Zwischen dir und mir die Sterne - Darcy Woods - E-Book

Zwischen dir und mir die Sterne E-Book

Darcy Woods

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Beschreibung

Wil hat genau 22 Tage, um den Richtigen zu finden. 22 Tage, in denen die Sterne für sie günstig stehen, bevor ihr Liebesglück sich für die nächsten zehn Jahre zu verabschieden droht. Der Countdown läuft: Hals über Kopf und sehr beherzt stürzt Wil sich in das Abenteuer ihres Lebens. Doch dann stehen plötzlich gleich zwei Richtige vor ihr: Seth legt ihr sein Herz zu Füßen. Grant bringt ihres zum Leuchten. Und jetzt …? Für alle, die den Richtigen suchen und dafür auch mal den Falschen küssen. »Eine rasante, sprühende Liebesgeschichte, die vor Herz und Humor summt.« Lori Nelson Spielman

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Seitenzahl: 381

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Darcy Woods

Zwischen dir und mir die Sterne

Aus dem Amerikanischen von Astrid Becker

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Danksagung

Für David.

Dessen Liebe alles möglich macht.

(Den Beweis hältst du in den Händen.)

Kapitel 1

Sei demütig, denn du bist aus Erde gemacht.

Sei großmütig, denn du bist aus Sternen gemacht.

Serbisches Sprichwort

Zwei Ängste habe ich schon mein ganzes Leben, und heute muss ich mich einer davon stellen.

Leider aber nicht der Angst vor Clowns – leider: Was mir jetzt bevorsteht, ist schlimmer. Viel schlimmer.

Vorsichtig setze ich mich auf die Plattform des Wasserturms und lasse die Füße in vierzig Metern Höhe in der Frühsommerbrise baumeln. Dann falte ich das vergilbte Papier mit meinem Horoskop auseinander. Und hier ist er, der Schrecken meiner schlaflosen Nächte und der Haken in meinem Schicksal. Das Fünfte Haus: Beziehungen. Romantik. Liebe.

Ob ich will oder nicht – die Sterne zwingen mich zu handeln. Hier und jetzt und heute. Denn die Zeit läuft. Mir bleiben genau zweiundzwanzig Tage.

So lange stehen meine Sterne günstig, um einen Typen zu finden, dessen Horoskop perfekt zu meinem passt. Erst in zehn Jahren wird es wieder eine so ideale Konstellation geben. Und wer weiß, mit siebenundzwanzig bin ich vielleicht schon eine verrückte Einsiedlerin mit elf Katzen und unheilbarer Klaustrophobie.

Das Risiko ist mir einfach zu groß. Vor allem weil mir mein Fünftes Haus ein kompliziertes Liebesleben verheißt. Hilfe! Wenn ich jetzt nicht den Richtigen finde, muss ich die nächsten zehn Jahre an die falschen Typen vergeuden. Zehn Jahre Liebeskummer – nicht auszudenken!

Ich habe gar keine Wahl. Ich muss meine Angst bezwingen und diese kosmische Konstellation nutzen.

Mit geschlossenen Augen atme ich tief durch.

Seit meine Mutter mein Horoskop erstellt hat, bin ich kein einziges Mal vom vorgezeichneten Pfad abgewichen. Denn eines weiß ich mit Sicherheit: Mein Lebensweg ist mir vorherbestimmt, er ist so unveränderlich wie meine Gene, wie die blaue Farbe meiner Augen. Eine andere Richtung einzuschlagen ist keine Option.

Also mache ich mich an die Arbeit. Ich krame den Notizblock, einen Stift und meinen iPod hervor, drücke auf Play und lasse mich von der Musik inspirieren.

Dann beginne ich mit einer Liste der zwölf Tierkreiszeichen. Neben Widder, Zwilling, Waage und Schütze male ich Sternchen – sie stehen für Klugheit, Witz und Abenteuerlust. Neben ein paar andere Sternzeichen mache ich Fragezeichen – sie könnten möglicherweise zu meinem passen. Stier und Skorpion streiche ich durch – solche Partner sind viel zu besitzergreifend. Der Löwe ist mir zu extrovertiert und der Krebs zu rührselig. Mit Gefühlsduselei kann ich nichts anfangen. Und dann sind da noch die Fische-Männer. Die stehen absolut nicht zur Debatte. Warum habe ich das überhaupt hingeschrieben? Ich streiche das Wort so lange durch, bis es nur noch ein Tintenfleck ist.

Diese mickrige Aufzählung ist nichts im Vergleich zu den Nachforschungen, die noch vor mir liegen. Ich muss die Astrologiebücher unter meinem Bett zu Rate ziehen – und natürlich meine beste Freundin Irina.

Sie hat mir eine Überraschung angekündigt, die mir bei meiner Suche helfen soll. Ich lege den Kopf in den Nacken und lehne mich weit zurück, die Ellbogen auf das hüfthohe Geländer gestützt, schaue ich in die vorbeiziehenden Wolken mit ihren flachen, wie gebügelt wirkenden Unterseiten.

Wie soll ich meine Suche bloß eingrenzen? Wo soll ich bloß anfang–

Plötzlich vibriert die Plattform so stark, dass meine Beine beben. Ich habe die Musik zwar laut gestellt – aber sind das nicht Stimmen? Die immer lauter werden?

Erschrocken reiße ich die Ohrstöpsel raus.

»… es nicht! Bitte!«, brüllt jemand herauf.

Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und schaue runter. Ein Typ sieht zu mir hoch. Viel mehr kann ich nicht erkennen, er ist zu weit weg. Dann entdecke ich einen zweiten, der so schnell die Leiter hochklettert, als wäre ihm ein Rudel Höllenhunde auf den Fersen – und er ein Hundekuchen mit Steakgeschmack.

Ein schlammgrüner Kombi steht mit geöffneten Türen und laufendem Motor neben Grandmas Buick.

»Bleib, wo du bist! Die Feuerwehr ist sofort da!«

Die Feuerwehr ist … sofort da? Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ein junges Mädchen allein auf einem Turm. Die wie verrückt irgendetwas kritzelt, während sie sich über das Geländer beugt. Die auf Zurufe nicht reagiert. Bei allen Planeten! Die glauben garantiert, ich schreibe einen Abschiedsbrief!

»Hey!«, rufe ich runter, wild mit den Armen rudernd. »Ich hab … einen Fehler gemacht!«

»Kein Fehler kann so schlimm sein! Nicht …« Der Typ sieht nach unten, als suche er dort nach weisen Worten. Er formt einen Trichter um den Mund. »Nicht springen!«

Sehr weise.

Ein plötzlich aufkommender Wind bläst um den Turm. Damit der Typ mich trotzdem hören kann, mache ich ein paar Schritte auf die Leiter zu. »Mann, ich will überhaupt nicht –« Doch mein Schuh verfängt sich im Riemen der Tasche, ich stolpere und kippe über das Metallgestänge wie eine Stoffpuppe.

»O nein!«, schreit der Typ von unten. »Grant!«

Kräftige Arme packen meine Taille und reißen mich nach hinten. Wir taumeln ein paar schwankende Schritte rückwärts, bis der unbekannte Ringkämpfer mit einem dröhnenden Klonk ans Geländer stößt.

Ich spüre seinen Herzschlag an meinem Rücken. Seine Arme umklammern mich immer noch.

»Es ist okay«, flüstert er mir außer Atem in den Nacken. Er riecht nach Schweiß und nach irgendetwas Sauberem wie Weichspüler. »Ich hab dich. Ich lass dich nicht fallen.« Seine Arme mögen hart wie Stahl sein, aber er zittert wie Espenlaub.

Ich winde mich. »Lass mich los!«

Sein Herz hämmert. »Nur wenn du mir versprichst, nicht zu springen.«

»Okay, ich verspreche es! Und jetzt lass mich aus dem verdammten Schwitzkasten, bevor du mir alle Rippen zerquetschst!«

Augenblicklich lässt er die Arme sinken.

»Danke.« Ich atme erleichtert auf und drehe mich um.

Seine Augen fallen mir als Erstes auf. Sie sind braun. Braun ist ja eigentlich nichts Besonderes – aber bei seinen Augen schon. Sie sehen aus, als ob sie von innen leuchten würden. Vielleicht spiegelt sich aber auch nur das Glühen der untergehenden Sonne in ihnen.

»Was machst du hier oben?«

»Dich retten. Falls du das noch nicht gemerkt hast«, bringt er hervor, stützt die Hände auf die Knie und keucht.

»Mich retten?« Ich grinse ihn verdattert an. »Und deswegen muss ich dich jetzt gleich wiederbeleben, oder was?«

Er ignoriert meine Bemerkung, wirft einen Blick vom Turm und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Ganz … schön … hoch.« Mein Retter zittert zwar nicht mehr, aber entspannt wirkt er auch nicht gerade. Er lässt sich an der niedrigen Mauer auf die Plattform gleiten.

»Das ist ja der springende Punkt.«

Die Brise frischt auf und presst das gelbe Vintage-Kleid an meinen Körper. Es gab eine Zeit, in der mich meine Kurven verunsichert haben. Aber ich habe nun mal Gene, die mich wie eine Sanduhr formen, mit Diäten oder Sport ist da nichts zu machen. Es ist wie eine Naturgewalt – besser man akzeptiert sie, als sich auf einen aussichtslosen Kampf einzulassen.

Er wird rot und wendet sich schnell ab. »Was auch immer es ist, das kann nicht die Lösung sein. Von einem Turm zu springen, ist –«

»Ich wollte überhaupt nicht springen! Wie oft muss ich euch das noch sagen? Ich komme manchmal hier hoch, um nachzudenken und meinen Kopf freizukriegen. Aber doch nicht, um ihn … zu zerschmettern.« Ich lasse den Blick über die Landschaft schweifen. Ich brauche weder Tageslicht noch Adleraugen, um zu wissen, dass die Gebäude von Carlisle starr in Reih und Glied stehen. Oder dass die Bahnschienen die wohlhabende East Side vom Arbeiterviertel im Westen trennen. Weiter hinten erheben sich die Umrisse der drei Schornsteine, deren flackernden Blicken nichts entgeht. Alles steht an seinem Platz, alles ergibt einen Sinn – wenn du nur hoch genug bist.

»Von hier oben sieht alles ganz anders aus. Manchmal brauche ich einfach nur eine andere Perspektive.« Ich bücke mich, um meine verstreuten Sachen einzusammeln, und stopfe die Zettel in meine Tasche, bevor er mich nach den Horoskopen und Sternzeichen fragen kann.

»Wow, warte mal.« Seine dunklen Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Du bist allen Ernstes hier hochgeklettert, nur um nachzudenken?«

Ich nicke.

Er kratzt sich am Kopf, dabei stehen seine dunklen Haare sowieso schon in alle Richtungen ab. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie nie machen, was er will.

»Na ja, um nachzudenken und um die Sterne und den Mars zu sehen.« Ich klopfe gegen das kleine Teleskop im Außenfach meiner Tasche. »Ich meine übrigens den Planeten. Nicht den Schokoriegel.«

»Das habe ich mir jetzt schon gedacht.« Er guckt zur Leiter hinüber und schluckt.

»Im Sommer sieht man sie am besten, und vom Turm aus kann man die Sterne viel klarer erkennen, hier ist das Licht aus der Stadt nämlich nicht mehr so hell. Gleich geht die Sonne unter, dann wird es spannend. Wusstest du, dass manche Indianervölker glaubten, die Milchstraße wäre ein Pfad für die Seelen der Verstorbenen? Darauf wanderten sie, bis sie einen Stern fanden, auf dem sie sich niederlassen konnten. Und weißt du, was noch erstaunlicher ist?«

Er schüttelt den Kopf.

»Es gibt wissenschaftliche Prognosen, nach denen innerhalb der nächsten fünfzig Jahre auf der Milchstraße eine Supernova zu sehen sein wird! Kannst du dir das vorstellen? Mit eigenen Augen zu sehen, wie ein Stern in unserer Galaxie zur Supernova wird? Wenn ein Stern stirbt, explodiert er und strahlt so hell –« Das Lächeln gefriert auf meinem Gesicht, weil er mich so skeptisch anstarrt, als hätte ich gerade behauptet, der Mond wäre aus Käse. »Sorry. Ich will dich nicht langweilen. Übrigens, ich heiße Wil.« Ich strecke die Hand aus. »Wil Carlisle.«

Genau, ich stamme aus der Familie, nach der unsere nette kleine Stadt benannt wurde. Irgendein entfernter Urgroßonkel hat den Ort 1847 gegründet. Für meine Oma, Gram, Grund genug, hier zu leben und hier zu sterben.

Er steht auf, um mir die Hand zu schütteln. »Du bist ein ziemlich ungewöhnliches Mädchen. Nicht böse gemeint.«

Ich grinse. »Ich habe das Normalsein ausprobiert, aber ich fand es langweilig.«

»Ich bin Grant, Grant Walker. Und irgendwie überrascht mich das nicht.« Jetzt lächelt er zum ersten Mal. Und es kommt von Herzen, spiegelt sich in seinen Augen und überträgt sich durch unseren Händedruck.

Keine Ahnung warum, aber mein Herz klopft plötzlich schneller. »Also, Grant Walker, würde es dir was ausmachen, deinen Freund von der Suizidwache abzuberufen? Wie du siehst, steckt ziemlich viel Lebenswille in mir.« Auf meinem Kleid entdecke ich vier bräunliche Streifen vom rostigen Geländer, die mich an eine gegrillte Banane denken lassen. Super. Natürlich lassen sie sich nicht wegwischen.

»Da gibt es leider ein kleines Problem. Wahrscheinlich ist es nämlich schon zu …«

Uuiii – uuiii – uuiii.

Die Sirenen werden lauter.

»… spät dafür«, beendet er den Satz.

Mehrere Polizeiautos und ein Feuerwehrwagen rasen mit Blaulicht und heulenden Sirenen über den Feldweg heran. Als sie mit quietschenden Bremsen zum Stehen kommen, spritzen Kiesel nach allen Seiten. Entgeistert beobachte ich, wie Feuerwehrleute und Sanitäter aus ihren Fahrzeugen hechten, sich gegenseitig Befehle zubrüllen und ein Sprungtuch auseinanderfalten, das aussieht wie die japanische Flagge.

Das. Kann. Doch. Wohl. Nicht. Wahr. Sein.

Ein Megaphon überträgt irgendein Genuschel. »Bla-bla, bla bla bla. Blaaah!«

Der Feuerwehrmann hält den Mund wahrscheinlich viel zu nah ans Mikro. Ich gehe mal davon aus, dass er mir sagen will, ich solle nicht springen.

Ich schlage die Hände vors Gesicht. Was für ein Albtraum! Dabei wollte ich doch nur Frieden und einen schönen Ausblick. Stattdessen bin ich in einem Zirkus gelandet. Mein einziger Trost: Hier gibt es keine Clowns.

Gram wird mich umbringen! Ich habe ja schon ziemlich viel Mist gebaut, aber das hier toppt alles.

»Verdammt!« Grant rauft sich die Haare und sieht mich entschuldigend an. Dann gönnt er seinen Haaren eine Pause und fragt: »Und was machen wir jetzt?«

Ich hole tief Luft. »Jetzt steigen wir runter und erklären denen, was für ein tierisches Missverständnis das war.«

Grant rutscht millimeterweise an die steile Leiter heran, sein Gesicht ist leichenblass.

Ich stehe hinter ihm, als er vorsichtig nach unten sieht. »Grant?«

Er sieht mich mit großen Augen an. »Hm?«

»Ist es so schlimm mit deiner Höhenangst?«

Wie zur Bestätigung schluckt er, und sein Adamsapfel schießt in die Höhe.

»Warum bist du dann überhaupt hochgekommen?«

»Adrenalin«, stößt er hervor. »Ich dachte, du springst jeden Moment. Du wirktest total in dich gekehrt. Und hast null auf uns reagiert!«

»Ich hatte Kopfhörer auf!«, fahre ich ihn an.

»Alles klar! Eine Musikexpertin!«, ruft er hitzig über die aufheulenden Sirenen hinweg. Doch dann hebt er die Hand. »Tut mir leid. Ehrlich.« Ihm ist deutlich anzusehen, wie er versucht, seine Panik in den Griff zu bekommen. »Ich habe keine Phobie oder so. Hier oben ist es nur ein bisschen … ungemütlich.«

Ich halte ihn am Arm fest, weil er zu schwanken beginnt. »Ganz ruhig. Hey, guck mich an.« Ich schenke ihm ein beruhigendes Du-wirst-den-Tag-überleben-Lächeln. »Bleib bei mir. Alles wird gut, Grant. Ich verspreche es dir. Ich bin diese Leiter schon so oft hoch- und runtergeklettert, dass ich es gar nicht mehr zählen kann. Wir machen einfach einen Schritt nach dem anderen. Und ich gehe vor. In Ordnung?«

Der näselnde Feuerwehrmann fummelt wieder an seinem Megaphon rum. Er sollte das lassen. Das macht Grant nur noch nervöser.

»Nein.« Er wischt die Handflächen an seiner Jeans ab. Dann umklammert er entschlossen die oberste Sprosse. »Ich gehe zuerst.«

Ich klopfe leicht auf seine verspannten Rückenmuskeln, wahrscheinlich gibt es keine einzige weiche Stelle an ihm. »Okay. Du hast alles unter Kontrolle. Du schaffst das.«

»Klar«, ringt er sich mit zusammengebissenen Zähnen ab.

Ich warte, bis Grant einen kleinen Vorsprung hat, dann klettere ich hinterher. Er bewegt sich langsam und sicher … na ja, sicher genug.

»Du machst das super!«, rufe ich zu ihm runter. Die erste von vielen wahllosen Ermutigungen, die gleich noch folgen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie helfen. Grant ist stumm wie ein Sargträger. Ich schiele an ihm vorbei, um die verbleibende Distanz einzuschätzen. »Wir haben fast die Hälfte geschafft!«, melde ich. Mehr oder weniger jedenfalls.

Die Brise, die netterweise abgeflaut war, erwacht jetzt wieder und bauscht mein Kleid auf. Ich bin so damit beschäftigt, Grant am Ausflippen zu hindern, dass ich es erst gar nicht merke. Vier Sprossen später wird mir klar, warum ich mich so luftig fühle.

O nein! Ich erstarre.

Warum? Ausgerechnet? Heute? Weil Waschtag ist, deswegen. Und weil ich keinen einzigen sauberen Slip mehr hatte. Also musste ich auf das Fitzelchen beiger Spitze zurückgreifen, das zusammengeknüllt in der hintersten Ecke der Schublade lag. Nur für absolute Notfälle.

Ein Tanga.

Ein verdammter Tanga.

Ich lege die Stirn auf meinen Unterarm. Mein Tageshoroskop hat mir dazu geraten, Hindernisse aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Nirgendwo, ich wiederhole, nirgendwo stand, dass meine Unterwäsche aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird!

»Wil? Was ist los? Bist du da festgewachsen?«

»Wehe, du guckst!«, kreische ich.

»Wieso, was ist denn …?« Stille. Dröhnende Stille.

Ich kneife die Augen zusammen. »Sagst du mir Bescheid, wenn du mit der Begutachtung meines Hinterns fertig bist? Vielleicht können wir dann weitergehen?«

»Ich, äh…« Grant räuspert sich und wendet den Blick ab. »Ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll, ohne dass es anzüglich klingt. Trotzdem, vielen Dank«, ruft er mir über das Ächzen der Leiter hinweg zu.

»Du sprichst das nie wieder an. Ernsthaft. Nie wieder.«

Er lacht nervös in sich hinein. »Ich meinte eigentlich nur, dass ich für eine Sekunde fast meine Angst vergessen –«

KLONK!

»Grant!« Ich recke den Hals. Er hat eine Sprosse verfehlt und rutscht auf die nächste. Scheppernd gibt das rostige Eisen nach. Ein Teil der Leiter bricht weg. Ich haste zu ihm runter und versuche, seinen wild in der Luft herumrudernden Arm zu packen.

»Nimm meine Hand!« Ich gehe in die Hocke und verlagere mein Gewicht nach hinten. Meine Muskeln zittern unter der Anspannung, als ich mich zu ihm hinabstrecke. »Halt dich an mir fest!«

Unten bricht großes Geschrei aus. Sirenen heulen auf. Die Feuerwehrmänner drängeln sich ums Sprungtuch.

Er verliert den Halt. Fassungslos reißt er seine braunen Augen auf. Und dann greift er in allerletzter Sekunde nach meinem Knöchel.

Darauf bin ich nicht gefasst.

Die glatte Ledersohle meines Schuhs rutscht unter mir weg. Das rostige Metall schürft meine Handflächen auf, meine Knie schlagen gegen das Metall. Ich schreie.

Und Grant fällt.

Falsch. Wir fallen.

Wir stürzen schwerfällig wie Steine vom Abendhimmel. Mein gelbes Kleid flattert dabei munter im Wind. Eine Nanosekunde lang frage ich mich, ob ich gerade allen da unten meine weißen Vollmonde präsentiere.

Dann trifft es mich wie ein Schlag. Ich könnte sterben!

Ich stürze in einem Affentempo zu Boden und bin nicht imstande, auch nur einen einzigen ernsthaften Gedanken zu fassen. Vielleicht sollte ich beten. Ja, so macht man das doch.

Lieber Gott, bitte lass mich nicht sterben. Ich verspreche, ein besserer Mensch zu werden und mich um meine Slips zu kümmern und … und nie wieder so ein Teufelsding anzuziehen.

»Aaameeennnnn!«

Grant schreit auch, aber ich bezweifle, dass er ebenfalls mit Gott über die Wahl seiner Unterwäsche verhandelt.

Er landet mit einem dumpfen Aufprall.

Ich schlage gleich danach auf. »Aaaaah!« Das Sprungtuch brennt auf meiner Haut, und alle Luft wird aus meinen Lungen gepresst. Ich federe hoch, dann knalle ich mit dem Kopf gegen etwas Hartes.

Vor meinen Augen tanzen Sterne. Ich blinzele, um wieder klar sehen zu können.

Über mir tauchen Gesichter auf, rote Lichter zucken über verzerrte Mienen. Die Münder bewegen sich, aber in meinen Ohren tost das Meer. Ein Feuerwehrmann mit einem borstigen Schnurrbart spuckt mir beim Sprechen ins Gesicht.

Wenn das der Himmel ist, will ich mein Geld zurück.

Ins Sprungtuch kommt Bewegung. Jemand robbt auf mich zu, dann erscheint nur ein paar Zentimeter über mir ein Gesicht. Mit vollen Lippen, einer schönen, geraden Nase und diesen auffälligen braunen Augen. Sinnlich. Wenn ich ein Wort aus dem Lexikon auswählen müsste, um Grant zu beschreiben, würde ich genau dieses nehmen. Ist mir das vorher schon aufgefallen? Ja. Nein. Vielleicht. Ich bin ganz benommen. Und wenn er mich so besorgt ansieht, wird das nur noch schlimmer. Seine Lippen sind dünn wie ein Strich. Ich will ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen soll. Dass ich quicklebendig bin. Ehrlich, ich habe mich nie lebendiger gefühlt. Mein Herz pocht so heftig, dass irgendwo eine Richterskala ausschlagen muss.

»Wil?« Mein Name stürzt von seinen Lippen, es ist der einzige Laut, den ich höre. Als ob Schall bis zu diesem Moment nicht existiert hätte. »Wil? Bist du verletzt?« Er streicht mir die Haare aus dem Gesicht und begutachtet meine Schläfe.

Ich will ihn anlächeln, aber so sehr ich es auch versuche, mehr als eine Grimasse bringe ich nicht zustande. »Grant …«

Er beugt sich noch näher zu mir herunter und sieht mich forschend an. Ich rieche den zarten Duft des Weichspülers und den Sommer auf seiner Haut. Er streicht mir sanft übers Gesicht. »Kannst du mich hören? Hast du Schmerzen?«

»Ich höre dich, Grant … Parker.«

Seine Anspannung lässt merklich nach, er schafft sogar ein kleines Lachen. »Genau genommen Walker.«

»Wie auch immer«, murmele ich.

Alles beginnt sich zu drehen, Himmel und Erde, die Menschen, der ganze Trubel, schneller und schneller. Dunkle Wolken schieben sich zwischen mich und die Welt, alles wird grau.

Ich muss wohl fallen.

Wie kann man noch fallen, wenn man schon aufgekommen ist?

Kapitel 2

»Was soll das heißen, ›es hat einen Vorfall am Wasserturm gegeben‹?« Gegen Grams Kreischen sind die Sonarsysteme von Fledermäusen gar nichts. »Wo ist meine Enkelin? Ich verlange, augenblicklich über ihren Zustand informiert zu werden!«

Seufzend lasse ich mich ins Krankenhauskissen sinken, das ungefähr so platt ist wie ein Pfannkuchen. Ich brauche den blauen Vorhang nicht zur Seite zu schieben, um zu wissen, dass Gram in der letzten Stunde mehr Falten und weiße Haare bekommen hat. Wahrscheinlich hält sie das Kruzifix umklammert, das nur selten ans Tageslicht kommt, weil es normalerweise in den Tiefen ihres Busens verborgen ist.

Wie oft habe ich Gram Anlass zum Griff nach ihrem Kreuz gegeben? Traurigerweise häufiger, als ich zählen kann.

Ich betaste die Beule an meinem Kopf. So schlimm ist sie auch wieder nicht, außerdem habe ich ja Haare, um sie zu verstecken. Eigentlich geht es mir ganz gut, ich habe nur dumpfe Kopfschmerzen, und die kommen bestimmt weniger vom Aufprall als vom Desinfektionsmittel.

»Mrs Carlisle, bitte …« Aus dem Flur dringt die ruhige, respekteinflößende Stimme des Arztes zu mir. Er versucht bereits seit einer ganzen Weile, Gram zu besänftigen. Viel Glück! Gram ist durch und durch ein Stier. Sie lässt sich nicht so leicht reizen, aber wenn es so weit ist, dann macht man sich besser schnell vom Acker.

Schließlich lässt sie den Arzt doch zu Wort kommen. Alle Untersuchungen einschließlich der Computertomographie haben ergeben, dass ich – abgesehen von der Prellung am Kopf und einer weiteren am linken Knie – unverletzt davongekommen bin. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich allerdings massenhaft Schrammen in Kauf nehmen, nur um Gram jetzt nicht unter die Augen treten zu müssen.

Sie nimmt ihn ins Kreuzverhör, wie es nur eine echte Genevieve Carlisle fertigbringt. »Junger Mann, wie ist das passiert? Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, dass junge Mädchen alle Nase lang vom Wasserturm herunterpurzeln! Im Namen des Hades, wer ist der Verantwortliche?«

Im Namen des Hades? So ernst meine Lage auch ist, ich muss unwillkürlich lächeln. Das hat meine Mutter auch immer gesagt.

Moms Ausdrücke werden mir immer in Erinnerung bleiben. So wie der Geruch von verbranntem Salbei – würzig und süß – und ihr ramponierter Kartentisch mit dem glänzenden violetten Stofffetzen als Tischdecke.

Meine Mutter hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben. Ihr Lieblingskleid war strahlend gelb. Mit geschlossenen Augen denke ich an den Tag, an dem sie dieses Kleid zum letzten Mal getragen hat. Den ich nie vergessen werde. Denn an diesem Tag habe ich mein Geburtshoroskop zum ersten Mal gesehen.

Mein Schicksal auf eine A4-Seite gedrängt. Ich war sechs, und ich verschlang die Zeichnung förmlich – lauter geheimnisvolle kleine Kritzel, die um ein Rad angeordnet waren. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was das alles bedeuten sollte.

Aber Mom.

»Beschreib mir, was du siehst, Mena«, forderte sie mich auf. Im Kerzenschein funkelten ihre Augen wie Saphire.

»Es ist ein Horoskop! So wie die, die du für die Leute machst. Und das sind die Planeten. Genau zu der Minute, als ich geboren wurde«, verkündete ich stolz.

Mom hob warnend einen Finger an ihre rotgeschminkten Lippen. »Das hier bleibt aber unser Geheimnis. Deine Gram hat für so etwas kein Verständnis.«

Mit all den Kisten und Kästen unter staubigen Laken war die kleine Kammer im dritten Stock wie dafür gemacht, Geheimnisse zu bewahren. Ich war es nicht. Aber ich würde es versuchen.

»Eines Tages wirst du die Sprache der Sterne verstehen«, sagte Mom. »Aber heute übersetze ich sie dir.«

»Au ja!«, rief ich begeistert, um mir dann schnell wegen Gram die Hände vor den Mund zu schlagen.

Mom erklärte mir, dass ich ein Wassermann sei – wahrheitsliebend und sinnsuchend. »Du musst vorsichtig sein, mit deinem unabhängigen Geist und deinem Freiheitsbedürfnis kannst du andere leicht vor den Kopf stoßen. Als Wassermann bildest du dir keine vorschnelle Meinung und drängst dich nicht in den Vordergrund. Aber du kannst nerven, wie Feuerquallen jucken.«

Die seltsamen Tortenstücke, in die das Horoskop unterteilt war, hießen Häuser, sagte Mom. »Davon gibt es insgesamt zwölf. Jedes Haus steht für einen bestimmten Aspekt unseres Lebens. Das Erste Haus ist das des Lebens: wer du bist. Das Zweite Haus steht für Geld und Besitz. Dann kommt das –«

»Und was sind das für Zeichen?«, unterbrach ich sie und übersprang ein paar Häuser.

Mom schwieg für einen Moment, ihre dunklen Brauen zogen sich zusammen. »Das ist das Fünfte Haus. Das Haus der Kreativität und …«

»Und was, Mom?«

Sie zog mich auf ihren Schoß. Wie immer roch sie nach Sommerregen in einem Blumengarten. »Das Fünfte Haus ist auch das Haus der Liebe – des Herzens«, erklärte sie mir. »Hier steckt die größte Herausforderung, die du meistern musst. Es ist genau wie bei mir.«

Ich spielte mit dem Stein an ihrer Kette und versuchte mir vorzustellen, was an der Liebe so schwer sein sollte. Für mich war die Sache klar – Jungs waren einfach nur eklig.

»Es gab eine Zeit, in der ich meinte, die Sterne ignorieren zu können. Weil ich felsenfest davon überzeugt war, dass die Liebe über allem steht, als ich mich in deinen Papa verliebte.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber das Schicksal lässt sich nicht von unseren Gefühlen beeinflussen. In unserem Horoskop lassen sich alle Antworten auf unsere Fragen finden. Du musst deinem Horoskop folgen, Mena – vor allem wenn es um die Liebe geht.«

Ich blickte ihr in die Augen. »Das werde ich, Mom. Versprochen.«

Wieder runzelte sie die Stirn. »Und hüte dich vor Fischen. Sie machen dich nur unglücklich.«

Ich nickte heftig.

Mom küsste mich auf die Stirn, nahm ihre Kette ab und legte sie um meinen Nacken. »Die schenke ich dir.«

Ich schlang meine Arme um sie und schmiegte mich an ihr gelbes Kleid. »Ich hab dich lieb, Mom.«

»Ich liebe dich länger als alle Sterne am Himmelszelt scheinen«, flüsterte sie.

Schwungvoll wie ein Matador zerrt Gram den Vorhang beiseite und reißt mich unsanft aus meinen Erinnerungen. Ich schiebe die Sehnsucht nach meiner Mutter weg und konzentriere mich auf mein aktuelles Dilemma.

»Mena!« Gram schließt mich kurz in die Arme. »Was um Himmels willen … Lass dich ansehen, Kind.« Ihre Falten vertiefen sich wirklich, als sie sich daranmacht, die Prellung am Knie und die Beule am Kopf zu inspizieren. Soweit ich weiß, steht kein Dr. med. vor ihrem Namen, doch ich kenne sie gut genug, um es still über mich ergehen zu lassen. »Hm«, macht sie gedehnt und dreht meinen Kopf vorsichtig nach beiden Seiten.

»Gram, es ist halb so schlimm, ich schwöre es! Gram.« Ich erkläre die Untersuchung für beendet und lasse den Kopf auf das Pfannkuchenkissen sinken. »Mir geht’s gut.« Mit einem offenen Lächeln beweise ich ihr unwiderlegbar, dass ich absolut lebendig bin.

»Ich bin sehr erfreut, das aus deinem Mund zu erfahren.« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Du bist nämlich in ziemlicher Erklärungsnot, junge Dame. Wie konntest du nur auf den Gedanken kommen, auf diesen Turm zu steigen?«

Ich starre auf mein Krankenhausarmband, das die richtige Antwort aber auch nicht zu kennen scheint. »Äh …« Ich schlucke und winde mich unter Grams starrem Blick. »Es war die Milchstraße.«

Sie macht ein Gesicht, als habe sie Essig geschluckt. »Sag mir, dass das nichts mit Astrologie zu tun hat. Ich gehe davon aus, dass ich mich sehr klar ausgedrückt habe, was diesen Unfug mit dem Kopf in den Wolk–«

»Astronomie«, berichtige ich sie. Ich war ja wirklich dort oben, um mir die Milchstraße anzusehen. Und mit überflüssigen Details brauche ich Gram nicht zu belasten.

»Aha. Soll das witzig sein, Wilamena?«

Um mich nicht noch tiefer reinzureiten, gebe ich ihr die einzig richtige Antwort.

»Nein, Madam.«

»Gut. Dann leg mal los.«

Gram ist nicht wütend auf mich. Jedenfalls nicht mehr. Gestern Abend bin ich aus dem Krankenhaus entlassen worden und habe ihr mittlerweile mehrfach strahlend erklärt, wie fit ich bin. Sie und die Stadtverwaltung von Carlisle haben mir strengstens untersagt, je wieder auf den Wasserturm zu klettern. (Aber ebenso gut könnten sie einem Vogel das Fliegen verbieten.) Ich präge mir den genauen Wortlaut ein und finde bestimmt irgendein Schlupfloch, sobald die Leiter repariert ist.

Auf keinen Fall werde ich mich durch den gestrigen Vorfall einschränken lassen. Wenn man einen Sturz aus zwölf Metern Höhe überlebt hat, kann es schließlich nur noch aufwärtsgehen.

Außerdem ist heute Sonntag – ein guter Tag für einen Wassermann. Wenn ich mir das Kärtchen des Carlisle Community Hospital so ansehe, könnte es sogar ein Glückstag werden. Auf der Vorderseite ist seine Unterschrift und der Zusatz: gilt für zwei. Die Nachricht auf der Rückseite in einer gedrängten, nach rechts geneigten Handschrift lese ich jetzt schon zum x-ten Mal:

Wil, (aka Göttin der Schwerkraft)

ich bitte tausendmal um Entschuldigung.Bitte nimm dies statt eines Ölzweigs von mir an.

Hoffentlich kannst Du kommen.

 Grant (aka Amateur der Schwerkraft)

PS Das ist Deine Eintrittskarte

PPSAbsinthe – Sonntag 20 Uhr

Das Absinthe ist ein angesagter Club auf der West Side, in dem die besten Indie-Bands auftreten. Ohne Kontakte kommt man da nicht rein … und die hatte ich bisher nicht.

Ich klopfe mit dem Kärtchen, das mir die Krankenschwester gestern diskret zugesteckt hat, auf meine Fingerknöchel und versuche, meine unerwartete Nervosität zu ignorieren. Schließlich habe ich keinen Grund, nervös zu sein. Einen besseren Abend könnte es kaum geben. Ich stecke Grants Nachricht in die Tasche und trage mein Markenzeichen, den knallroten Lippenstift, auf – er ist wie meistens mein einziges Make-up.

»Gram?« Ich stecke Schlüssel und Handy ein und werfe mir die Sporttasche über die Schulter. »Gram? Ich gehe!«

»Warte!«, ruft sie, kommt so schnell aus der Küche, wie es ihr arthritisches Knie mitmacht, und reicht mir ein Körbchen. »Vergiss nicht, Irina das zu geben. Weiß Gott, das Mädchen könnte etwas mehr Fleisch auf den Rippen vertragen.« Gram ist der felsenfesten Überzeugung, dass sich alle Probleme durch Gebäck aus der Welt schaffen lassen. Der Geruch ihrer Banane-Nuss-Muffins veranlasst mich nicht gerade, ihr zu widersprechen. Ehrlich gesagt, kenne ich auch niemanden, der sich nicht durch solche Kohlehydratbomben besänftigen ließe.

»Danke. Ich bin morgen früh zurück. Ach, und zeig’s ihnen im Bridgeclub!«

Ich bin schon fast aus der Tür, da hält sie mich am Ellbogen fest. »Mena, bist du sicher, dass du schon wieder ausgehen kannst?«

Okay. Grams Strategien waren noch nie besonders subtil, aber vor kurzem ist ihr wohl bewusst geworden, dass ich in einem Jahr mit der Schule fertig und kein Kind mehr bin, was … ihr eigentlich längst klar sein sollte. Aber sie muss umdenken. Und nichts fürchtet ein Stier mehr als Veränderungen.

»Gram, das haben wir doch schon besprochen. Der Arzt hat gesagt, meine Organe seien vollkommen in Ordnung. Ich habe mich den ganzen Tag ausgeruht. Null Kopfschmerzen, keine verschwommene Sicht, kein Schwindelgefühl. Und jetzt komme ich zu spät. Du übrigens auch, wenn du das nächste Blech nicht gleich in den Ofen schiebst.«

Seit mehr als dreißig Jahren verdient Gram ihr Geld mit der Firma Carlisle Confections. Sie verkauft köstliche Muffins und andere Süßigkeiten an alle Überprivilegierten, die es sich leisten können, und hat sich den Ruf eines Monets in der Kunst des Backens erarbeitet. Ohne mich nun selbst loben zu wollen, bin ich mittlerweile auch ziemlich gut. Gram hat mir erlaubt zu helfen, seit meine motorischen Fähigkeiten so weit entwickelt waren, dass ich die Zutaten abwiegen konnte. Schade eigentlich, dass ich nicht ein bisschen von Grams Deko-Talent geerbt habe. Verzierungen überlasse ich lieber ihr.

Ich küsse ihre weiche, nach Zimt und gerösteten Mandeln duftende Wange. »Du machst dir zu viele Sorgen.«

»Und du gibst mir genug Anlass zur Sorge, Kind«, ruft sie mir hinterher, als ich die ausgetretenen Stufen vor unserem viktorianischen Haus hinunterspringe. »Wehe, du gehst auch nur in die Nähe des Wasserturms!«

»Mach ich nicht, versprochen!«

Das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. An diesem Abend zumindest.

Ich schiebe den Gurt meiner Tasche höher auf die Schulter, während ich am Zebrastreifen warte und das freistehende, einstöckige Backsteinhaus betrachte, dessen Neonreklame blinkend verkündet: INKPORIUM TATTOO & PIERCING. Wexler Street ist nicht direkt ein Slum, aber es ist auch kein Viertel, wo man aussehen will, als hätte man sich verlaufen. Ja, Gram weiß, dass ich heute Abend hier bin. Aber sie kennt ja auch nur die Wexler von früher, nicht die von heute. Jetzt gibt es hier nur noch Pfandhäuser, Bars und dubiose Wechselstuben, die nach Westen hin immer heruntergekommener aussehen.

Die Glocke läutet, als ich die Glastür aufstoße. Heavy Metal dröhnt aus den Lautsprechern, und der Sänger klingt nach einem schlimmen Fall von Magen-Darm-Grippe.

»Hey, Rotkäppchen, wie geht’s deiner Großmutter?«, begrüßt mich Crater, ganz auf seine künstlerisch wertvolle Arbeit konzentriert. Er ist so lang und dürr, dass sich seine Rückenwirbel durch das T-Shirt abzeichnen.

Craters stämmiger Kunde tauscht sein eben noch schmerzverzerrtes Gesicht schnell gegen ein gelassenes. Doch auch wenn er jetzt gute Miene zum bösen Spiel macht – er ist blasser als Milch, und er quetscht die Armlehnen zusammen, als ginge es um sein Leben.

»Crate, das Kleid sieht super aus!«, schreie ich über den Metal-Sound hinweg. »Und nur weil es weiß ist und einen Reifrock hat, macht das noch lange nicht Rotkäppchen aus mir!« Aber eine Diskussion mit ihm ist zwecklos. Seine Spitznamen wirst du ebenso wenig los wie eines seiner Tattoos. Sei’s drum. Wenn ich allerdings bedenke, wie er Irina nennt, hätte es noch schlimmer kommen können. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Weil.« Crater dreht die Lautstärke herunter und wechselt ein paar Tintenfläschchen aus. Dann wirft er die Fransen seines rausgewachsenen Iros zurück und grinst. »Du riechst nach Großbäckerei. Untrügliches Zeichen.«

»Das Risiko geht man wohl ein, wenn man in einer wohnt.«

Lächelnd blättere ich in der Mappe, die auf dem Tresen ausliegt. Auf einer Seite sind alle ornamentalen Drachentattoos abgebildet, die Crater je gestochen hat – natürlich auf den jeweiligen Körperteilen. Verrückt! Warum sollte man sich an dieser Stelle tätowieren lassen? Schnell klappe ich die Mappe zu.

Der untersetzte Typ krümmt sich Grimassen schneidend auf der Liege. »Wie lange noch, Mann?«

»Eine Stunde. Jedenfalls wenn du aufhörst, dich wie ein Wurm zu winden«, blafft Crater ihn an. Nur gut, dass er seinen Mangel an Charme durch sein Können wettmacht.

Crate wirft mir einen Blick zu. »Versprich, dass du zu mir kommst, wenn dir nach Tinte auf deiner jungfräulichen Haut ist. Vertrau keinem außer mir. Außerdem mache ich’s für dich praktisch gratis.«

»Versprochen.« Dieses Gespräch führen wir jedes Mal, wenn ich ins Inkporium komme. Auf seine Art ist Crate wirklich süß. Und er ist ein echter Löwe, also verzeihe ich ihm, dass er so eigensinnig ist. Er kann ja nichts dafür, dass die Sonne sein beherrschender Planet ist.

Die elektrische Nadel jault auf, als Crater sein Werk am Windewurm fortsetzt. »Der Racheengel ist hinten.« Er meint Irina. »Hey, hast du in dem Korb da irgendwas für mich?«

Ich lege einen Muffin auf den Tresen. »Du hast Glück, heute habe ich meinen netten Tag.«

Er macht eine Pause und saugt den Duft ein. »Banane-Nuss?«

»So ist es.«

»Perfekt. Bis später, Rotkäppchen.« Crater zwinkert – ein Löwe durch und durch. Das schrille Summen der Nadel übertönt sein Lachen über meinen genervten Gesichtsausdruck.

Die Mauer im Flur ist zugekleistert mit Plakaten für lokale Bands, lokale Selbsthilfegruppen und lokale … was auch immer. Vor einem Poster vom Absinthe mit einer Band namens Wanderlust bleibe ich stehen. Ein guter Name. Viel besser als Charred Biscuits oder Pocketful of Lint.

Irinas Tür ist angelehnt. Ich kann nur hoffen, dass Crate mich durchgewunken hat, weil gerade kein Kunde da ist. Ich würde in Ohnmacht fallen, wenn ich mitten in eine Piercing-Prozedur reinplatze – selbst in eine oberhalb der Gürtellinie. Ernsthaft. Irina hat alle Körperteile gepierct, die man sich vorstellen kann – und alle, die man sich nicht vorstellen möchte.

»Klopf, klopf.« Ich gebe der Tür einen zaghaften Schubs. Der unbesetzte Kosmetikstuhl lässt mich aufatmen. Irina ist allein. Ihr Studio ist klein und hell, und über allem hängt der penetrante Geruch nach Desinfektionsmitteln.

Irina hebt einen Finger, deutet auf ihr Handy und verdreht die Augen. Ihre Tetja, die Tante, ist dran. Ich höre den Redeschwall, der auf meine Freundin niederprasselt; allerdings steht Irina ihrer Tante in nichts nach. Sie stammt aus Russland und ist Amerikanerin in der ersten Generation. Doch ich schätze, das wechselseitige Geschrei wird sich noch ein paar Generationen halten.

»Sie ist verrückt«, erklärt Iri mir fast akzentfrei, nachdem sie aufgelegt hat. »Dauernd fragt sie, wann ich endlich eine Familie mit einem netten Amerikaner gründe, so wie sie … blablabla. Immer dieselbe Leier.« Irina vertritt die Theorie, dass ihre Tetja für zwei spricht, weil ihr Onkel mehr oder weniger verstummt ist. »Ach, bevor ich es vergesse: Sie macht Borschtsch zum Abendessen, und wenn du keinen Kalten Krieg vom Zaun brechen willst, musst du tun, als wäre es mindestens dein Lieblingsessen.«

»Dann werde ich ihre widerliche rosa Suppe wohl großartig finden. Deine Tetja ist mir echt unheimlich.«

»Mir auch.« Irina zupft ein paar lange platinblonde Haare von ihrem Kittel. »Aber längst nicht so wie meine Mutter.«

Dass sie ihre Mutter erwähnt, finde ich noch erstaunlicher als ihren mühelosen Wechsel zwischen Russisch und Englisch.

Iri hat noch nie von ihr gesprochen. Sie hat mir auch nie erzählt, warum sie mit zwölf mit ihrer Tante nach Amerika gekommen ist. Aber ich habe genug mitbekommen, um zu wissen, dass sie arm waren. Außerdem trank ihre Mutter, und die Männer gaben sich die Klinke in die Hand, was dazu führte, dass ihre Tante die Vormundschaft für sie übernahm. Und dass Irina rund achttausend Kilometer zwischen sich und diese Vergangenheit bringen musste, um sie einigermaßen ertragen zu können.

Ich wechsle schnell das Thema.

»Woher kommt denn der Kaktus?«, frage ich sie mit einem Blick auf das winzige blühende Pflänzchen neben der Spüle und werfe meine Tasche auf die Arbeitsplatte.

Sie grinst. »Ach, der. Der ist von einem Kunden, der mich nach meiner Nummer gefragt hat.«

Ich setze mich auf den Rollhocker. »Hast du sie ihm gegeben?«

Sie beugt sich hinunter, um den Vorrat an Einmalhandschuhen aufzustocken.

»Klar habe ich ihm eine Nummer gegeben. Ich glaube, sie war von irgendeiner Selbsthilfegruppe für Leute mit Weizenintoleranz – Dem Weizen einheizen oder so.« Sie zuckt mit den Schultern. Irina ist nur zwei Jahre älter als ich, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass es zwanzig sein müssen, so cool, wie sie ist.

»Echt jetzt?«, pruste ich heraus. »Und er hat dir den Kaktus mitgebracht, weil du so kratzbürstig bist? Irgendwie clever und süß.«

»Oder weil ich ihn mit Nadeln bearbeite. Warum auch immer, ich glaube nicht, dass ich mit jemandem zusammen sein könnte, der Jordan Lockwood heißt.«

»Jordan Lockwood klingt nach Anzug und Krawatte.«

»Witzig, genau so läuft er auch rum – ein absoluter Langweiler. Hey, was war los? Warum hast du gestern Abend nicht auf meine SMS geantwortet?« Irinas mit Kajal betonten grauen Augen funkeln mit dem diamantenen Piercing über ihrer Lippe um die Wette.

»Vergiss es! Der Abend war eine einzige Katastrophe. Ich habe mich selbst übertroffen.«

Sofort legt sie die Stirn in Falten. Irina ist ständig in Habachtstellung, immer bereit, wie eine Löwin um ihre Jungen zu kämpfen. Kein Wunder, dass Crate und sie dauernd aneinandergeraten. Zwei Löwen in so einem kleinen Laden ist definitiv einer zu viel. »Alles klar bei dir? Was ist passiert, Schätzchen?«

Also erzähle ich es ihr. Alles. Auch vom Tanga.

Irina hört auf, nervös an ihrem Diamantstecker herumzufummeln: »Warte mal. Seit wann trägst du Tangas? Ich dachte, die kannst du nicht ausstehen. Hast du sie nicht noch vor kurzem Zahnseide für den Arsch genannt?«

»Waschtag.«

»Aha.« Sie kramt in einer Schublade mit mittelalterlichen Folterwerkzeugen.

Beim Anblick der Instrumente zieht sich mein Nabel fast bis zur Wirbelsäule ein. Wie an dem Tag vor zwei Jahren, an dem ich Irina kennengelernt habe. Ich habe mich dann doch nicht piercen lassen, aber seitdem sind wir befreundet.

»Sag mal, und sonst willst du nichts wissen?«

»Na ja, alles andere klingt ganz nach dir. Apropos … Willst du gar nicht wissen, was deine Überraschung ist? Du bist doch sonst immer so neugierig.«

Bevor ich antworten kann, kommt ihr Kollege Oscar herein. Eine Strähne seines kurzen schwarzen Haars ist über der Stirn leuchtend blau gefärbt, fast im gleichen Ton wie Irinas Shirt. Bei seinem provozierenden Styling und den kantigen Gesichtszügen rechnet man nicht mit seiner sanften Stimme.

»Ich mache Schluss für heute«, sagt er und stopft ein zerlesenes Taschenbuch in die Außentasche seines Rucksacks. Wie immer etwas von Shakespeare. »Hey, Wil.« Er schaut mich unter langen Wimpern aus haselnussbraunen Augen an. Ich werde nie verstehen, warum einem Mann so krasse Wimpern gegeben wurden. Oscar schielt auf Irinas Netzstrümpfe, als sie sich bückt, um die unterste Schublade zu schließen. »Also, Iri«, er lässt die Fingerknöchel knacken, »das neue Sea-Food-Ding am Flussufer kriegt Bombenkritiken. Hättest du vielleicht Lust –«

»Tut mir leid, Wil und ich haben schon was vor.«

»Schade eigentlich.« Oscar spielt mit dem Ring an seiner Unterlippe herum. Seine Gedanken sind so kryptisch wie sein Gesichtsausdruck. »Dann vielleicht ein anderes Mal. Bis später.«

»Tschüs«, rufe ich ihm nach.

Kaum hat er die Hintertür zugeschlagen, stelle ich Iri zur Rede. »Sag mal, Süße, war da was zwischen euch beiden?«

Irina greift nach ihrer nietenbesetzten Tasche und winkt ab. »Kann sein, dass wir gestern auf der Party rumgemacht haben.«

Mir fällt die Kinnlade runter. Irina bricht ihre eigenen Regeln nur selten, wahrscheinlich weil es kaum welche gibt. »Aber verstößt das nicht gegen deinen Grundsatz, dich nie mit einem Kollegen einzulassen?«

»Temporäre geistige Umnachtung. Wird nicht wieder vorkommen.« Mit einem leicht melancholischen Lächeln fügt sie hinzu. »Eigentlich schade. Warum küssen die Stillen immer am besten?«

»Ausgerechnet Oscar?« Ich werd verrückt. »Er ist süß, aber …«, ich schneide eine Grimasse, »… wie soll das denn gehen, bei dem ganzen Metall an ihm?«

Irina verdreht die Augen. »Diese Bemerkung beruht sicherlich auf deinen umfassenden Erfahrungen auf dem Gebiet?« Sie lacht, als ich ihr einen spielerischen Rempler verpasse. »Okay, pack deine Sachen und lass uns verschwinden.«

Auf der Fahrt zu ihr bin ich schweigsam. Der Witz über meine »umfassenden Erfahrungen« macht mir zu schaffen. Natürlich weiß sie ganz genau, dass ich noch nie einen festen Freund hatte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie den wahren Grund dafür kennt.

Irina hält vor einem Stoppschild. »Was ist?«

Ich reiße mich vom Anblick der Werbung für Alkohol und Lottoscheine über einem Eckladen los. »Wieso?«

»Du hast immer irgendwas, wenn du so atmest wie jetzt. Als würdest du keine Luft mehr kriegen.«

Wie sie meine Atmung überhaupt wahrnehmen kann, ist mir ein Rätsel, denn ihr ’95er Ford Taurus, den sie liebevoll Natascha nennt, röhrt ohrenbetäubend. Ich schaue sie aus den Augenwinkeln an und hole noch einmal tief Luft. »Na gut. Ich muss dir was erzählen, aber nur wenn du versprichst, nicht zu lachen.«

Sie sieht mich an, um abschätzen zu können, wie ernst es mir ist. Dann hebt sie den kleinen Finger, in den ich meinen einhake.

»Was ich sagen will, ist … ich glaube, dass ich vielleicht asexuell bin.«

Irina prustet los, presst dann aber sofort wieder die Lippen zusammen.

»Okay! Das, genau das, meinte ich mit nicht lachen!«, fahre ich sie an. »Asexualität gibt es wirklich. Ich habe nachgeschaut.«

Irina bemüht sich offenkundig um ein neutrales Gesicht. »Du bist nicht asexuell, Wil. Bei deiner Figur wäre das ein Verbrechen gegen die Natur.«

Nase rümpfend erinnere ich mich daran, wie Brody Cooper mich im ersten Highschool-Jahr unter der Football-Tribüne küsste. Seine Zunge durchwühlte meinen Mund wie Polizisten die Taschen eines mutmaßlichen Drogenschmugglers. Es war einfach nur widerlich. Und sinnlos, denn beim Zahnarzt war ich gerade gewesen und Spucke hatte ich selbst genug.

Im Jahr darauf lief es auch nicht viel besser. Da war ich ungefähr eine Sekunde mit Dylan Murphy zusammen, den alle nur den Staubsauger nannten. Nach dem ersten Kuss wusste ich, warum. Für mich war er allerdings der Schleimige Staubsauger.

Sind diese beiden Typen nicht Beweis genug, dass mein Liebesleben unter einem schlechten Stern steht?

»Ach wirklich? Dann erzähl das mal meiner unterentwickelten jugendlichen Libido.« Seufzend kämpfe ich mit der temperamentvollen Klappe des Handschuhfachs. »Vielleicht bin ich einfach zu wählerisch. Grams Theorie ist, dass ich ein Spätzünder bin. Was bei meinen Maßen tragisch und komisch zugleich ist.«

»Du hast einfach noch nicht den Richtigen kennengelernt, Wil. Mit dem wird alles anders.«

»Das glaube ich nicht. Mir fehlt die … Leidenschaft.« Das Wort explodiert aus meinem Innersten. »Wie soll ich ohne Leidenschaft die Liebe meines Lebens finden? Ich bin so verkorkst.« Ich stupse sie an. »Und wenn du noch einen einzigen Witz darüber machst, ist unsere Freundschaft für mich gestorben.«

Wir halten an einer Ampel. »Hör mal, Schätzchen.« Irinas liebevollen Blick können auch ihr krasses Make-up und die vielen Piercings nicht verbergen. Eine ätherische Schönheit wie ihre lässt sich nicht mal durch Stahl härten. Aber sie versucht es trotzdem. Ihre Finger schließen sich um meine. »Du lebst dein Leben viel leidenschaftlicher als die meisten anderen. Und nur weil du nicht das dringende Bedürfnis hast, für jeden dahergelaufenen Typen das Kleid hochzuziehen, bist du nicht gleich krank.«

»Du verwechselst Leben und Lieben.«

Ihre Augen verengen sich. Natascha startet mit quietschenden Reifen durch. »Und du bist eine Vollidiotin, wenn du glaubst, dass es da einen Unterschied gibt.« Sie murmelt irgendetwas auf Russisch.

»A bin ich keine Vollidiotin. Und B nenn mich nicht Hämorrhoide.«

»Ich meinte den Corsica, der mich gerade geschnitten hat.« Sie hupt und hebt den Mittelfinger. »Außerdem nimmst du Russisch viel zu wörtlich, Wil. Gib mir mal meine Tasche.«

Ich bin immer noch genervt, hole aber pflichtbewusst ihre Tasche vom Rücksitz.

Irina fährt einen Schlenker, während sie darin wühlt. »Aha!« Sie zieht ein gefaltetes Blatt Papier heraus und wirft es mir auf den Schoß. »Dein Geburtstag kam auch dieses Jahr wieder so unerwartet. Das ist meine Überraschung.«

Ich falte das Blatt auseinander und schiebe die Brille hoch. »Ein Horoskop?«

Sie verzieht den Mund. »Du weißt doch, dass dir nur zweiundzwanzig Tage bleiben, um den perfekten Partner zu finden.«

»Jetzt noch einundzwanzig, um genau zu sein.«

»Na ja, ich wollte ein bisschen Tempo reinbringen.« Sie lächelt triumphierend. »Wilamena Carlisle, sag hallo zu Mr Right.«

Mein Kopf schnellt hoch. »Ist das …?«

»Darauf kannst du deinen süßen, sternenversessenen Arsch verwetten. Ich habe eine Seite gefunden, auf der man sein Horoskop hochladen und es mit potentiellen Partnern abgleichen kann. Das hier ist das Profil, das astrologisch gesehen am besten mit deinem zusammenpasst.«

»Aber … warum kenne ich diese Seite nicht?«

Iri zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil du deine Nase immer nur in deine Wälzer steckst. Wiederhole: Die Technik ist mein Freund.«

Natürlich kenne ich Seiten, auf denen passende Sternzeichen aufgelistet werden, aber nicht bis auf den Geburtstag genau. Die Partnersuche ist in eine andere Sphäre aufgestiegen. Mit zitternden Fingern umrunde ich den abgebildeten Kreis. »Er ist Schütze.«

Ich müsste wahrscheinlich vor Freude in die Luft springen. Tue ich aber nicht. Die Panik lässt meine Adern zusammensinken wie angestochene Reifen. Jetzt muss ich die Sache nämlich wirklich durchziehen.