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Studienarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,2, Westfälische Wilhelms-Universität Münster (Institut für deutsche Philologie), Veranstaltung: Sprache des Krieges in Literatur und Selbstzeugnissen des 19. und 20 Jh., Sprache: Deutsch, Abstract: Die Hoffnung auf eine individuelle Selbstverwirklichung war für Ernst Jünger das zentrale Motiv seiner Kriegsbegeisterung. Seine romantische Phantasie von einem erhebenden Kriegserlebnis stellte jedoch eine Fehlinterpretation der Realität dar. Die individualisierten Ansprüche an das Kriegserlebnis fanden weder in der unerwartet neuartigen Kriegsführung, noch im eigentlichen Kriegsverlauf eine Entsprechung. Jünger erlebte einen radikalen Desillusionierungsprozess, der mit der Negierung seiner Erwartungen an den Ersten Weltkrieg letztlich auch seine eigene Identität in Frage stellte. Die spezielle Auseinandersetzung Ernst Jüngers mit den unmenschlichen Erfahrungen des Stellungskrieges und sein rückbezüglicher Umgang mit den gescheiterten Lebensplänen in In Stahlgewittern sollen zum Mittelpunkt der Betrachtung werden. Dabei wird zu prüfen sein, wie aus der Perspektive einer enttäuschten individuellen Erwartungshaltung der Krieg verarbeitet wurde und welche Auswirkungen die vom Autor gehegten, persönlichen Vorstellungen, Hoffnungen und Interessen auf die Interpretation des Erlebten hatten. Um zu begreifen, von welchem Standpunkt aus Jünger die Kriegserlebnisse betrachtet hat, soll in einem ersten Schritt unter Berücksichtigung der gesellschaftlich- kulturellen Bedingungen überprüft werden, welche konkreten Erwartungen und Ansprüche der Autor an seine Lebensrealität herangetragen hat und mit welchen Zielsetzungen er sich freiwillig an die Front meldete. Besondere Aufmerksamkeit wird der sachlichen Schilderung der Kriegserlebnisse und der ihnen gegenüberstehenden, subjektiven Interpretation zukommen. Im Verlaufe der Untersuchung wird sich herausstellen, dass die nüchterne Objektivität der Beschreibungen notwendige Vorrausetzung ist, um sich der eigenen Frontkarriere reflexiv zu nähern, ohne dabei die persönlichen Lebenspläne aufzugeben. Auf der Ebene der Interpretation kommt es innerhalb des Textes zu Realitätsumdeutungen, die im Dienste einer sinnstiftenden Verarbeitung stehen. Der Autor ist bemüht, die selbstformulierten Ansprüche an seine Lebensrealität und die eigene Frontkarriere von der unaufhebbaren Sinnlosigkeit des verlorenen Krieges zu reinigen, um die vergeblichen Jahre des Kampfes aufzuwerten und zu legitimieren.
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Westfälische Wilhelms-Universität Münster WS
2003/04
Institut für Dt. Philologie II
Hauptseminar: Sprache des Krieges in Literatur und Selbstzeugnissen des 19. und 20.
Jh.
Beobachtung und Verarbeitung
Der Widerspruch zwischen Erwartung und Realität in Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“
Vorgelegt von: Reinhard Kessler
Anzahl Fachsemster: 5
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1.Einleitung
„Ich bin reichlich zersplittert.“1Mit diesen Worten fasste Ernst Jünger in einem Brief an seine Eltern vom 03. März 1920 seine geistige Situation im Nachkriegsdeutschland zusammen.
Nach dem Novembersturz von 1918 und dem damit verbundenen Verarbeitungsprozess einer deutschen Natio n, die sich für die verheerenden Folgen eines verlorenen Angriffskrieges2verantworten musste, stellte sich für den Kriegsfreiwilligen Ernst Jünger, der im Kriege zum kaiserlichen Offizier aufgestiegen und mit den höchsten Orden dekoriert war, die Frage „ob er denn wirklich an einem Wahnsinn teilgenommen hätte“3. Wie eineinhalb Millionen anderer Kriegsfreiwilliger erhoffte sich auch Jünger neben einer Flucht aus dem von einem positivistischen Geist dominierten, ereignisarmen Alltag des wilhelminischen Deut schlands die Möglichkeit, nach einem zügigen Sieg über die Mittelmächte als gefeierter Held zurückzukehren. Stefan Zweig schreibt in seinen Memoiren:
„Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, […], seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen.“4
Die Hoffnung auf eine individuelle Selbstverwirklichung war für Ernst Jünger das zentrale Motiv seiner Kriegsbegeisterung. Seine romantische Phantasie von einem erhebenden Kriegserlebnis stellte jedoch eine Fehlinterpretation der Realität dar. Die individualisierten Ansprüche an das Kriegserlebnis fanden weder in der unerwartet neuartigen Kriegsführung, noch im eigentlichen Kriegsverlauf eine Entsprechung. Jünger erlebte einen radikalen Desillusionierungsprozess, der mit der Negierung seiner Erwartungen an den Ersten Weltkrieg letztlich auch seine eigene Identität in Frage stellte.
In Stahlgewittern5entstand 1918/19 als retrospektive Bearbeitung der fünfzehn von Jünger im Felde geführten Tagebuchhefte. Die Konzeption des TextesIn Stahlgewitternin der Nachkriegszeit soll in der Folge als erster Schritt des Autors in einem reflexiven
1Heimo Schwilk (Hrsg.): Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Stuttgart 1988. S. 87. [Im
Folgenden zitiert als: Schwilk. Stuttgart 1988.]
2Zur Frage deutscher Kriegsverantwortung vgl. John Röhl: Wilhelm II. und die deutsche Politik.
München 2002.
3Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin 1926. S. XII.
4Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stockholm 1947. S. 258.
5Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppenführers. Zweite Auflage. Berlin
1922. Die Zitate der vorliegenden Arbeit folgen dieser Ausgabe, da die Erstausgabe nahezu unzugänglich
ist; die Seitenzahlen sind ihnen in Klammern unmittelbar nachgestellt.