Carline - C.K. Jennar - E-Book

Carline E-Book

C.K. Jennar

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Beschreibung

Als die labile Schriftstellerin Carline McQuire an der irischen Westküste eine Morddrohung gegen ihren Mann Pat findet, gerät ihr wohlbehütetes Leben aus den Fugen. Carline ahnt nicht, in welchen Schwierigkeiten Pat tatsächlich steckt. Sie selbst leidet unter einer schrecklichen Schreibblockade. Doch plötzlich taucht eine neue Geschichte in ihrem Drucker auf. Wer hat sie geschrieben? Was haben die Erinnerungslücken zu bedeuten? Zur gleichen Zeit reist Rachel Daugherty nach Irland auf der Suche nach ihrer Schwester – der berühmten Schriftstellerin. Doch das Leben von Carline McQuire ist nicht das, was es scheint! „Carline“ ist ein hochspannender, mystischer Irland-Thriller, der vor der wunderschönen Kulisse der irischen Westküste spielt. Ein atemberaubender Klippenausblick, der Geruch von grünem Gras in der Nase und der Salzgeschmack des Meeres auf der Zunge – all das bietet Carlines Heimat. Doch die malerische Idylle trügt. Ein alter irische Friedhof zieht die labile Schriftstellerin stattdessen an. Zwischen geschichtsträchtigen Hochkreuzen und mysteriösen Kirchenruinen liegt ein altes Geheimnis begraben. Findet Carline dort die Wahrheit? Oder geht sie in den Abgründen ihrer Psyche verloren?

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C.K. Jennar

 

 

 

 

Carline

irland-thriller

Über das Buch

Als die labile Schriftstellerin Carline McQuire an der irischen Westküste eine Morddrohung gegen ihren Mann Pat findet, gerät ihr wohlbehütetes Leben aus den Fugen. Carline ahnt nicht, in welchen Schwierigkeiten Pat tatsächlich steckt. Sie selbst leidet unter einer schrecklichen Schreibblockade.

 

Doch plötzlich taucht eine neue Geschichte in ihrem Drucker auf. Wer hat sie geschrieben? Was haben die Erinnerungslücken zu bedeuten?

 

Zur gleichen Zeit reist Rachel Daugherty nach Irland auf der Suche nach ihrer Schwester – der berühmten Schriftstellerin. Doch das Leben von Carline McQuire ist nicht das, was es scheint!

 

„Carline“ ist ein hochspannender, mystischer Irland-Thriller, der vor der wunderschönen Kulisse der irischen Westküste spielt. Ein atemberaubender Klippenausblick, der Geruch von grünem Gras in der Nase und der Salzgeschmack des Meeres auf der Zunge – all das bietet Carlines Heimat. Doch die malerische Idylle trügt.

 

 

Dein Leseglück ist mein Ziel!

Lieber Leser, liebe Leserin,

 

ich freue mich, dass Du dieses Buch erworben hast. Vielen herzlichen Dank. Kunst ist ein brotloses Unterfangen, heißt es. Ich kann bestätigen, dass es gar nicht so einfach ist, vom Schreiben leben zu können. Aber da es meine Leidenschaft ist, freue ich mich über jeden Verkauf!

 

Dennoch möchte ich, dass mein Buch für Dich zu einem einzigartigen und wundervollen Leseerlebnis wird. Deswegen liegt mir Deine Meinung ganz besonders am Herzen!

 

Ich würde mich über Dein Feedback zu meinem Buch freuen! Hast du Anmerkungen? Gibt es Kritik? Bitte lass es mich wissen. Deine Rückmeldung ist wertvoll für mich, damit ich in Zukunft noch bessere Bücher für Dich schreiben kann.

 

Schreibe mir gerne: [email protected]

 

Nun wünsche Dir viel Freude mit diesem Buch!

 

C.K. Jennar

Prelude

Schon von Weitem war die schwarze Gestalt hoch oben auf dem Hügel zu sehen. Dunkel. Verweht. Völlig starr. Sie thronte wie ein Schatten über den Gräbern. Abergläubische Dorfbewohner erzählten von einem weiteren Geist. Einer mehr oder weniger, was mache das schon? Doch dieser hier bewache den Friedhof.

War sie ein Geist? Oder war sie real?

Manchmal wusste sie es selbst nicht. Doch hier, oberhalb der letzten Ruhestätte am Strand, fühlte sie sich so lebendig wie an keinem anderen Ort. Das Rauschen des Meeres beruhigte sie. Der Wind streichelte ihre Haut. Die Sonne wärmte ihre Seele. Oft schlugen die Wellen tobend an die Felsen unter ihr, so als wollten sie die kleine Halbinsel einnehmen. Doch die Ruine der alten Kirche wusste sich zu wehren: mit einer Armee von Hochkreuzen hinter sich – immer gen Osten ausgerichtet – der aufgehenden Sonne entgegen. Nichts und niemand konnte dem uralten Friedhof etwas anhaben, dafür würde sie mit aller Macht sorgen.

Majestätisch lag er auf der Halbinsel, fast im tosenden Meer. Eingerahmt von zwei Stränden, sumpfiger Weide und wildem Gras. In pünktlicher Regelmäßigkeit schien die Flut die Ruhestätte vom Festland abtrennen zu wollen, doch ein kleiner, sandiger Übergang schien immer zu gewinnen. Bewacht von den Cottages und Häusern, die in den Bergen hinterm Strand vereinzelt und verstreut wie ein Puzzle auf die Küste hinunterschauten. Manchmal lag der heilige Ort verlassen da. An warmen Sommertagen waren die Strände erfüllt von Menschenlachen, Kindergeschrei und Jubel aus dem Wasser, was sich bis zum reilighinauf erhob. So als würden die toten Seelen sich mit den Lebenden vergnügen. An kühleren Tagen wanderten Einzelgänger auf den grünen Trampelpfaden zwischen den Hochkreuzen. Ehrfürchtig darauf bedacht, nicht aus Versehen daneben und damit auf ein Grab zu treten. Sie lasen die Namen, sie fotografierten die Kreuze und bestaunten die Ruine der Tigh Mór Dhoire Fhíonáin.

Doch für sie war es anders. Es war ein Ritual: Mit den ersten Schritten begrüßte sie die Seelen. Kaum hatte sie das Eingangstor passiert, spürte sie schon ihre Anwesenheit. Sie brauchte längst nicht mehr auf die Grabsteine zu schauen, um deren Namen zuzuordnen. Sie kannte sie alle. Die Toten waren zu ihren Vertrauten geworden. Erst nach einer vollständigen Runde erklomm sie den Hügel hinter dem Friedhof. Setzte sich hoch oben ins Gras. Zufrieden blickte sie auf ihre Freunde und zückte ihren Notizblock. Sie borgte sich ihre Namen. Sie fragte höflich, bevor sie alle wild durcheinanderwarf, neu sortierte und neue Menschen entstanden. In ihren Büchern sollten sie mit neuem Leben gefüllt werden. Würde sie diese je schreiben?

Manchmal schien es ihr sogar, als ob sie ihre toten Freunde hören könnte. Von weit weg, aus weiter Ferne, riefen sie schwach nach ihr. Nur eins verstand sie nie: Sie riefen dabei einen fremden Namen.

1. Kapitel

Alles begann mit einem weißen Stück Papier.

Es lag einfach auf dem Boden mitten auf dem grauen Asphalt der Dorfstraße. Es wirkte unscheinbar, vergessen und verloren. Wie Müll sorglos weggeschmissen.

Seltsam, wunderte sich Carline.

Sie hatte den Zettel gar nicht bemerkt, als sie die Straße zum Bunavalla Pier hinuntergelaufen war. Die Sonne strahlte an diesem frühlingshaften Donnerstagmittag von einem tiefblauen Himmel. Der Ginster blühte mit den Fuchsien um die Wette in der schulterhohen Hecke an der engen Küstenstraße. Die Luft roch nach Meer. Der Wind trug den unverwechselbaren, salzigen Geruch von der See die Straße herauf. Carline roch die Algen. Das kleine verschlafene Dorf Caherdaniel am Ring of Kerry zeigte sich heute von der schönsten westirischen Seite.

Carline hatte sich sofort in das Dorf auf der Halbinsel Iveragh verliebt, als sie es das erste Mal besuchte. Zugegeben: Die Fahrt auf dem berühmten Ring of Kerry dorthin war kein Vergnügen für ihren empfindlichen Magen gewesen. Kaum zu glauben, dass sich auf der engen Küstenstraße zahlreiche Busse entlang schlängelten. Dass sie es durch die engen Kurven, über Schlaglöcher und schiefen Asphaltausbesserungen schafften. Auf der einen Seite lagen die steinigen Hänge der Berge, auf der anderen die steile Küste abwärts. Doch als sich plötzlich die Schaukelei verlangsamte, sie die überwältigend schöne Aussicht vom Coomakista Pass auf die Küstenszenerie mit dem Derrynane Harbor, den Inseln Deenish und Scariff und der Kenmare Bay erblickte, verschlug es ihr den Atem. Die Straße schlängelte sich weiter ruhig und kurvenreich Richtung Dorfkern, in dem vor allem das Blind Piper dominierte. Zahlreiche verzweigte Fahrbahnen führten vom Ring hinunter zum Strand, Wanderwege und Pfade verbanden die verschiedenen Dorfteile, die über Kilometer verteilt waren. Carlines neues Heim lag in Farraniaragh, direkt unter dem Scariff Inn mit der »besten irischen Küstenaussicht«, die täglich zahlreiche Touristen anlockte.

Doch heute war Carline von einer frühlingshaften Stille umgeben. Noch waren die Urlauber nicht über die Küstenstraße hergefallen. Die Busse hielten nur vereinzelt, wenige Autofahrer verirrten sich die Seitenstraße hinab. Kaum ein Wanderer passierte den Kerry-Way direkt neben ihrer Terrasse. Noch begegnete Carline auf ihren täglichen Spaziergängen keine der zahllosen Gruppen.

Doch heute traf sie ihr Schicksal. Carline konnte nur noch auf das weiße Blatt auf dem grauen Asphalt schauen.

Der Wind versuchte, unter den Zettel zu kriechen und ihn die Straße hochzuscheuchen. Das Papier erzitterte. Carline schauderte ebenfalls, tief in ihrer Seele. Schon seit Stunden war sie unerklärlich aufgewühlt gewesen. Unruhig. Rastlos. Den gesamten Morgen über. Bereits als Pat das gemeinsame Haus verlassen hatte, wollte sie den Räumen ebenfalls entfliehen. Pat McQuire fuhr üblicherweise gegen 8 Uhr in sein Büro. Ihr täglicher Spaziergang fand üblicherweise erst nach der Mittagszeit statt. Doch heute hielt sie es nicht so lange aus. Die Glocke der Standuhr war gerade nach dem elften Schlag verstummt, als Carline McQuire nach der Barbourjacke gegriffen und ihre Gummistiefel übergezogen hatte. Sie schob die Unruhe auf den schlechten Morgen.

Vielleicht wäre der Zettel sonst längst weggeweht worden?

Carlines Gedanken machten erste Sprünge. Das weiße Stück Papier schien sie zurück anzustarren, ja beinahe zu grinsen. Fast erwartete sie, eine Einkaufsliste auf dem Zettel zu lesen. Vielleicht wäre mit krakeliger Schrift aufgelistet: Milch, Eier, Brot, Cornflakes, Guinness und grilled potatoes. Möglicherweise standen auf diesem Zettel sogar mehr Wörter, als sie selbst am Morgen geschrieben hatte. 22 waren es heute gewesen. Es wurden von Tag zu Tag weniger.

Carline ertrug den Anblick auf dem Computerbildschirm nur noch schwer. Ein leeres virtuelles Papier, auf dem sie nichts mehr hinterlassen konnte. Der Cursor blinkte vergeblich. Die Worte wollten einfach nicht mehr kommen. Dabei war ihre Fantasie ungebrochen.

Die Schriftstellerin in ihr begann sofort ihr geliebtes Spiel: Was wäre, wenn?

Was wäre, wenn John heute Abend kein Bier im Kühlschrank hätte, schoss es ihr in den Kopf. Hatte Aileen den Einkaufszettel unglücklicherweise verloren? Sofort tanzten Bilder vor Carlines innerem Auge. Es würde wieder in einem Ehestreit enden, nach dem er wütend das Haus verlassen und im Blind Piper ein Guinness nach dem anderen trinken würde. Aileen müsste den kleinen Nick wieder allein ins Bett bringen. Tränen würden ihr dabei die Wangen herunterrollen.

Vielleicht war es aber auch eine Erinnerung, dachte Carline im nächsten Augenblick. Was wäre, wenn auf dem Zettel mit ordentlicher Schrift hinterlassen wäre: »Nicht vergessen, nächsten Freitag Mutters Namenstag!« Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Brianna diesen Tag ihrer Schwiegermutter vergessen würde. Die große Schriftstellerin Carline McQuire hätte daraus den Beginn einer wunderbaren Liebesschnulze machen können. Ihr Erstlingswerk »Rausch der Sinne« war einst aus diesem Spiel entstanden. Ein Bestseller, deren Erfolg vor vielen Jahren Carline den Stolz in die Adern jagte. Doch das schien ein ganzes Leben lang her zu sein. Das Häufchen Elend, das stattdessen heute labil, unsicher und frustriert auf dem Asphalt stand, glaubte nicht mehr an seine einstige Leidenschaft. Die Gabe war verloren, die Quelle versiegt. Die Computerseiten blieben leer. 22 Wörter waren der bisherige Tiefpunkt.

Was wäre, wenn es eine Quittung wäre?

Auf dem Land schrieben viele Vermieter der Ferienunterkünfte diese noch mit der Hand. So wie Eileen von den Selfcatering Apartments nur 100 Meter unter dem alten Schulhaus von Farraniaragh. Das einstige Schulhaus, das Carline nun seit einem Jahr ihr Zuhause nannte.

Vielleicht gehörte der Zettel aber auch Brandon?

Carlines Fantasie überschlug sich bereits. Was würde es bedeuten, wenn Brandon die mühsam ergatterte Telefonnummer von der wunderschönen Jane einfach verloren hätte? Schon seit Monaten stellte er der Verkäuferin in Freddies Shop nach und erhoffte sich immer noch Erfolg. Oder hatte sie die falsche Telefonnummer aufgeschrieben und Brandon hatte den Zettel ärgerlich weggeworfen? Was konnte denn sonst so unwichtig oder vergänglich sein, dass jemand den Zettel achtlos am Straßenrand entsorgte? Hier, auf der ruhigen Küstenstraße, wo sonst nie Müll zu finden war?

Minuten verstrichen, bis Carline bemerkte, dass sie immer noch steif auf der Straße stand und das weiße Stück Papier anstarrte. Als Erstes spürte sie den kalten Wind an ihrer Hand. Sie fröstelte augenblicklich. Danach bemerkte sie das Auto von weit unten die Straße herauffahren. Sie musste sich entscheiden: Wollte sie wissen, was auf dem Zettel stand? Oder wollte sie ihrer Fantasie den Vorrang lassen? So oder so müsste sie bald den Weg freigeben. Die kleine Seitenstraße zum abgelegenen Fischerhafen Caherdaniels bot lediglich einem Auto Platz. Sogar Schafe und Fußgänger mussten sich in die Hecke drücken, um das Auto passieren zu lassen. So wie Carline nun – mit oder ohne Zettel. Schließlich siegte die Neugier. Entschlossen nahm sie das Stück Papier auf, knüllte es leicht aber behutsam in ihrer rechten Hand zusammen und trat an den Rand. Petty Galvin hielt mit ihrem alten, verrosteten und verbeulten Ford neben ihr.

»Hallo Carline, wie geht es dir? Wieder auf Kreativspaziergang?« Petty zog die Sonnenbrille von der Nase. Sie legte schon wieder den ersten Gang ein.

»Gut, danke Petty. Ja. Wie immer. Wie ist das Leben zu dir?«

»Nicht schlecht, nicht schlecht. Ich kann nicht klagen.« Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Ich habe es eilig. Ich muss nach Waterville. Ich sehe dich später.« Schon röhrte der Ford auf.

»Bis später.« Wie üblich winkte Carline mit der linken Hand dem Auto hinterher. Längst hatte sie sich daran gewöhnt, mit jedem Dorfbewohner Smalltalk zu betreiben. Das kannte sie aus Cork nicht. Doch hier auf dem Land in Kerry hielten die Nachbarn für eine Sekunde an. Petty erst recht, hatten die beiden doch bereits ein zartes Band der Freundschaft gesponnen.

Carline trat wieder auf die Mitte der Straße. Der Zettel hatte kaum eine Minute in ihrer rechten Hand geruht. Und doch fühlte er sich heiß wie Feuer an. Ihre Narbe zwischen Daumen und Zeigefinger schien zu glühen. Behutsam faltete Carline das Blatt Papier auseinander. Heimlich schloss sie eine Wette mit sich selbst ab, welche ihrer ersonnenen Theorien gewinnen würde. Der Einkaufszettel – er würde es sein!

Doch es standen keine Lebensmittel auf dem weißen Stück Papier. Es war keine Telefonnummer auf dem Zettel. Keine Erinnerung. Keine Quittung. Carline ließ das Papier aus ihren zitternden Händen wieder auf die graue Asphaltstraße schweben. Ihre Gedanken rasten sofort zu ihrem Ehemann. Doch ihr Gehirn wollte die Worte nicht glauben, die ihre Augen lasen.

Ich erwische dich!

Du wirst sterben, Pat McQuire.

2. Kapitel

Sie zitterte immer noch, als sie ihre Terrasse erreichte. Der Blick auf die Holzbank am Steintisch reichte aus, um ihr die letzte Kraft aus den Beinen zu rauben. Carline sank wie ein nasser Sack nieder. Sie bemerkte nicht einmal Cherry, die wie immer um ihre Beine strich, um sie zu begrüßen.

Atmen, befahl sie sich.

Tief sog sie die frische Frühlingsluft in sich auf und ließ sie in ihre Lunge ein. Carline hatte keine Ahnung, wie sie die letzten 300 Meter der steilen Küstenstraße nach oben geschafft hatte. War sie jemandem begegnet?

»Ich erwische dich. Du wirst sterben, Pat McQuire.«

Wie ein Mantra hallte dieser Satz in Carlines Gedanken nach.

Ihr Verstand begriff sofort, ihr Herz weigerte sich immer noch: Der Zettel war eine Morddrohung. Er lag nicht zufällig auf ihrem Weg. Oder doch? Wer sollte ihrem Mann etwas antun wollen? War er vielleicht schon ...? Sie schüttelte ruckartig ihren Kopf. Nein! Das durfte nicht sein.

Carlines Stirn schmerzte dank des einsetzenden Gedankenkarussells. Wieso nur hatte sie den Zettel liegen lassen? Würde er ihr noch glauben? Nun ärgerte sie sich. Aber es war ihr unmöglich, noch einmal hinabzugehen. Wenn er denn noch …! Carline fühlte sich zu schwach. Zu zittrig. Zu ängstlich. Sie müsste mit ihm reden. Wacklig kämpfte sich Carline zur Terrassentür. Zum ersten Mal war sie dankbar, dass niemand auf dem Land die Türen verschloss und sie versuchte, sich dieser Gewohnheit anzuschließen. Mit diesen zittrigen Händen einen Schlüssel ins Loch zu stecken, wäre unmöglich gewesen. So zog sie die unverschlossene Glastür nur zur Seite und trat in den großzügigen Wohnraum ein. Ihre Katze folgte ihr unbemerkt.

Der Anblick des gemütlich eingerichteten Hauses überwältigte sie unter anderen Umständen immer noch regelmäßig. Vor ihr breitete sich das geräumige Wohnzimmer aus. Klinkerverkleidung umschloss den eingebauten Kamin. Davor die einladende Couchgarnitur in Ozeanblau. Carline liebte es, ihre Füße auf den Holztisch hochzulegen, wenn sie abends die 9-Uhr-Nachrichten auf RTE One schaute. Sie liebte das gesamte Holz im Haus. Auch in der offenen Küche waren alle Möbel mit Holzverkleidungen versehen, die schwarze Arbeitsfläche bot einen perfekten Kontrast zu den hellen Dekoren. Die hellgelben Gardinen hatte Carline nach dem Einzug selbst ausgesucht.

Alle anderen Räume befanden sich im Obergeschoss, das von der Treppe im Flur aus zu erreichen war. Das Schlafzimmer erstrahlte in hellen Tönen. Das Mahagonidoppelbett und die braunen Kissen auf der beigefarbenen Bettdecke boten einen wunderbaren Kontrast dazu. Der zweite Raum im Obergeschoss war mit weniger Liebe zur Dekoration eingerichtet: Carlines Arbeitszimmer. Lediglich das große Bücherregal an der Stirnseite bot Platz dafür. Eine alte Continental war einer der wenigen Dekorationsgegenstände darin. Unzählige Bücher füllten das Regal und sahen genauso geordnet und ungeordnet zugleich aus wie der Rest des Raumes. Der Schreibtisch beherbergte einen großen Monitor und eine Bakelitlampe in Grün, zahlreiche Zettelstapel und Schubladen, die zum Teil offen standen. Zwischen Schreibtisch und Bücherregal stand ein gemütlicher brauner Ledersessel unter dem Fenster. Die Decke darauf war zerknüllt und bedeckte weitere Zettel. Die Stehleuchte daneben brannte selten, denn Carline hasste ihr grelles Licht. Sie wollte die Glühbirne schon längst mit der im dritten Raum im Oberstock austauschen, den sie nur als Abstellraum nutzten. Pat und Carline wussten nicht so richtig, was sie mit dem Raum anfangen sollten. Und dennoch: Es war ein Traumhaus, das ihr Mann für sie gefunden hatte.

»Hallo?«Pats Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Wie eine Marionette hatte sie sich ins Arbeitszimmer in der ersten Etage geschleppt, das Telefon ergriffen und Pats Nummer gewählt.

Ich erwische dich. Du wirst sterben, Pat McQuire.

Augenblicklich war der Horror zurückgekehrt und Carline sank erneut zitternd auf ihren Bürostuhl nieder.

»Hallo?« Pat fragte erneut: »Wer ist da?«

»Ich bin es.« Carlines Stimme klang schwach.

»Hey Darling, was ist los?« Pat war augenblicklich besorgt. Sie war zu labil, als dass er einen überraschenden Anruf mitten am Tag hätte ignorieren können.

»Dddddu lelelebst«, brachte Carline nur stotternd hervor.

»Natürlich.« Pat runzelte die Stirn. Was war nun schon wieder los? Ein neuer Schub? Eine erneute Wahnvorstellung? »Mir geht es gut, Liebling. Was ist denn los?«

»Dddder Zettel«, stotterte Carline weiter. »Du sollst sterben.« Nun rannen ihr Tränen über die Wangen. Pat hörte sie durch die Telefonleitung weinen.

»Darling. Es ist alles gut.« Er versuchte, sie zu beruhigen. »Mir geht es gut. Niemand ist gestorben. Bleib, wo du bist. Ich komme nach Hause.«

»Ja«, hauchte Carline nur noch kläglich in den Hörer. Doch Pat hatte schon aufgelegt, sein Jackett geschnappt und war längst auf dem Weg zu seinem Auto.

 

Er raste über den Ring, nahm die Kurven mit Schwung. Für Pats Geschmack dauerte die Fahrt von Waterville nach Caherdaniel in diesen Momenten viel zu lang. Üblicherweise brauchte er 15 Minuten, wenn er dabei das Panorama von der Küstenstraße auf das Meer genoss. Im Sommer war es länger. Wenn die Straße verstopft von Touristen war, die den Linksverkehr nicht kannten. Wenn sie sich kaum durch die engen Kurven trauten und stoppten, weil einer der Touristenbusse ihnen entgegenkam. Zudem mussten sie den Ausblick gefühlt alle zehn Meter in einem Foto festhalten – und stoppten wieder. Im Sommer brauchte er 20 oder schon auch mal 25 Minuten. Heute waren es keine Zehn.

Pat war getrieben von Angst. Eben noch in seinem Maklerbüro in Waterville, voller Sorgen über das schleppende Immobiliengeschäft auf dem Land, fürchtete er nun das Schlimmste zu Hause. Sie würde doch nicht …? Nein. Nein. Bestimmt nicht. Hoffentlich nicht.

»Bitte nicht.« Er flüsterte leise vor sich hin. Pat gab noch mehr Gas.

Pat hatte so gehofft, dass der Umzug aufs Land Carline endlich neue Lebensfreude geben würde. Er erkannte seine Frau kaum wieder. Wer war dieses Wesen? Einst strotzte ihr Gesicht vor Gesundheit. Wild, kämpferisch mit ihren kurzen schwarzen Haaren, dem runden, lebendigen Gesicht und den so tief glänzenden Augen. Sie war nach seinem Geschmack gewesen: klein, 165 Zentimeter groß, schlank und dennoch rundlich. "Ein gebärfreudiges Becken", hatte er einst scherzhaft und nicht ohne Hintergedanken gesagt. Heute erschien es ihm wie eine Ironie, dass ihre Hosen immer zwei Nummern größer sein mussten als T-Shirt, Blusen und andere Oberteile. Ein Fluch, meinte Carline seit der verhängnisvollen Hiobsbotschaft.

Pat drückte auf das Gaspedal und raste die letzten Kurven vor der Abzweigung zum Bunavalla Pier gefährlich schnell hinunter. Er raste bis zur Einfahrt seines neuen Heims. Er riss den Gurt von sich, sprang aus dem Auto und machte sich nicht die Mühe, die Autotür zu schließen. Eilig nahm Pat zwei Stufen auf einmal die Treppe zur Terrasse hinauf.

Was, wenn sie doch …? Nein. Sie würde nicht.

Die Tür stand weit offen. Auf dem Terrassentisch lag ihre Jacke. Diesen Anblick kannte er von seiner mehr als ordentlichen Frau nicht. Pat stürmte ins Haus. Wo war sie? Seine Augen suchten den gesamten Raum ab und fanden Carline schließlich völlig verweint am Küchentisch vor. Die kurzen schwarzen Haare waren zerzaust, das Gesicht geschwollen, ihre sonst so wunderbaren braunen Augen rot und geschunden. Wortlos nahm er sie in die Arme und hatte das Gefühl, ihre inzwischen abgemagerte und zierliche Gestalt zu zerdrücken. Carline klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsanker, sodass es ein Leichtes war, sie hochzuheben und auf die Couch zu tragen. Ein Schluchzen entwich ihrem Mund. Behutsam setzte er sie ab, deckte sie zu und strich ihr die letzte Träne von der Wange. Erleichterung durchfuhr ihn.

»Was ist denn los?«

»Du wirst sterben«, schluchzte Carline weiter. Pat traute kaum seinen Ohren. Solch eine Wahnvorstellung hatte es lange nicht mehr gegeben.

»Nein, Liebling. Mir geht es gut. Ich bin hier, siehst du?«

»Aber es stand auf dem Zettel«, beharrte sie.

»Auf welchem Zettel?« Pat runzelte die Stirn.

»Auf der Straße. Ich habe ihn wieder verloren.« Carline schaute verzweifelt in Pats kantiges, lang gezogenes Gesicht. Die grünen Sprenkel seiner braunen Augen schienen vor Sorge zu tanzen, das braune Haar ein wenig grauer geworden zu sein. Die Sorgenfalten auf seiner hohen Stirn zwischen den Geheimratsecken waren tief, die kantigen und schmalen Augenbrauen scharf zusammengezogen. »Aber du wirst mir sowieso nicht glauben.« Sie wandte schließlich ihren Blick wieder von ihm ab.

»Doch. Natürlich Liebes. Erzähl mir nur alles in Ruhe.«

Pat setzte sich behutsam neben seine Frau, legte seine Arme um sie und wiegte sie wie ein Baby. Langsam erzählte sie geordneter von ihrem Fund auf der Straße. Nach und nach verstand er. Er verfluchte die Nachbarskinder, die sich wohl einen Scherz erlaubt hatten. Es war so einfach, seine Frau wieder in die dunklen Abgründe ihrer Seele zu treiben. Doch sie wieder herauszuholen? Carline wollte nichts von irgendwelchen plausiblen Erklärungen hören. Sie beruhigte sich, doch ihre Sorgen blieben. Langsam versiegten die Tränen, die düstere Stimmung blieb jedoch.

»Sie tut wieder weh. Etwas wird passieren«. Carline strich sich über ihre Narbe zwischen dem linken Daumen und dem Zeigefinger. Das Überbleibsel eines Kochunfalls.

»Das wird nur wieder das Wetter sein, Liebling.« Pat schaute hinaus durch die immer noch weit offen stehende Terrassentür. Nebel zog von den Bergen herunter und stahl nach und nach die Sicht auf das Meer. Wie ein undurchsichtiger Schleier legte sich die weiße Luft um ihr Zuhause. Er nahm jegliche Perspektive, jegliche Orientierung und alle Verbindung zur Außenwelt. Abgeschnitten. Eingeschlossen. Als wolle der Nebel Pat und seine Frau in einen Mantel hüllen.

»Nein, etwas wird passieren.« Carline schüttelte den Kopf. War es ein Mantel des Schutzes? Oder war es der Einschluss in eine Welt voll Unheil?

Endlich schien sich Carline unter seinen wiegenden Bewegungen zu beruhigen. Sie sprach nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ging gleichmäßig. Vorsichtig entließ Pat sie aus den Armen, legte sie auf die Couch nieder und trat leise durch die Terrassentür nach draußen. Er musste nachdenken. Augenblicklich waren alle Sorgen vereint. Jetzt, da die Sorge um Carline ein wenig nachließ, wagte er es, in sich hineinzuhorchen. Und er fand Angst. Mit zitternden Fingern versuchte Pat, aus seiner Jacke eine Zigarette aus der tief versteckten Packung zu kramen. Seine schwitzige linke Hand nässte das Feuerzeug, dessen Feuerstein er viermal reiben musste, bis die Flamme das Ende der Zigarette anzündete. Plötzlich wurde ihm heiß. War es möglich? Konnte das sein? Pat nahm einen tiefen Zug. Das Nikotin entspannte ihn nicht, wie er es gewohnt war. Dazu war er viel zu aufgewühlt, durcheinander und verängstigt. Pat glaubte seiner eigenen Erklärung nicht, dass die Nachbarjungs sich nur einen Streich erlaubt hatten. Er glaubte es keine Sekunde. Und doch wagte er kaum, den anderen Gedanken zuzulassen. Dabei wusste er tief im Inneren, dass diese Drohung ernster war, als er es Carline je verraten würde. Er hatte es selbst verursacht. Wie konnte ich nur so dämlich sein, dachte er zum inzwischen tausendsten Mal in den letzten Tagen. Er wusste instinktiv, dass sein einst so seriös scheinender »Geschäftspartner« dahintersteckte. Gombeen man. Er wollte es nicht. Und doch tat er es: Er dachte über seine Misere nach.

 

Voller Panik öffnete Carline ihre Augen und schreckte hoch. Sie fand sich allein auf der Couch wieder. Sie hörte Pat im Garten telefonieren. Sofort beruhigte sich ihr Atem. Ihr Herzschlag verlangsamte sich und sie sank erleichtert zurück in die Couch. Er war da. Sie wusste, er rauchte heimlich draußen eine Zigarette. Er war nie davon losgekommen, auch wenn Pat versprochen hatte, zum Umzug damit aufzuhören. Sie ließ ihm sein Geheimnis. Gerade jetzt. War sie doch nur froh, dass er geblieben war.

Carline setzte sich auf. Tief in ihrem Inneren spürte sie die Überbleibsel der letzten Panikattacke. Erschöpfung. Die Reste der Angst, die ihr jegliche Entspannung verwehrten. Ihre Gedanken wollten bereits zu der Drohung zurückkehren, doch ihre Augen suchten eine Erlösung. Ablenkung. Sie schaute die Treppe im Flur hinauf in Richtung ihres Arbeitszimmers. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Computer. Magisch schien er sie anzuziehen. Vielleicht würde sie jetzt schreiben können? Schreiben war immer ihr Trost, immer ihr Halt, ihre Kraftquelle. Würde nun Angst ihre Worte endlich wieder fließen lassen? Entschlossen schlug Carline die Decke zurück, stellte ihre Beine auf den Boden, schlüpfte mit den Füßen in die bereitstehenden Pantoffeln und erhob sich. Mit wackligen, aber zielstrebigen Schritten ging sie die Treppe im Flur hinauf bis ins Arbeitszimmer, fuhr den Computer hoch und öffnete ihr Schreibprogramm. Der Cursor blinkte auffordernd auf der leeren weißen Seite.

Entschlossen ließ sich Carline auf ihren Bürostuhl niedersinken. Sie wartete auf die Schweißperlen, die sich auf ihrer Stirn verbreiten würden. Sie wartete auf die schmerzhaften Gedanken, die versuchen würden, sich gewaltsam ihren Weg vom Gehirn in die Finger zu bahnen. Sie wartete auf das harte Schlagen der Ader in ihrem Hals. Und sie wartete auf die zitternden Finger, die nur mühsam einen Buchstaben nach dem anderen auf der Tastatur drücken würden, so als tippe ein siebenjähriges Kind seine ersten Versuche an einer Schreibmaschine.

Doch nichts davon passierte. All diese gewohnten Zeichen ihrer Blockade aus den letzten Monaten blieben aus. Stattdessen flogen ihre Finger über die Tastatur. Carline konnte es kaum glauben und traute sich nur mit einem Blinzeln auf das Ergebnis auf dem Monitor zu schauen. Ihre Augenlider schlossen sich sofort vor Schock.

I c h       e r w i s c h e       d i c h.

Auch ein Blinzeln später sah sie dieselben Buchstaben auf dem Bildschirm flackern.

D u            w i r s t      s t e r b e n      P a t M c Q u i r e.

Der Schock erreichte ihre Beine, die zu zittern begannen. Ihr Blick fiel auf ihre Hände. Immer noch flogen sie über die Tastatur und tippten die immer gleichen Buchstaben an. Carline fühlte sich nicht wie sie selbst. Vielmehr, als schaue sie sich vom Türrahmen aus selbst zu. Immer häufiger erschienen diese beiden Sätze untereinander auf dem virtuellen Papier. Wie ein Muster standen die Buchstaben synchron untereinander. Carlines Finger gehorchten ihr nicht. Wie ferngesteuert tippten sie. Und stoppten nicht. Wie eine Marionette suchten sie die Buchstaben, fanden sie und drückten sie nieder. Immer und immer wieder hämmerte Carline diese zwei Sätze in die Tastatur. Ohne es zu wollen. Ohne es stoppen zu können. Erst langsam, dann schneller. Und dann immer wilder. Nun traten doch Schweißperlen auf ihre Stirn. Sie tippte wie wahnsinnig. Haltlos. Und irgendwann vor Wut darüber, dass ihre Fähigkeit zum Schreiben verloren schien.

Erst Minuten später stoppte Carline erschöpft. Mit einem Mal hörten ihre Finger auf und gehorchten wieder ihren Befehlen.

Carline wagte kaum, auf den Bildschirm zu schauen. Über einhundert Mal hatte sie wie eine Wilde diese Wörter in den Computer getippt. Bedrohlich wiederholten sie sich immer und immer wieder. Carline wandte ihren Blick von dem Buchstabenmuster ab. Sie sank in die Stuhllehne und schloss erschöpft die Augen. Wie sollte sie weiterleben? Waren die glorreichen Tage der Schriftstellerin endgültig wobei? Nach gerade einmal 15 Jahren Karriere! Was sollte sie nun tun? Sie könnte unmöglich mit 45 Jahren schon in Rente gehen. In ihrer Vorstellung hatte sie immer bis an ihr Lebensende geschrieben und noch als weißhaarige, tattrige Alte am Computer gesessen. Doch das schien nun nur noch eine Wunschvorstellung zu bleiben. Würde sie ihrem Erfolg hinterher trauern, den sie nie für möglich gehalten hatte?

Carline konnte sich ein Leben ohne das Schreiben nicht vorstellen. Sie hatte es immer wie ein Anker in ihrem Leben gebraucht. Schon in frühester Kindheit.

Carline wuchs als Tochter eines Fabrikarbeiters und einer Kassiererin aus dem ärmlichen Viertel Blackpool in Cork auf. Sie hatte keine Geschwister. Carline vergötterte Seamus, den Mann, den sie als Vater kannte und der sie trotz ihrer Armut immer zum Lernen anspornte. Sie sollte es einmal besser haben. Er lehrte sie Schach, weckte ihre Liebe zur Natur und spornte sie sogar an, Fremdsprachen zu lernen. Carline malte nie Bilder wie andere Kinder. Schon mit zehn Jahren schrieb sie ihm stattdessen kleine Gedichte und Sprüche, Wünsche und Reime, die er immer an den Kühlschrank heftete. Die Frau, die Carline als Mutter kannte, war hingegen eine ruhige Seele gewesen. Sie sprach nie viel, verrichtete ihre Dinge schweigsam. Eine lebhafte Unterhaltung vor der Schule beim Frühstück gab es selten in ihrem kleinen Haus. Und auch als Carline am Nachmittag zurückkehrte, saß Mary meist schweigend in dem kleinen Sessel neben dem offenen Kamin. Versunken in einer Stickarbeit, die sie Tage später für kleines Geld an Nachbarn verkaufen würde.

Erst Jahre später – nach dem Unglück – begriff Carline, dass ihre Mutter unter Depressionen gelitten haben musste. Carline bevorzugte auch noch heute, den Selbstmord ihrer Mutter als Unglück zu bezeichnen. Sie war 13 Jahre alt gewesen, als Seamus seine Frau mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Dusche fand. Carline schrie, als sie hinter ihm den entsetzlichen Anblick wahrnahm. Die gesamte Dusche war blutverschmiert. Ihre Mutter lag zusammengesunken auf dem Boden, der Duschvorhang war abgerissen und bedeckte blutig ihre Beine. Nie würde Carline die aufgerissenen, ins Leere starrenden Augen ihrer Mutter vergessen.

Carlines Vater sprach nie über den Tod seiner Frau. Nicht in den Tagen bis zur Beerdigung. Nicht in den Wochen und Monaten danach. Nur ein einziger Satz kam ihm je über die Lippen – betrunken, am Abend der Beerdigung in der dunklen Küche. Carline hatte einen Tee vor ihm auf den Tisch gestellt, den Seamus nicht anrührte. Sie saß ihm schweigend und weinend gegenüber und fragte verzweifelt, wie Gott das zulassen konnte. Seamus Antwort sollte sie nie vergessen.

»Wenn es Gott gäbe, würde er uns nicht so viel Leid zufügen.«

Danach gestaltete sich das Leben umso härter. Um die Haushaltskasse aufzufüllen, begann Carline bei der Zeitung zu arbeiten, schrieb Kleinanzeigen. Für Freunde war keine Zeit. Nicht, dass sie davor je viele von ihnen gehabt hätte. Doch nach dem »Unfall« waren es umso weniger. In den wenigen Minuten am Tag, die sie für sich selbst hatte, nahm sie Zettel und Stift und begann ihr Spiel: »Was wäre, wenn?« Carline erschuf sich ihre eigene Welt, denn in der Realität waren die Tage hart, trist und immer gleich. Fast unbemerkt machte sie ihren Schulabschluss. Niemand überreichte ihr ein Geschenk, niemand richtete eine Feier für sie aus. Nur ein Päckchen lag auf ihrem Bett. Eine kleine Schmuckschatulle. Den größten Schatz, den Carline je in ihrem Leben besitzen würde. Erst spät begann Carline ein Studium am University College in Cork, denn sie verdiente zunächst einige Jahre Geld, um die Haushaltskasse weiter zu entlasten. Bis Seamus sie eines Tages drängte, sich endlich doch einzuschreiben. Doch auch auf dem College fühlte sich Carline immer wieder als Außenseiterin. Ihre einzige Freude in ihrem Leben war das Schreiben. Inzwischen schrieb sie sogar bei der Zeitung eine kleine Kolumne. Dank Martin Donnell, ihres neuen Chefs, der gerade das Lokalressort übernommen hatte. Als sie in Michael ihre erste große Liebe kennenlernte, dachte sie, nun endlich auf der schönen Seite des Lebens angekommen zu sein.

Bis das Haus ihres Vaters brannte.

Mit ihm darin.

Niemand konnte je herausfinden, ob der Brand nicht sogar gewollt war. Nach dem Brand kehrte auch Michael ihr den Rücken zu. Plötzlich. Ohne Begründung. Carline war nun völlig auf sich allein gestellt. Einsam. Verlassen. Traurig.

Carlines einziger Trost blieb das Schreiben. Weitere Geschichten entstanden, einen Romanentwurf schrieb die Schreibmaschine fast von selbst. Eines Tages war die 400 Seiten lange Liebesgeschichte einfach beendet. Sie hatte sie wie einen Film vor Augen gehabt, konnte darin vor- und zurückspulen, um sie detailliert in die Tasten zu tippen. Der Roman schrieb sich fast von allein. Denn Carlines Fantasiewelt war die einzige Welt, die sie zu retten schien. Wenn sie schrieb, war sie tief in dieser Welt versunken. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie nie wieder daraus aufgetaucht. So schrieb die inzwischen fast 30-jährige Carline jede freie Minute an ihren Geschichten und Romanentwürfen. Doch nie hätte die junge Frau geglaubt, davon je ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Bis Martin Donnell zufällig ihr Manuskript fand. Er sah für seinen Schützling darin die große Chance und drängte sie, bis sie sich mit dem Treffen mit einem Verleger einverstanden erklärte. »Rausch der Sinne« schlug ein Jahr später in der irischen Literatur ein wie eine Bombe. Als hätten alle Hausfrauen der Insel auf diese Träumerei von der großen Liebe nur gewartet. Unzählige Bücher folgten dem Erstlingswerk in den letzten 15 Jahren. Plötzlich war Carline eine Berühmtheit, von Fans bei Signierstunden umzingelt. Selbst ihre Nachbarin, die nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte, kam ein Jahr nach Erscheinen zu ihr, um sich ihr Erstlingswerk signieren zu lassen. Weil sie doch nun ihren Brian gefunden hatte, fast wie im Buch, und endlich in ein Häuschen umziehen würde. Wie hatte Carline sie damals beneidet. Denn sie war immer noch allein.

 

Vorbei, alles vorbei, dachte Carline nun verbittert. Sie fuhr den Computer wieder runter, ohne zu speichern. Carline wusste, sie würde nichts schreiben. Nichts schreiben können. So wie in all den letzten freudlosen Monaten voller Verzweiflung. Ihr Trost war versiegt. Der einzige Satz, den sie zu tippen fähig war, drückte zugleich ihre größte Angst aus: die Liebe ihres Lebens zu verlieren. Den Mann, der sie gerettet hatte. Ihr einziges Glück. Ihren Halt. Patrick McQuire. Ein einziger Satz ließ sie nun erschaudern. Oh bitte, lass es wirklich nur ein Streich der Nachbarjungen sein, flehte sie stumm. Carline trat ans Fenster. Pat schritt immer noch im Garten auf und ab. Er gestikulierte wild.

»Dann lass dir etwas anderes einfallen.« Er schrie ins Telefon und war so laut, dass seine Stimme durch die Fensterscheibe drang. Sein Gesicht war von Wut geprägt. Sah sie auch Angst darin?

Sie hatte Angst. Sie fühlte immer noch die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ihr Körper fröstelte. Eine unangenehme Gänsehaut schlich sich von ihren Waden den gesamten Körper hinauf. Ihr Blick verschwamm für den Hauch einer Sekunde. Eine gefährlich drohende Seilschlinge blitzte vor ihrem inneren Auge auf: von Blut triefend. Rot. Stark. Bereit. Carline blinzelte es weg. Stumm starrte ihr Computer sie wieder an. Ein Knall. Ein Schuss? Nein. Nur das Knacken der Heizung. Carline schüttelte den Kopf, als wolle sie ihre Geister loswerden.

Nein, das durfte alles nicht sein. Sie könnte nicht ohne Pat weiterleben. Sie würde es nicht verkraften, ihn zu verlieren. Sie durfte den Mann nicht verlieren, der wie ein Wunder damals in dem Coffeeshop vor ihr gestanden hatte. Alles an ihm schien groß zu sein. Er hatte große Hände, große Füße, große Augen. Und doch entschuldigte er sich rührend wie ein kleiner Junge, dass er ihren Kaffee verschüttet hatte.

»Das macht doch nichts. Ich kaufe mir einfach einen neuen«, hatte Carline damals verlegen reagiert.

»Bestimmt nicht. Das übernehme ich. Das ist ja wohl das Geringste«, erwiderte der groß gewachsene Mann mit einem warmen Lächeln. Seine tiefe Stimme hatte sie überrascht. Sie ließ ihn gewähren, auch wenn sie längst zurück in der Redaktion hätte sein müssen. Nur ein Kaffee, dann würde sie gehen. Denn bestimmt hätte dieser Schönling damit schnell sein schlechtes Gewissen beruhigt und kein weiteres Interesse an ihr. So wie alle Männer in ihrem Leben. Warum auch? Sie hatte nichts zu bieten.

»Patrick O'Connor, doch alle nennen mich nur Pat«, stellte er sich schließlich vor und gab ihr einen neuen Becher.

»Carline McQuire. Aber ich muss jetzt weit-«

»Nein. Ernsthaft? Die Carline McQuire? Die Schriftstellerin?«

Sie nickte nur ein wenig.

»Oh Gott, meine Schwester vergöttert Sie. Sie hat all Ihre Bücher gelesen.«

Carline errötete. Nach all der Zeit war sie an den Ruhm immer noch nicht gewöhnt. Und es war ihr immer noch peinlich.

»Es ist toll, Sie kennenzulernen«, er streckte ihr seine Hand entgegen. Es wäre unhöflich gewesen, sie nicht anzunehmen.

»Ich muss das Malheur unbedingt wiedergutmachen. Gehen Sie mit mir essen.«

»Nein. Ich … äh … ich kann nicht.«

»Oh doch. Bitte. Morgen Abend? Ich kann sie abholen. Sie arbeiten doch noch immer bei Irish Examiner.«

Dieser Satz ließ Carline aufgeben. Er wusste, wer sie war. Er wusste, wo sie immer noch halbtags für ihre Kolumne arbeitete. Er würde dort einfach auftauchen. Carline wusste, sie konnte diesen Mann nicht versetzen. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie auch nicht.

Ein Glück, schoss es ihr durch den Kopf, als sie Pat nun zurück auf die Terrasse kommen sah. Er hatte Lebendigkeit in ihr Leben gebracht. Er hatte Freude mitgebracht. Liebe. Glück. Carol, seine Schwester, die sich erst an die vergötterte Schriftstellerin in der Familie gewöhnen musste, aber letztendlich sogar als Carlines Trauzeugin agierte. Pat nahm sogar aus Rücksicht auf ihre Karriere ihren Namen bei der Hochzeit an. Es war alles so perfekt gewesen damals. Wieder einmal hatte Carline gedacht, endlich auf der schönen Seite des Lebens angekommen zu sein.

»Du bist ja wach.« Pat riss sie aus ihren Gedanken. Immer noch mit rotem Gesicht trat er nun durch die Terrassentür ins Innere. Carline versuchte längst, sich einen Tee in der Küche zu machen.

»Ja.« Mehr konnte sie nicht erwidern. Zu gespalten waren Carlines Gefühle. Einerseits war sie voller Liebe, andererseits voller Sorge. Sie schaute ihrem Ehemann schweigend ins Gesicht. Pats Augen sahen trüb aus. Unglücklich.

»Sean kommt später vorbei. Er hat versprochen, sich die Jungs zu schnappen.«

Also hatte Pat mit ihm gesprochen. Sean, der Polizist des Dorfes, der schon längst in Rente war. Doch immer noch gingen alle Bewohner bei Problemen zu ihm, statt auf die Station nach Waterville zu fahren.

Carline goss Wasser in den Teebecher. Schweigend tunkte sie den Teebeutel immer wieder in die heiße Flüssigkeit. Sie blieb stehen und starrte verzweifelt auf den Fußboden. Nach einigen Minuten nickte sie als Zustimmung.

»Ich habe Angst«, gestand Carline. Ihre Hände fingen augenblicklich wieder an zu zittern. Geistesabwesend rieb sie über ihre Narbe.

»Ich weiß«, antwortete Pat weich. »Aber dazu gibt es wirklich keinen Grund.« Er trat direkt vor sie. War sein Tonfall überzeugend? Verzweifelt suchte Pat in ihrem Blick eine Bestätigung, dass sie ihm glaubte. Doch er fand nichts. Wie auch? Er glaubte sich ja selbst nicht. Er hatte ja selbst Angst.

»Du solltest deine Medikamente nehmen.« Er strich ihr sanft über das Haar, bevor er zum Küchenschrank ging, in dem die Hausapotheke zu finden war. Eine Tablette und eine Tasse Tee später legte sich Carline in ihr großes Doppelbett. Wie ein Baby rollte sie sich in die Decke ein. Pat verdunkelte die Fenster.

»Schlaf gut, Liebes«, wünschte er ihr, küsste sie auf die Stirn und verließ dann leisen Schrittes ihr gemeinsames Schlafzimmer.

Schlaf wäre heilsam, schoss es Carline durch den Kopf. Sie wünschte so sehr, dass er alles von ihr nähme.

Keine Angst mehr.

Keine Drohungen.

Keine Zettel.

Sie wünschte sich so sehnlich Unmengen neuer Wörter, die sie endlich wieder niederschreiben würde.

3. Kapitel

Pat schüttelte Seans Hand.

»Danke, dass du gekommen bist.«

»Kein Problem. Das mache ich gern. Ich rede mit den McDonnalds.« Pat nickte als Zustimmung.

Die Männer standen auf der Terrasse, nebeneinander wie Freunde, und schauten zum Meer hinunter. Der Fischkutter fuhr gerade zurück in den Hafen ein. Auf die Minute pünktlich, wie jeden Tag. Punkt 20 Minuten vor vier Uhr verließ er täglich die Fischerfarm vor Scariff Island, um heimzukehren. Schweigend sahen die Männer dem Tanker zu. Pat klammerte sich regelrecht an das beruhigende Bild. Das war Alltag. Es bedeutete Normalität.

Sekunden später erinnerte er sich des Glases in seiner Hand. Augenblicklich war jede Normalität weggewischt.

»Es ist nie zu früh, wenn man einen Drink braucht«, hatte Sean gesagt, als er ihm das Glas unaufgefordert im Wohnzimmer eingeschenkt hatte.

»Gibt es denn einen Grund, warum dir jemand drohen könnte?« Sean schaute ihn skeptisch an. Pat sah den Instinkt eines Polizisten in dessen Augen flackern.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete er hastig. »Was soll es denn für einen Grund geben?«

»Keine Ahnung.« Sean zuckte mit den Schultern und schaute zurück auf das unruhige Meer. »Ich habe in meinen Dienstjahren die unglaublichsten Dinge erlebt. Alles ist möglich.«

Pat fuhr ein Schauer über den Rücken. Allein die Betonung des Wortes »Alles« sorgte dafür. Pat wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hoffte inständig, dass Seans Instinkt mit dem Ruhestand nachgelassen hatte. Der alte Garda würde ihm nicht helfen können. Nicht bei einem Gombeen.

»Wie geht es Carline jetzt?«, fragte Sean nun, ohne seinen Blick vom Meer zu nehmen.

»Sie ist ruhiger. Hat sich hingelegt.«

»Das geht so nicht weiter, Patrick.«

»Ich weiß.« Mutlos nippte Patrick am Whiskey. »Lass uns ein Stück laufen. Vielleicht finden wir den Zettel.«

Sean schritt zur Bestätigung wortlos auf die Treppe zu. Keiner der Männer verschwendete auch nur einen Hauch von Gedanken daran, den Whiskey abzustellen. Nebeneinander schritten sie schweigend die Straße zum Bunavalla Pier hinunter, sorgsam die Augen auf den Boden geheftet.

»Vielleicht sollte der Arzt ihre Medikamente verändern?«, sagte Sean fast beiläufig. Doch der Satz hing schwer wie Blei in der Luft. Pat schaute ihn erstaunt von der Seite an.

»Woher-«

»Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass niemand die zweimaligen Fahrten pro Woche nach Cork bemerkt? Petty hat sie vor der Praxis gesehen.«

»Verstehe.« Pat nippte erneut resigniert am Glas. Das also zum großen Umzugsplan, der alles wieder richten sollte. Alles vergebens? Würden die alten Zeiten nie wieder zurückkehren?

Er hatte alle Hoffnung in die Therapie gesetzt. Dr. Frank Mitchel war ihm wie eine Erlösung vorgekommen. Schon vor dem Umzug nach Caherdaniel hatte Pat Carline das erste Mal in seine Praxis geführt. Es war seine Bedingung gewesen, dass er dem Umzug überhaupt zustimmte. Ohne Therapie kein Umzug. Neuanfang nur mit professioneller Begleitung. Denn Pat war mit dem Zustand seiner Frau allein völlig überfordert. Er hätte nicht mehr länger gewusst, wie er ihr hätte helfen können. Dr. Mitchels verständnisvolle Art brachte sie schnell zum Erzählen. Sie schien ihm zu vertrauen und auch die Medikamente schienen anzuschlagen. In diversen Einzelgesprächen ließ Dr. Mitchel Pat über den Zustand seiner Frau nicht im Unklaren: Depressionen. Panikattacken. Eine gequälte Seele, die Hilfe bräuchte. Aber nichts, was er nicht mit Zeit und Tabletten in den Griff kriegen könnte, sodass sie wieder die Chance auf ein ausgeglichenes, glückliches Leben hätte. Zum ersten Mal seit Monaten hatte Pat damals aufgeatmet. Doch er hatte nicht geahnt, dass Dr. Mitchel sehr viel Zeit damit gemeint hatte. Und nach so vielen Monaten schien es nun eher wieder schlimmer, statt besser zu werden. Würde es je wieder aufhören?

»Keine Sorge. Sie hat es nur mir erzählt. Und ich kann schweigen, wie du weißt.«

»Danke«, brachte Pat nur kurz heraus. Er wusste, dass Sean keinen Klatsch verbreitete, bei seiner Frau Petty war er sich da nicht so sicher. Das war der Grund, warum er mit ihm befreundet war. Für einen Polizisten brachte er ihm sehr viel Vertrauensbonus ohne lästige Fragerei entgegen. Sie passierten gerade ihr Haus an der großen 90-Grad-Kurve auf dem Weg zum kleinen Hafen. Weit und breit war kein Stück Papier zu sehen.

»Ist bestimmt nicht immer leicht.« Sean prostete mit seinem Glas dem Meer zu. »Aber wenn jemand das schafft, dann ihr.«

Da war sich Patrick McQuire nicht ganz so sicher. Sie schienen Jahrhunderte her zu sein, die Zeiten, in denen sie so glücklich waren. Sie hatten einen lebendigen Alltag gehabt, als er in ihr Apartment direkt am Lee eingezogen war. Es wurde nie langweilig. Das Paar genoss zahlreiche Abende auf der Terrasse mit seinen Freunden und der Familie. Carline hatte keine Freunde, keine Familie mehr. Und dennoch war sie lebenslustig, sie genoss die neue Gesellschaft sichtlich. Es war nie langweilig mit einer Schriftstellerin, auch wenn ihre Liebesromane nicht zu seiner Lieblingslektüre zählten. Und doch hatte Pat sie alle gelesen: »Im Schatten der Akazie«, »Zwei Herzen, eine Rose« oder »Bringt der Fluss die Liebe?«. Carlines Fantasie schien ohne Grenzen zu sein. Eine spontan erfundene Geschichte zum Frühstück, ein ausführliches, lustiges Bild beim Abendessen. Er mochte ihr »Was-wäre-wenn-Spiel«. Und auch im Bett kam ihm ihre ausschweifende Fantasie zugute. Doch es gab auch Schattenseiten, die immer mehr zunahmen. Pats Ratlosigkeit dehnte sich immer weiter aus.

»Wenn sie an einem Buch arbeitet, ist Carline manchmal tagelang abwesend und nicht ansprechbar«, erzählte Pat plötzlich und überraschte sich selbst. Außer mit seiner Schwester Carol hatte er diese Sorgen noch nie geteilt. Doch zwischen den Männern herrschte an diesem Nachmittag ein unausgesprochenes Band. Pat konnte nicht anders, wenn er nicht irgendwann innerlich explodieren wollte.

»Als wäre sie der Realität entrückt, eingetaucht in ihre Romanwelt. Dann spricht sie mich sogar plötzlich mit einem anderen Namen an«, fuhr er fort.

»Ernsthaft?« Sean runzelte die Stirn. »Du bist dir sicher, dass dahinter kein Liebhaber steckt?«

»Nein.« Nun musste Pat lachen. »Das mit Sicherheit nicht. Es sind ihre Romanhelden, mit denen ich konkurriere. Nicht mit realen Affären.«

»Eine unfaire Konkurrenz«, konstatierte Sean. »Romanhelden können perfekt sein.«

Doch das war es nicht, was Pat am meisten störte. Ihm fehlte seine Frau. In solchen Phasen erinnerte sie sich plötzlich nicht mehr an Verabredungen und vergaß die einfachsten Besorgungen. Würde Pat ihr nicht das Essen hinstellen, würde sie auch dies vergessen. Nachts sprach sie wild in ihren Träumen und stieß weitere fremde Namen aus. In diesen Zeiten war Carline einfach nicht in ihrem täglichen Leben anwesend. Als wäre sie völlig in ihrer erfundenen Welt versunken.

»Der Kopf hört einfach nicht auf«, hatte sie ihm einmal versucht zu erklären. Doch der Immobilienmakler in ihm konnte sich das nur schwer vorstellen. Es war ein Balanceakt, das Leben mit einer Schriftstellerin. Vor allem, seit das Glück eines Tages einfach aus dem Apartment am Lee ausgezogen war. Ihr Kinderwunsch veränderte alles. Pat verstand seine Frau, sie wäre mit 38 Jahren bereits spätgebärend gewesen. Doch nichts geschah. Hilflos schauten beide zu, wie Pats Schwester Carol heiratete, mit Freuden ihre Schwangerschaft verkündete und aufs Land zog. Kollegen und Freunde taten es ihnen gleich. Nur bei Pat und Carline sollte kein Nachwuchs kommen – außer den Kindern in ihren Liebesromanen, die fast magisch parallel zu Carols Zwillingen geboren wurden. Auch sie waren rothaarig, zweieiig und zuckersüß. Zu süß für Carline. Seine Frau driftete immer mehr in ihre Fantasiewelt ab. Seit der alles erklärenden Diagnose schien sie ganz in sich versunken zu sein. Carline sah überall schlechte Omen, Rache der Vergangenheit, Strafen für ihre Fehler.

»Ich wollte mit ihr zu einem Priester«, erzählte Pat weiter.

»Und?«

»Sie hat mich ausgelacht. Ihre Antwort war kurz und simpel: 'Wenn es Gott gäbe, würde er uns nicht so viel Leid zufügen.'« Pat zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wie sie das gemeint hat. Aber ich habe nichts mehr weiter vorgeschlagen. Zumindest eine Weile.«

Pat konnte nur zuschauen, wie seine Frau sich immer weiter zurückzog. Das Heim zeigte sich immer ruhiger. Vor drei Jahren war ihr letzter Roman erschienen. »Und ewig klopft das Glück« war erneut ein großer Erfolg gewesen, doch seine Frau konnte sich zum ersten Mal nicht mehr daran erfreuen. Sie blieb traurig, vereinsamt und depressiv. Das darauffolgende Weihnachten entwickelte sich zur Katastrophe. Carline weinte fast eine Woche lang. Pat beschwor seine Frau, zu einem Arzt zu gehen, sie hingegen flehte, dass sie wegziehen wolle. Aufs Land, nach Kerry.

»Deswegen sind wir nun hier«, fuhr Pat fort.

»Ging es denn so einfach, dein Geschäft von Cork nach Waterville zu verlegen?«

»Es musste. Welche Wahl hatte ich denn?« Pat schüttelte den Kopf, um die permanenten Existenzängste loszuwerden, die ihn seit dem Umzug begleiteten. Besonders in den letzten Wochen. Ein Schauer rann seinen Rücken hinab, wenn er an das horrende Darlehen dachte.

Carline zählte mehr als jedes Geld der Welt. Er bezahlte sogar die teure Psychotherapie in Cork. Wie, war ihm ein Rätsel. Er betete, dass sie ihre Fantasie wieder für das Positive benutzen würde. Er brachte ihr sogar eines Tages eine Katze mit, die sie »Cherry« taufte, des rötlichen Fells wegen. Damit sie nicht so einsam im Haus wäre.

»Wir konnten die Anzahlung auf das Haus zahlen«, fuhr Pat fort. »Also habe ich es ihr zuliebe einfach versucht.« Der einzige Trost: Er wusste, sie würden nicht ohne ein Dach über dem Kopf dastehen. Mit dem Umzug in das neue Heim begann Carline sogar wieder, an einem neuen Roman zu arbeiten. Pat hoffte. Doch das Buch hätte schon im vergangenen Herbst erscheinen sollen. Es erschien nicht.

»Schau. Da liegt etwas!« Sean riss ihn aus seinen Gedanken. Die Dämmerung brach langsam an und das Licht schwand. Und doch konnte auch Pat den weißen Zettel am Straßenrand entdecken. Sie waren gerade an der Kreuzung zu Morans Farmhouse angekommen. Dort, wo die Straße sich verbreiterte. Seltsam, dass niemand den Zettel aufgehoben hatte, dachte Pat. Doch waren in diesen Frühlingstagen noch nicht viele Touristen im B&B, die hinunter zum Hafen wanderten.

Wortlos reichte Sean Pat sein inzwischen leeres Whiskeyglas, holte eine kleine Plastiktüte und ein Taschentuch aus der Innentasche seiner Jacke.

»Immer ausgerüstet, was?« Pat musste grinsen.

»Angewohnheit.« Sean nahm den Zettel mit dem Taschentuch und steckte ihn in die Tüte.

»Zeig mal her«, Pat stellte eilig die Gläser auf die Mauer neben sich und griff ungeduldig nach dem Fund. Auf den ersten Blick schien es ein beliebiger weißer Zettel zu sein. Quadratisch. Ein Knick in der Mitte, der bereits Falten nach rechts und links zog. Die Kanten waren glatt, nicht gerissen.

»Wie von einem Block«, murmelte Pat. Carline selbst hatte solch einen Zettelblock auf ihrem Schreibtisch stehen und immer Zettel davon einstecken, um sich auch unterwegs Notizen zu machen.

»Kennst du die Handschrift?«, fragte Sean, der ähnliche Gedanken hatte.

»Es ist nicht ihre.« Pat war sich jedoch nicht sicher. Er drehte das Blatt Papier in der Plastiktüte mehrfach hin und her. Die Worte standen mit blauer Tinte geschrieben, krakelig, aber fett nachgezogen. Es war ein beklemmendes Gefühl seinen Namen in der zittrigen Linienführung zu lesen. Carline bevorzugte Kugelschreiber. Schwarze Tinte. Ihre Handschrift war weich, geschwungen und hatte rein gar nichts mit den Worten auf dem Zettel zu tun. Und doch kritzelte sie manchmal ebenso krakelig auf Notizblöcken herum. Wenn sie gerade versunken war. Abwesend. Nicht hier.

»Könnte von Kinderhand stammen«, murmelte nun Sean überlegend vor sich hin. Pat nickte nur. »Ich nehme ihn mit und statte den McDonnalds nachher einen Besuch ab, wenn die Kids von der Schule zurück sind.«

Pat verstand. Es war ihm deutlich lieber, wenn Ron oder Marvin noch heute Abend zugaben, sich diesen Streich ausgedacht zu haben. Auf wundersame Weise war Pat ein wenig beruhigt – der Fund des Zettels bewies, dass Carline sich zumindest nichts eingebildet hatte. Den Schock konnte er ihr jetzt nur umso mehr nachempfinden.

Wortlos machten sich beide Männer auf den Rückweg. Pat reichte Sean sein noch immer halb volles Whiskeyglas und behielt das leere. Schweigend liefen sie die Straße hinauf, bis sie Seans Haus an der 90-Grad-Kurve erreicht hatte.

»Samstag Golf?«, fragte dieser zum Abschied.

»Ich weiß es noch nicht. Ich würde gern. Aber-«

»Verstehe schon. Ich kann Petty hochschicken.«

»Wir werden sehen.«

Wenn ich dann noch lebe, schoss es Pat durch den Kopf. Er fühlte eine unerklärliche Kälte. So sehr er auch vorgehabt hatte, die Drohung nicht ernst zu nehmen, so wenig gelang es ihm. Die geschriebenen Worte zu lesen, war ihm unter die Haut gegangen. Und bis Samstag war noch eine Ewigkeit, in der viel passieren konnte.

 

Déanann sí botún - Sie machte einen Fehler.

Ich sehe sie hoch oben auf den Klippen. Es würde nicht mehr lange dauern. Sie ist zu nah am Rand. Ein Schritt zu viel – das würde der Fauxpas sein. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und ich kann nichts dagegen tun.

Es ist kalt. Das hatte ich so nicht erwartet. Man könnte ja meinen, dass jegliche Unannehmlichkeiten nachher verschwunden seien. Kein Hunger mehr, keine Müdigkeit mehr, kein Frieren mehr. Doch nicht alles ist so im Anderswo, wie man es sich vorgestellt hätte. Ich hatte in meinem Leben schon viel Kälte erleiden müssen. Nun gut. Ich muss wohl weiter frieren. Cac.

Kalte Tage und Nächte für dich ohne Feuer! Ein Singsang zu meinen Füßen.

Oinshee, zische ich. Sei ruhig. Das Meer ist heute wieder zu hinterhältigen Taten aufgelegt.

Aber die Kälte macht mir gerade nicht so viel aus. Ganz im Gegenteil zu meinem Nachthemd. Quälend weht es mir leicht um die Beine, kitzelt auf meiner Haut. Es ist viel zu dünn für diese Kälte. Warum an ifreanntrage ich es überhaupt?

Man hätte ja meinen können, dass man sich aussuchen könnte, was man tragen wollte. Dann hätte ich mein Sonntagskleid gewählt. Ich hatte es geliebt, diesen bodenlangen, bordeauxroten Samtrock eng um meine junge Taille herum zu spüren. Ein buntes Tuch darum, der Ausschnitt spitz. Eines Tages wollte ich Rüschen darauf nähen. So wie Ann-Cathrine es bei ihrem Kleid gemacht hatte. Dazu trug ich immer ein wunderschönes dunkelviolettes Schultertuch. Ich liebte mein Sonntagskleid. Nie im Traum wäre mir eingefallen, jetzt mein altes, zerschlissenes weißes Nachthemd zu tragen.

Frau Mutter hat es mich immer zur Strafe tragen lassen.

Sollte meine Strafe nun ewig anhalten?

Eine bean sí spürt keine Temperaturen, hatte mir Frau Mutter irgendwann einmal beigebracht. Eine bean sí schwebt. Sie steht nicht. Nun ja, Frau Mutter, nicht immer. Das Kleid einer bean sí konnte nicht auf der Haut kitzeln. Aber es kitzelt. Und mir ist nun mal kalt.

Alles Blödsinn. Wer konnte schon die Wahrheit erzählen, ohne je selbst da gewesen zu sein? Also vorher? Jetzt weiß ich es besser. Besser als Frau Mutter. Im Nachhinein. Im Anderswo.

Auch wenn sie noch so viele Bücher gelesen hatte, auf jede Frage eine Antwort wusste und immer mehr lehrte und lernte – sie hatte ja doch keine Ahnung. Sie erzählten alle nicht die Wahrheit. Weder in den Geschichten noch in den Legenden.

Mein Haar ist immer noch rot.

Es ist anders. Ganz anders. Im Anderswo.

Ich werfe einen langen Schatten auf das farraige. Es ist unruhig. Es ist einsam. Es sind nicht viele Lebende am Strand heute. Ich kann seine Wut spüren. Mit Wucht schlägt es an meine Knöchel. Ich hätte ebenso nicht gedacht, dass das Meer mein bester Freund werden würde.

Kalte Tage und Nächte für dich ohne Feuer!

Mein Freund singt wieder. Voller Hohn. Voller Spott. Das Meer liebt es, sich über mich lustig zu machen.

Sei still, zische ich ihm erneut entgegen. Ich bin beschäftigt.

Ausrede. Ausrede, hallt der Wind nun. Du kannst es ja doch nicht aufhalten.

Das sind mir zwei beste Freunde. Das Meer und der Wind. Immer liegen sie im Streit. Immer muss jemand schlichten. Und meist bin ich dann diejenige, auf die zum Schluss beide böse sind. Und es ist meine Schuld.

Gleich ist es so weit. Sie ist fast am Rand angekommen. Begierig schaut sie auf das kleine Ding in ihrer Hand, nicht auf ihre Füße. Das Meer ruft sie. So laut es kann. Und doch fehlt noch ein bisschen.

Sie sehen mittlerweile alle gleich aus. Hier gibt es komische Angewohnheiten. Auch Frauen tragen nun Hosenkleider – ein merkwürdiger Anblick. Sie trägt ebenfalls eins. Schwarz. Wie langweilig. Auch das Oberkleid ist dunkel gehalten. Gibt es denn keine bunten Kleider mehr? Fast wünschte ich mich den einen kleinen Wimpernschlag zurück in meine Zeit. Dorthin, wo nur Männer Hosen und Strümpfe trugen. Zu meiner Zeit wäre sie niemals allein dort oben unterwegs gewesen. Ohne Sonnenschirm. Ohne Gouvernante. Ohne fear. Doch meine Zeit war einen ganzen Wimpernschlag entfernt. Man hätte ja meinen können, dass ich selbst bestimme, zu welcher Zeit ich sein wollte.

Alles gelogen.

Im Anderswo.

Nun dauert es nur noch einen Moment. Ich kann spüren, wie der Wind ein wenig nachhelfen will. Er liebt es, zu spielen. Es fehlt nur ein Hauch. Und das Meer breitet bereits seine Arme aus. Weit. Offen. Verlangend. Ich kann nur zusehen. Der kleine Stoß von hinten. Ich sehe ihn.

Hör auf, will ich dem Wind entgegenrufen. Doch wie immer kommt nur ein Kreischen über meine Lippen. Man hätte ja meinen können, dass man seine eigene Stimme behalten darf. Nachher.

Im Anderswo.

 

Eine Träne rann Carlines Wange herunter. Weniger der Geschichte wegen, sondern vielmehr angesichts der Fülle an beschriebenen Seiten. Sie konnte kaum glauben, was sie da auf dem Papier vor sich sah. Begierig lasen ihre Augen die Zeilen, die der Drucker ausgespuckt und teilweise quer im Raum verteilt hatte. Sie krallte sich an dem Taschentuch fest, das sie beim Lesen aus dem Karton ziehen musste, um nicht in ihre Hände zu schniefen. Auf eine seltsame Weise fühlte sie die Geschichte. Sie fühlte das Mädchen im Nachthemd. Sie fühlte das kommende Unheil.

Wow, dachte sie bei sich. So viele Sätze hatte sie seit Ewigkeiten nicht geschrieben. So viele Wörter. Dabei konnte sie sich nicht erinnern, dass sie den Computer wieder hochgefahren hatte. Sie konnte sich auch nicht erinnern, irgendetwas geschrieben zu haben. Doch offenbar musste sie das getan haben. Irgendwann in den letzten drei Tagen. Es stand schwarz auf weiß vor ihr.

Und es war gar nicht schlecht, fand sie auf den ersten Blick. Vielleicht müsste man noch ein wenig an der Sprache feilen, vielleicht weniger irische Ausdrücke verwenden. Auch die Perspektive fand Carline ein wenig beklemmend. Wusste der Leser denn damit umzugehen?

Die Schriftstellerin in ihr zermarterte sich bereits das Hirn über mögliche Verbesserungen, bis sie die Erkenntnis wie ein Schlag traf.

SIE HATTE GESCHRIEBEN.

Das Gefühl in ihrer Brust war nicht zu greifen. Carline wusste nicht, ob sie nun lachen oder weinen sollte.

An diesem Samstagvormittag erschienen plötzlich wieder Worte auf ihrem Computer, ausgedruckt auf Papier. Viele. Zahlreiche. Mehr, als sie insgesamt in den letzten Monaten zustande gebracht hatte. Sie passten zusammen. Sie wirkten durchdacht. Sie waren wohlformuliert. So wie all ihre Geschichten einst vor ihrer Schreibblockade. Sollte diese endlich zu Ende sein? Hatte Carline einen Weg gefunden, sie zu beenden? Wie?

Eigentlich hatte sie heute vorgehabt, sich mit aller Macht ihrer Panik zu stellen. Sie hatte sich zum Schreiben zwingen wollen. Beim Aufstehen hatte sie jedoch keine Ahnung gehabt, dass sie das längst getan hatte.

Es waren drei Tage vergangen, seit sie den Zettel gefunden hatte. Drei Tage, die sie verschlief. Carline hatte sogar die Sitzung in Cork ausfallen lassen. Sie wollte nicht an die unheimlichen Worte denken, die sie gefunden hatte. Nicht an die Bedeutung, nicht an mögliche Folgen. Jedes Mal, wenn ihre Gedanken zu ihrem grausamen Fund gewandert waren, lenkte sich Carline schnell ab. Bis ihre Medikamente wirkten und sie schließlich ihre Sorgen wieder verschlafen konnte. Carline ignorierte, was sie nicht verarbeiten konnte. Sie ignorierte ihre Angst, die immer noch tief in ihr schlummerte. Betäubt.

Pat war nur selten und kurz ins Büro gefahren. Die meiste Zeit blieb er zu Hause. Ron und Marvin stritten ab, den Zettel geschrieben zu haben, doch Pat betonte immer wieder, dass er ihnen nicht glaubte. Und trotzdem hatte er Carline argwöhnisch kaum aus den Augen gelassen. Bis sie ihm gestern Abend unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie keinen Aufpasser bräuchte. Er könne beruhigt zu seiner samstäglichen Golfrunde gehen. So langsam kam sie sich selbst lächerlich vor. Sie wollte keine bedrohlichen Bilder mehr vor Augen sehen. Sie wollte nicht mehr in jedem Geräusch einen Schuss hören. Carline wollte nicht mehr in Angst leben. Zittrig. Schwach.

Und doch quälte das Gefühl des bevorstehenden Unheils sie tief in ihrem Inneren. Es wollte nicht verschwinden. Auch Pat wirkte auf sie verängstigt, dachte Carline eines Abends plötzlich, nur um diesen abwegigen Gedanken schnell wieder zu verwerfen.

Erscheine stark, wenn du schwach bist. Ihr Mantra hallte diesen Morgen einmal mehr in ihrem Kopf. Es war Zeit, wusste Carline schließlich. Sie konnte sich ja nicht ewig verstecken. Und so hatte sie beschlossen, das Schreiben nun mit aller Macht zu versuchen. Pat war mit Sean zum Golfplatz aufgebrochen, als Carline mit einer Tasse Tee erneut ihr Arbeitszimmer betreten hatte.

Und nun hielt sie bereits bedruckte Seiten in ihren Händen.

Wie konnte das sein?

Wann?

So fremd die Zeilen ihr waren, so unbekannt war auch die Hauptfigur. Carline hatte noch nie von einem Mädchen im Nachthemd in all den Geschichten und Legenden in Kerry gehört. Natürlich wusste sie, was eine bean sí war – die Geisterfrau lernte jedes irische Kind irgendwann einmal kennen. Genauso, wie sie den fear dearg kennenlernten – den roten Mann mit seinen spitzen Ohren, der Knollennase und dem roten Mantel. In manchen Kinderbüchern reichte sein weißer Bart bis zum Boden.

Carline mochte diese Märchen nicht. Sie mochte auch die Gestalten darin noch nie. Umso verwunderter war sie: Woher kam dann dieser Charakter in ihrer Geschichte? Ihre bean sí