Februarsturm - C.K. Jennar - E-Book

Februarsturm E-Book

C.K. Jennar

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  • Herausgeber: C.K. Jennar
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Fünf Freunde, ein Cottage und ein Geheimnis! Sie kennen sich vom College und treffen sich seither einmal im Jahr. Das vierte Jahrestreffen soll das schönste Wiedersehen aller Zeiten werden, nimmt sich Karen Walsh mit der Einladung ihrer vier Freunde Francis, Isabelle, Hartford und Stephen in ein irisches Cottage vor. Wie zuletzt am College will sie mit den anderen ausgelassen Isabelles Geburtstag feiern: nur die fünf Freunde, abseits jeglicher Zivilisation! Doch schon direkt nach der Ankunft geschehen merkwürdige Dinge. Wer hat persönliche Sachen der Freunde in dem kleinen alten Cottage deponiert? Woher kommen die unheimlichen Geräusche? Und warum scheint jeder ein Geheimnis zu haben? Als ein Sturm aufzieht, fegt dieser nicht nur um das Haus. Doch erst als einer von ihnen blutüberströmt zusammenbricht, begreifen die anderen, dass sie in tödlicher Gefahr schweben. Und das bereits seit vier Jahren!

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C.K. Jennar

 

 

 

 

FEBRUARSTURM

Mystery Thriller aus Irland

 

Über das Buch

 

Fünf Freunde, ein Cottage und ein Geheimnis!

 

Sie kennen sich vom College und treffen sich seither einmal im Jahr. Das vierte Jahrestreffen soll das schönste Wiedersehen aller Zeiten werden, nimmt sich Karen Walsh mit der Einladung ihrer vier Freunde Francis, Isabelle, Hartford und Stephen in ein irisches Cottage vor. Wie zuletzt am Collage will sie mit den anderen ausgelassen Isabelles Geburtstag feiern: nur die fünf Freunde, abseits jeglicher Zivilisation!

 

Doch schon direkt nach der Ankunft geschehen merkwürdige Dinge. Wer hat persönliche Sachen der Freunde in dem kleinen alten Cottage deponiert? Woher kommen die unheimlichen Geräusche? Und warum scheint jeder ein Geheimnis zu haben? Als ein Sturm aufzieht, fegt dieser nicht nur um das Haus. Doch erst als einer von ihnen blutüberströmt zusammenbricht, begreifen die anderen, dass sie in tödlicher Gefahr schweben. Und das bereits seit vier Jahren!

 

 

Dein Leseglück ist mein Ziel!

 

Lieber Leser, liebe Leserin,

 

ich freue mich, dass Du dieses Buch erworben hast. Vielen herzlichen Dank. Kunst ist ein brotloses Unterfangen, heißt es. Ich kann bestätigen, dass es gar nicht so einfach ist, vom Schreiben leben zu können. Aber da es meine Leidenschaft ist, freue ich mich über jeden Verkauf!

 

Dennoch möchte ich, dass mein Buch für Dich zu einem einzigartigen und wundervollen Leseerlebnis wird. Deswegen liegt mir Deine Meinung ganz besonders am Herzen!

 

Ich würde mich über Dein Feedback zu meinem Buch freuen! Hast du Anmerkungen? Gibt es Kritik? Bitte lass es mich wissen. Deine Rückmeldung ist wertvoll für mich, damit ich in Zukunft noch bessere Bücher für Dich schreiben kann.

 

Schreibe mir gerne: [email protected]

 

Nun wünsche Dir viel Freude mit diesem Buch!

 

C.K. Jennar

 

 

Prodrom

 

Es war ein idyllischer Ort. Eigentlich. Noch duftete sattes, grünes Gras, noch strahlte ein blauer Himmel herab und noch zogen nur vereinzelte Wolken darüber hinweg. Ein sanfter Hauch umwehte die alten Gemäuer. Es wirkte friedlich rund um das kleine Cottage.

Doch dieser Eindruck würde nicht andauern, wusste er. Die Hitze der Vorfreude flackerte auf seinen Wangen auf. Liebevoll strich er sich über die Augen und genoss diesen letzten Moment. Denn der Sturm schickte bereits seine Vorboten. Der Atem des Mythos war unaufhaltsam und der Februarsturm würde in nicht allzu ferner Zukunft diese Idylle in einen Ort des Grauens verwandeln.

Es war ein wirklich schönes Cottage, das sie sich ausgesucht hatten. Zweistöckig ragte es in der kargen Landschaft hervor. Die Außenfassade war liebevoll mit Steinen verkleidet, mal grau, mal rostbraun, mal beige. In einem zufällig wirkenden, jedoch exakt geplanten Ensemble schenkten sie dem Haus das Antlitz von Vergangenheit. Nicht, dass das Haus keine Geschichte hatte. Das Cottage war alt. Doch diese Geschichte war geschrieben und zählte nicht mehr. Jetzt zählte der Neuanfang. Die Zukunft. Das Leben, das hier noch zerstört werden würde.

Die blauen Fensterrahmen ergaben einen kontrastreichen Look in der Außenfassade. Auch das war eine neue Farbe, die sich jedoch hervorragend in das gesamte Ensemble neben den weißen Details einbrachte. Die Haustür war im gleichen Blau gehalten und strahlte über das grau-braune Gras davor hinweg. Das Vordach über dem Eingang war genauso frisch gedeckt wie das gesamte Dach des Hauses. Aus dem Schornstein strömte bereits hellgrauer Rauch, der sanft über die Felder schwebte. Nur die Blumenkästen vor den Fenstern waren noch leer. Die Zeit des Pflanzens war noch nicht gekommen.

Um das Gebäude säuselten verschiedene Geräusche ein kleines, friedliches Lied. Das Rauschen der Wellen an den nicht allzu weit entfernten Klippen spielte dabei die Hauptmelodie. Sie erzeugten einen beruhigenden, behaglichen Dur-Klang. Doch die ersten Windböen mischten bereits Moll-Töne hinein. Leise und subtil, kaum zu vernehmen.

Noch.

Wenn die Wellen vom Sturm gepeitscht anschwollen, war ihr Tosen der unaufhaltsame Klang des Unheils, das sich in die Sturmwinde nahtlos einfügen würde. Das Lied der Abrechnung würde bald über die Wiesen und Felder hallen. Die Rache, nach der es ihm so gelüstete, war endlich sein.

Er war getäuscht worden. Augenblicklich ging sein Atem schneller, sein Puls raste. Allein dieser Fakt war bereits unverzeihlich genug. Niemand täuschte ihn ungestraft. Doch was bereits erdacht und auserkoren war, setzte der Dreistigkeit die Krone auf.

Die Wut hatte ihn angetrieben, doch jetzt war es der Durst nach Vergeltung, der ihn weitermachen ließ. Er würde es nicht zulassen. Er würde die Entscheidungen treffen. So, wie er es einst vor Jahren schon einmal getan hatte. Unbemerkt. Bis heute. Und doch hatte auch er Fehler begangen, wie ihm inzwischen schmerzlich bewusst geworden war.

Der heranbrausende Februarsturm schenkte ihm ein versöhnliches Gefühl. Er war nicht mehr aufzuhalten. Die Windböen würden stärker werden und alles mit ihrer Macht nach ihrem Belieben kontrollieren. Die Luft würde sich in weiße Schwaden hüllen, undurchsichtig und unheimlich. Doch vorher würde der Regen unaufhaltsam von oben herab auf das Land prasseln, es in Seen verwandeln und alles Überflüssige wegschwemmen. Grausam würde der Sturm das kleine, idyllische Cottage mitsamt seinen Bewohnern ins Verderben schicken.

Er musste bei der Vorstellung grinsen. Für ihn würde es ein Festtag sein, heilig und hochverdient. An diesem Tag würde es kein Entkommen geben. Der Tag, der schon vor langer Zeit auserkoren war. Es gab keine Zufälle, es gab nur das Schicksal. Und dieses musste sich nun erfüllen.

Er warf einen letzten Blick auf die vergängliche Idylle vor sich und versuchte, sich jedes Detail tief in sein Gedächtnis einzuprägen. Es würde das letzte Mal sein, dass er es erblickte. Doch das störte ihn keineswegs. Die kurzen Augenblicke waren vollkommen ausreichend. Er brauchte nicht mehr. Und so wandte er sich ab und schritt seinem Schicksal entgegen. Denn tief in seinem Inneren glaubte er fest an die Worte, die sie immer zu ihm gesagt hatte:

 

Ein Fluch hört nie auf. Vor allem nicht, wenn du mit ihm geboren wurdest.

 

Verbrannt und verdorben

27. Februar, 20.03 Uhr

Es begann mit einem friedlichen Augenblick.

Karen erinnerte sich noch deutlich, wie der Regen rhythmisch an die Fensterscheiben trommelte und seine Tropfen ein kreatives Muster auf dem Fensterglas hinterließen. Darunter wackelten Topfdeckel fröhlich über kochendem Gemüse, als würden sie den Tanz der Regentropfen nachahmen. Ein leises Pfeifen erfüllte die Luft, das durch das Loch im Deckel emporstieg. Wasserdampf durchzog das Regenmuster von innen auf dem Glas vor ihr.

Durch die Küche schwebte der köstliche Duft von Rosmarin, den Karen tief in ihre Nase einsog und genoss. Das Knistern des Feuerholzes im Kamin des angrenzenden Esszimmers ließ sie lächeln und die Wärme legte sich in den Raum wie ein schützender Mantel.

Ja, in diesem Augenblick war es schon zu spät, würde Karen später antworten, wenn jemand sie fragte, wann das Unheil eigentlich begonnen hatte. Obwohl der Augenblick so harmonisch und unschuldig wirkte, war er bereits verdorben, ohne dass es jemand ahnte. Sie spürte lediglich Vorfreude. Doch es sollte der letzte unschuldige Moment sein.

Karen hatte hart geschuftet, um das kleine Cottage gemütlich und kuschelig zu gestalten. Der Kühlschrank war gefüllt, die Küchenablagen von Früchten, Brot und Konserven bedeckt. Sie hatte die Oberflächen auf Hochglanz poliert. Mit Hingebung hatte Karen den Boden geschrubbt, die Möbel verschoben, Feuer gemacht und die Teller schon auf den Tisch gestellt. Es roch noch schwach nach Farbe in den Räumen. Die Renovierung war erst letzte Woche fertiggestellt worden. Karen hatte Duftspender in allen Räumen aufgestellt, um den beißenden, unterschwelligen Gestank zu übertünchen. Wenn sie es noch schaffte, so würde sie auch noch die Zimmer erkunden und die Betten beziehen. Doch für einen kurzen Augenblick hielt sie inne, schaute durch das von Regentropfen verschwommene Fenster in die beginnende Dämmerung hinaus.

Karen freute sich, dieses Idyll gefunden zu haben. Ein kleines Cottage direkt an den Klippen von Culoo Rock. Das perfekte Haus für ihr Jahrestreffen.

Nun fehlten nur noch die anderen.

»Da ist sie ja«, ertönte es hinter ihr und Karen fuhr erschrocken herum. Die Tür stand sperrangelweit offen. Ein großgewachsener, breitschultriger Mann in dunkler Jeans, hellem Hemd, lederbrauner Weste und einem khakifarbenen Parka strahlte ihr aus dem Türrahmen entgegen. Seine grau-blauen Augen glänzten, die dunkelblonden Haare waren vom Wind leicht zerzaust. Auf dem Gesicht strahlte ein breites, unglaublich charmantes Lächeln. Er hatte sich keinen Deut verändert.

»Stephen«, entfuhr es Karen. Sein Anblick schockte und erfreute sie zugleich. Zu gutaussehend, zu verlockend. Und noch besser riechend, schoss es ihr durch den Kopf, als der große Mann sie in seine starken Arme schloss.

»Hallo Kleines«, hauchte Stephen. »Es ist so schön, dich zu sehen.«

»Ebenfalls«, krächzte Karen und versuchte sich aus der Umarmung zu befreien. Sie fühlte sich zu gut an. Nervös schob sie ihre Brille auf der Nase zurecht.

»Bin ich der Erste?« Stephen drehte sich um und schaute in den Raum hinein.

»Ja. Aber die anderen müssten auch gleich kommen.«

»Wunderbar.«

Karen wusste nicht, ob er das Haus meinte, das er sogleich mit Argusaugen inspizierte, oder die Tatsache, dass sie allein waren. Noch. Denn sie würden sicher nicht lange allein bleiben, die anderen waren ebenfalls auf dem Weg.

Ein wohlvertrautes Ziehen breitete sich in ihrem Magen aus. Karen wusste, dass das nur der anfängliche Schock nach einer langen Zeit war, die sie Stephen nicht gesehen hatte. Ihr Körper würde sich beruhigen, so wie er es jedes Mal schaffte. Es war wie ein Drogenrausch. Erst die Euphorie, dann die Entzugserscheinungen. Und zurück auf der Droge stellte sich die Euphorie erneut ein. Karen würde alsbald in die Normalität zurückfinden und sich wieder an seine Anwesenheit gewöhnen, ohne dabei wie ein verängstigtes Kind zu zittern. Es würde wie immer sein. Stephen war eben Stephen. Auch wenn er nichts von seiner Wirkung auf sie verlor, so hatte er in all den Jahren eben auch nicht auf wundersame Weise sein Interesse an ihr gefunden. Diese Akzeptanz würde sich wie immer früher oder später erneut einstellen. Karen erlangte allmählich die Oberhand über ihre lächerlichen Körperreaktionen, als Stephen seinen Parka über eine Stuhllehne legte und die Tür schloss.

»Du kochst?« Stephen setzte ein schelmisches Grinsen auf.

»Ich versuche es«, erwiderte Karen und trat an die Spüle zurück, um den Fisch aus der Packung zu nehmen. Ihre Hände zitterten immer noch.

»Schön ist es hier drinnen«, kommentierte er nun das, was er sah. »Es wirkt wirklich gemütlich. Das hätte ich gar nicht gedacht, als ich das Haus von außen betrachtete.«

Er blickte von der Landhausküche aus weiter in das Innere, wo sich die gleichen weißen Schrankdekore im angrenzenden Esszimmer wiederfanden. Ein massiver Holztisch stand hier auf den dunklen Echtholzdielen, umgeben von acht Stühlen im gleichen Weiß. Ein Stapel Teller und zwei Kerzenleuchter waren darauf bereits drapiert. Neben dem Esstisch machte er auf der einen Seite eine Vitrine voller Geschirr, Schubladen und weiteren noch ungeöffneten Schranktüren aus. Gegenüber, auf der anderen Seite, brannte ein Feuer im Kamin. Der Holzboden glänzte nach der frischen Aufbereitung.

Hinter dem Esszimmer folgte der Wohnbereich, der gemütlich mit Dreisitzercouch, Ohrensesseln und Couchtisch auf einem grau-schwarz gemusterten Teppich zum Verweilen einlud. Alles wirkte noch unbenutzt. Sein Blick blieb auf den Kissen hängen, die beide Sessel zierten und das Wort »cosy« als Aufschrift trugen.

»Ich hab mir Mühe gegeben«, flüsterte Karen, die seinem Blick gefolgt war. Die Kissen hatte sie erst gestern gekauft.

Stephen nickte und ging weiter in den Raum hinein. Karen trat derweil zurück an den Herd und drehte das Gas ab. Gekonnt nahm sie zwei Topflappen in die Hand und goss das kochend heiße Wasser über der Spüle aus dem Topf.

»Das sieht man wirklich«, murmelte Stephen hinter ihrem Rücken.

»Hallo, hallo«, ertönte es im gleichen Augenblick wieder von dort, wo die Tür ein weiteres Mal aufgestoßen wurde. Hastig stellte Karen den Topf beiseite und wirbelte herum.

»Francis, oh wie schön«, quietschte Karen vergnügt und stürmte auf die kleine zierliche Gestalt zu, die sie fest in ihre Arme nahm. »Du bist ja ganz kalt«, stellte Karen erstaunt fest.

»Kein Wunder. Es ist eiskalt draußen.« Ein wunderschönes Gesicht strahlte Karen an. Das symmetrischste Gesicht, das sie je gesehen hatte und leicht von einem Cover einer Modezeitschrift hätte stammen können. Weich und rund, mit einem so ebenen Teint, der keinerlei Platz für Unreinheiten hatte. Strahlend dunkelbraune Augen schauten aufmerksam unter endlos lang erscheinenden Wimpern und perfekt geschwungenen Augenbrauen hervor. Kleine Grübchen auf beiden Wangen verrieten das leichte Lächeln auf den vollen, blass rosafarbenen Lippen.

»Der irische Februar hat es in sich.« Francis löste sich aus der Umarmung und rieb sich zur Bekräftigung die kleinen, zierlichen Hände, hob sie an den Mund und blies ihren warmen Atem auf die steifen Finger.

»Zumindest sollten Träger solch einer Kurzhaarfrisur vielleicht besser über eine Mütze im irischen Februar nachdenken«, ertönte es hinter der zierlichen Francis.

»Hartford«, stieß Karen aus. »Ihr seid wirklich zusammen gekommen, wie schön«, stellte Karen überflüssigerweise fest.

»Hat sich so ergeben«, murmelte er und Karens Lächeln erstarb augenblicklich. Nicht der Anblick des schlanken Mannes im Wollmantel mit seiner üblichen Wollmütze auf dem Kopf, dem markanten männlichen Gesicht, Dreitagebart und Schnauzer erschreckte sie. Es war der düstere Blick, der aus Hartfords Augen hervorstach. Der Mann, der sonst immer einen kecken Witz auf den Lippen hatte und dessen braune Augen sonst permanent lachten, wirkte verärgert. Nur halbherzig nahm er Karen in den Arm, um sich sogleich wieder zu lösen.

»Wohin zum Teufel hast du uns denn dieses Mal verschleppt? Ging es nicht noch weiter zum Arsch der Welt?«

Karen durchzuckte es, als sei sie vom Blitz getroffen worden. War das sein Ernst?

»Na, na, Kumpel, nicht so mürrisch«, erklang es hinter ihr. Stephen schob sie sanft zur Seite, nahm seinen Freund in die Arme und klopfte ihm männlich auf den Rücken. »Komm erst einmal herein und hör auf zu schimpfen.«

»Ich hab doch recht«, schmollte Hartford weiter.

»Was ist denn hier los?«, fragte eine Frauenstimme von der immer noch offen stehenden Tür her.

»Na wunderbar, alle auf einen Streich«, quiekte Francis vom Tisch herüber und rieb sich immer noch die Hände vor dem Mund. »Da wären wir also zusammen. Hallo Isabelle.«

»Hallo in die Runde«, antwortete die großgewachsene Blondine im Pelzmantel. »Es ist schön, euch zu sehen.«

Karens Herz schmolz dahin. Mit der wunderschönen Blondine im wie immer modischen, eleganten Outfit war die Runde komplett. Endlich. Nach fast einem Jahr der Trennung.

Isabelle sah gut aus, dachte Karen augenblicklich, wenn auch ein bisschen dünn. Das Make-up war ausgefeilt und schmeichelte vor allem den vollen Lippen. Ein wenig Rouge zu viel zierte ihre hohen Wangenknochen, die grau-blauen Augen hatte sie dunkel in Szene gesetzt, was deren kühle Ausstrahlung unterstrich. Doch ihre Freundin war alles andere als eiskalt, wusste Karen. Isabelles lockige Haare waren perfekt frisiert, das blaue Kostüm ließ ihre Augen leuchten. In den Ohrläppchen hingen lange silberne Kreolen und eine passende, aber doch schlichte Kette zierte ihren Hals. Elegant wie immer stand Isabelle da und schaute wachsam in die Runde. Ihre Armreifen klimperten, als sie ihren Koffer abstellte und ihre Arme ausbreitete.

Der Reigen des Umarmens begann auf ein Neues. Danach legten alle die Jacken ab, stellten Koffer beiseite und die Tür blieb geschlossen. Vier Freunde lobten die neue, zugegeben diesmal wirklich sehr kurze und extrem schwarze Frisur von Francis. Als der Begrüßungstanz getanzt war, kehrte Karen schließlich zurück an den Herd. Sie war glücklich. Endlich waren alle da. Jetzt stand dem schönsten Jahrestreffen aller Zeiten nichts mehr im Weg. Sie musste nur noch den Fisch braten und die Soße anrühren, bevor sie gemeinsam mit dem Essen starten konnten.

»Wir sprachen gerade darüber, warum uns Karen dieses Jahr ans Ende der Welt verfrachtet hat.« Hartford ließ nicht locker. Sein Gesicht wirkte zwar freundlicher, doch jetzt lief es rot an. Karen konnte nicht sagen, ob wegen der Wärme im Haus oder vor Wut. Sie hasste seine Eigenart, sich immer in alles hineinzusteigern und nicht locker zu lassen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Da war ihr seine lausbubige Seite doch deutlich lieber, auch wenn es anstrengend sein konnte, weil Hartford dann nie ernst zu nehmen war. Karen starrte nur verlegen in die Runde und drehte sich dann erneut zum Herd herum.

Was hatte sie sich dabei gedacht?

Nicht viel, musste sie zugeben. Eigentlich hatte Karen gar nichts gedacht. Sie war sofort in das Cottage verliebt gewesen, das Mister Warren ihr zeigte. Dass es so weit abseits vom Schuss lag, hatte sie bei der ersten Fahrt gar nicht mitbekommen. Doch tatsächlich war es das letzte Haus an der Straße vorm Culoo Rock auf Valentia Island.

»Ich dachte, es sei idyllisch«, stotterte sie nun.

»Herrgott, Karen. Unter idyllisch stell ich mir ein Häuschen in dem kleinen Dorf dort vorne vor der Brücke vor.« Hartford zeigte mit seinem rechten Arm durch den Raum. »Wie hieß das Nest? Portmagnet oder so?«

»Portmagee«, verbesserte ihn Karen.

»Dann eben so. Dort ein Häuschen, fußläufig zum Pub mit Hafensicht und Zentralheizung – das kannst du idyllisch nennen«, tobte Hartford weiter. »Allein die Straße hierher hat mehr Schlaglöcher als ganz Mailand. Ich schwöre euch, ich fahre diese Buckelpiste keinen Meter nach Einbruch der Dunkelheit.«

Hartford ließ den Blick durch den Raum streifen und suchte nach Bestätigung. Doch er erntete nur Schweigen. Stephen hatte sich vor den Kamin gestellt und starrte wortlos in die Flammen. Isabelle saß auf einem der Holzstühle, die Beine übereinandergeschlagen und inspizierte ihre Fingernägel aus Gel. Nur Francis starrte zwischen Karen und Hartford hin und her.

»Gibt es hier wenigstens ein Telefon? Internet?«, fragte er schließlich deutlich leiser, kratzte sich dabei den Kopf und verschob seine Mütze, die dadurch deplatziert wirkte. Hartford schien es nicht einmal aufzufallen.

»Nein.« Karen schüttelte den Kopf. Sie fand es überflüssig, zu erwähnen, dass auch Handys hier keinen Empfang hatten.

»Wer braucht denn sein Handy bei unserem Jahrestreffen?«, stand ihr Francis plötzlich bei, trat zu ihr und nahm sie tröstend in den Arm. Karen war ihr unendlich dankbar. Francis, die Friedensstifterin, machte ihrem Namen mal wieder alle Ehre. »Wir haben doch uns.« Sie lächelte in die Runde.

Karen spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Exakt darum war es ihr gegangen. Schließlich sahen sie sich doch nur einmal im Jahr. Die Zeit war zu kostbar, um sie mit Ablenkungen zu verschwenden. Karen wollte, dass sie sich auf die Gruppe und ihre Freundschaft konzentrieren konnten. Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, dass dies irgendjemand langweilen könnte.

»Richtig«, ertönte es aus Stephens Mund und Karen konnte nicht umhin, auch ihn dankbar anzulächeln. Das Ziehen im Magen meldete sich erneut.

»Und ich denke, wir sollten erst einmal unsere Sachen verstauen und richtig ankommen«, schlug er vor. Ohne auf eine Antwort zu warten, schritt Stephen zielstrebig auf seinen Koffer zu, schnappte ihn mit einer Bewegung und fragte Karen mit stummem Blick, wo es lang ging.

»Die Zimmer liegen dort den Flur entlang.« Karen zeigte am Esstisch vorbei durch das Wohnzimmer hindurch. »Rechts und links. Es sind genügend da. Sucht euch jeder eins aus, ich nehme dann das, was übrig bleibt.«

»Dann komm, mein Freund.« Stephen klopfte mit seiner linken Hand Hartford auf die Schulter. »Vielleicht beruhigt dich das Auspacken, du Ungestüm.«

»Ich weiß nicht, ob sich das lohnt«, brummte dieser. »Wenn das so weiter geht, packe ich gar nicht erst aus, weil ich morgen lieber zurück in die Zivilisation ziehe.« Dennoch folgte Hartford seinem Freund.

Karen starrte ihm geschockt hinterher.

»Keine Sorge, das meint er nicht ernst«, flüsterte Francis neben Karen und drückte erneut ihre Hände aufmunternd in ihre Schultern. »Ich finde es gemütlich hier. Eine schöne Idee von dir, wir fünf alle zusammen in einem Haus. Es wird sicher schön werden.« Mit diesen Worten folgte Francis den anderen und Karen fand sich plötzlich allein in der Küche wieder. Eine unheimliche Stille legte sich auf sie herab.

Ja, es war nicht mehr zu leugnen: Der unschuldige, friedliche Moment war für immer gegangen.

 

27. Februar, 20.58 Uhr

»Natürlich wird es schön werden«, murmelte Karen vor sich hin, um sich zu beruhigen. Unbändiger Zorn brodelte in ihr und ließ ihre Hände zittern. Das Cottage war prädestiniert für ihr Jahrestreffen gewesen, war sich Karen sicher. Soll er doch schimpfen, dachte sie grimmig und zog mit zu viel Schwung eine Pfanne aus dem Schrank, sodass ein Glasdeckel heraus wirbelte und klirrend zu Boden fiel. Glassplitter verteilten sich auf dem gesamten Boden.

»Ach verdammt«, fluchte Karen laut. Doch sie weigerte sich, dies als schlechtes Omen zu werten. Es musste eine tolle Zeit werden, denn schließlich war sie das erste Mal mit der Organisation betraut.

Fast vier Jahre war es nun her, dass sich ihre Wege getrennt hatten. Nach dem Abschluss auf der Universität von Birmingham ging von den frischgebackenen Besitzern eines Bachelor-Abschlusses in Touristik jeder seinen eigenen Weg. Stephen hatte es inzwischen nach Teneriffa verschlagen, Hartford lebte in Mailand, Francis in Barcelona und Isabelle in Zürich. Nur Karen war auf den Britischen Inseln geblieben, auch wenn Irland doch deutlich anders war als Großbritannien.

»Valentia«, murmelte sie vor sich hin und verbesserte sich selbst. Es hatte keine drei Wochen gedauert, bis ein Einheimischer sie aufklärte, dass die Insel Valentia und der Rest von Irland – the »Mainland« - zwei verschiedene Welten seien. Eine Insel vor einer Insel, dachte sie damals in sich hinein. Die Erinnerung ließ sie lächeln und langsam verflog der Ärger auf Hartford und seine rüde Begrüßung. Denn dieses Jahrestreffen, das sie und ihre Collegefreunde jedes Frühjahr veranstalteten, war irgendwie auch eine Insel. Eine Auszeit vom Alltag, von schrecklichen Realitäten. Wie ihre Freundschaft einst war. »Die fünf Alten« hatten Kommilitonen sie hinter vorgehaltener Hand getauft. Ein Name, der nicht passender hätte sein können. Denn schließlich waren alle fünf verspätet auf die Universität gegangen. Jeder von ihnen hatte sein eigenes Hindernis in seinem Lebenslauf. Was war Hartfords Grund gleich noch mal gewesen? Er war heute schon 30 Jahre alt, Stephen ebenso. Die Damen konnten sich noch im Glanz der Endzwanziger sonnen. Isabelle war die Letzte von ihnen, die morgen 28 Jahre alt werden sollte. Wohl deswegen hatten sie sich alle gefunden und waren vier Jahre lang zwischen Hörsaal und Studentenbude unzertrennlich gewesen. Das war einmal. Denn nach dem Abschluss …

»Das riecht köstlich«, riss Isabelle Karen aus ihren Gedanken.

»Danke. Ich hoffe, es schmeckt auch so. Auch wenn ich nicht an deine Kochkünste heranreichen kann«. Karen bedachte ihre Freundin mit einem warmen Blick. Endlich konnte sie sich Zeit nehmen, sie genauer zu inspizieren und in ihrem Gesicht ihre Stimmung zu erkunden.

Die Zeichen der Erschöpfung waren erst auf den zweiten Blick zu entdecken. Karen sah unter Isabelles Make-up dunkle Augenringe. Das Rouge wirkte übermäßig, denn eine fast schon krankhafte Blässe hatte Isabelles Gesicht ergriffen. Sie wirkte nicht nur dünn, sie wirkte dürr, musste Karen nun feststellen.

»Geht es dir gut?«, fragte sie ein wenig besorgt.

»Ja. Alles bestens.« Isabelle machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und rückte zärtlich Karens Brille auf der Nase zurecht, die sich verselbstständigt hatte. »Ich finde es toll, dass du für uns kochst. Ich hab es schon lange nicht mehr.«

Augenblicklich flackerte die Erinnerung an gesellige Abende mit einem köstlichen Drei-Gänge-Menü zwischen den beiden Frauen auf. Isabelles und Francis‘ Studierzimmer war der Mittelpunkt ihrer Freundschaft gewesen. Isabelle hatte es geliebt, alle fünf mit einem köstlichen Menü am Freitagabend zu verwöhnen. Damals hatte sie leidenschaftlich gern gekocht.

»Was ist passiert?«

»Nichts.« Isabelle zuckte mit den Schultern und drehte sich ab. Ihre Stimme bekam einen rauen Ton. »Simon besteht eben auf eine Küchenfrau. Das sei unserem Stand angemessen.« Ohne ein weiteres Wort ging sie zum Esstisch hinüber. Das Thema war offensichtlich damit beendet. Doch Karens Gedanken wollten nicht aufhören, während sie sich wieder der Pfanne widmete. Simon, Isabelles Ehemann, war ihr schon immer suspekt gewesen. Es wollte ihr auch nach Jahren nicht recht einleuchten, warum Isabelle so kurz nach dem Abschluss ihren Verlobten heiratete, den vorher keiner kannte. Und der so gar nicht zu ihr passte. Ein Bankier, der viel zu alt für die junge, wunderschöne Blondine war. Reich und hoch in der Gesellschaft angesehen. Und doch hatte er eine unheimliche Ausstrahlung. Keiner konnte genau sagen, wie er wirklich zu seinem Reichtum gekommen war. In Zürich gehörte das Paar zur High Society.

»Was gibt es zum Essen?« Stephen trat nun ebenfalls in die Küche und versuchte über Karens Schulter zu schauen.

»Lachs mit Kartoffeln, Gemüse und Dillsoße. Nichts Besonderes.«

»Aber es riecht gut«, erkannte Karen nun auch Francis‘ Stimme.

»Und der Hunger wird es sicher auch reintreiben«, lachte nun auch Hartford in die Gruppe.

Karen drehte sich erneut um und staunte. Er hatte wieder ein Lächeln auf den Lippen und schaute sie lausbübisch an. Die Grübchen spielten mit seinen Wangen, die Augen blitzen schelmisch auf. Auch die Mütze saß wieder korrekt auf seinem Kopf. Das war der Hartford, den sie kannte und liebte.

Gott sei Dank.

»Holt doch schon mal Gläser und Besteck aus der Vitrine«, rief sie ihren Freunden zu. »Der Fisch ist gleich fertig. Francis, im Kühlschrank ist Salat.« Karen dirigierte blind. Ihr Blick war stur auf den Lachs in der Pfanne gerichtet, damit sie den Garpunkt auf keinen Fall verpasste: nicht zu durch, aber auch nicht mehr roh. Glasig muss er sein, so hatte sie es einst von Isabelle in der kleinen Küche der Studentenbude gelernt.

Plötzlich rann Karen ein Schauer über den Rücken. Obwohl sie direkt vor der heißen Gasflamme stand, fröstelte es sie. Karen glaubte augenblicklich, dass es immer kälter in der Küche wurde. Als sei etwas Unheimliches in ihre wohlgeplante Idylle eingedrungen, das vorhatte zu bleiben.

»Wow. Das glaube ich nicht. Karen, hast du dir sogar Mühe gemacht, Familienerbstücke mitzubringen? Ich dachte, du wohnst hier gar nicht?« In Isabelles Stimme schwang Staunen und Ehrfurcht mit.

»Wovon redest du?«, fragte Karen geistesabwesend, ohne den Fisch aus den Augen zu lassen.

»Vielleicht hätten wir es jetzt noch nicht finden sollen. Sorry, Liebste«, flötete Isabelle weiter. »Ich hoffe, wir haben dir die Überraschung jetzt nicht verdorben.«

»Welche Überraschung?«, murmelte Karen immer noch sorglos.

»Na das hier, schau doch mal«, rief Isabelle nun ungeduldiger.

»Ich kann nicht. Der Fisch.«

Karen konzentrierte sich wieder auf die Pfanne. Der Garpunkt war jeden Moment erreicht. Jetzt zählte jede Sekunde.

»Das bist du. Eindeutig!« Francis quiekte durch den gesamten Raum.

»Was? Was bin ich?«

Nun drehte sich Karen doch um und sah ihre Freunde vor der Vitrine im Esszimmer versammelt. Einer nach dem anderen schaute staunend auf einen Gegenstand, den Isabelle herumreichte.

»Ist das eine Überraschung? Ein Spiel? Ein besonderes Highlight?« Hartford grinste voller Neugier.

»Wie bitte? Wovon zum Teufel redet ihr?«

Karen vergaß den Fisch vollends und schritt auf ihre Freunde zu.

»Davon!« Stephen hielt ein Bild in die Höhe. »Oder wie kommt denn sonst dein Gesicht auf diese uralt aussehende Kupferstichzeichnung?«

Das Frösteln zog erneut über ihren Rücken, als Karen bei ihren Freunden ankam. Ihre Hände begannen zu zittern. Plötzlich wusste sie, dass sich etwas verändert hatte.

»Das ist echt der Wahnsinn. Wo hast du das her?«

Karen öffnete den Mund, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Entsetzt starrte sie auf das Bild, das Hartford ihr in die Hand gedrückt hatte. Das war eindeutig ihr Gesicht. Umrahmt von goldenen Haaren mit einem grünen Kopftuch und einem Heiligenschein darüber. In der rechten Hand hielt die Frau zwei Ringe, in der linken ein Kreuz. Eigentlich war es ein schönes Bild. Nur hatte Karen diesen Kupferstich noch nie in ihrem Leben gesehen.

»Ich weiß nicht.« Karens Stimme versagte erneut. Fragend schaute sie ihre Freunde an. Wo hatten sie dieses Bild plötzlich her?

»Aus der Schublade«, beantwortete Hartford die wortlos gestellte Frage und zeigte auf die Geschirrvitrine. »Eine tolle Überraschung, Karen, wirklich. Finde ich großartig. Du musst uns alles darüber erzählen. Oder war es doch für später geplant?«

Karen starrte ihn immer noch mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Körper zitterte wie Espenlaub.

»Nichts war geplant, ich weiß nicht wovon …«, stammelte sie.

»Wartet. Hier ist noch mehr.« Stephen ließ seine Hand wieder in die halb geöffnete Schublade gleiten.

»Das kenne ich«, rief Francis freudig. »So etwas benutzt du doch immer.«

Fünf Augenpaare starrten auf ein weißes Stofftuch, das Stephen zitternd hochhielt. Jegliches Lächeln und der Ausdruck von Abenteuerlaune waren aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen starrte er nun blass wie Karen den Stoff an. Die darin gestickten Buchstaben S. K. neben dem Spitzenrand waren nicht zu übersehen. War da auch ein Blutfleck?

»Stephen Kennwood«, flüsterte Francis.

»Das ist nicht meins«, antwortete Stephen. »Ich benutze solche Tücher seit Jahren nicht mehr.«

Er war nun wie Karen kreidebleich im Gesicht. Langsam verschwand auch das Lachen aus den Gesichtern der anderen Freunde. Wie ein Schatten legte sich die Erkenntnis über die Gruppe nieder, dass sie gerade keine freudige Überraschung entdeckt hatten.

»Was ist hier los, Karen?«, zischte Stephen. Sein fröhliches Geplapper war verschwunden. Stephens Worte waren mit einer Schärfe versehen, die jeden bis ins Mark traf. Er starrte Karen ernst an.

»Ich weiß es nicht, ich hab nicht …«, stammelte sie hilflos und versuchte seinem Blick auszuweichen. Karen zermarterte sich das Hirn, was sie sagen sollte. Doch sie wusste keine Erklärung. Auch das Taschentuch hatte sie noch nie in ihrem Leben vorher gesehen. Angstvoll beobachtete sie, wie Francis ihre Hand in die Schublade gleiten ließ.

»Wie ist das möglich?«, raunte sie sogleich ängstlich und hielt eine Kette mit einem herzförmigen Anhänger in die Luft.

»Was ist das?« Doch eigentlich wollte Karen die Antwort nicht wissen.

»Eine alte Kette, wie ich sie am College besessen hatte. Ich habe sie von meinem Vater zum Studienbeginn geschenkt bekommen. Bis ich sie direkt nach dem großen Krach verloren hatte. Ist das meine? Hast du sie seitdem …«

»Nein.« Karen schnitt ihr das Wort ab und hob abwehrend die Hände. »Ich schwöre, ich habe damit nichts zu tun.«

»Aber wie kommt dann meine alte Kette …«

»Das ist doch Unsinn«, schrie Stephen verzweifelt, verstummte jedoch sofort, als er in Hartfords Gesicht sah. Denn nun steckte seine Hand in der Schublade. Was er ertastete, ließ ihn das Gesicht gequält verziehen. Wortlos zog er eine Pfeife heraus.

»Was hat das zu bedeuten?«, flüstere Francis nun immer ängstlicher. Hartford starrte eindringlich Isabelle an. Karen war sich nicht sicher, glaubte aber ein fast unmerkliches Kopfschütteln zu erkennen, bevor Hartford seinen Blick abwandte. Er legte die Pfeife immer noch wortlos auf den Tisch. Sekunden später flüchtete er aus dem Raum. Die Gruppe starrte ihm erstaunt hinterher. Karen war nun vollends perplex, unfähig zu sprechen.

»Ich geh ihm nach«, flüsterte Isabelle zum Erstaunen aller. Als sie ebenfalls verschwunden war, senkte sich eine unheimliche Stille herab.

»Solch eine Pfeife hatte Hartfords Familie besessen«, erklärte Stephen schließlich kopfschüttelnd. »Sie war sehr wertvoll und sollte immer weiter vererbt werden. Sie fiel offiziell an Hartford, doch seine Brüder haben sie ihm gestohlen. Karen, wie ist das möglich, wie bist du an diese Pfeife gekommen?«

»Ich war das nicht«, stotterte sie immer noch völlig hilflos. »Was soll das? Wie kommen diese Dinge hierher? Wer von euch erlaubt sich gerade einen Scherz mit mir?«

»Sag du es uns«, forderte Stephen sie auf. »Wir sind erst Minuten in diesem Haus. Doch du?«

Karen hob erneut abwehrend die Hände. Sie hatte das Cottage nur Stunden zuvor betreten und war viel zu sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt. Sie hatte unmöglich genügend Zeit, um alle Ecken des Hauses erkunden zu können. Karen hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob die Schublade vor dem Ankommen ihrer Freunde leer gewesen war.

Leises Flüstern vor der Haustür drang an ihr Ohr. Isabelle und Hartford diskutierten aufgeregt miteinander, doch sie verstand kein Wort. Es war ihr auch egal. Karen hätte den Sätzen sowieso nicht folgen können, so sehr rasten ihre Gedanken.

»Ich schwöre. Ich habe diese Dinge noch nie in meinem Leben vorher gesehen. Ich war auch noch gar nicht an dieser Schublade. Ich hab damit nichts zu tun. Bitte glaubt mir. Es muss einer von euch gewesen sein.«

»Ich glaube ihr«, verblüffte Isabelle, die unbemerkt wieder das Haus betreten hatte. Sie quittierte die erstaunten Blicke mit einem schwachen Nicken. Schweigend trat sie zu den anderen und ließ ihre Hand ebenfalls in die Schublade verschwinden. Sie hielt schließlich einen kleinen Schlüssel zwischen Zeigefinger und Daumen. Alle hielten den Atem in der Erwartung an, was Isabelles Erklärung dafür sein würde.

»Das muss dann wohl zu mir gehören. Nur habe ich keinen blassen Schimmer, wo dieser Schlüssel passen soll.«

Wortlos starrten vier Augenpaare auf die Gegenstände, die sie gerade aus der Schublade geholt hatten. Fünf persönliche Dinge, die in einem irischen Cottage am Ende einer Sackgasse auf der Insel vor der Insel versteckt waren. In einem Haus, indem niemand von ihnen je zuvor gewesen war.

Zufälle gibt es nicht. Nur das Schicksal.

Schuldige und ihr Gut.

Karen wusste nicht, woher dieser Gedanke in ihrem Kopf plötzlich gekommen war. Sie schüttelte sich, um das Gefühl des Unheils abzuwehren. Der Raum war erneut von Stille erfüllt. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Was dachten sie, fragte sich Karen augenblicklich. Ihre Freunde machten sie für etwas verantwortlich, das sie nicht zu verantworten hatte. Karen zerbrach sich das Hirn, was das zu bedeuten hatte. Doch sie hatte keinen blassen Schimmer, warum ein Anflug von Angst sich in ihrem Inneren festsetze. Es sollte das beste Jahrestreffen aller Bisherigen werden, das hatte sie sich so fest vorgenommen. Doch nun war die Stimmung bereits dahin, bevor es überhaupt erst richtig begonnen hatte. Fünf Gegenstände hatten sie verdorben. Oder war es nicht vielmehr derjenige, der sie dort deponiert hatte? Wer war es gewesen? Karen wusste mit Sicherheit nur, dass sie selbst nicht dahinter steckte. Einer der anderen? Der Vermieter? Jemand Fremdes?

Das war doch absurd, dachte Karen. Schließlich hatte jeder Gegenstand etwas mit ihnen zu tun. Also musste auch einer von ihren Freunden dahinter stecken. Das war nur logisch. Es würde sich bald auflösen, hoffte sie. Und trotzdem wollte das Gefühl der Angst nicht gehen.

»Wo hast du uns hingeführt?«, fragte Stephen erneut, klang jedoch längst nicht so vorwurfsvoll wie Hartford zuvor. Zweifel und Unbehagen schwangen in seiner Stimme mit.

Das wüsste ich auch gern, dachte Karen und wandte sich ab, um die Tränen hinunterzuschlucken, die sich bereits mit voller Macht ankündigten.

 

Zwei Tage zuvor

»Es wird sicher wunderschön werden, mach dir keine Sorgen.« Brenda lächelte Karen warm an. »Und nun raus mit dir, du hast doch bestimmt noch tausend Dinge vorzubereiten.«

Karen nickte. Das hatte sie wirklich. Sie konnte ihren Feierabend kaum abwarten. Ungeduldig wollte sie endlich all die Pläne verwirklichen, die sie seit Tagen in ihrem Kopf immer wieder theoretisch überarbeitete. Das Jahrestreffen. Zum ersten Mal sollte sie es ausrichten.

Karens Herz erwärmte sich jedes Mal, sobald sie an ihre Freunde dachte. Sie waren die einzige Familie, die ihr noch geblieben war. Ihre Vertrauten. Ihre Geheimnisträger. Ihre Seelenverwandten. So hatte sie ihre vier Collegefreunde einst ihrer Kollegin Brenda beschrieben.

»Das ist eine einmalige Verbindung, die wir besitzen«, hatte sie gesagt und dabei verträumt in den Raum geschaut. »Egal, wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben, es ist, als wäre das letzte Treffen erst gestern gewesen.«

»Darum beneide ich dich wirklich. Halt sie gut fest, deine Freunde.«

»Das mache ich. Keine Sorge.«

Umso stärker war ihr Wunsch, das diesjährige Jahrestreffen zu einem unbedingten Erfolg zu machen. Schon vor Monaten hatte Karen mit den Planungen begonnen. Als Erstes dachte sie an einen Abenteuertrip. Danach an eine Bootstour. Doch beides wäre im Februar vielleicht nicht gut angekommen. Kurzzeitig hatte sie sogar überlegt, das Wochenende nach Dublin oder Cork zu verlegen. Die anderen hatten ja schließlich auch mit Metropolen in den Jahren zuvor geglänzt. Ein gemütliches Essen in einem Pub, vielleicht eine durchtanzte Nacht wie in alten Zeiten? Doch Karen hatte den Gedanken schließlich verworfen. Nein. Die vergangenen Jahrestreffen waren für ihren Geschmack zu distanziert gewesen. Teilweise hatten die fünf Freunde sogar in unterschiedlichen Hotels gewohnt und sich nur einmal am Tag zum Essen getroffen. In Zürich hatte Karen eine Einladung für das gesamte Wochenende in Isabelles Villa erwartet. Doch stattdessen fand hier nur ein Dinner statt. In Barcelona waren die gemeinsamen Ausflüge an Strand und zu den Sehenswürdigkeiten zwar aufregend, aber doch auch ablenkend. Und Mailand? Diese Stadt war einfach nur laut.

Nein. IHR Jahrestreffen sollte sich abheben und persönlicher sein. Ein authentisches Wochenende war Karen am wichtigsten. Daher war es unmöglich, die kleine Insel Valentia dafür zu verlassen, die sie inzwischen so sehr liebte. Es sollte gemütlich sein, abseits von Menschenmassen und Attraktionen. Karen wünschte sich vor allem Zeit mit ihren Freunden. Sie wollte gemeinsam in einem Haus mit ihnen sein. Eine Wanderung durch die Landschaft schwebte ihr genauso vor wie ein tolles Geburtstagsessen für Isabelle.

»Tschüss, bis zum Dienstag.« Karen winkte voller Enthusiasmus ein letztes Mal in das kleine Büro, Brenda entgegen, und verschwand schon durch den Türrahmen. Einkaufen, Bettwäsche vorbereiten, der Transport … sie hatte so viel auf ihrer To-do-Liste. Karen konnte es kaum eiliger haben.

Ihre Freunde! Vorfreude übermannte sie. Sie hatten sich ein Jahr lang nicht gesehen. Die Wiedersehensfreude war quasi vorprogrammiert in dem kleinen Cottage, das Karen extra angemietet hatte. Eine Traumkulisse in ihren Augen. Hoffentlich würde es den anderen auch gefallen.

Es war ein altes Haus, jedoch frisch renoviert, hatte der Vermieter ihr erklärt. Im Inneren war alles neu und dem modernen Standard angepasst. Das Haus hatte fast mehr Luxus als die kleine Wohnung, in der Karen auf Valentia ein Heim gefunden hatte. Das würde die anderen bestimmt beeindrucken. Dennoch fühlte sich Karen verunsichert. Der Schwärmerei Brenda gegenüber zum Trotz, musste Karen sich eingestehen: Irgendwie hatten sich alle seit ihrem Schulabschluss verändert.

War das nicht normal, fragte sich Karen, als sie die kleine Straße in Portmagee hinab eilte, um zu ihrem alten, verbeulten Ford Fiesta zu gelangen. Schließlich war der Schulabschluss bereits vier Jahre her. Menschen veränderten sich, vor allem, wenn sie in fünf verschiedenen Städten lebten. Dennoch: Karen konnte nicht benennen, was nun zwischen ihnen stand. Der Gedanke, diese Verbundenheit zu verlieren, bereitete ihr unendliche Angst. Isabelle, Francis, Hartford und Stephen waren in der Collegezeit ihr Fels in der Brandung gewesen. Denn Karens Leben war bis dato längst nicht leicht gewesen und Freunde hatten darin nicht immer viel Platz.

Lebhaft konnte Karen sich noch daran erinnern, wie sie oft als Kind und später als Teenager im Personalraum des »King Street Townhouse« in ein Buch vertieft war. Karen machte es damals nicht viel aus, sich mit sich selbst beschäftigen zu müssen, während ihre Mutter für einen Hungerlohn die Hotelzimmer putzte. Sie wusste, dass ihre Eltern hart schufteten, um ihrer Tochter ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen auf dem Teller bieten zu können. Das Hotel war ihr zweites Zuhause, Kontakt mit Gästen war jedoch strengstens verboten. Und so war lange Zeit der alte Mister Wilson ihr bester Freund, steckte der freundliche Portier ihr doch oft heimlich einen Schokoladenriegel zu.

Das Leben verschlechterte sich rapide mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters. Karen war gerade 15 Jahre alt geworden, als ein Auto ihn auf dem Heimweg vom Pub überfuhr. Das war der schlimmste Tag in ihrem Leben. Er verursachte nicht nur unbändige Trauer, sondern auch Karens plötzliches Erwachsenwerden. Von nun an musste Karen ihrer Mutter noch mehr beistehen. Gemeinsam versuchten sie, die Trauer um James zu verarbeiten. Um nicht auch noch die Wohnung zu verlieren, ging Karen neben der Schule nun ebenfalls arbeiten. Ihre Mutter Sofia ließ es nicht zu, dass sie die Schule abbrach. Dazu war sie zu gut, argumentierte ihre Mutter permanent. Karen hatte ein Sprachtalent, sowohl für die Heimische als auch für Fremdsprachen. Karen liebte nach wie vor das Lesen, lernte aber mit gleicher Begeisterung Französisch, Spanisch und Italienisch. Es war die Zeit eines harten Überlebenskampfs. Doch es war auch die Zeit, in der ihr Wunsch nach einem Touristikstudium entbrannte. Es war jedoch nicht die Zeit für Freunde.

»Hallo Karen.« Mrs Connors Stimme riss sie aus ihren Gedanken und winkte lächelnd hinter der Kasse des kleinen Shops hervor. »Schon Feierabend?«

»Nicht viel los im Februar«, antwortete Karen freundlich. »Das muss ich doch ausnutzen.«

»Das machst du richtig, Mädchen. Die Touristen stressen uns schon früh genug wieder.«

Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Doch daran wollte Karen jetzt nicht denken. Nichts sollte ihre Vorfreude auf das Wochenende verderben. Mit geübten Bewegungen ergriff sie Milch, Kartoffeln und Brot aus den Regalen, schwatzte mit Mrs Connor über das Wetter und eilte schon wieder hinaus auf die kleine Straße. Karen konnte sich an den bunten Häusern rechts und links nie sattsehen. Sie lächelte, obwohl es gerade leicht zu nieseln begann. Portmagee war ein irisches Dörfchen, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Nur hatte Karen nie geahnt, hier einmal zu stranden.

Zunächst sah alles nach einer Putzkarriere für Karen aus. Nach dem Schulabschluss hatte sie eine Vollzeitstelle als Putzfrau im Hotel wie ihre Mutter angenommen. Für ein Studium fehlte den beiden Frauen das Geld. Doch zumindest in der Liebe schien ihr das Glück plötzlich hold. Matt war zwei Jahre älter als sie, studierte Literatur und wollte Schriftsteller werden. Er hatte sich tatsächlich in das unscheinbare Mädchen Karen verliebt. Zwei Jahre lang war das Leben geordnet, gesichert und oft auch glücklich. Flüchtige Freundschaften mit Kolleginnen brachten lustige Abende, Matt schenkte ihr Romantik, erste sexuelle Erfahrungen und den Glauben an eine Zukunft. Doch das alles sollte abrupt enden. Als Matt sich von ihr trennte, um in die Welt zu ziehen, fühlte Karen sich ihrer Zukunft beraubt. »Ein Schriftsteller muss reisen«, hatte er in seinem Abschiedsbrief formuliert, den er feige mit der Post geschickt hatte. Unglücklich und mit gebrochenem Herzen stürzte sich Karen in die Arbeit. Sie verkroch sich noch mehr hinter ihren Büchern, die sie weiter aus der Bibliothek ausleihen musste, weil sie sich einen Kauf nicht leisten konnte. Es waren trübe Tage. Einsam. Und wieder ohne Freunde. Bis eines Tages ein Brief des University College of Birmingham eintraf, der ihr ein Stipendium versprach.

»Wie kann das sein?«, hatte Karen ihre Mutter staunend gefragt.

»Hartnäckigkeit, mein Liebling. Mehr steckt da nicht dahinter.« Sofia lächelte warm und verriet schließlich ihr Geheimnis. Karens Mutter hatte ihre Tochter seit deren Schulabschluss jedes Jahr aufs Neue für ein Stipendium angemeldet. Die vierte Bewerbung war erfolgreich. Dass dem UCB gerade der Status einer Universität verliehen wurde und damit auch der Stipendienfond sich erhöhte, hatte sicher auch einen Teil dazu beigetragen.

Karen fiel ihrer Mutter überglücklich in die Arme. Doch gleichzeitig hatte die Angst sie übermannt. Würde sie am College klarkommen? Würde sie im Lernstoff mithalten können? Und würde sie vielleicht endlich Freunde finden? Letzteres hatte sie an ihrem ersten Tag für völlig unmöglich gehalten, denn schließlich war sie bereits 20 Jahre alt und damit deutlich älter als ihre Kommilitonen. Allein das machte Karen zum Außenseiter. Hinzu kam ihr unscheinbarer Look. Karen war schon immer der natürliche Typ gewesen, trug ihre dunkelblonden, schulterlangen Haare nicht in einem besonders modischen Schnitt und störte sich selbst kaum an der dicken, großen, runden Brille. Ihr Gesicht war rund und weich mit vollen Lippen, vollen Wangen und zeigte bereits erste Fältchen unter den Augen und an der Seite. Nett, aber unscheinbar – so würde sich Karen selbst beschreiben. Dieses Aussehen konnte ihrer Meinung nach nicht bei der Freundschaftssuche helfen. Zudem wohnte Karen nicht auf dem Campus, sondern weiter bei ihrer Mutter. Eine Bücherratte zu sein, die ihre Freizeit freiwillig in der Bibliothek verbrachte, war ebenfalls nicht hilfreich.

»Verzeihung. Das tut mir sehr leid«, stammelte Karen in der dritten Studienwoche. Rumpelnd waren die Bücher zu Boden gefallen, die sie gerade aus den Bibliotheksregalen zum Ausleihen zusammengesucht hatte. Der Stapel war so hoch gewesen, dass Karen nicht mehr sehen konnte, wohin sie trat.

»Nichts passiert«, antwortete die hübsche Blondine, mit der sie zusammengestoßen war. Ihr Lächeln war warm und Karen sofort sympathisch. Gemeinsam sammelten sie die Bücher auf und sortierten, welches zu wem gehörte. Die Blondine hatte nicht viel weniger auf dem Arm getragen.

»Das gibt es doch nicht«, lachte sie plötzlich. »Schau. Offenbar sind wir beide Fan von Harlan Coben.« Sie hielt zwei identische Cover in die Höhe. Nun hatte auch Karen lachen müssen.

»Ich bin Isabelle.« Die Blondine streckte ihr freundlich die Hand entgegen. »Schön dich kennenzulernen.«

»Ähm … ja. Ebenso«, stotterte Karen und ergriff zaghaft die Hand.

»Und?«

»Und was?«

»Na, wie heißt du?« Die Blondine lachte erneut auf.

»Oh, entschuldige. Ich bin Karen Walsh. Ich habe gerade den Bachelor in Tourismus angefangen.«

Mit diesem Satz begann eine wunderbare Freundschaft. Wie sich herausstellte, waren Isabelle und Karen nicht nur in gleichen Kursen, sondern sich auch im Alter und in ihren Vorlieben ähnlich. Als Isabelle Karen eines Freitags zum Dinner in ihr kleines Studienappartement einlud, wähnte sich Karen im siebten Himmel. Isabelles Zimmergenossin Francis war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie hatte sie bereits ebenso in dem einen oder anderen Kurs gesehen. Hartford gefiel ihr mit seinen Witzen, den kecken Andeutungen und der lebensfrohen Einstellung. Und dann war da noch Stephen.

»Pass doch auf, Mädchen.« Vorwurfsvolle braune Augen starrten sie an und warfen Karen zurück in die Gegenwart. Sie hatte Edward vor lauter Tagträumerei fast über den Haufen gerannt. Karen musste unwillkürlich grinsen.

Der kleine Mann ging jeden Nachmittag auf ein, zwei Bier in den Pub, um sich zeitgleich über den neuesten Klatsch zu erkundigen. Mit diesen Informationen brachte er am nächsten Morgen den Postboten auf den neuesten Stand. Portmagee war ein Dorf, hier blieb nichts geheim wie auf der gesamten Insel. So manches Gerücht schaffte den Weg bis nach Knightstown schneller, als ihn Karen mit ihrem klapprigen Ford fahren konnte.

»Tut mir leid, Eddie«, entschuldigte sich Karen pflichtbewusst. »Ich war völlig in Gedanken.«

»Ja, das hab ich gesehen, Mädel. Hast wohl Großes vor?«

Und ob sie das hatte. Doch Karen würde einen Teufel tun, dem geschwätzigen Alten ihre Pläne zu verraten. Das Risiko einer Menschenansammlung vor dem Cottage, unter dem Vorwand eines freundlichen Begrüßungsbesuchs, war ihr zu groß. Denn mit Begrüßen würden die Valentianer viel eher Begutachten meinen. Die Neugier der Einheimischen erstaunte Karen noch immer. Niemals würden sie sich diese Gelegenheit entgehen lassen, einen Blick auf Karens Freunde zu erhaschen. Die fünf Freunde wären eine Zeit lang der Inselklatsch Nummer eins. Diese Eigenart ließ Karen immer wieder zusammenzucken. Sie mochte Gerede nicht. Aus eben diesem Grund hatte sie noch keine Freunde auf Valentia gefunden. Karen besaß Kollegen hier, Bekannte da. Aber keine Vertrauten. Das waren Isabelle, Francis, Hartford und Stephen.

»Ein Wochenende wie immer.« Karen lächelte verschmitzt. Nur Brenda und der Vermieter des Cottage wussten mehr. Und das sollte auch so bleiben.

»Wohl wieder auf Wanderschaft?«

»Wer weiß, mal sehen. Aber ich muss wirklich weiter.«

»Dann genieße die Landschaft, Mädel. Und pass auf dich auf. Vor allem, wo du hinläufst.« Edward hob seine Mütze kurz zum Gruß und setzte seinen Weg schlurfend fort. Karen kam nicht umhin, ihm lächelnd hinterherzuschauen.

Bettwäsche vorbereiten, der Transport – rief sie sich in Erinnerung und stürmte nun auf ihr Auto zu. Hoffentlich würde es anspringen, betete Karen inständig. Gerade heute durfte die alte Klapperkiste sie nicht im Stich lassen. Autos waren Karen nicht immer wohlgesonnen und auch sie mochte die Blechungeheuer nicht wirklich. Karen war lieber zu Fuß in der atemberaubend schönen irischen Landschaft unterwegs. Doch mit einer Arbeitsstelle in Portmagee und einer Wohnung in Knightstown am anderen Ende von Valentia kam sie um ein Auto nicht herum.

Valentia war eine wunderschöne Insel, doch die Landschaft eher ein Bonus, denn für Karen bedeutet sie lediglich ein Zufluchtsort. Nach ihren letzten Schicksalsschlägen hoffte sie, hier einen Neuanfang machen zu können.

Zunächst schien nach dem Collegeabschluss alles wunderbar für sie zu laufen. Karen hatte Andrew kennengelernt und war ihrem Freund nach London gefolgt. Doch nur zwei Jahre später beendete die schreckliche Krebsdiagnose ihrer Mutter diese neu gewonnene Idylle. Dass Karen ihren Freund in flagranti am selben Tag beim Fremdgehen erwischte, war ein weiterer Schlag. Sie brauchte lediglich zwei Tage, um ihren Job zu kündigen, ihr Hab und Gut zu packen und zurück nach Birmingham zu gehen. In den folgenden Monaten verdrängte Karen ihren Kummer und ersetzte ihn mit der Sorge um ihre Mutter. Karen pflegte sie bis zum letzten Atemzug. Wie viel Kraft sie all das gekostet hatte, war ihr erst nach deren Tod wirklich bewusst geworden. Mit einem Mal hielt sie es in ihrer alten Wohnung nicht mehr aus. Karen flüchtete. An den westlichsten Zipfel der irischen Insel. Auf Valentia hatte sie vor eineinhalb Jahren eine kleine Wohnung gefunden, einen Job in einer Agentur für Bootsausflüge zu den sagenumwobenen Skellig-Inseln begonnen und langsam wieder durchgeatmet. Die Arbeit mit den Touristen lag ihr, konnte sie endlich mit ihrem Sprachtalent brillieren. Karen verbrachte viel Zeit in der freien Natur. Und langsam heilten ihre Wunden.

Der Nachrichtenton ihres Handys ließ Karen kurz zusammenzucken. Doch einen Blick später lächelte sie.

 

Bleibt es dabei?

Stephen

 

Stephens Textnachricht in der Messengergruppe war kurz angebunden, wie immer. Karen lächelte in sich hinein. Stephen war kein Mann der großen Worte.

 

Natürlich. Warum sollte es das nicht? Ich erwarte euch sehnsüchtig und bereite längst alles vor.

Karen

 

Hey Leute. Ich kann es kaum erwarten, mit euch wieder zu trinken. Hole gleich Francis ab und dann sehen wir uns. Hartford.

 

Ihr wisst, wo ihr alle hinmüsst? Ich hänge den Standort noch mal dran. Fahrt vorsichtig, ich freue mich riesig auf euch. Karen

 

Kuss. Bis bald.

Isabelle

Mit einem Lächeln steckte Karen ihr Handy wieder in die Tasche. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Ihre Vorfreude war nicht mehr steigerbar. Bald wären sie alle hier. Vereint wie früher. Karen malte sich bereits die gemütlichen Szenen aus, in denen sie gemeinsam lachen und wie in alten Zeiten die Freundschaft genießen würden. Hartford würde Witze reißen und seinen Kumpel Stephen wie immer aufziehen. Isabelle würde von neuesten Erkenntnissen ihrer Leidenschaft erzählen. Francis wäre sicher wieder sehr ruhig am Anfang, wüsste jedoch am besten über alle Gemütszustände Bescheid.

»Bitte«, murmelte Karen nun, als sie den Schlüssel im Zündschloss umdrehte. Ein lautes Knattern ertönte und Karen dankte Gott, dass ihr Auto sie nicht im Stich ließ. Jetzt aber schnell, dachte sie. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, alles vorzubereiten. Es sollte alles perfekt werden, das Jahrestreffen in ihrer kleinen Idylle auf Valentia. Mit Lachs, Kartoffeln und Gemüse als Einstandsessen.

 

27. Februar, 21.05 Uhr

»Es tut mir leid.«

Unglücklich senkte Karen ihren Blick. Ein Zischen hatte sie aus der Schockstarre gerissen. Karen war zur Pfanne gehechtet, konnte jedoch den Lachs nur noch schwarz herausfischen. Isabelle flüsterte hinter ihrem Rücken verschwörerisch auf Francis und Stephen ein. Die Worte drangen nicht zu ihrem Ohr, doch Karen konnte erahnen, was sie beinhalteten.

Ruhe bewahren. Keine voreiligen Schlüsse. Es wird sich aufklären, befahl sie sich selbst.

Dabei war sich Karen dessen überhaupt nicht sicher. Unglücklich präsentierte sie den verbrannten Fisch.

»Oh je.« Isabelle sprang ihr sofort zur Seite. »Gib mal her. Ich kenne da einen Trick.« Ohne Widerspruch zu dulden, riss sie Karen die Pfanne aus der Hand und schob sie sanft aus der Küche.

»Mir ist kalt«, flüsterte Francis neben dem Feuer. »Gibt es hier vielleicht irgendwo eine Decke, Karen?« Hätte sich Karen nicht selbst von den eiskalten Fingern überzeugt, hätte sie tatsächlich geglaubt, dass dies nur ein Ablenkungsmanöver darstellen sollte. Aber Francis zitterte tatsächlich wie Espenlaub.

Vor Angst. Nicht vor Kälte!

Mit zwiespältigen Gefühlen ging Karen zur Couch, hob eine Seite der Sitzfläche an und zog eine Wolldecke hervor.

»Danke«, flüsterte Francis, als sie ihr die Decke um die Schultern legte.

Stephen deckte derweil weiter wortlos den Tisch. Sein Gesicht wirkte verkniffen, die Lippen fest aufeinandergepresst. Düster blickte er das Besteck an, das er sorgfältig neben die Teller legte. Stephen blickte nicht mal auf, als Hartford ebenso wortlos in die Küche zurückkehrte und sich ein Glas Wasser aus der Leitung eingoss.

Wasser? Hartford?

Karen stöhnte erneut innerlich auf. Gerade an ihn hatte sie beim Kauf des teuren irischen Whiskeys und prämierten Weins aus Frankreich gedacht. Irgendetwas stimmte hier nicht, überkam Karen die Erkenntnis schlagartig. Träumte sie vielleicht? War sie noch gar nicht im Cottage, sondern lag noch in ihrem Bett? War es ein Albtraum, der aufhörte, sobald sie erwachte? Karen betete inständig, es möge so sein. So hatte sie sich ihr diesjähriges Treffen in den Wochen zuvor nicht erträumt. Es sollte alles perfekt sein. Liebevoll. Freudig.

»Kommt jetzt essen«, rief Isabelle fast im gleichen Augenblick und zeigte auf den Tisch, wo Gemüse und Soße schon auf ihren Verzehr warteten. Als Letztes fügte Isabelle die Pfanne hinzu. Wie durch ein Wunder waren die verbrannten Stellen auf dem Fisch verschwunden. Doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Lachs viel zu durch und staubtrocken geworden war.

Wie verstaubte alte Bilder!

Karen schüttelte sich instinktiv. Über die Funde hatte keiner auch nur ein einziges weiteres Wort verloren. Ohne Kommentar waren sie wieder in der Schublade gelandet. Karen wusste nicht, wer sie weggeräumt hatte. Doch mit ihnen war auch die gute Stimmung verschwunden.

»Es schmeckt wirklich köstlich«, nuschelte Stephen. »Für den Lachs kannst du doch nichts.«

»Na ja. Das kommt darauf an, wie man es betrachtet.«

Karen brach ab. Vier Augenpaare starrten sie stumm an. Karen konnte die Fragen in den Blicken ihrer Freunde förmlich sehen. Die Spannung, die ihr entgegen schwappte, war regelrecht zu spüren. Doch sie selbst hatte keine Antwort.

»Raus mit der Sprache«, begann Stephen schließlich nun das anzusprechen, worum ihrer aller Gedanken seit Minuten kreisten. »Was ist das für ein Spiel, was du dir da ausgedacht hast? Du solltest uns das wirklich verraten.«

Karen blieb der Mund offenstehen.

»Spiel?«

»Na, das Taschentuch, die Kette … du weißt schon. Was steckt dahinter?«

»Ich weiß es nicht«, beteuerte Karen erneut. Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. »Ich …« Ihre Stimme brach ab und ging in ein Schluchzen über.

»Nicht jetzt, Stephen. Lass es gut sein«, flüsterte Francis und streichelte Karen beruhigend den Arm. »Siehst du nicht, wie aufgelöst sie ist?«

Schulterzuckend widmete Stephen sich wieder dem misslungenen Mahl. Es existierten keine passenden Worte. Der Appetit schien auch allen vergangen zu sein. Statt zu essen, schob jeder auf seine Art das Essen auf dem Teller lediglich hin oder her. Die Weingläser blieben unberührt. Eine ungemütliche Stille ummantelte die Freunde und Karen wünschte sich, irgendjemand würde trotzdem sprechen.

»So. Mir reicht es.« Hartfords Stimme schnitt die dicke Luft im Raum schließlich entzwei. »Ich glaube, für heute Abend sollten wir es dabei belassen. Ich geh ins Bett.«

Zur Untermauerung seiner Worte stand er ruckartig auf, nahm seinen noch halb vollen Teller und flüchtete in die Küche.

»Aber«, widersprach Karen geschockt. »Isabelles Geburtstag. Wir wollten doch ...«

»Ach, mir ist das nicht so wichtig«, schnitt ihr Isabelle sofort das Wort ab. »Wir haben noch den gesamten morgigen Tag zum Feiern. Da müssen wir nicht auf Teufel komm raus heute Nacht reinfeiern.« In ihrem Blick lag Aufrichtigkeit. »Und ich bin auch müde«, fügte sie leise hinzu.

Karen starrte ihre Freunde an. Enttäuschung kroch wieder bis in ihre Haarspitzen. Sie hatte sich diesen Abend anders vorgestellt. Er hätte fröhlich und ausgelassen sein sollen, in einer Atmosphäre von Zuneigung und Wiedersehensfreude. Karen hatte sich auf viele Toasts und noch mehr Wein gefreut. So wie damals …

»Vielleicht hat Hartford recht«, pflichtete nun auch Francis bei. »Wir sollten es für heute belassen. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Damit schwand Karens letzte Hoffnung. Der Abend war unwiederbringlich verdorben und verloren.

»Also. Gute Nacht, liebe Freunde«, sagte Hartford nur knapp und schritt so schnell am Tisch vorbei, dass Karen ein kalter Windhauch traf. Sie fröstelte.

»Gute Nacht«, schloss sich auch Isabelle an und verschwand.

»Du hast es gut gemeint.« Francis nickte ihr noch einmal zu, bevor sie ebenfalls den Raum auf leisen Sohlen verließ.

Schockiert und traurig blieb Karen auf ihrem Stuhl sitzen. Nun waren es nur noch zwei am Tisch. Stephens Blick verriet keine Emotion. Seine Blicke waren immer noch auf seinen Teller geheftet. Karen zermarterte sich das Hirn, um die richtigen Worte zu finden.

Warum sagte er nichts?

---ENDE DER LESEPROBE---