Katzenschwund - Reinhard Kessler - E-Book

Katzenschwund E-Book

Reinhard Keßler

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Beschreibung

Die Vielfalt und manche Eigenheit der Schweiz sind Grundthemen des Buches. Wer die Schweiz besser kennenlernen will, kommt an diesem Buch kaum vorbei. Ein politisches Buch, eine Analyse unserer heutigen Arbeitswelt, und ökologisch unbequem, weil stets die in der öffentlichen Diskussion vernachlässigten negativen Aspekte betrachtet werden. Es werden auch Dinge ans Licht gezerrt, deren systematische Verdrängung durchaus Teil der geistigen Landesverteidigung sein könnte. Kurzweilige Literatur für Leute ohne Scheu vor ironischem Zynismus - eine kriminelle Provokation und nur für Leute mit einer Minimaldosis an Humor geeignet.

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Buch

Ein Leichenfund führt Kommissar Jelato ins dörflich geprägte Oberbaselbiet. Wir begleiten ihn bei seinen Ermittlungen im Banken- und Pharma-Milieu und erfahren nebenbei viel Wissenswertes aus der Schweiz.

Lustige Details und todernste Themen wechseln sich übergangslos ab. Kindesraub im Namen des Staates, Produktion chemischer Waffen, geplanter Bau von 200 Atombomben und damit verbunden die Kernschmelze im Reaktor von Lucens noch vor Tschernobyl und Fukushima. Dies alles sind verdrängte und im Prinzip auch unerwünschte Themen – jedenfalls hört man in der Schule nichts davon.

Autor

Reinhard Kessler, geboren 1953, ist final verheiratet und Vater von drei erwachsenen Söhnen. Er wanderte nach seinem Chemiestudium in Saarbrücken 1984 in die Schweiz aus und befindet sich nach 26 Jahren Arbeit in internationalen Chemiekonzernen nun im Permaurlaub.

Seine Hobbys sind sinnlos durch den Wald laufen, sinnlos in den Bergen herum kraxeln, sinnlos radfahren und sinnlos Rotwein ... Wer ihn treffen will, muss nur am Glascontainer warten bis er kommt, um leere Flaschen einzuwerfen.

Reinhard Kessler

Katzenschwund

Ermittlungen in der Schweiz

Engelsdorfer Verlag

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlagfoto:

„Monsieur Antoine“: mit freundlicher Genehmigung von Jean-Claude Villermain.

Foto ausgestellt im Januar 2013 auf der „Exposition Photo“ im Salle Communale, Place de l’Eglise à Bérentzwiller, Frankreich.

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Über das Buch

Über den Autor

Vorwort

Tag 1

Leichenfundort Talweiher

Unterwegs zu den Versuchstieren

Lisa – die Frau des Toten

Tag 2

Sargzone und Fahrt ins Reservat

Zwei Indianerjungen und Anne

Mäuseschwänze, Fachkatzen und

Tag 3

Komissariat und Rechtsmedizin, dazwischen CH EX

Tag 4

Zuerst Autohändler und dann Kommissariat

Medizinische Beurteilung

Tag 5

Tag 6

Motorfahrzeugkontrolle

Rechtsmedizin

Glossar

Nein! – Doch! – Oh!

Nein! – Doch! – Ohh!

Nein! – Doch! – Ohhh!

Louis de Funès

Vorwort

Wer zur Hölle ist eigentlich dieser verfluchte Jelato? Muss man den kennen? Also sollte man den doch gefälligst erst mal vorstellen!

Kommissar Jelato ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ein Secondo** mit Migränehintergrund. Seine deutschen Wurzeln lassen sich nicht verleugnen und irgendwann müssen auch mal italienische Vorfahren im Spiel gewesen sein. Daher sein Name, der doch irgendwie ähnlich klingt wie Gelato, das Eis.

Und genauso eiskalt ermittelt er. Wie ein Pfeil erreicht er, einmal abgeschossen, geradlinig sein Ziel. Bei den Indianern hätte er sicher den Namen „Fliegender Pfeil“ getragen oder wegen seines alten Autos auch „Der mit dem lahmen Pferd reitet“.

Jelato ist ein erbarmungsloser Analytiker und gesegnet mit einem unglaublichen Gedächtnis. Er weiss Dinge, die selbst Einheimischen, die in der 24sten Generation Schweizer sind, nicht mehr präsent sind.

Das tägliche Studium der Tagespresse in Verbindung mit diesem phänomenalen Gedächtnis lässt ihn zum wandelnden Archiv werden. Die Mischung aus scharfem Verstand mit einer seltenen Beobachtungsgabe färbt auch auf uns ab und lässt uns Vieles in einem neuen Licht sehen. Die Frühstücksgespräche mit seiner Frau sind legendär und gefürchtet.

Und so erfahren wir Dinge, die eigentlich keiner mehr wissen will.

Der Name Katzenschwund erinnert etwas an Gedächtnisschwund und das ist bei bestimmten Themen auch tatsächlich so.

Der Kommissar hält sich seine Meinung wie einen Hofhund, den er jeweils dann von der Leine lässt, wenn er Aufklärungsbedarf wittert ...

… und immer spielen bei seinen Ermittlungen Katzen und ein mysteriöser Katzenschwund eine Rolle.

“Das Sherlock Holmes Denkmal in Meiringen wird ein wenig zur Seite gerückt werden müssen für seines.”

Quelle: unbekannt

mit * gekennzeichnete Wörter gibt es hier nicht

mit ** gekennzeichnete Wörter sind im Glossar erklärt

Tag 1

Frühstück

Gestern war es wieder spät geworden. Das war dem Wecker aber egal, ekelhaft egal. Auf irgendwelche Alphawellen und REM-Phasen nahm er keine Rücksicht, niemals, hatte er noch nie, wird er auch nie. Das ist das Wesen des Weckers. Das ist sein Job. Der zieht das durch.

“Wenn der Tag schon so anfängt“, beschwerte sich der Kommissar bei seiner Frau, die sich aber grummelnd erstmal herumdrehte, das Signal ignorierte und was von ‘nur 5 Minuten weiterschlafen’ murmelte.

“Man sollte den blöden Wecker ersetzen durch eine Kaffeemaschine mit Zeitschaltuhr. Dann wäre der Krach etwas geringer und wir hätten gleich Kaffee am Bett.“

“Das wäre lässig.“

Er setzte sich auf und zog aus Gründen der Bequemlichkeit schon mal die Socken an bevor er ins Bad ging.

Seine Frau hatte ihm solche neumodischen Sportsocken gekauft, solche, wo nicht mehr jede Socke an jeden Fuss passt, sondern nur die rechte Socke an den rechten Fuss und die linke Socke an den linken Fuss. Deshalb waren diese Socken auch gekennzeichnet und zwar sinnigerweise mit L und R – normalerweise.

Er schaute seine Socken entgeistert an und entdeckte L und L. Das war ein Schicksalsschlag. Er war fassungslos.

“Was hast du mir denn da gekauft? L und L?“

“Die waren verpackt, da konnte ich nicht reingucken.“

Er bemerkte aber, dass die Socken trotz der Beschriftung korrekt passten, genau wie es sein soll, je eine genau rechts und eine genau links.

„Du, die kommen bestimmt aus China. Die können doch kein R sprechen und die Socken heissen deshalb L und L, Lechts und Links.“

“Dann brauche ich sie ja nicht umzutauschen.“

“Und wie ziehe ich mein Hemd an? Linkslum odel lechtslum?”

“Nelv nicht!”

“Was hast du mir denn da gekauft? L und L?“

“Die waren verpackt, da konnte ich nicht reingucken.“

Damit war die Wachphase eingeläutet und alles ging seinen morgenritualhaften Weg. Man traf sich beim Frühstück wieder.

Beim Kaffee blätterte er in der Zeitung. Bei jedem Artikel gab es zynische Bemerkungen, jeden Tag, seit Jahren. Es ging nicht anders. Es gab ja auch jeden Tag etwas in der Zeitung, was sein Verhalten provozierte.

Nur nicht sonntags, da kam keine Zeitung.

Er war eben ein Zyniker. Das sind ja bekanntermassen Menschen, die sich weigern die Welt so zu sehen, wie sie sein soll. Denen fehlt also eigentlich nur die rosarote Brille.

Auch heute.

Und so kommentierte er die Kommentare, und die anderen Artikel, ohne eben diese Brille.

“Ha, diese Touristen-Plage! Stell dir vor, jetzt stehen sie 17 km im Stau vor dem Teutonenbeschleuniger.“

Teutonenbeschleuniger war seine Bezeichnung für den Gotthard-Tunnel. Da werden die Deutschen und Holländer in Richtung Tessin und Italien beschleunigt und kommen am anderen Ende hochbeschleunigt und energiegeladen raus, gerade recht für die Ferien. Und weil sie hochbeschleunigt aus der Röhre kommen, hat es selbstverständlich Radaranlagen dort, für Begrüssungsfotos, wie im Europa-Park auf der Achterbahn.

Erinnerungsbilder der besonderen Art, etwas überteuert, aber gestochen scharf. Schweizer Qualität in der Zeitmessung, praktisch umgesetzt mit deutscher Qualitätsoptik.

Er war diesen Leuten insgeheim dankbar, senkten sie doch auf diese Weise mit ihren Spenden seine Steuerlast.

Er las weiter.

“Hier: das Neuste aus dem Narratorium. Das musst du lesen: sagt doch eine Bundesratte auf eine konkrete Frage eines Journalisten: ‚Ich habe dazu noch keine Meinung, ich muss mich erst noch positionieren‘. Das heisst doch wohl, erst mal gucken, wo die Mehrheit sitzt oder auf die Lobbyisten warten, welchen Verwaltungsratsposten sie mir anbieten. Dann lege ich mir auch eine dazu passende Meinung zu.“

Seine Frau hörte nicht hin und schon gar nicht, wenn er wieder mit Politik anfing. Mit Narratorium und Bundesratten konnte er nur die Regierung und die Bundesräte meinen, obwohl er sonst immer die sieben Zwerge sagte.

Sie hasste Politik genauso wie Werbung. Grosse Versprechungen und dann kommt das böse Erwachen. Und immer kostet es am Schluss Geld.

Sie hatte anderes zu tun. Sie machte eine Keinkaufsliste für den Tag. Weil sie immer so grosse Einkaufslisten anfertigte, hatte er vorgeschlagen, in Zukunft doch eine Keinkaufsliste zu machen, wo man nur die Sachen aufschreibt, die nicht gekauft werden. Eine solche Liste wäre dann ja wohl wesentlich kürzer.

Sie hatten auch aus Gründen der Selbstdisziplin sogar einen Keinkaufstag eingeführt. Einmal pro Woche bewusst kein Geld ausgeben, nix, gar nix, zero money day. Nicht mal tanken. Auch nicht mit Plastikkarte.

Er hielt sich aus der Liste raus und fragte nur unvermittelt: “Weisst du eigentlich, wieso Hamster gegen Katastrophen helfen?“

Sie hatte nicht hingehört und antwortete: “Milch brauchen wir noch. Die darf ich nicht aufschreiben. Was hast du gesagt?“

“Ja, also die Leute glauben, wenn was Schlimmes passiert, dann helfen Hamster.“

“Was soll das denn?“

Er las schlagzeilenmässig vor: “Wegen des drohenden Tornados in Amerika kam es gestern zu Hamsterkäufen“. Und hier: “Hamsterkäufe wegen politischer Spannungen in …“

“Ach, du wieder …“

“Nein, sowas muss man ernst nehmen. Vielleicht unterschätzen wir alle diese putzigen kleinen Nager“, antwortete er mit breitem Grinsen.

“Wir sollten uns vielleicht auch rechtzeitig einen Hamster kaufen. Oder der Zivilschutz sollte das wenigstens tun.“

Der Kommissar war in der Nachbarschaft als zuverlässig, aber auch als manchmal merkwürdig bekannt.

Schon kurz nachdem sie in diese Wohnung in Liestal eingezogen waren, regte sich Misstrauen.

Die Ursache dafür war er selber. Er hatte die Angewohnheit, jedesmal wenn er den grossen 110 Liter Abfallsack** vor die Tür stellte, laut zu sagen: “Giovanni, man stellt sich nicht gegen die Familie …“, und er trug den Abfallsack immer über der Schulter raus.

Das wurde natürlich von der Umgebung wahrgenommen und selbstverständlich weiter verbreitet und heftig diskutiert.

Bei dem ortsüblichen Humor war eine harmlose Erklärung für sowas ausgeschlossen.

Es wurde gemunkelt. Er wurde solange mit Argwohn beäugt bis die Mitbewohner erfuhren, was sein Beruf war. Vielleicht hatte man auch mal seinen Abfallsack durchsucht.

An seiner Sprache bemerkten sie, dass er irgendwie deutsche Wurzeln haben müsse und fragten ihn auch gelegentlich, wie es ihm denn in der Schweiz gefalle.

Je nach fragender Person gab er denn auch schon mal verschiedene Antworten. War die Person eine Frau und höflich, so antwortete er: “Sehr gut, sehr gut.

Hier ist alles ein bisschen menschlicher und gemütlicher. Zum Beispiel, wenn ich hier einen Brief wegschicke und ich habe zuwenig Briefmarken draufgeklebt, dann wird er trotzdem befördert. Ich habe dann zwar einen Tag später einen Zettel von der Post im Briefkasten, dass ich noch sagen wir mal 50 Rappen nachzahlen soll. Aber der Brief wird befördert. In Deutschland kommt der Brief mit bissigem Kommentar einfach wieder zurück.“

Er konnte es natürlich auch nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass man wohl bei Unterfrankierung nachzahlen müsse, allerdings bei Überfrankierung niemals Geld zurück bekäme. Da müsste die Post noch dran arbeiten.

Sein Gerechtigkeitsempfinden war eben hoch entwickelt.

Daraus entstanden manchmal interessante Gespräche derart, dass man bei zu schnellem Fahren mit dem Auto wohl eine Busse von 100 Franken zahlen darf, er aber noch niemals erlebt hat, dass man bei entsprechender langsamerer Fahrweise mal als Belohnung 100 Franken zurück bekäme.

Er führte das auf eine latent vorhandene landesübliche Geldgier zurück.

War der Fragende aber ein etwas dünkelhafter Schweizer, dann lautete seine Antwort etwa so: “Ach, mir gefällt es gut. Wir haben schon so viel erreicht seit ich als Entwicklungshelfer hergekommen bin. Mich stört halt nur, dass die Kinder hinter dem Auto herrennen und um Süssigkeiten betteln, wenn ich durch ein Dorf fahre.“

Das stimmte zwar nicht, aber die Antwort erfüllte ihren Zweck. Er wurde spätestens ab dann von diesen Menschen nicht mehr belästigt.

Sein Verhältnis zur Schweiz war zusammengefasst insgesamt positiv mit geringen Abstrichen. Er hätte also eigentlich auch Schweizer sein können, war er ja auch irgendwie, so doppelbürgermässig jedenfalls.

In Schulnoten ausgedrückt war sein Befinden so bei 2-, wobei 2- eine deutsche 2- war, in schweizer Schulnoten ausgedrückt wäre das eine -5 (ausgesprochen “bis fünf”). Diese umgekehrte Zählweise bei den Schulnoten nannte er umgekehrte polnische Notation**, was natürlich nicht korrekt war. Aber das kannte er von seinem alten Taschenrechner, also von seinem sehr alten Taschenrechner, also eigentlich noch älter, kurz nach dem Abakus.

Auf jeden Fall führte dieses Benotungssystem dazu, dass seine deutschen Besucher permanent Schüler in ihrem Leistungsvermögen falsch einschätzten.

Da konnte es dann schon mal passieren, dass sie seinem Sohn für schlechte Leistungen kleine Belohnungen zukommen liessen und ihn ausgiebig lobten.

Der hielt natürlich den Mund und brachte die Beute schnell in sein Zimmer in Sicherheit.

Die Tochter mit den sehr guten Noten erhielt dagegen den dringenden Rat, sich mal auf den Hosenboden zu setzen und zu lernen. ‘Es soll ja mal was aus dir werden, Mädchen‘.

Wenn der Besuch dann weg war, sorgte der Vater aber wieder für Gerechtigkeit, er hatte ja wie gesagt ein hohes Gerechtigkeitsempfinden.

Das war aber oft genug nur noch teilweise möglich, denn der Sohn hatte seine Belohnung in weiser Voraussicht meistens schon aufgegessen.

Das zog dann jeweils die Rache der Tochter nach sich und der Familienfriede war extrem gefährdet.

Die Tochter hatte sowieso einen geheimen Groll gegen den jüngeren Bruder. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso ihr Buder vor ihr im Jahr Geburtstag hatte, obwohl er doch nach ihr geboren war. Das empfand sie als hochgradig ungerecht. Sie als Ältere müsste ja wohl gefälligst als erste im Jahr mit den Geschenken an die Reihe kommen.

Das hatte sich erst im schulpflichtigen Alter langsam gelegt, war aber im Unterbewussten latent immer auch im Erwachsenenalter noch als Teil ihrer bitteren Kindheit vorhanden. Solchermassen misshandelte Kinder verzeihen zwar, aber vergessen nie. Dafür sorgt schon die Tatsache, das diese Geschichte bei jedem Familientreffen wieder aufgewärmt wird.

Inzwischen kannten ihn alle Nachbarn und er auch sie. Dass sie beim Grüssen immer den Namen mit erwähnten (‘Grüezzi, Herr Jelato‘), war ihm am Anfang peinlich, da er ihre Namen noch nicht so aus seinem Speicher abrufen konnte. Aber jetzt funktionierte das, die Namen waren im Langzeitgedächtnis abgelegt und wären eventuell sogar in hohem Alter noch präsent. Man wird sehen.

Er und seine Frau waren ruhige Mitbewohner, besonders seit die Kinder aus dem Haus waren. Dass ab und zu ein Polizeiauto vor der Tür stand, war für alle gewöhnungsbedürftig.

Am Anfang fragten sie sich, was wohl Schlimmes passiert wäre und der Abfallsack Giovanni kam ihnen wieder in den Sinn.

Später dachten sie vor allem an den Langhaarigen im dritten Stock. Dem trauten sie einiges zu. Jemand meinte, dass wäre bestimmt der neue Wirt vom Fixerstübchen. Und seine Freundin hatte eine Tätowierung, man stelle sich vor!

Da sie in der Zeitung von verschwundenen Katzen im Oberbaselbiet gelesen hatten und sie natürlich keine Vorurteile hatten, nannten sie ihn heimlich Katzenesser**. Aber auch Menschenhandel oder mindestens Drogenschmuggel oder Ähnliches schien ihnen sehr wahrscheinlich.

Sie hatten auch scharfsinnigerweise bemerkt, dass dort im dritten Stock nur geduscht wurde, wenn jemand gerade im vierten Stock auch duschte.

Als sie den Langhaarigen mal ganz vorsichtig darauf ansprachen, meinte dieser, dass er dadurch Strom spart. Schliesslich sei dann die Warmwasserleitung aus dem Keller bis zu ihm in den dritten Stock schon mit warmem Wasser gefüllt und er könne so helfen, Energie und Geld zu sparen. Ausserdem sei der sparsame Umgang mit Energie ein edles Ziel und würde gefördert.

Sie waren überrascht, dass ein potenzieller Drogenschmuggler zu solchen Gedanken fähig war.

Er war aber noch zu ganz anderen Dingen fähig.

So erzählte er seinen verdutzten Nachbarn nach und nach weitere Merkwürdigkeiten. Wenn er beispielsweise unerwünschte Werbung mit leerem, aber frankiertem Rückantwortkuvert erhielt, so füllte er dieses Kuvert randvoll mit Altpapier und schickte es zurück an den Absender. Später ergänzte er dann mal, dass er das auch mit unfrankierten Kuverts macht. Dann zahlt halt der Empfänger Strafporto – und zwar ordentlich.

Das war seine persönliche Rache wegen der Belästigung durch unbestellte Werbung. Er stellte sich die Szene vor, wie der Brief mit dem Altpapier von einer fassungslosen Sekretärin in irgendeinem Büro geöffnet würde und welchen Gesprächsstoff das dann lieferte. Da müsste also auch dem letzten Mohikaner klar werden, dass der angestrebte Werbeeffekt definitiv nicht erreicht worden ist und der Adressat der Werbung sich womöglich belästigt gefühlt hat.

Der Langhaarige war so gesehen ein auf Ausgleich bedachter, gerechter Mann. Für ihn war das eine Frage der Ehre: beschenkte man ihn mit Müll, so revanchierte er sich mit einem grösseren Gegengeschenk. Er hatte diesem Ritual auch einen Namen gegeben: Müll-Potlach. Da bei diesem indianischen Brauch der Ruf des Schenkenden mit der Grösse des Geschenkes wächst, bildete er sich wohl ein, bald einmal als spiritueller Häuptling anerkannt zu werden.

Die Nachbarn hatten dann aber mit der Zeit doch gemerkt, dass nur der Kommissar gelegentlich mit dem Polizeiauto abgeholt wurde, nicht aber der Langhaarige. Ein Kollege hatte den gleichen Weg zur Dienststelle und wenn der Einsatzplan es zuliess, fuhr man eben zusammen.

An seine wechselnden Arbeitszeiten hatte man sich inzwischen auch gewöhnt. Heute musste er um neun Uhr los und hatte am Nachmittag bereits einen neuen Fall.

Sie mussten ins Biberland zu den Talweihern, irgendwo in der Pampas, im Wald im Oberbaselbiet, wo auch immer das ist.

Es gab einen Leichenfund mit ungeklärtem Hintergrund. Mord, Selbstmord, Unfall, natürliche Todesursache? Das musste geklärt werden und sie waren gefordert. Sie, das waren er und sein Assistent.

Leichenfundort Talweiher

Am Fundort der Leiche angekommen hatte die Polizei die Zufahrt bereits mit dem aus dem Fernsehen bekannten rot-weissen Plastikband abgesperrt. Für sie wurde es angehoben und sie konnten durch.

Sie stiegen aus, er nickte begrüssungsmässig zu den Polizisten, einige kannte er recht gut, er orientierte sich kurz und ging dann zielstrebig auf einen Mann zu, der tief gebeugt am Wasser stand und etwas untersuchte.

“Hallo, Karli.“

“Hallo, Jelato.“

“Und, wie lange?“

“Was, wie lange? Ich bin schon eine halbe Stunde hier.“

“Mensch, wie lange ist er schon tot?“ fragte der etwas füllige Kommissar und schaute sich am Fundort um.

“Das ist wie im Krimi im Fernsehen: Genaueres nach der Obduktion“, antwortete der heute zuständige Forensiker Karli.

Der Spurensicherer hiess zwar Karli, aber sie nannten ihn alle nur Mister Hmm, natürlich nur, wenn er nicht dabei war. Warum sie ihn so nannten, wird sich noch zeigen.

“Okay. Dann eben wie im Fernsehkrimi: mach den Jungs im Labor Druck.“

“Hmm – davon geht’s nicht schneller.“

“Wenigstens die Ursache?“

“Wasser-Intoxikation, gestorben an einer Überdosis Wasser, vermutlich.“ Und er dachte: ‚das ist meistens so bei Leuten, die in einem Weiher liegen‘.

Die Stelle war aber seicht, eigentlich kein Ort zum Ertrinken.

“Hier?“

“Hmm, dein Job.“

“Wer hat ihn gefunden?“

“Die drei Kleinen dahinten, am Polizeiwagen.“

“Was, die Kinder?“

“Hmm“

“Werden die schon betreut?“

“Ja, … gleich … von dir.“

“Ich liebe meinen Beruf“, sagte der Kommissar und ging in Richtung der drei Kleinen in der Nähe der inzwischen angewachsenen Gruppe von Menschen am Polizeiwagen. Ein Polizist sprach mit den Kindern und machte Notizen.

Die Ambulanz war schon am Zusammenpacken. Für sie gab es hier heute nichts zu tun. Das war mal wieder eine von den unerwünschten Leerfahrten. Man hatte sie halt vorsichtshalber mit aufgeboten. So ein Ärger. Sie trugen es mit Fassung. Immerhin mussten sie nach dieser Fahrt nicht ihr Auto innen putzen, Blutflecken entfernen und so. Diesmal blieb es sauber. Und medizinisches Material hatten sie auch nicht verbraucht. Irgendjemand wird den Einsatz schon zahlen …

Ein Leichenwagen mit zwei dunklen Gestalten stand schon an der Seite bereit. Die hatten heute keine Leerfahrt. Aber einen richtig glücklichen Eindruck machten die deswegen auch nicht.

Ein junger Mann fotografierte. Er wird die Szene sicher gleich ins Netz stellen. Das geht ja heutzutage ratzfatz, speziell wenn etwas Schlimmes passiert ist.

Die Gaffergemeinde wächst dann zwar exponentiell, aber stört wenigstens nicht vor Ort.

‘Sind ja wirklich noch Kinder‘, dachte er. Dann war er bei den Dreien und wusste nicht, wie er eigentlich anfangen sollte.

“Sooo, ihr habt den … äh … also … ihr habt die Polizei gerufen?“

“Jo.“

“Wie heisst ihr denn?“

“Ich bin Winneone, das ist Winnetwo, und das ist Winnethree.“

“Aha, sozusagen Apachen, so, so, aber ihr habt sicher auch richtige Namen.“

“Jo.“

“Also fangen wir mit dir an: wie ...“

“Das haben wir dem Polizisten da schon alles gesagt.

Können wir jetzt unsere Katze weiter suchen?“, wurde er von Winneone mit sorgenvoller Miene unterbrochen.

“Wie? Katze suchen?“

“Na deshalb sind wir ja hier. Wir suchen unsere Katze. Die ist weg.“

“Katzen kommen spätestens bei Hunger wieder von selbst zurück, die muss man nicht gross suchen.“

“Hier verschwinden aber manchmal Katzen.“

“Und unsere Katze ist ein besondere Katze!“

“Wie, besondere Katze? Was ist denn so besonders an der Katze?“

“Das ist eine Suchkatze!“

“Eine Suchkatze? Was ist das denn? Heisst die so, weil man sie suchen muss?“

“Neiii! Es gibt doch auch Suchhunde, das sind ja auch nicht Hunde, die man suchen muss. Und wir haben eine Suchkatze.“

“Wir bilden sie aus zur Lawinensuchkatze!“, sagte mit stolzer Brust der kleinere Sommerspössler neben ihm.

“Und, macht sie Fortschritte bei der Ausbildung zur Lawinensuchkatze?“, fragte der Kommissar, und irgendwie war er unglaublich erleichtert, dass die drei Kinder wohl keinen grossen Schock hatten.

“Jo, sicher, also Mäuse findet sie schon unterm Schnee und gräbt sie aus. Im letzten Winter hat sie fünf Mäuse gefunden.“

Der Kommissar begriff: wohl eine ganz besondere Lawinensuchkatze. Voll im Mousetrailing-Training.

Dummerweise und völlig unpassend fiel ihm der Werbespruch ein: Katzenwürden Mäuse kaufen, oder so ähnlich.

Es beschlich ihn aber auch eine leise Ahnung, nämlich, dass die Mäuse wohl nicht wirklich gerettet waren anschliessend. Was das Finden und Ausgraben von Menschen – das Mantrailing – angeht, war er eher noch skeptischer.

Er wollte eigentlich doch gerne mehr wissen, schliesslich hatten sie den Toten gefunden. Aber das für solche Fälle zuständige Care-Team traf ein und übernahm die Betreuung der kleinen Indianer.

Mit in diesem Care-Team war seine Lieblings-Psychologin Lona. Wir erfahren später noch, warum er ihr wann immer irgendwie möglich aus dem Weg ging, am liebsten grossräumig. Jeder Meter zählte.

Er wusste aber auch, dass die Kinder bei ihr gut aufgehoben waren. Sie brachte sich ein, wie man das so nennt. Sie engagierte sich. Sie arbeitete sehr gewissenhaft, sehr planvoll. Wenn Jelato sie denken sah, dann dachte er sofort ‘die Lona – jetzt strukturiert sie wieder‘.

Volles Programm. Ablauf geregelt. Wie ein Backrezept. Das war Lona. Psychologische Betreuung, Zurückbringen zu den Familien, weitere Seelsorger aktivieren, Lehrer benachrichtigen und natürlich ganz entscheidend für den weiteren Erfolg der Betreuung: Bilder malen.

Alle Kinder in solchen und ähnlichen Fällen müssen Bilder malen, zum Aufarbeiten. Und wenn sie alle drei einen Mann mit Bart malen, ganz in schwarz, dann ist das ein Trauma und der Mann wahrscheinlich der Täter. Oder auch nicht.

Manchmal müssen sie ihre Erlebnisse auch auf einen Zettel schreiben, den an einen Luftballon binden und dann fliegen lassen, das hat was Therapeutisches, die Sorgen und die schlechten Erinnerungen fliegen einfach weg.

Neuere psychologische Theorien besagen aber, dass es wirksamer für die Aufarbeitung ist, wenn man aus diesen Zetteln Schiffchen faltet, die in einen Bach setzt und wegschwimmen lässt. Das ist noch therapeutischer.

Das war inzwischen nach heftiger Diskussion auf allen Kongressen und in der Fachpresse von allen führenden Psychologen anerkannt und als herrschende Lehrmeinung in die Lehrbücher aufgenommen.

Nebenbei war es auch billiger, man brauchte keine Luftballons und vor allem kein Helium mehr.

‘Alles Humbug‘, dachte er, ‘aber Hauptsache die Kleinen können ruhig schlafen‘.

Er ging zurück zum Weiher.

“Ich rede morgen mit den Kindern, jetzt ist erstmal das Care-Team dran“, sagte er zum Forensiker.

“Hmm“

“Hast du noch was für mich?“

“Ja, komisch, hat Verletzungen, wurde aber nicht ausgeraubt. Geldbörse samt Inhalt noch da. Jetzt wissen wir auch, wer er ist … äh war.“

“Und?“

“Schau halt selber.“

Er durchsuchte die Geldbörse: Geldscheine, Parkkarte, Umweltabo und ein Ausweis und noch einer. Das war ein Führerausweis.

Das traf ihn wieder unvorbereitet: er konnte sich einfach nicht an die schweizer Benennung gewöhnen: Führerausweis! Verdammt, hört das denn nie auf.

Was für ein Name: Führerausweis, das ist ein Führerschein, äh … nee, schon wieder Mist, ein Fahrausweis. Die mit ihrem Führer … äh … das war ja bei uns – ‘shit‘.

Und dann noch ein Firmenausweis mit Logo und Name einer Bank und der Name des Besitzers mit einem miserablen Passbild. Das ersparte ihnen viel Arbeit. Er war mit der ersten Ausbeute zufrieden: Identität ist also geklärt, der Wohnort über den Führerschein – äh Fahrausweis – leicht zu ermitteln, Arbeitsstelle auch klar. Da konnten sie ja gleich loslegen mit ihren Ermittlungen zum Fall.

“Aha, ein Bankster! “, sagte er.

“Hmm, genau, wahrscheinlich so ein Börsewicht, die Typen haben mich viel Geld gekostet. Vielleicht ist das der Grund, dass ihn einer …“

“Sei nicht vorschnell, vielleicht ist er ein Kassierer, einer der am Schalter steht oder so, kein Spekulazius, … andererseits …, wenn er jetzt tot ist … weisst doch, wie der Baselbieter sagt.“

“Wie?“

“Mir wei luege!“

Zur Erklärung sei abschweifenderweise schnell erwähnt, dass es in diesem Land noch eine germanistische Rarität gibt, etwas, was vom Aussterben bedroht ist: das sogenannte Dehnungs-e nach dem u. Diese Art e ist in gewissen Regionen ausgestorben oder auf dem Rückzug, im Deutschen gibt es das fast nur noch hinter einem i. Wenn also ein i laaanggezogen sein soll, so kommt ein e hinter das i. Beispiel: der Dieb mit langem i, nicht etwa Dib, das klingt unschön, fast wie eine Sauce, und sieht geschrieben aus wie ein Hund, eine germanistische Greueltat, eine Rotstift-Orgie für Lehrer.

Der Ausdruck mir wei luege ist also eine ausgewachsene Falle. Zuerst vermutet man eine chinesische Redewendung beginnend mit mir wei, dann folgt luege, welches aber auf gar keinen Fall wie lüge ausgesprochen werden darf, sondern eher so: luuueege, mit Deeehnungs-e.

Übersetzt heisst das in einer etwas verbreiteteren Sprache: wir werden sehen. Würde man das mit wir werden lügen übersetzen, dann täte man diesen Leuten unrecht. Sie könnten allerdings ja auch gleich sagen was sie meinen, und nicht solchermassen verschlüsselte Botschaften senden. Jelato wird später seinen Assistenten an anderer Stelle noch darauf aufmerksam machen, dass alle Leute, die etwas zu verbergen haben, sich hinter einer Art Geheimsprache verstecken.

Und zum Schluss noch dies: der Ausdruck wir werden sehen ist in Deutschland ebenso vom Aussterben