Brant - Ken Bruen - E-Book

Brant E-Book

Ken Bruen

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Nachdem Detective Sergeant Brant sich über alle Regeln hinweggesetzt und in einer Billardkneipe einen Randalierer bewusstlos geschlagen hat, wird eine junge Polizistin auf der Straße von einem Unbekannten erschossen. Der Sensationsreporter Harold Dunlop, der sich in seinen Artikeln besonders bei der Diffamierung von Brant hervorgetan hat, erhält von dem Polizistenmörder einen Anruf, bei dem der Mörder offenbart, er wolle insgesamt acht weitere Polizisten töten. Unmittelbar danach erschießt er einen Polizisten in dessen Dienstfahrzeug. Zusammen mit Detective Inspector Porter Nash wird ein Ermittlerteam gebildet, das den Cop-Killer so schnell wie möglich fassen soll. Was, wenn jedoch der Täter gefasst und wieder freigelassen wird? Sollte man den Mörder davonkommen lassen? Weil man sich ans Gesetz hält? Detective Sergeant Brant hat da seine eigenen Methoden. Unter dem Titel Blitz-Cop-Killer vs. Killer-Cop wurde der Roman mit Jason Statham 2011 verfilmt.

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Ken Bruen

Brant

Aus dem Englischenvon Len Wanner

Copyright © 2002 by Ken Bruen

Translated from the English: BLITZ or...Brant Hits The Blues First published in the United Kingdom by: The Do-Not Press

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2017

Aus dem Englischen von Len Wanner

© 2017 Polar Verlag GmbH Hamburg

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Robert Schekulin

Umschlaggestaltung: Detlef Kellermann, Robert Neth

Autorenfoto: © Ken Bruen

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-945133-45-3

eISBN: 978-3-945133-46-0

Für Joe und Gertie Dolan

INHALT

TEIL EINS

TEIL ZWEI

DAS INTERVIEW

TEIL EINS

DER PSYCHIATER STARRTE Brant an. Sein Büro war voller Hinweisschilder, die sich dafür bedankten, dass man hier nicht rauchte.

Er trug ein Tweedsakko mit Lederflicken. Sein lebloses, fahles Haar hing ihm in die Augen, sodass er alle paar Sekunden mit dem Kopf zuckte. Der Herr Doktor war der Ansicht, er hätte Brant durchschaut.

Hatte er aber nicht.

»So, Sergeant, jetzt erklären Sie mir doch bitte noch einmal, was es mit Ihren Aggressionen auf sich hat.«

Brant hatte sich für das Interview auf seine eigene Art schick gemacht. Abgewrackte Bomberjacke, ausgewaschene Bluejeans, dazu ein paar Dockers, die er in New York gekauft hatte. Unrasiert wirkten seine Gesichtszüge wie aus Granit, seine Bartstoppeln wie Stahlspäne. Er griff in seine Jacke, zog eine Schachtel Weights und ein Zippo heraus. Das Feuerzeug war so verwittert wie Brant selbst, die Inschrift kaum lesbar:

1968

Mit einem erinnerungsverlorenen Lächeln ließ er es aufflammen. Eine Rauchwolke stieg auf.

Der Doktor sagte:

»Sergeant, ich muss darauf bestehen, dass Sie die Zigarette sofort wieder ausmachen.«

Brant nahm einen besonders tiefen Zug. Die Art Lungenzug, die einem die Wangen einsaugt, bis man aussieht wie ein Totenkopf. Mit einem rauchigen Seufzen sagte er:

»Und was genau werden Sie tun, wenn ich’s nicht mache … mich verhaften?«

Der Doktor seufzte ebenfalls und notierte sich etwas in Brants Bewertungsbogen. Der schwere goldene Sheaffer war offensichtlich sein ganzer Stolz.

»Das bringt Sie hier nicht weiter, Sergeant.«

Brant lächelte, sagte:

»Schöner Kugelschreiber.«

»Ach?«

»Ja, sagt eine Menge über Sie aus.«

Unwillkürlich fragte der Doktor:

»Ach wirklich? Ich bin ganz Ohr.«

»Dass Sie gern ein hartes Phallussymbol in der Hand halten.«

Fast wäre der Psychiater auf die Provokation eingegangen, konnte sich aber gerade noch am Riemen reißen.

»Sergeant, Sie scheinen den Ernst ihrer Lage zu unterschätzen. Mein Bericht ist einer der Hauptfaktoren bei der Entscheidung, ob Sie im Dienst bleiben.«

Brant schoss hoch, ließ den Doktor zusammenzucken, lehnte sich über den Schreibtisch, sagte:

»Warum so schreckhaft, Doc?«

»Ich muss darauf bestehen, dass Sie sich sofort wieder setzen.«

Brant beugte sich tiefer zu ihm hinunter, ein Knie auf dem Schreibtisch.

»Die Sache ist die, Doc, wenn ich rausfliege, bin ich am Arsch. Diese Arbeit hier ist das Einzige, was ich kann. Wenn mir die jemand nimmt, geh ich vor die Hunde. Dann raste ich womöglich völlig aus.«

Jahre zuvor hatte der Psychiater im Zuge seiner Ausbildung sechs Monate in einer Anstalt für geisteskranke Straftäter gearbeitet, von Angesicht zu Angesicht mit einigen der gefährlichsten Verbrecher der Welt.

Auf engstem Raum, fast schon intim.

Nichts hatte ihn je so eingeschüchtert wie jetzt Brants bedrohlicher Blick. Er stotterte:

»Wollen … Wollen Sie … mir drohen?«

Brant schien es sich zu überlegen, schien sogar etwas zurückzuweichen, wirkte fast verlegen.

Fast.

Der Doktor sah sich schon als Sieger, fuhr mit erhobener Stimme fort:

»Das will ich wohl meinen!«

Brant schoss vor, verpasste ihm eine Kopfnuss, traf den Doktor mit der Stirn an der Nasenwurzel, dass dieser samt Stuhl zu Boden stürzte. Brant schwang sich von der Tischplatte, ging um den Schreibtisch herum, öffnete die unterste Schublade, sagte:

»Wusste ich’s doch!«

Nahm eine Flasche Glenfiddich und zwei Gläser heraus. Packte den Doc am Kragen, zerrte ihn auf die Beine, stellte den Stuhl wieder auf, sagte:

»Reißen Sie sich zusammen, verdammt noch mal.«

Schenkte ihnen zwei kräftige Schluck Whisky ein und drückte dem Doc ein Glas in die Hand.

»Runter damit.«

Der Doktor gehorchte.

Der Alkohol traf ihn fast so hart wie die Kopfnuss. Brant schenkte nach, diesmal eine noch größere Dosis, sagte:

»Jetzt kommen wir zwei ja doch noch auf einen Nenner.«

Als Sohn der oberen Mittelschicht Londons und Schüler ihrer besten Ausbildungsstätten, war der Doktor noch nie in seinem Leben körperlich angegriffen worden. Als Präsident des Debattierclubs in Cambridge hatte er zwar gelegentlich mit verbaler Aggression geliebäugelt. Doch nur unter seinesgleichen. Und als Praktikant in geschlossenen Anstalten hatte er stets auf andere Hilfsmittel zurückgreifen können:

Brutale Wärter

Fixierliegen

Zwangsjacken

Und natürlich auf den ultimativen Ruhigsteller – Chlorpromazin.

Sicher, am Steuer seines Bentleys hatte er sich durchaus hin und wieder zu einem kleinen Wutausbruch hinreißen lassen. Und einmal hatte er einer Frau, hinter dem Bollwerk ihrer Windschutzscheibe, von den Lippen abgelesen:

»Wichser!«

Ein köstlicher Nervenkitzel.

Nun jedoch stand er unter Schock, nahm den zweiten Whisky wie ein Roboter, leerte das Glas mit einem einzigen Schluck. Brant beugte sich über ihn, zog ihm die Krawatte zurecht, glättete ihm das Revers, sagte:

»Sieh mal einer an, Sie sind ja wie neugeboren.«

Ohne den Mann eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er das Büro. Den Glenfiddich ließ er mitten auf dem Schreibtisch zurück, den Deckel auf der Schreibunterlage daneben. Die Empfangsdame lächelte, als er sagte:

»Er lässt darum bitten, dass er die nächste Stunde über nicht gestört wird.«

Sie nickte verständnisvoll, sagte:

»Das arme Lämmchen arbeitet ja immer so viel.«

Brant spielte mit dem Gedanken, sie selbst auf ein Schäferstündchen einzuladen, die Gute sah jedoch aus wie eine mit tiefen Gefühlen. Würde ihm nur mit ihren eigenen Problemen kommen, hinterher wohl auch noch reden wollen. So was hasste er.

Draußen ging er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer für die CIB, die Polizei für die Polizei, der letzte Dreck. Brant sagte:

»Könnte ich mit DI Crest sprechen?«

»Am Apparat.«

»Sir, ich verpfeife nur ungern einen Kollegen …«

Brant wusste, was jetzt kommen würde.

»Von Verpfeifen kann doch gar nicht die Rede sein. Wir stehen ja alle auf derselben Seite. Die CIB ist nicht der Feind des guten Polizisten, Sie tun also lediglich Ihre Pflicht.«

»So sehe ich das auch, Sir. Doktor Hazel, unser Seelenklempner … Der trinkt während der Arbeit. Sogar jetzt, während ich Ihnen das beichte, lässt er sich wie der letzte Penner volllaufen.«

»Und wie ist Ihr Name, Officer?«

»PC McDonald.«

Klick, aufgelegt. Natürlich war die Telefonzelle mit Kleinanzeigen für allerlei Huren tapeziert. Alles dabei, für Mensch und Tier. Zum Beispiel:

»Herrin der Peitsche

sucht starken Mann

für Disziplinunterricht.«

Klang genau wie sein Fall. Brant hatte schon die Filmmusik von Rawhide – Tausend Meilen Staub im Ohr. Er zückte seinen neuen goldenen Sheaffer, der tatsächlich hart in der Hand lag, und notierte sich die Anschrift der Dame.

PC McDonald hatte mehrfach versucht, ihn ans Messer zu liefern. Sobald sich rumsprechen würde, dass er Hazel verpfiffen hatte – und so was sprach sich immer rum – wäre er bei allen unten durch. Brant steckte den Kugelschreiber wieder in die Jackentasche und sagte laut:

»Klappe zu, Affe tot.«

AM TODESTAG SEINER Frau bekam Roberts auch noch einen Anschiss von seinem Superintendent.

Und zwar folgendermaßen.

Der Super knabberte an einem Teegebäck. Zwischen zwei Bissen sagte er:

»Brant soll sich auf was gefasst machen.«

»Sir?«

Roberts schaffte es, nur so frech zu klingen, dass er gerade noch damit durchkam.

»Und danken kann er dafür Ihnen, Roberts.«

»Jawohl, Sir.«

»Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie ihn an die Kandare zu nehmen haben?«

»Immer … und immer wieder … Sir.«

Nun bemerkte der Super den frechen Unterton doch, brüllte:

»Passen Sie gut auf, Bürschchen. Auf die dreiste Tour kommt mir hier keiner.«

»Nein, Sir.«

Im selben Moment klingelte das Telefon. Der Super schnappte sich den Hörer, bellte:

»Was?«

Ein neuer Ausdruck schlich sich in sein Gesicht, er sah verstohlen zu Roberts hinüber und sagte:

»Ich verstehe.«

Tat er nicht.

Roberts lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Der Super sagte:

»Nehmen Sie doch Platz, Chief Inspector.«

Die förmliche Anrede verhieß nichts Gutes. Der Super öffnete eine Schublade, genau die gleiche, in der auch Brants Doktor seine Flasche versteckte. Und selbst die Flasche war die gleiche. Als Nächstes natürlich auch die zwei Gläser. In guter irischer Manier füllte er sie fast bis zum Rand, schob eines über den Tisch, sagte:

»Nur zu, trinken Sie.«

Roberts gehorchte. Er wollte nicht nachfragen, wollte hinauszögern, was auch immer ihm bevorstand. Auf nüchternen Magen traf ihn der Whisky wie ein Bauchschuss, flutete ihn mit Wärme. Der Super sagte:

»Es gibt schlechte Nachrichten.«

»Ach?«

»Ihre Frau …«

Der Super konnte sich nicht an ihren Namen erinnern, fuhr also hastig fort:

»… hat einen Autounfall gehabt.«

»Ein schlimmer Unfall?«

»Sie ist tot.«

Roberts starrte sein leeres Glas an. Der Super beugte sich vor, goss kräftig nach. Roberts fragte:

»Wie ist es passiert?«

»Ein Auffahrunfall in Dulwich. Sie war sofort tot.« Roberts kippte sich den Whisky in die Kehle, schauderte und sagte:

»Maggie Thatcher wohnte mal ganz in der Nähe.«

»Wie bitte?«

»Ja, seitdem sind die Immobilienpreise in der Gegend durch die Decke gegangen. Ich habe eine mordsmäßige Hypothek.«

Als er sich seiner eigenen Worte bewusst wurde, rang er sich ein freudloses Lächeln ab.

Der Super stand auf, sagte:

»Wir bringen Sie jetzt erst mal nach Hause. Ihr Sohn muss es ja auch noch erfahren.«

»Sohn?«

»Ja, Ihr Sohn?«

»Ich habe eine Tochter.«

»Selbstverständlich, mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es mal war. So, dann wollen wir mal in die Gänge kommen, ja?«

Zwar nicht gerade ein Tritt in den Arsch, aber viel fehlte nicht. Der Super kam um den Schreibtisch herum, legte Roberts eine Hand auf die Schulter. Roberts sagte:

»Einen Schluck von dem Whisky würde ich noch vertragen.«

»Lieber nicht, mein Guter. Bloß nicht zu viel Alkohol auf nüchternen Magen.«

Roberts stand auf, schwankte, sagte:

»Ich habe sie nie gemocht, wissen Sie?«

Der Super wollte ihn loswerden, und zwar schnell, sagte also:

»Da spricht der Schock, Chief Inspector, das meinen Sie jetzt nicht ernst.«

Von einer Sekunde auf die andere – wie das mit hochprozentigem Alkohol eben so geht – schlug Roberts’ Gelassenheit in Gehässigkeit um. Die Streitlust stieg ihm ins Gesicht, sodass er beinahe brüllte:

»Hören Sie zu, Sie Arsch! Verdammt noch mal, Sie sind so dran gewöhnt, Leute rumzukommandieren, dass Sie keinem zuhören. Ich habe meine Frau geliebt, nur gemocht habe ich sie nie.«

Überwältigt von der Verbalattacke, suchte der Super sein Heil in den Worten, die Das Handbuch für solche Fälle empfahl:

»Aus Rücksichtnahme auf Ihr Trauma will ich Ihnen diesen kleinen Ausraster mal durchgehen lassen.«

Es klopfte an der Tür. Der Super sagte:

»Herein.«

PC McDonald, gut aussehend wie immer, betrat das Büro. Der Mann verpasste halt nie sein, wie nannte Woody Allen es noch gleich,

»Schönheitstraining«.

Er erledigte neuerdings für den Super die Drecksarbeit. Ursprünglich kam er zwar aus Glasgow, doch mittlerweile verströmte er das kultivierte Flair von Edinburgh. Er hatte nämlich seinem gerollten R die Kanten abgeschliffen, sodass sein schottischer Akzent nun an das sanfte Brummen von Sean Connery erinnerte. Kürzlich hätte seine Unachtsamkeit beinahe seine Kollegin, Police Constable Falls, das Leben gekostet. Er wusste, dass auch Brant das wusste. In Übereinstimmung mit dem Super, stand der Mann ganz oben auf seiner Abschussliste:

Brant

Roberts

Falls

Der schottische Tourismusverband

Der Super sagte:

»Constable, bitte sorgen Sie dafür, dass der Chief Inspector gut nach Hause kommt, und bleiben Sie bei ihm.«

»Jawohl, Sir.«

Innerlich quittierte McDonald den Befehl mit einem Seufzen. Babysitter für diesen Penner zu spielen, das passte ihm überhaupt nicht. Er führte Roberts hinaus, wo ein Volvo auf sie wartete. Roberts sagte:

»Ein beschissener Volvo?«

»Der Fuhrpark ist heute fast leer, Sir.«

Er ließ Roberts hinten einsteigen, setzte sich ans Steuer und justierte den Rückspiegel, um den Mann genauer zu betrachten. Was er sah, ging ihm an die Nieren. Ein schäbiger Bulle, der aussah, als hätte er einen ganzen Monat lang Nachtdienst an der Railton Road geschoben. Roberts fragte:

»Haben Sie ’ne Kippe?«

»Ich rauche nicht, Sir.«

»Ich auch nicht, aber was zur Hölle hat das mit meiner Frage zu tun?«

PC FALLS VERSUCHTE ihre Wurzeln zu stärken. Nicht die ihrer Haare, sondern die ihrer Herkunft. Aufgewachsen in Brixton, war sie immer stolz auf ihre Hautfarbe gewesen.

Schwarz war schön.

Aber … stückweise war ihr das verloren gegangen.

Stück

für Stück

für Stück

verloren.

Bis das Fundament ihres Selbstwertgefühls komplett untergraben war. Nicht ohne Grund. Der Tod ihres Vaters, der Verlust einer Schwangerschaft, der Selbstmord ihrer besten Freundin, die Schuld, in der sie bei Brant stand, und ihr Dauerflirt mit dem Alkohol.

Wer würde da nicht drunter leiden, und zwar heftig?

Sie jedenfalls litt.

Ehrlich gesagt vermisste sie von allem, was sie verloren hatte, am meisten sich selbst. Auf einer Feier hatte Brant kürzlich in alter irischer Leidenstradition Van Morrison aufgelegt. Dieser Typ aus Belfast verstand was von Ghettos. Hatte sie auf Anhieb in Bann geschlagen.

Brant hatte gesagt:

»Van ist der einzig Wahre.«

»Schon möglich.«

Doch Brant, sein Wolfsgrinsen im Gesicht, heimtückisch und voller gebleckter Zähne, hatte gemerkt, dass die Musik sie berührt hatte. Also hatte sie Astral Weeks gekauft. Und kurz darauf mit weiteren Albumkäufen versucht, schnell wieder ihr schwarzes Image aufzupolieren:

Strictly 4

My Niggas

Me Against the World

Die Platin-Platten von Tupac Shakur. Wenig später hatte sie in den Nachrichten jugendliche Bandenmitglieder der West Side Boyz Militia mit »2 Pac«-T-Shirts gesehen. Eine kurze Recherche hatte ergeben, dass der Rapper auch ein angesagter Schauspieler gewesen, nach einem Kampf von Mike Tyson in Las Vegas aber umgebracht worden war. Auf dem Markt in Brixton hatte sie sich ein gerahmtes Bild von ihm gekauft, um es sich ins Regal zu stellen. Hatte aber nicht gereicht.

Vor Kurzem war sie dann zur Sergeant-Prüfung angetreten. Brant hatte gemeint:

»Du bist ’n todsicherer Kandidat. Die Arschlöcher werden ’ne schwarze Tussi nicht durchfallen lassen.«

Tussi!

Wobei, verglichen mit den Namen, die er ihr sonst an den Kopf warf, war das ja noch harmlos.

Durchgefallen war sie trotzdem.

Eine Asiatin hingegen hatte bestanden, wohl um zu verhindern, dass der Guardian auf die Barrikaden ging. Falls hatte also Porter Nash angerufen. Der bekennend schwule Sergeant war ihr neuer bester Freund. Meldete sich mit den Worten:

»Ja-allo.«

»Porter, ich bin’s, Falls.«

»Hi, Süße.«

»Ich bin durch die Prüfung gerasselt.«

»Diese Schweine.«

»Kannst du mir helfen?«

»Womit denn, Liebes?«

»Partynacht?«

»Abgemacht.«

»Danke, Porter. Ich will mich so richtig volllaufen lassen.«

»Paar Tequila?«

»Genau mein Ding.«

Sie hatte das Zeug noch nie angerührt.

»Am Warwick Square, gleich bei der Paddington Station, gibt’s einen Pub namens The Sawyers Arms. Dort treffen wir uns um acht.«

Vor ihrem geistigen Auge faltete sie den Stadtplan auf, dann:

»Porter!«

»Was?«

»Das ist ja Westlondon.«

»Na und? Du musst mal deinen Horizont erweitern.«

Sie ließ ihre Stimme in den vertrauten Singsang ihrer Straßenjugend abgleiten, ein beeindruckender Akt:

»Das ist nicht meine Gegend. Was geht n da ab, wenn da ’ne schwarze Schwester aus Brixton aufschlägt?«

Er lachte, ein warmer Klang, sagte:

»Wir reden hier von Paddington. Die können mit Schwarzen umgehen.«

Wieder mit ihrer eigenen Stimme sagte sie:

»Ja, und wie genau … gehen sie mit Schwarzen um?«

»Mein Piepser schlägt Alarm. Heißes Outfit heute Abend … wir gehen tanzen.«

Klick.

Als man Porter in ihre Dienststelle beordert hatte, war ihm sein Ruf vorausgeeilt, die Vorschusslorbeeren waren beachtlich: »Straßenbulle«, das höchste Lob. Dass er obendrein schwul war, stellte alles in den Schatten. Seine Beförderung zum Sergeant war ein verdammtes Wunder. Am Tag seiner Ankunft waren Graffiti an den Toilettenwänden aufgetaucht:

PORTER NASH IST EIN SCHWANZLUTSCHER

Sowohl auf dem Herrenklo als auch bei den Damen.

Liberale nannten so was »informierte Diskriminierung«.

Tja.

In der ersten Kaffeepause war die Kantine rappelvoll. Das wollte sich keiner entgehen lassen. Selbst Gladys, die Bedienung an der Tee-Ausgabe, hatte Bauchkribbeln. Als Porter den Raum betrat, fiel ein Schweigen über die Menge. Er ging an den Tresen, bestellte einen Tee mit zwei Zucker. Oder wie es bei den Bullen hieß, einen »Sid Vicious«. Hatten ja alle Sid and Nancy gesehen. Gary Oldman, nach seinem letzten Drogencocktail noch immer aufs Derbste zugedröhnt, wird von einem Vertreter seiner Plattenfirma gefragt, was er trinken möchte, und brüllt:

»Tasse Tee, du Fotz … mit zwei Zucker.«

Gladys war voller Bewunderung für Porters gute Manieren. Mit herrlich warmer Stimme sagte er:

»Bitte.«

Und Wunder aller Wunder:

»Dankeschön.«

Ihrem Mann erzählte sie später:

»Sag was du willst, aber Manieren haben sie, diese Schwuchteln.«

Nachdem Porter seinen Tee getrunken hatte, stand er auf und machte sich ans Gehen. Als er sich an der Tür noch einmal umdrehte, waren sämtliche Blicke auf ihn gerichtet.

»Aber nicht mal ich würde Brant einen blasen.«

Fassungsloses Schweigen.

Dann stürmischer Beifall und freudiges Gejohle.

Er war einer von ihnen.

DIE BESTATTUNG VON Mrs Roberts war schnell und billig. Roberts steckte finanziell tief in der Scheiße, beließ es also bei einer Einäscherung in Croydon. Das Teuerste daran war die Urne. Brant hatte ihn rübergefahren, andere Kollegen waren nicht anwesend, was wohl vor allem daran lag, dass sie nicht eingeladen worden waren. Selbst Falls hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden:

»Ihr seid nicht willkommen.«

Das Krematorium war ein unscheinbares Gebäude in der Nähe vom Mecca Bingo. Als Brant und Roberts eintraten, kam ihnen ein Paar mit ihrer Urne entgegen. Brant sagte:

»Der Laden läuft.«

Roberts erwiderte nichts. In einem Anflug von Übelkeit streckte er eine Hand aus, um sich an der Wand abzustützen. Brant holte ihm einen Stuhl, zückte einen Flachmann, sagte:

»Runter damit.«

Er gehorchte.

Der Fusel brannte wie die Hölle. Roberts sagte:

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Das kriegen Sie schon hin. Ist ja eh im Nullkommanichts vorbei.«

»Meinen Sie, ich hätte die Kohle für eine Beerdigung zusammenkratzen sollen?«

»Nein, ist doch alles der gleiche Deal. Auf die Art sparen Sie ein paar Taler, Ihre Frau hätte es gar nicht anders gewollt.«

»Meine Tochter hat sich geweigert zu kommen.«

»Schlaues Mädchen.«

»Die haust jetzt mit einem Asiaten in der Coldharbour Lane.«

Brant kannte einen erstklassigen Curry-Witz, hörte jedoch auf sein Bauchgefühl und behielt ihn lieber für sich. Ein Mann kam aus dem Büro und geradewegs auf sie zu, sagte:

»Wir wären dann bereit, Mr Roberts.«

Gemeinsam betraten sie einen kleinen Raum, in dem sich ein paar Kirchbänke an etwas drängten, das aussah wie ein Miniaturfließband, obenauf ein Sarg, über und über mit weißen Rosen bedeckt. Roberts fragte:

»Wer hat denn die Blumen besorgt?«

Fast hätte Brant gelächelt, als er sagte:

»Ein Händler aus Streatham hat mir ’n kleinen Gefallen geschuldet. Kennt sich ganz gut aus in Sachen Obst und Gemüse.«

Daran bestand kein Zweifel, zumal er noch ein Dutzend Ananas mitgeschickt hatte. Die hatte allerdings der Hausmeister des Krematoriums einkassiert. Aus den Lautsprechern ertönte nun Musik, es klang wie ein Waliser Knabenchor mit Boyband-Attitüde, und schon ziemlich abgenudelt, denn ein Kratzer nach dem anderen ließ die CD aus- und wieder einsetzen und die Zuhörer ein ums andere Mal zusammenzucken. Brant sagte:

»Ich persönlich steh ja eher auf die gute alte Moody Blue.«

Langsam entfernte der Bestatter die Blumen und gab ihnen ein Zeichen: Es war an der Zeit.

Brant stupste Roberts, sagte:

»Ein paar letzte Worte, Chef?«

Roberts war erstarrt, also führte Brant ihn zum Sarg, nahm seine Hand und legte sie darauf. Das Holz fühlte sich warm an. Roberts versuchte zu sprechen, fand jedoch keine Worte. Brant sagte:

»Du wirst uns fehlen, Liebes.«

Sie traten einen Schritt zurück.

Ein gedämpftes Surren erklang, und der Sarg setzte sich in Bewegung. In der Wand öffnete sich eine Stahljalousie, wodurch einen Augenblick lang ein roter Glanz sichtbar war, ehe der Sarg in der Luke verschwand. Roberts liefen ein paar Tränen über die Wangen. Brant nahm ihn am Arm, sagte:

»Lassen Sie uns draußen warten.«

Der Bestatter wies ihnen den Weg in sein Büro und zog sich sogleich wieder zurück. Brant zückte erneut seinen Flachmann, sagte:

»Jetzt kippen wir uns erst mal einen hinter die Binde.«

Roberts nickte und nahm einen tiefen Schluck. Brant brachte seine Weights und sein Zippo zum Vorschein, steckte sich eine Kippe an. Die Marke ließ sich immer schwerer auftreiben. Mittlerweile musste er dafür bis ins West End fahren, bestellte sich deshalb bei jedem Besuch gleich einen ganzen Monatsvorrat. Der Ladenbesitzer hatte gesagt:

»Sie werden sich umstellen müssen, bald wird’s die Dinger nirgends mehr geben.«

Normalerweise setzte er solche Kleinhändler ja ein wenig unter Druck. Eher aus Gewohnheit als aus echter Not. Aber die Jungs vom West End ließen nicht mit sich spielen, er hatte also wie üblich seine Bestellung abgeholt und den vollen Betrag gezahlt. Gott, wie er es hasste, in die eigene Tasche greifen zu müssen, egal wofür. Er spürte förmlich, wie es ihm gegen den Strich ging. Irgendeinen Schwachpunkt musste doch auch dieser Typ haben, er hatte ihn bloß noch nicht gefunden. Nicht dass es ihn über Gebühr beschäftigte. Früher oder später hatte er sie alle an den Eiern. Roberts sagte:

»Geben Sie mir auch ’ne Kippe.«

»Sir?«

»Kommen Sie schon, Brant, eine Zigarette wird mich ja wohl nicht umbringen.«

»Die Dinger sind ziemlich hart, Chef.«

»Jetzt geben Sie schon her, verdammt.«

Brant gab ihm Feuer und ging vor der unausweichlichen Hustenattacke in Deckung.

Fehlanzeige.

Nach einer Weile schritt feierlich der Bestattungsunternehmer auf sie zu, mit erhobenen Händen trug er eine Urne vor sich her.

»Mr Roberts, Ihre Frau.«

Roberts hatte den hysterischen Eindruck, ihr zum ersten Mal vorgestellt zu werden, wollte schreien:

»Wie soll ich sie denn begrüßen? Verdammt, sie hat doch gar keine Hände!«

Brant, dessen sechster Sinn wie gewohnt messerscharf war, sagte:

»Geben Sie sie mir.«

Der Bestatter raunte:

»Da wäre noch die Angelegenheit mit … äh … der Bezahlung.«

»Keine Bange. Bei uns kriegt jeder, was er verdient.«

Ein verlegenes Kichern, wirklich lustig fand er Brant aber nicht. Offenbar überlebte bei den Totengräbern selbst der Humor nicht lange. Er sagte:

»Das Ganze hat sich als eine Spur kostspieliger erwiesen, als wir erwartet hatten.«

Brant führte ihn in eine Ecke, sagte:

»Sie haben Ihren Preis genannt, haben unser Geld eingesteckt, und jetzt haben sie die Frechheit, einer Toten das letzte Ersparte aus der Tasche zu ziehen?«

»Es handelt sich um unvorhersehbare Zusatzkosten, die sich leider summieren. Denen fällt schließlich jede Branche zum Opfer.«

Brant schoss ihm einen Blick zu, fragte:

»Wissen Sie, in welcher Branche ich arbeite?«

»Selbstverständlich … Sergeant.«

»Eins können Sie mir glauben, Freundchen, mit mir wollen Sie sich lieber nicht anlegen.«

Brant schenkte ihm sein bestes Lächeln. Es erinnerte den Bestatter an eine Leiche, und zwar vor dem Zurechtschminken.

»Ich verstehe.«

»Das will ich hoffen, Kumpel.«

Dann wühlte er in seiner Jackentasche, bis er ein paar zerknüllte Scheinchen fand.

»Da, jetzt können Sie auf meine Kosten wenigstens einen saufen gehen.«

Der Bestattungsunternehmer antwortete betont kühl:

»Ich saufe nicht.«

»Wenn Sie je wieder versuchen, mich zu verarschen, werden Sie sich auch das noch mal gut überlegen.«

Mit einem Taxi fuhren sie nach Camberwell. Der Fahrer kam aus Rawalpindi, verfuhr sich zweimal. Als sie ausstiegen, sagte Brant zu Roberts:

»Geht auf mich, Chef.«

Er lehnte sich zum Fahrer hinein und zückte seinen Dienstausweis. Der Mann seufzte.

»Nicht mal ein Trinkgeld?«

»Trinkgeld? Ich geb Ihnen lieber einen guten Rat: Kaufen Sie sich ’n verdammten Stadtplan.«

Kurz darauf gaben sich Brant und Roberts aufs Härteste die Kante, und das in einem Pub voller Personal und Patienten aus der Psychiatrischen Klinik Maudsley, ehemals bekannt als das berüchtigte Bedlam. Irgendwann im Laufe des Abends kam ihnen die Urne abhanden. Vielleicht klaute sie einer der Patienten.

Wie auch immer, Mrs Roberts war jedenfalls Vergangenheit.

BARRY WEISS HATTE eine Scheißwut. Vor kurzem besaß er noch einen Marktstand an der Waterloo Station. Dann hetzte ihm ein lokaler Streifenpolizist die Steuerfahndung auf den Hals. Laden dichtgemacht. Ein Verkehrspolizist machte ihm wegen Trunkenheit am Steuer die Hölle heiß. Lappen weg. Ein Nachbar zeigte ihn wegen Lärmbelästigung an. Zack, stand eine schwarze Polizistin auf der Matte und las ihm die Leviten. Auf dem Heimweg vom Cricketers pisste er an eine Wand der St. Mark’s Kathedrale.

Und? Dreimal darfst du raten.

Ein blondes Bullenschwein aus Schottland namens McDonald verhaftete ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Jetzt hatte er die Schnauze ein für alle Mal voll.

Am versifften Ende der East Lane kaufte er von irgendeinem Arsch aus dem nichteuropäischen Ausland für fünfzig Pfund eine Knarre. Eine Glock, wer kennt sie nicht, diese geilen Dinger? Leicht, zuverlässig, geschmeidig. Das Baby gefiel ihm. Zur Feier des Tages erschoss er in Balham einen Parkwächter, ging ja eh allen am Arsch vorbei. Nicht mal die South London Press berichtete davon. Das wiederum fand er zutiefst deprimierend. Wen zur Hölle musste man denn erschießen, damit die Zeitungsfritzen einen überhaupt wahrnahmen?

Er hatte schon seit Tagen kein Koks mehr auftreiben können, musste sich also anderweitig behelfen. Kaufte eine Flasche Wodka und sechs Dosen Red Bull. Das Kokain des einfachen Mannes.

Langsam tat sich was, seine Nerven fingen an zu summen, während aus den Lautsprechern Iron Maiden dröhnte. Voll aufgedreht. Dann plötzlich die Idee: Einen Bullen umbringen! Wie Oprah wohl sagen würde, ging ihm ein Licht auf wie eine Glühbirne. Nein … Halt, warte mal … Lieber gleich eine ganze Bullenmeute umbringen. Und falls sie ihn erwischten? Dann gäbe es Angebote von Verlagen, von Sky News, von TV-Produzenten … Und leck mich am Arsch … Geh mal einer ans Telefon … Da ruft doch tatsächlich Jerry Springer an! Wo war der Haken? Er konnte ums Verrecken keinen finden.

Schnell machte er sich schick, todschick: Nike-Turnschuhe, Manson-T-Shirt (Charlie, nicht Marilyn), schwarze Levi’s 501, schwarze Bomberjacke, und die Glock. Neun Uhr abends, sein Hirn unter Strom, so verließ er die Wohnung. Draußen wurde es bereits dunkel, keine fünf Minuten später saß er in der U-Bahn zum Oval. Dort knöpfte sich vor einem Pub gerade eine Polizistin die Uniformjacke zu. Er schlenderte hinüber, knallte sie ab, ging einfach weiter. Nach sechs Minuten saß er wieder in der U-Bahn, diesmal auf der Northern Line, und nach fünfzehn Minuten stieg er wieder aus, Clapham Common. Eine Welle aus Adrenalin und Alkohol trug ihn ins Nirwana, er flüsterte: »Aufgepasst, hier kommt Barry.«

Barry war ein gut aussehender Kerl, gleich zwei Frauen hatten ihm das bescheinigt. Okay, beide Nutten, aber zählten die nicht? Er war achtundzwanzig, eins zweiundachtzig und knappe neunzig Kilo. Mit ihm legte sich so schnell keiner an. Außer der Polizei, die hatte scheinbar nichts Besseres zu tun, als ihm ständig auf den Eiern rumzutrampeln.

Sein braunes Haar hatte er bis auf drei Millimeter zurückgestutzt, um seinem Schädel einen blonden Glanz zu verleihen. Unter seinen wässrig blauen Augen saßen eine Hakennase und ein Mund wie ein Messerstich.