischen Themenauswahl zurückzuführen war. Statt Diskussionen um die ersten pubertären Pickel zu führen oder bei Problemen mit den Nachbarn auszuhelfen, verschob sich das Gewicht mehr auf Gebiete wie sexuelle Perversionen oder dunkle Geheimnisse. Je abgedrehter, umso besser, denn dies lockte die Freaks an die Telefonleitungen und die Zuhörer an die Empfangsgeräte, während die Klicks in den sozialen Netzwerken weiter nach oben anzogen und vom Mob geliked, geteilt und kommentiert wurden.

Habt ihr einen Lehrer damals in der Schule sexuell befriedigt, um euren Notenspiegel aufzubessern? An wen denkt ihr wirklich, wenn ihr mit euren Partnern schlaft? Hattet ihr schon mal Geschlechtsverkehr mit Tieren? Steht ihr auf Natursekt?

Aber auch okkulte Themen wie paranormale Erscheinungen oder Verschwörungstheorien wurden bei McMillan abgeklappert.