Irland-Thriller - Ballincoona – Ruf der Vergangenheit - C.K. Jennar - E-Book

Irland-Thriller - Ballincoona – Ruf der Vergangenheit E-Book

C.K. Jennar

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  • Herausgeber: C.K. Jennar
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das sind Ruinen! Unmöglich! Das denkt sich der unglückliche Immobilienmakler Alexander Meier, als sein Boss ihn zu deren Renovierung nach Irland schickt. Der pragmatische Zahlenliebhaber glaubt nicht an das Projekt. Bald aber geschehen mysteriöse Unfälle in den alten Gemäuern, die Alex aufschrecken lassen. Düstere Träume nehmen ihn gefangen. Da ist eine mystische Verbindung – dessen ist sich die deutschstämmige Fotografin Maggy Shean sicher. Sie drängt Alex dazu, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Welche Rolle spielt die einstige Erbauerin Lady Broderick in Gegenwart und Vergangenheit? Als Alex und Maggy auf Verbindungen zur IRA stoßen, begeben sie sich in große Gefahr. „Ballincoona – Ruf der Vergangenheit“ ist ein spannungsgeladener Irland-Thriller mit einem wahren Kern. Die Geschichte der Grünen Insel ist einzigartig. Entstanden in den Tagen des irischen Unabhängigkeitskrieges, zeugen noch heute Efeu-bewachsene Ruinen vom Treiben der IRA. Die einstige Siedlung „Ballincoona“ ist mehr als ein Lost Place. Wenn diese alten Gemäuer erzählen könnten, würden sie viele Abende mit ihren Geschichten ausfüllen. In dieser einzigartigen Kulisse vor der irischen Westküste lernt Alex Meier ein Irland kennen, das ihm bisher fremd war: Eine atemberaubende Landschaft mit einer faszinierenden und zugleich schockierenden Vergangenheit, dessen mystisches Geheimnis noch entschlüsselt werden muss. Wird es ihm gelingen? Wird er sein vorgezeichnetes Schicksal akzeptieren?

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Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Dein Leseglück ist mein Ziel!

Prelude

Gefährliche Zeiten

Ein irischer Ruf

Aufbruch ins Ungewisse

Unheimlicher Besuch

Eine zarte Verbindung

Die Zahl des Grauens

Grabesstille

Kampf für Freiheit

Böse Drohung

Zaghaftes Versöhnen

Die erste Schlacht

Mord in den Ruinen

Der vergessene Dachboden

Ein unerwarteter Fund

Schmerzvoller Abschied

Das Meer türmt sich auf

Veränderte Zeiten

Fieberwahn

Lughnasadh

Schutz aus der Vergangenheit

Ein Leben voller Lügen

Der Erbe von Ballincoona

Postlude

Danksagung

Glossar

Meine Fotos

Über die Autorin

Deine Zufriedenheit ist mein Ziel!

Weitere Bücher von C.K. Jennar

Impressum

C.K. Jennar

Irland-Thriller: Ballincoona – Ruf Der Vergangenheit

Irland-Buch über eine irische Familiengeschichte in irischen Ruinen – ein Psycho Thriller Buch

Über das Buch

Das sind Ruinen! Unmöglich! Das denkt sich der unglückliche Immobilienmakler Alexander Meier, als sein Boss ihn zu deren Renovierung nach Irland schickt. Der pragmatische Zahlenliebhaber glaubt nicht an das Projekt. Bald aber geschehen mysteriöse Unfälle in den alten Gemäuern, die Alex aufschrecken lassen. Düstere Träume nehmen ihn gefangen.

Da ist eine mystische Verbindung – dessen ist sich die deutschstämmige Fotografin Maggy Shean sicher. Sie drängt Alex dazu, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Welche Rolle spielt die einstige Erbauerin Lady Broderick in Gegenwart und Vergangenheit? Als Alex und Maggy auf Verbindungen zur IRA stoßen, begeben sie sich in große Gefahr.

„Ballincoona – Ruf der Vergangenheit“ ist ein spannungsgeladener Irland-Thriller mit einem wahren Kern. Die Geschichte der Grünen Insel ist einzigartig. Entstanden in den Tagen des irischen Unabhängigkeitskrieges, zeugen noch heute Efeu-bewachsene Ruinen vom Treiben der IRA.

Dein Leseglück ist mein Ziel!

Lieber Leser, liebe Leserin,

ich freue mich, dass Du dieses Buch erworben hast. Vielen herzlichen Dank. Kunst ist ein brotloses Unterfangen, heißt es. Ich kann bestätigen, dass es gar nicht so einfach ist, vom Schreiben leben zu können. Aber da es meine Leidenschaft ist, freue ich mich über jeden Verkauf!

Dennoch möchte ich, dass mein Buch für Dich zu einem einzigartigen und wundervollen Leseerlebnis wird. Deswegen liegt mir Deine Meinung ganz besonders am Herzen!

Ich würde mich über Dein Feedback zu meinem Buch freuen! Hast du Anmerkungen? Gibt es Kritik? Bitte lass es mich wissen. Deine Rückmeldung ist wertvoll für mich, damit ich in Zukunft noch bessere Bücher für Dich schreiben kann.

Schreibe mir gerne: [email protected]

Nun wünsche Dir viel Freude mit diesem Buch!

C.K. Jennar

Prelude

So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, was ich erwartet hatte. DAS? Bestimmt nicht. Nicht diese Stille. Nicht diese Unheimlichkeit, die diese schwarzen Brocken voller grausam wirkenden Geschichten zu erzählen scheinen.

Sie thronen majestätisch in ihrem Schwarz vor dem hellgrauen Hintergrund. Sie wirken bedrohlich, als wollten sie ihre Arme jeden Augenblick nach mir ausstrecken, mich in sie hineinziehen und in ihrem dunklen Geheimnis verschwinden lassen.

Dabei sind es nur Ruinen. Reste von Häusern. Überwucherte Gemäuer. Und doch scheinen sie zu leben.

Es riecht nach Gras. Frisch gemäht. Die Feuchtigkeit der Luft legt sich auf meine runzlige Haut im Gesicht. Ich kann das Salz des Meeres auf meinen trockenen Lippen schmecken, das sich direkt dahinter auftürmt. Der Wind peitscht es lautstark gegen die Klippen. Es wirkt fast wie ein Wunder, dass die Wellen nicht bis zu den alten Mauern hoch spritzen.

Inzwischen bin ich fester auf meinen Beinen. Doch das war bei den ersten Schritten auf der Weide nicht der Fall. Ich bin heute besonders wackelig, mein Körper schwach. Aber mein Wille ist ungebrochen. Einmal muss ich sie sehen. Ein einziges Mal, bevor ich diese Erde verlassen muss. Und so kämpfe ich mich Schritt um Schritt meinem Schicksal näher.

Für jemand anderen mögen das nur hässliche Ruinen sein, wie sie hier überall in Irland zu finden sind. Doch für mich sind sie so viel mehr.

Meine Vergangenheit. Mein Beginn. Mein Ende. Nach über neun Jahrzehnten ist es mir endlich vergönnt.

Ein erster Blick.

Und ein letzter Blick.

Mein Stock bohrt sich tief in die weiche, schlammige Erde, als ich wie magisch angezogen immer weiter auf die Ruinen zusteuere. Schritt um Schritt spüre ich ihre Bedrohung mehr. Sie wollen mich einschüchtern, diese kalten, nassen Mauern. Dabei ist es doch lächerlich, einer Todgeweihten zu drohen. Ich lasse mich längst nicht mehr so leicht ängstigen.

Von der Straße aus waren sie noch klein gewesen, die sechs Gebäude. Wer auf der Vorbeifahrt nicht zufällig nach rechts schaut, in Erwartung das Meer zu sehen, der verpasst dieses einmalige Schauspiel. Eine Siedlung, vom Leben verlassen, die wie ein Mahnmal, zwischen grünen Büschen vor dem grauen Horizont, stolz ihr Dasein fristet. Die Dachgiebel des Haupthauses stoßen ohne ihre Bedeckung spitz in die dunklen Wolken. Als wollten sie sie öffnen, um endlich die Sonne durchzulassen. Doch je näher ich komme, desto klarer heben sie sich von der morgendlichen Dämmerung hinter ihnen ab.

Hier also hat alles begonnen? Ungläubig bleibe ich stehen und schüttle leicht meinen Kopf im Wind. Aber so wird es nicht enden. Nicht heute. Ich spüre es tief in mir drin: Diese Siedlung bringt mich nicht ins Grab. Sie hat eine Zukunft, die mir nicht vergönnt ist. Die ich nicht mehr brauche. Aber die Siedlung braucht sie. Dringender denn je. Mein Entschluss ist klar. Es muss so sein.

Ich spüre es, bevor es passiert: Langsam und gemächlich öffnen sich die Tore des Himmels. Ein kleiner, schwacher Strahl stößt hindurch und fällt direkt auf die Trümmer des rechten Gebildes. Die alten, kaputten Dachziegel, die sich kaum zu halten scheinen, beginnen zu glänzen. Sie fangen das Sonnenlicht ein und saugen es wie durstige Pflanzen in sich auf. Die Häuser glitzern. Erst sanft, dann stärker, bis sie mich in meinen schwachen alten Augen blenden. Unaufhaltsam bricht das Sonnenlicht jetzt durch die Wolkendecke hindurch und erwärmt nicht nur die Siedlung. Auch ich spüre nun die Hitze der Zukunft. Sie ist wie ein Zeichen, dass mein Entschluss der Richtige ist. Dass es so kommen soll.

Ich hätte erwartet, traurig zu sein. Doch ich bin es nicht. Ich weiß nicht genau woher, aber ich spüre ihre Zuversicht. Es wird alles gut werden, dessen bin ich mir sicher. Es wird seine Bestimmung finden. Die Siedlung findet ihr Schicksal. Die Tage der dunklen Bedrohung sind gezählt. Hoffe ich. Es wird nicht leicht werden, es wird viel fordern. Doch das Böse darf nicht gewinnen. Nicht nach all den Jahren.

Zufrieden lächle ich sie an. Auch das hatte ich nicht erwartet: Den inneren Frieden, der sich jetzt in meinem Herzen ausbreitet. Dieses himmlische Gefühl hüllt mich immer mehr ein, je länger ich auf die Siedlung starre. Habe ich das gesucht, ohne es zu wissen? Jetzt kann ich gehen. Jetzt bin ich vollständig. Ich hoffe, dass sie mir alle meine Fehler verzeihen werden. So, wie die Siedlung sie mir gerade verziehen hat.

Mit deutlich festerem Schritt als ich gekommen bin, wage ich langsam meinen Rückweg. Ich mag zwar gehen und meine Erinnerungen mit mir nehmen. Aber die Siedlung wird es nicht. Die Zeit der Ernte ist gekommen. Lughnasadh. Bald wird es mehr zu ernten geben.

Sie wird bleiben.

Sie wird leben.

Sie wird sein.

Gefährliche Zeiten

Ballincoona 1919

Sie musste um Himmels willen vorsichtiger sein, mahnte sie sich selbst. Ein falscher Schritt, ein falsches Geräusch und es wäre aus. Das wusste sie so sicher wie das Amen in der Kirche. So leise wie möglich versuchte Albinia, den schmalen Pfad entlang zu huschen. Das Gras strich an ihren Stiefeln entlang und sie glaubte, dessen Geräusch käme einem Kugelhagel gleich. Ihr Atem ging flach, aber schnell. Sie gab sich größte Mühe, keinen lauten Luftzug aus ihren Lungen entweichen zu lassen. Den Rock ihrer Uniform hielt sie straff um ihre Hüfte herum, damit dieser nicht rauschen konnte. Wenn es doch nur nicht so regnen würde, dachte sie.

Die Nacht lag ruhig und dunkel über dem Land. Es war so schwarz, dass sie unmöglich Augenpaare hätte ausmachen können. Wenn sie denn anwesend waren, um sie zu beobachten. Waren sie es? Wurde sie erneut überwacht? Oder hatten sie die Gegend längst wieder verlassen? Albinia horchte in die Nacht. Das Meer toste an die Klippen, doch abgesehen davon war alles ruhig. Eine kühle Brise wehte, die nicht unangenehm auf ihrer Haut kitzelte. Nach einigen Metern hatte sie sich auch an die Feuchtigkeit gewöhnt.

Die Tür knarrte unangenehm laut, als Albinia sie vorsichtig nach innen stieß. Ein kleiner Lichtschein trat augenblicklich durch den Spalt. Ihr Herz klopfte erneut bis zum Hals hinauf. Das Knarren war zu laut, das Licht zu hell, als dass es jemand übersehen konnte, wenn er danach Ausschau hielt. Hoffentlich beobachtete sie niemand, betete sie inständig.

Beruhige dich, ermahnte ihre Disziplin Albinia. Es wäre keinem geholfen, wenn sie nun die Nerven verlieren würde. Gerade sie müsste Ruhe bewahren und ausstrahlen. Hastig, aber leise, schloss Albinia die Tür und schritt in die Richtung der Lichtquelle. Die flackernde Kerze beleuchtete das Lager nur spärlich. Ein karges Bett aus Holz, aus dem ein Stöhnen entrann. Wie immer wunderte Albinia sich über die Grazie, als ihre Augen die Umrisse der zierlichen Person auf der Bettkante immer deutlicher wahrnahmen. Diese Feinheit und Lieblichkeit, die dieser zarte Frauenkörper ausstrahlte. Sie verglich sie immer mit sich selbst und konnte nur wenig davon in ihrer Statur ausmachen. Im Gegenteil. Resolute Stärke schien Albinias Körper dem weiblichen Charme vorzuziehen. Doch dieses wunderbare Geschöpf auf der Bettkante legte nun mit Anmut ein Tuch auf das Bein des Bettlägerigen.

Albinia räusperte sich leise, um sie nicht zu erschrecken. Augenblicklich drehte sich Rose um und Albinia konnte die weichen Gesichtszüge des 23-jährigen Mädchens erblicken. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als Rose sie erkannte.

»Wie geht es ihm?«

»Er ist mürrisch und könnte bessere Manieren haben.« Rose sprach im spöttischen Ton, gefolgt von einem strafenden Blick auf das junge Gesicht des Bettlägerigen herab. Der Mann in den Zwanzigern verzog seinen dreckverschmierten Mund zu einem frechen Grinsen. »Und, wenn er aufhören würde, sich ständig zu beklagen, würde es ihm sicher viel schneller besser gehen.«

Sie musste unwillkürlich auch lächeln, obwohl die Situation alles andere als das hervorrufen sollte. Es war ernst. Und gefährlich. Auch wenn Albinia diesen kleinen Flirt mehr als vergönnt fand, war dies nicht der richtige Ort und es war nicht die richtige Zeit.

»Rose, lass das. Sag mir lieber, wie es ihm geht.«

Das Lächeln schwand langsam.

»Er wird es schaffen. Es ist keine tiefe Wunde. Er hatte großes Glück. Der Schütze konnte nicht gut zielen. Es ist nur eine Fleischwunde und wird bald verheilt sein.«

Augenblicklich spürte Albinia Erleichterung. Gott sei Dank. Das hatte sich in dem Augenblick ganz anders angefühlt, als der Schuss erklungen war und die stille Nacht zerrissen hatte. Albinia hatte zwar gewusst, dass nach dem Aufruf zum Boykott der englischen Polizei einige Auseinandersetzungen geschehen würden, doch dass gleich einer von ihren Leuten so in Gefahr geriet, damit hatte sie nicht gerechnet.

Albinias Blick fiel auf das dreckverschmierte Männergesicht, das immer noch grinsend und unverhohlen Rose anstarrte. Er war vernarrt in sie, ja, das ließ sich nicht übersehen. Aber er war auch gut im Kampf. Mutig. Unerschrocken und von der Sache überzeugt. Nicht nur Rose zuliebe hätte Albinia es ungern gesehen, ihn zu verlieren. Wie sie keinen verlieren wollte. Dazu war ihr Kampf zu wichtig. Wie so oft entging Albinia die Ironie in diesem Gedanken nicht. Denn es war längst nicht ihr Kampf, entstammte sie doch genau genommen der Gegenseite. Doch sie hatte es zu ihrem Kampf gemacht. Sich nicht der Seite gebeugt, die ihre Geburt ihr vorschreiben wollte. Albinia hatte sich für die Seite entschieden, die sie für richtig hielt. Wie hätte sie je etwas anderes tun können, angesichts der Armut und des Elends, das ihr begegnet war? Nein, schüttelte Albinia ihren Kopf gedankenverloren. Sie hätte nie anders entscheiden können. Und deswegen war es genauso ihr Kampf wie der des Mannes, der nun verwundet auf einem ihrer Bettlager lag.

»Gut. Wasch die Wunde aus und wechsle den Verband regelmäßig. Denk an das Serum gegen Wundstarrkrampf. Und, wenn noch etwas da ist, gib ihm etwas Morphium.«

Rose blinzelte nun.

»Ich weiß wirklich nicht, ob er das verdient …«

»Tu, was ich sage«, unterbrach Albinia sie nun schroff. Der Ton war unmissverständlich. Rose nickte zögerlich, verzichtete jedoch auf jedes weitere Wort.

»Im Arbeiterhaus sind noch etwas Gemüsesuppe und Kartoffeln. Davon kannst du ihm später etwas bringen. Aber sei vorsichtig, hörst du? Ich möchte, dass du danach hierbleibst und nicht vor dem Morgengrauen wieder aus dem Haus gehst. Verstanden?« Rose nickte erneut, ohne ein Wort zu sagen. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann, dass sie gegen den unbändigen Willen nicht ankam. Und es besser auch nicht versuchen sollte. Dazu war Albinia zu willensstark, stur und manchmal fast schon zu radikal. Doch meistens lag Albinia bemerkenswert richtig mit ihren Einschätzungen, weswegen Rose ihr in vielen Fällen blind folgte. Sie bewunderte diese robuste, starke Frau dafür und versuchte immer, ein bisschen mehr wie sie zu werden. Auch wenn Rose stark bezweifelte, dies je auch nur ansatzweise erreichen zu können. Der Versuch war schon Genugtuung genug.

Ohne einen weiteren Wortwechsel machte sich Rose wieder ans Werk. Albinia drehte sich seufzend weg und schickte sich wieder daran, ihren Rock zu heben, um ihn erneut straff um die Hüften zu bannen.

»Du gehst doch nicht noch hinunter?«

»Natürlich. Wie immer. Warum sollte heute eine Ausnahme sein?«

»Weil sie immer noch da draußen sein könnten. Es ist gefährlich. Besonders heute Nacht. Es ist doch erst ein paar Stunden her.« Rose schüttelte heftig den Kopf und sie konnte ihre Angst in den Augen sehen. Angst, die sie auch spürte. Aber niemals zeigen würde.

»Es ist immer gefährlich. Die heutige Nacht stellt keine Ausnahme dar. Ich muss tun, was getan werden muss. Sie werden mich nicht aufhalten.« Als sie diese Worte aus ihrem Mund vernahm, bemerkte sie, dass sie sie fast mehr zu sich selbst sprach als zu Rose. Und sie wirkten. Wie immer.

»Aber was, wenn dir etwas passiert? Einen Mann haben sie heute schon angeschossen. Ich will nicht, dass du getötet wirst. Bitte geh nicht. Nicht heute Nacht.« Rose sah sie nun flehend an und Albinia konnte ihre jugendliche Verletzlichkeit im Gesicht lesen. Hinter ihr kam erneut ein Stöhnen aus dem Bettlager. Das Grinsen war auf dem dreckverschmierten Gesicht einem schmerzverzerrten Ausdruck gewichen.

»Ich bin nicht er.« Albinia zeigte auf das Krankenlager. »Ich kann auf mich aufpassen.« Rose hatte es selbst gesagt, es war Stunden her. Was jedoch nicht bedeutete, dass die Gefahr vorüber war. Doch sie wollte, dass Rose dies glaubte.

»Kümmere dich um ihn, nicht um mich. Was geschehen soll, wird geschehen. Und wenn deine schlimmste Befürchtung jemals eintritt, dann bin ich für Irland gestorben. Das ist keine Schande. Das ist eine Ehre. Vergiss das nie.« Sie schaute streng in das erschrockene Mädchengesicht, in dessen Augen nun pure Panik flackerte. Augenblicklich entspannten sich ihre eigenen Gesichtszüge. Sie trat näher an sie heran, legte fürsorglich ihre Hand auf ihre Wange und flüsterte in einem weichen, warmen Ton weiter.

»Keine Sorge, meine geliebte Rose. Mir wird nichts passieren. Nicht heute Nacht und auch nicht nächste Nacht. Habe keine Angst. Ich weiß es. Das Schicksal hat für mich etwas anderes vorhergesehen.« Albinia hatte keine Ahnung, ob ihre Worte Trost spenden konnten. Doch der Schreck wich allmählich aus dem jungen Gesicht. Sie schaute Rose lange in die Augen, bevor sie sich von ihnen wegriss, die Hand erneut zum Rock führte und den Stoff raffte. Entschlossen drehte sie sich wieder um und schritt zur Tür.

»Tu, was ich gesagt habe. Ich sehe dich morgen früh, beim Frühstück im Arbeiterhaus.«

»Jawohl, Mam.«

Albinia ignorierte den weinerlichen Ton. Sie durfte sich jetzt keine Schwäche erlauben.

Die Tür knarrte beim Öffnen erneut, doch dann lag die Nacht wieder still vor ihr. Ohne auch nur einen Hauch von einem Geräusch zu verursachen, schlüpfte sie wieder hinaus in die Dunkelheit. Eine kühle Brise wehte ihr ins Gesicht. Doch der Regen hatte aufgehört. Gott sei Dank, dachte sie. Jetzt durfte nur nicht der Mond durch die Wolken brechen. Das helle Licht könnte sie alle verraten.

Ein irischer Ruf

Juli 2019

»Ruinen? In Irland?«

Alex runzelte sofort die Stirn.

»Das sind keine Ruinen«, widersprach Martin sofort. »Das sind Wertobjekte. Und ziemlich lukrative sogar. Beste Lage, optimale Kaufkraft, höchste Preise.« Martin zwinkerte Alex zu.

Alex fluchte leise in sich hinein. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Von einem Moment auf den anderen waren seine Pläne durchkreuzt. Wie kam er denn aus dieser Nummer wieder raus? Alex‘ Gedanken rasten, als er seinen Chef anschaute. Er wollte ihn doch tatsächlich auf diese gottverdammte Insel schicken.

»Ein neues Projekt von höchster Wichtigkeit«, trällerte Martin augenblicklich weiter.

Alex rann ein Schauer über den Rücken. Es lag nicht daran, dass Alex den Geschäftsführer des Immobilienbüros nicht mochte. Im Gegenteil. Als er vor fast 20 Jahren als Auszubildender bei »MKB Immobilien« begonnen hatte, war es einst Martins Auftreten gewesen, was ihn am meisten beeindruckte. Von Anfang an wollte er so sein wie er. Seiner Karriere nacheifern, sein Wissen erlangen, seine Leichtigkeit erlernen und ein wenig von Martins Charme abbekommen. Martin war einst sein Mentor gewesen, doch inzwischen verstanden sie sich so gut, dass Alex es fast schon als Freundschaft bezeichnen würde.

Es lag vielmehr an der Tonart, in der sein Senior Direktor ihm den neuen Auftrag verkündete. Martin trällert nur, wenn er selbst unsicher war.

»Ich möchte, dass du das übernimmst, Alex. Ich kann mir keinen anderen vorstellen. Es ist ein wenig heikel, aber auch sehr wichtig. Das Geschäft ist zu lukrativ, als dass wir uns das durch die Lappen gehen lassen können.«

Alex seufzte und ließ sich in den Sessel vor Martins Schreibtisch fallen. »Worum geht es denn genau?«

Ein zufriedenes Lächeln strahlte ihm entgegen.

»Schau her, ich zeig es dir.« Martin warf eine Mappe auf die Tischfläche, öffnete sie geschmeidig und zog mehrere Fotos heraus. Er breitete sie kopfüber aus, sodass Alex auf den ersten Blick erkennen konnte, was sie zeigten.

Augenblicklich rann ihm erneut ein Schauer über den Rücken, den er sich nicht erklären konnte. Die Bilder zeigten alte, eingefallene Gemäuer. Nichts darauf war spektakulär. Alex‘ Reaktion hingegen war es umso mehr. Aber er war noch nie in Irland gewesen.

»Für mich sehen die Gebäude wie Ruinen aus. Sehr heruntergekommen und abrissreif!« Er blickte auf und registrierte, dass Martin ihn genau in Augenschein genommen hatte. Um seine Reaktion zu sehen? Das machte er doch sonst nicht.

»Du täuschst dich, mein Lieber. Wo ist dein Killerinstinkt? Glaub mir, diese Immobilien sind etwas ganz Besonderes. Auch wenn man es ihnen nicht auf den ersten Blick ansieht.«

»Was meinst du damit? Was ist so Besonderes an ihnen?«

Martin schaute ihn immer noch prüfend an. Alex konnte sehen, wie seine Gedanken im Stillen rasten. Doch er schien nicht aussprechen zu wollen, was er dachte.

»Du wirst das wunderbar machen, ich weiß es.« Martin ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. »Sonst würde ich nicht mit dem Gedanken an eine Partnerschaft spielen.«

Damit hatte er Alex im Sack. Schon fast zwölf Monate lockte Martin ihn nun mit der Erfüllung seiner Träume. Seit er sein Abitur abgeschlossen und als kleiner Auszubildender in der Firma angefangen hatte, wollte Alex nur eins: Sein eigenes Immobilienimperium leiten. Martin würde irgendwann den Hut ziehen und dann wäre Alex endlich am Ziel. Doch mehr als Versprechungen hatte er in den letzten Monaten nicht gehört. Und langsam nagten seine Zweifel immer stärker an ihm.

»Wenn du das Projekt übernimmst und zum Erfolg führst, unterschreiben wir direkt danach den Vertrag.«

Alex‘ Widerstand verschwand spurlos. Er spürte regelrecht, wie die Weichheit seine Knochen übermannte.

»Erklär mir die Details«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen.

Das tat Martin. In so einer Geschwindigkeit, dass Alex noch Minuten danach der Kopf schwirrte. Für einen Spottpreis gekauft, niedrige Immobilienpreise nach der Krise, tolle Renditen nach einer Renovierung, Urlaubsparadies für Ferienanlagen, 50 Busse am Tag auf dem Ring of Kerry, wachsende Hotelbranche, riesiges Tourismusgebiet - Alex hatte kaum einen Fakt behalten können. Nur eins war in seine Erinnerung eingebrannt: Seine Zusage, bevor er an seinen Schreibtisch zurück kroch. Für die er sich inzwischen ohrfeigen könnte. Denn nun müsste er nicht nur den Brunch mit Anna-Viktoria am Sonntag absagen, auch die Bierrunde mit seinen Kumpels am Freitag würde ausfallen. Wer weiß, wie oft. Denn Alex sollte schon morgen nach Irland fliegen, um das Projekt vor Ort zu betreuen.

Warum eigentlich? Alex schob die Akte lustlos von einer Seite auf die andere seines Schreibtisches, an dem er nun versuchte, wieder klar zu denken. Das war durchaus unüblich. Besichtigungen ja, vollständige Vor-Ort-Betreuung nein. Wenn er richtiges Pech hätte, würde er nun Wochen auf dieser Insel verbringen, die er nur aus der Kerrygold-Werbung mit den vielen Kühen und den grünen Weiden kannte. Irland gehörte wahrlich nicht zu den Trauminseln, auf denen er seinen Sommer verbringen wollte. Regnete es dort nicht andauernd?

Alex seufzte. Es nutzte ja nichts, wenn er nun weiter vor sich hin fluchte. Er hatte zugesagt. Er würde es durchziehen. Aber wenn diesmal die Versprechung der Partnerschaft sich wieder nur als heiße Luft herausstellen würde, wäre es das letzte Mal. Dann, schwor sich Alex, würde er endlich auf Vik hören und sich selbstständig machen.

Anna-Viktoria!

Alex schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Wie sollte er ihr das nun wieder beibringen? Sein Blick fiel auf ihr Foto neben dem Monitor. Wie so oft erstaunte ihn ihre Schönheit. Ihre langen blonden Haare umrandeten glänzend und glatt ihr wohlgeformtes Gesicht. Ihre vollen Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen, ihre strahlend blauen Augen lachten in die Kamera. Kokett hatte sie die endlos langen Beine übereinandergeschlagen und streckte stolz ihre prallen Brüste dem Betrachter entgegen. Wie eine Aufforderung, dachte Alex zum tausendsten Mal. Genauso hatte sie einst dagesessen, als er sie im Gibson das erste Mal bemerkt hatte. Hatte er sich damals eingebildet, dass die Aufforderung ihm galt? Das war durchaus möglich. Er war nicht in bester Stimmung gewesen, hatte die Trauer längst noch nicht verdaut. Hätte sie nicht aus Versehen ihren Drink auf seine Hose verschüttet, hätte er sie vielleicht nie kennengelernt. Sie war eigentlich nicht seine Liga gewesen. Jung, hübsch und auch noch etwas Grips im Gehirn. Die Jurastudentin war ein toller Fang für einen 38-Jährigen, der dank des vielen Fast Food mit einem Bauchansatz zu kämpfen hatte und auch schon die ersten kahlen Stellen auf dem Kopf im Spiegel entdecke. Glaubte er zumindest damals. Zugegeben, ein gut gefülltes Bankkonto, sein luxuriös eingerichtetes Loft, im Wolkenkratzer mit der atemberaubenden Aussicht über Frankfurt, und die kürzliche Erbschaft hatte sie zudem beeindruckt. So sehr, dass Vik nach nur sechs Monaten Beziehung bei ihm einzog. Sie hasste den Kosenamen, den er ihr verpasst hatte. Doch er mochte ihn lieber. Ob sie gerade an der Marmorkücheninsel saß und über ihre neueste Seminararbeit brütete oder mal wieder lieber auf dem Tablet neue Klamotten bestellte?

»Hey Alex, hast du alles durchgelesen?«, riss ihn Martin aus seinen Gedanken. Er stolzierte geradewegs aus seinem Büro an Alex‘ Schreibtisch vorbei, die Aktentasche unter dem Arm geklemmt. Unverkennbar: Martin war auf dem Weg in die Mittagspause in den Country Club um die Ecke.

»Äh … nein. Aber ich bin dabei.«

»Sehr gut, mein Junge. Denk dran, dass du noch heute anrufst. Je früher wir sind, desto besser.«

Alex durchzog erneut ein Schauer. Schon wieder hatte er das Gefühl, dass Martin irgendetwas noch hatte sagen wollen, es aber nicht mehr aussprach. Irgendetwas stimmte hier doch nicht? Verstohlen blickte er sich um und erwischte sowohl Carlsen als auch Henning und Nils, wie sie ruckartig ihre Blicke von ihm abwandten. Sie hatten alle den kleinen Dialog misstrauisch verfolgt. Es interessierte sie doch sonst alle nicht, was andere für eine Arbeit aufgebrummt bekamen?

Wieder entfuhr Alex ein leiser Seufzer. Er schob den Laptop zur Seite, der gerade 19 neue E-Mails vermeldete. Alex ignorierte sie und schlug die Mappe auf. Die Fotos der baufälligen Häuser starrten ihm entgegen: Graue kahle Betonmauern, die ein ganzes Leben längst hinter sich gelassen hatten. Es waren sechs Gebäude auf einem Acker. Eines von ihnen schien ein größerer Komplex gewesen zu sein, die anderen hatte die Größe kleinerer Cottages. Manche hatten kein Dach mehr, andere waren von wackligen Dachziegeln bedeckt, die jede Sekunde herunterfallen wollten. Die Fenster waren herausgerissen. Alex entdeckte eine einzige Tür, die schräg und instabil in den Scharnieren hing. Überall wucherte Moos die Betonmauern empor.

»Es sind Ruinen«, murmelte Alex wieder vor sich her. Er hatte schon viel in seiner Karriere vollbracht, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie aus diesem baufälligen Haufen Schutt eine Ferienhaussiedlung werden sollte. Doch genau das lag nun in seinen Händen. Zugegeben, die Sicht auf das Meer hinter der Siedlung wirkte idyllisch. Alex konnte das grüne Gras der Weide fast riechen, so stark leuchtete es auf den Bildern.

»Die Lage passt zumindest«, versuchte sich Alex selbst etwas Mut einzureden und stapelte die Fotos wieder zusammen. Mit ein wenig mehr Zuversicht nahm er die Visitenkarte aus der Akte, die seinen nächsten Schritt bedeutete.

»Wenigstens bin ich nicht ganz allein«, murmelte er, als er die Telefonnummer ins Handy eintippte. Er betete, dass er einen kompetenten Partner am anderen Ende der Leitung vorfinden würde.

Sie liebte den Geruch, der in der Luft schwang: Ein wenig Essigsäure, vermischt mit etwas Schwefelgeruch, umsäuselte ihre Nase. Mit einem Lächeln auf den Lippen angelte Maggy gerade eine weitere Aufnahme aus dem Fixierbad. Es war das letzte Schwarz-Weiß-Bild, das sie auf die Leine hing. Zufrieden schaltete sie das Licht ein, betrachtete die Schnur voller Fotos, die quer durch den Raum verlief, und wischte sich gedankenverloren ihre Hände an ihrer Schürze ab. Das hatte sie vermisst. Ohne Druck, ohne Vorgaben und ohne irgendwelche Kriterien wieder Fotos zu machen, die ihr gefielen. Die Linse dorthin zu halten, wo ihr Auge etwas Interessantes erblickte. Auf den richtigen Moment warten, bis sie den Auslöser drückte. Und in ihrer Dunkelkammer dann vor Aufregung beim Entwickeln leicht zu zittern, in der Ungewissheit, ob die Bilder so geworden sind, wie sie es sich erträumt hatte. Ja, Maggy hatte lange nicht mehr zum Vergnügen Aufnahmen gemacht. Umso zufriedener stellte sie nun diese Reihe an Bildern auf der Leine. Es waren ein, zwei Ausrutscher dabei. Schon beim Auslösen hatte Maggy gemerkt, dass eine Möwe ihr urplötzlich das Bild zerstörte. Doch im Nachhinein erwies es sich als Glücksfall. Der unscharfe Vogel im Vordergrund des grauen Meeres mit dem hellen Kontrast der untergehenden Sonne machte die Aufnahme erst recht interessant. Irgendwie magisch. Auf alle Fälle einzigartig. Maggy lächelte das Bild an und hätte sich stundenlang in dessen Anblick verlieren können.

Ihr Telefon machte diesen Augenblick zunichte. Schade. Sie hatte diesen freien Dienstagvormittag bisher so genossen.

»Maggy Shean?«

Automatisch nahm sie den Stift in die Hand, der mit dem Zettelblock neben dem Apparat stets bereitlag. Wenn dieses Telefon in ihrem Büro im Keller neben der Dunkelkammer klingelte, konnte es nur eins bedeuten: einen neuen Auftrag.

»Oh, hello. This is Meier. Alex Meier«, meldete sich eine angenehme, warme männliche Stimme, die jedoch ein Zittern in sich barg.

»Hello Mr Meier. How are you? Lovely you call me, how can I help you?«, flötete Maggy mit ihrer gewohnten Freundlichkeit.

»What? Äh. Stop.« Die Stimme zitterte am anderen Ende in die Leitung. »Nicht so schnell. Äh. Mister Meier. Calling from Germany. Can …«

»Hallo Deutschland«, unterbrach Maggy ihn und lachte auf. »Ich kann es Ihnen leichter machen. Sprechen wir deutsch.«

»Oh«, kam es nur aus der Leitung, bevor es still wurde. Solch eine Reaktion kannte Maggy bereits.

»Herr Meier, sind Sie noch dran?«

»Ja, ja natürlich. Ich bin nur ein wenig überrascht, das ist alles.« Alex hatte hinter dem Namen nicht nur einen Mann erwartet, sondern sich auch schon zahlreiche englische Ausdrücke im Kopf zurechtgelegt.

»Ja, das kenne ich«, lachte Maggy nun wieder. »Wer erwartet schon unter einer irischen Telefonnummer, hinter einer irischen Adresse bei einer irischen Fotografin eine Deutsch sprechende Frau.«

»In der Tat. Ihr Name klingt auch gar nicht deutsch.«

»Shean, ja. Das stimmt. Der Name ist auch irisch. Er gehört zu meinem Ex-Ehemann. Aber mein Vorname ist durch und durch deutsch, nur kann ich ihn nicht ausstehen. Maggy ist mir lieber als Margarete«, lachte sie in die Leitung.

»Ich verstehe. Was für ein Glück für mich«, antwortete Alex. »Mein Englisch ist nicht wirklich das Beste. Ich habe vorhin kaum etwas verstanden«, gestand er.

»Na, das Problem hätten wir ja nun gelöst. Wie kann ich einem Landsmann helfen, Herr Meier?«, fragte Maggy, um den Small Talk zu beenden.

»Oh, nennen Sie mich doch Alex. Wir werden offensichtlich in nächster Zeit häufig miteinander zu tun haben. Ich bin Immobilienbetriebswirt bei »MKB Immobilien«. Wir haben gerade die Siedlung in äh …« Alex stockte und Maggy hörte durch die Leitung Blätter rascheln.

»Zwischen Caherdaniel und Castlecove. Die Broderick-Ruinen«, half Maggy erneut nach. »Ich weiß, Alex. Ich habe Ihren Anruf schon erwartet.«

»Oh wunderbar.«

»Dann wissen Sie Bescheid, Mrs Shean?«

»Ein wenig, ja. Aber nennen Sie mich doch bitte auch Maggy. Ich hatte schon vor zwei Tagen einen Anruf. Ich soll Fotos machen. Aber die Details über den Auftrag sollten mir noch mitgeteilt werden. Ich nehme an, deswegen rufen Sie nun an, Alex?«

»Fotos? Ich versteh nicht?«

»Ja, natürlich. Fotos. Ich bin Fotografin. Ein Herr Kellermann hat mich Sonntagmorgen angerufen. Es war eine unchristliche Zeit, weswegen ich gern die Details später besprechen wollte.«

»Oh«, sagte Alex. Danach folgte eine weitere Pause, bevor ein leises Murmeln erklang.

Das ist mal wieder typisch für Martin, dachte Alex in der Gesprächspause verbittert. Er hatte ihm einen Kontakt vor Ort versprochen, der ihm beim Bauvorhaben tatkräftig unter die Arme greifen sollte. Alex hatte einen Architekten erwartet oder einen Ingenieur. Zumindest jemand, der in der Baubranche oder entfernt davon tätig war. Fotos waren die letzten Arbeitsschritte, NACH allen anderen! Vielen Dank auch, Martin, fluchte er innerlich, ohne jedoch einen dieser Gedanken laut auszusprechen.

»Alex?«, erinnerte Maggy an ihre Anwesenheit in der Leitung.

»Ja. Äh, entschuldigen Sie. Ich war schon wieder überrumpelt. Ich wusste nicht, dass Sie Fotografin sind. Denn eigentlich brauche ich einen Architekten.«

»Oh, das haben wir hier natürlich auch. Und auch Bauarbeiter. Und Baumaterialien. Irland ist zwar eine Insel, aber kein Land voller Hinterwäldler. Sie werden das alles hier finden.« Maggy lachte erneut herzhaft auf. Irgendwie amüsierte sie dieser deutsche Immobilienmakler mit der warmen, aber unsicheren Stimme. Sie war verwundert gewesen, als sie zum ersten Mal hörte, dass jemand die Ruinen tatsächlich gekauft hatte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was aus diesen baufälligen Häusern gemacht werden sollte. Seit sie das erste Mal den Ring nach Sneem entlang gefahren war, hatte sie die Ruinen dort unten rechts am Meer als ein Überbleibsel der Vergangenheit akzeptiert. Sie wusste keine Details über deren Geschichte, sie spürte aber ein leichtes Grauen bei ihrem Anblick. Dennoch waren sie ein wunderbares Fotomotiv, strahlten neben der dunklen Aura auch Magie, Mystik und etwas Verborgenes aus. Dass sie einst den Auftrag erhalten würde, die Ruinen für Geld zu fotografieren, Arbeiten an ihnen zu dokumentieren und einen neuen Aufbau im Bild festzuhalten, daran hätte Maggy nicht in ihren kühnsten Träumen gedacht. Und doch hatte Herr Kellermann genau davon am Telefon gesprochen. Es wäre ein Auftrag, der sich über Monate hinziehen würde. Doch Alex schien immer ruhiger zu werden, als sie ihm das erklärte. Die leise Befürchtung beschlich sie, er würde den Auftrag vielleicht zurückziehen.

»Aha. Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Das hat natürlich Bestand, wenn Herr Kellermann Ihnen den Auftrag schon erteilt hat.«

»Wunderbar«, freute sich Maggy nun aufrichtig. »Vielleicht kann ich Ihnen ja darüber hinaus weiterhelfen. Ich kenne den einen oder anderen hier, einige von ihnen sind Architekten oder Baufirmenbesitzer. Ich suche Ihnen gern die Nummern heraus, wenn Sie mir mit der Auftragsbestätigung Ihre E-Mail-Adresse schicken?«

»Oh Maggy, das wäre wunderbar«, sprach Alex nun auch erleichtert und erfreut. »Ich schicke Ihnen gleich eine E-Mail.«

Maggy buchstabierte langsam ihre Adresse durch die Leitung und wiederholte sie noch zweimal zum Vergleichen. Sie schrieb sich ihrerseits seine Daten auf den Block auf.

»Könnten Sie mir noch ein Hotel in der Nähe der Siedlung empfehlen?«

»Natürlich. Sneem hat einige B&Bs und auch ein großes Hotel. Wobei ich glaube, dass es ausgebucht sein müsste. Ende Juli ist Hochsaison, wissen Sie.«

»Ich brauche nichts Besonderes. Ein kleines Zimmer für einige Tage nah am Objekt, in der Nähe vielleicht ein Restaurant, in dem ich abends speisen kann. Das würde mir reichen.«

»Dann empfehle ich Ihnen das »Grape Vine«. Das ist ein kleines Bed & Breakfast. Mrs Brady ist eine alte, aber liebe Hauswirtin, die sich auch im Sommer nicht immer das gesamte Haus voller Gäste wünscht. Sie ist zwar rüstig, aber eben doch nicht mehr die Jüngste. Mrs Brady hat bestimmt noch etwas frei. Soll ich für Sie dort mal nach einem Zimmer fragen?«

»Oh Maggy, das wäre wunderbar.«

»Gut. Dann mache ich das gleich anschließend. Wann wollen Sie denn kommen?«

»Morgen.«

Jetzt war es an Maggy, überrumpelt zu sein. So schnell hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie den Auftrag antreten müsste. Sie hatte sich eigentlich noch auf einige Tage in Freiheit gewähnt. Ohne Druck am Auslöser, zum Vergnügen in der Dunkelkammer. Na, das wird nun nichts, dachte sie ein wenig enttäuscht.

»Maggy? Ist das ein Problem?«

»Nein, nein. Das kriegen wir schon irgendwie hin. Wann landen Sie?«

Maggy notierte sich die Uhrzeit und versprach, Alex Meier vom Flughafen abzuholen, der sichtlich erleichtert wirkte, dass er sich nicht direkt in einem Auto durch den irischen Linksverkehr kämpfen müsste.

»Sie können nach ein paar Tagen immer noch einen Mietwagen organisieren, wenn Sie wollen. Und in Sneem gibt es auch das eine oder andere Taxi«, hörte Maggy sich sagen.

»Wunderbar. Dann machen wir das so.«

»Bis morgen, Alex«, verabschiedete sich Maggy. Gedankenverloren legte sie den Hörer auf, ließ die Dunkelkammer links liegen und schritt die Treppe zum Erdgeschoss empor. Die Küche empfing sie in einem goldenen Licht, das die Sonne durch die breiten Fenster hereinbrachte.

»Schade«, murmelte sie zu sich und empfand für einen kurzen Moment erneut die Enttäuschung über die nun verloren gegangene freie Zeit. Doch augenblicklich wich diese der Euphorie, die jeder neue Auftrag mit sich brachte. Dieses Gefühl schien nie zu weichen, egal wie lange sie nun schon erfolgreich als Immobilienfotografin arbeitete. Nach über zwölf Jahren fühlte sie sich immer noch wie ein kleines Kind, das in der freudigen Erwartung vor Weihnachten vor dem geschmückten Baum stand. Doch heute mischte sich noch etwas in ihre Erregung. Maggy konnte es jedoch nicht ausmachen, was es war. Es fühlte sich wie ein kleiner Schatten an, der sich auf die sonnige Atmosphäre von Küche und ihrer Seele legte. Als würde nicht alles so goldig sein, wie es gerade schien.

Kurzentschlossen griff sie erneut zum Telefon.

»Kliara, magst du heute auf ein Gläschen Wein rüberkommen?«, fragte sie ihre Freundin ohne eine Begrüßung. »Ich habe ab morgen einen neuen Auftrag. Wer weiß, wann ich wieder die Gelegenheit dazu habe.«

»Aber klar doch«, antwortete Kliara augenblicklich. »Wenn die beste Starfotografin der südwestlichen Immobilienbranche Irlands mal nicht dafür sorgt, dass ihre Fotos den Hauspreis um zehn Prozent in die Höhe treiben, wenn sie mal einen Abend Zeit hat, dann kann ich doch schwer Nein sagen.« Sie lachte laut in den Telefonhörer.

»Hey, nimm mich nicht auf den Arm.«

»Das würde ich niemals tun. Es ist doch nur die Wahrheit, Darling.«

»Du schmeichelst mir«, schmunzelte Maggy nun. »Das kann ich gebrauchen, bevor dieser Auftrag mit der Siedlung beginnt«

»Siedlung?«, fragte Kliara nun neugierig.

Maggy schilderte ihr in kurzen Worten das Wenige, das sie selbst aus den knappen Telefonaten erfahren hatte.

»Das ist schon merkwürdig, dass gerade jetzt jemand ankommt und die Siedlung renovieren will?«

»Wie meinst du das?«

»Ach nichts. Vielleicht ist ja auch an den alten Geschichten gar nichts dran. Ich bin gegen fünf Uhr da.«

»Wunderbar.« Maggy legte mit einem freudigen Gefühl auf. Doch der leise Schatten auf ihrer Seele wollte dennoch nicht verfliegen. Hoffentlich war wirklich nichts an den alten Geschichten dran, dachte sie augenblicklich.

»Das kann nicht dein Ernst sein«, schrie Anna-Viktoria nun. »Warum hast du nicht abgelehnt? Das geht nicht. Das geht einfach nicht.« Wütend schlug sie mit ihrer Faust auf den Tisch und starrte ihn an. »Sag mir, dass das ein Scherz ist.«

»Es ist keiner.« Alex klang leise. »Ich kann es nicht ändern. Wenn ich Partner werden will, muss ich das tun.«

»Aber schon morgen? Warum ist das Projekt so eilig?«

Wenn Alex darauf selbst eine Antwort wüsste, hätte er sie ihr gegeben. Aber er wusste sie ja selber nicht. Die gesamten letzten Stunden war er einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt gewesen. Er schwankte zwischen seiner Furcht vor ihrer Reaktion, der Resignation über seine erneute Feigheit Martin gegenüber und der doch inzwischen aufkommenden Aufregung wegen der bevorstehenden Reise. Es lag nicht daran, dass er in ein wildfremdes Land gehen würde, mit wildfremden Menschen arbeiten müsste und ein Projekt bewältigen sollte, dessen Ausmaß er für nicht machbar hielt. Er hatte in seiner Karriere immer wieder mit vielen Menschen zu tun gehabt, viele Projekte betreut, viel Geld verwaltet. Aber irgendetwas hatte sich seit dem Telefonat mit dieser Fotografin in ihm gewandelt. Nur was? Alex wusste es nicht. Er kannte sich mit Ahnungen nicht aus, hasste Gefühlschaos. Alex war durch und durch pragmatisch, klammerte sich an Fakten und liebte vor allem Zahlen. Die ganze Welt ließ sich besser in Zahlen ausdrücken als in Gefühlsregungen. Acht Monate lebte er nun schon mit Vik zusammen, vor 14 Monaten hatten sie sich kennengelernt. Er hatte 53 Kleider und 24 Paar Schuhe für sie gekauft. In dieser Zeit hatte Alex über 5000 Euro für neue Möbel in seinem doch eigentlich modernen und voll eingerichteten Apartment hoch oben über Frankfurt ausgegeben. Sie hatten 187 mal miteinander geschlafen. 24 Brunchs hatte er mit ihr durchgestanden und bereits zehnmal auf seine Freitagsrunde mit den Jungs verzichtet. Über 40 Streits hatte er ausgestanden. Oder besser gesagt ausgeschwiegen.

»Sag etwas!«

»Was soll ich sagen?«

Alex zuckte mit den Schultern. Er wollte nichts sagen. Er wollte nur seinen Koffer fertig packen, danach in die Kneipe verschwinden und mit Mike und Andy zumindest ein, zwei Bierchen trinken, auch wenn erst Dienstag war.

Mechanisch hatte er im Büro einen Flug gebucht, danach dann alle Unterlagen zusammengepackt und den Heimweg angetreten, um die unausweichliche Szene nun durchzustehen. Schon im Auto hatte er seine Bierrunde abtelefoniert, in der Hoffnung, dieses mulmige Gefühl endlich abschütteln zu können. Aber nur Mike und Andy hatten spontan Zeit. Natürlich hätte er den Abend auch mit Vik verbringen können, sie zum unzähligsten Mal in eines der teuersten Restaurants ausführen können und sie so ein wenig zu besänftigen versuchen. Aber Alex wusste, es würde gar nichts bringen. Sie wäre zu wütend, um sich überhaupt auf den Vorschlag einzulassen.

»Ich wette, du hattest mal wieder nicht die Eier, um zu widersprechen«, schimpfte sie nun weiter auf ihn ein. »Schau dich nur an, Alex. Ein 38-jähriger Mann, der immer noch wie ein kleiner Junge alles macht, was sein Mentor ihm befiehlt. Du willst ein erfolgreicher Geschäftsmann sein? Der Star am Immobilienhimmel? Der zukünftige Partner?«

Diesen Monolog kannte Alex schon. Anna-Viktoria war nun nicht mehr zu stoppen. Sie würzte ihren Vortrag gekonnt mit alten Vorwürfen und Fauxpas seinerseits, die sie wohl nie zu vergessen schien. Was die Villa seiner Großmutter damit zu tun hatte, war ihm jedes Mal schleierhaft. Doch bei jeder Gelegenheit warf Anna-Viktoria ihm auch vor, dass er dort einziehen wollte. Sie aber nicht. Irgendwie schaffte sie es immer wieder, die Dinge auf sich und ihre Wünsche zu lenken. Dabei war doch Alex derjenige, der diese blöde Reise machen musste, auf die er selbst keine Lust hatte.

Zu diesen Ruinen.

Augenblicklich stieg das Bild wieder vor seinen Augen auf. Und das mulmige Gefühl verstärkte sich erneut.

»Du bist nur ein Waschlappen. Du wirst nie Partner werden. Und ich schwöre, irgendwann hilft dir auch dein prall gefülltes Konto nicht mehr, um mich zu beruhigen. Ich bin ein Mensch, auch ich habe Gefühle.« Sie holte Luft.

»Und Bedürfnisse. Aber du Schlappschwanz scheinst das ja gar nicht zu bemerken und tust alles für deine Karriere, die doch gar keine ist.«

Mit diesen Worten stürmte Vik aus der Küche ins Schlafzimmer, um nur drei Sekunden darauf wieder zu erscheinen.

»Hier.« Wutentbrannt warf sie ihm seinen Koffer vor die Füße. »Dann pack das Ding doch sofort und verschwinde gleich heute noch. Dann lass mich halt mal wieder allein. Und jetzt gleich noch so lange. Von Heut auf Morgen. Dir ist doch sowieso egal, was mit mir ist.«

»Vik, ich …«

»Nenn mich nicht so«, schrillte sie nun. »Wage es ja nicht. Nein, mein Lieber. Das wirst du noch bereuen!«

Ihr eiskalter Blick ließ ihn daran keine Sekunde zweifeln. Vik stürmte an ihm vorbei, quer durch die Küche, schnappte sich Handtasche und Schlüssel vom Küchenblock und stürmte zur Tür heraus. Mit einem lauten Knall schlug sie diese hinter sich zu, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Wäre Alex ein anderer Mensch gewesen, hätte er laut losgelacht. Seine aufgebrachte, eingebildete und durch und durch faule Freundin hatte ihn gerade wortwörtlich aus seiner eigenen Wohnung geschmissen. Ihn einen Schlappschwanz genannt, erneut gedroht, ihn irgendwann zu verlassen und war zum Schluss noch mit dem Schlüssel für sein S-Klasse Coupe abgehauen. Und das nicht zum ersten Mal. Diesmal hatte nur der Vorwurf gefehlt, dass er sie nicht lieben würde. Doch sicher würde sie sich wieder mit einer teuren Anschaffung trösten, die natürlich seine Kreditkarte bezahlen würde. Darauf würde Anna-Viktoria in keinem Fall verzichten.

Doch er war kein anderer. Alex lachte nicht. Alex zuckte mit den Schultern, nahm den Koffer vom Boden und schlich gekrümmt ins Schlafzimmer, um ihn zu packen.

Jedes ihrer Worte hatte ihn in Mark und Bein erschüttert. Nicht, weil sie ihn damit verletzen konnte. Sondern, weil er wusste, wie recht sie doch hatte. Zum wiederholten Mal hatte er nur zugehört und ihr in Gedanken alles bestätigt. Er war ein Schlappschwanz. Er war ein Feigling.

Dabei war er das nicht immer gewesen. Doch die letzten nervenzehrenden Monate hatten ihn dazu gemacht. Nur wollte Alex darüber jetzt nicht auch noch nachdenken. Er hatte andere Sorgen. Er müsste Mike oder Andy um ihre Couch bitten, denn hier die Nacht zu verbringen, käme einer Scheidung gleich. Auch wenn er nicht mit Anna-Viktoria verheiratet war – der Rosenkrieg wäre der Gleiche. Vielleicht hatte sie sogar recht, dass er sie nicht liebte? Vielleicht war es besser für ihn und vor allem für sein Bankkonto, würde sie ihn endlich verlassen? Würde sie es tun? Alex wusste es nicht. Doch er würde solch eine Trennung nicht riskieren. Nicht jetzt. Er war ein Schlappschwanz. Ein einsamer Feigling, der ohne seine luxussüchtige Freundin ganz allein auf der Welt dastehen würde. Wen hatte er schon noch? Martin? Er bewunderte ihn. Doch an einem Tag wie heute zweifelte er erneut an der empfundenen Freundschaft. Nein. Außer Vik hatte er niemanden mehr. Irgendwie fühlte er sich, als ob nun auch noch der Rest seines kläglichen Lebens wie ein Kartenhaus in sich zusammensackte.

Wegen dieser blöden Ruinen auf dieser blöden Insel.

Hoffentlich waren sie diesen Streit mit Anna-Viktoria wert, betete er. Es war doch nur ein Streit?

Traurig fiel Alex‘ Blick auf sein Spiegelbild gegenüber am Kleiderschrank. Er war keineswegs ein hässlicher Mann. 175 cm groß, schlank, mit einem kleinen Ansatz am Bauch. Der Anzug strahlte Souveränität aus, die er in diesem Moment jedoch in keiner Weise besaß. Er wusste, er konnte männlich wirken, besaß eine Aura aus Sicherheit, wenn er sie brauchte. Doch heute war er weit weg von seinem selbstsicheren Auftreten, das er im Beruf gelernt hatte, wie eine Lampe mit einem Knopfdruck anzuschalten. Sein dunkelblondes Haar war adrett wie immer zum Seitenscheitel gekämmt. Der smarte Vollbart wirkte gepflegt, längst nicht so dicht wie der seiner Kumpels, aber er ließ sein weiches, rundes Gesicht männlicher und markanter wirken. Doch über seine grauen Augen hatte sich ein deutlicher Schatten gelegt. Augenringe zeichneten sich darunter ab. Auch die Falten rund um Mund und Augen zeugten von den letzten Monaten. Aber vor allem hatten sie die Trauerfurche auf seiner Stirn weiter vertieft. Alex sah müde und erschöpft aus. Und genauso fühlte er sich.

Resigniert riss er seinen Blick von seinem Spiegelbild weg und widmete sich wieder dem Koffer, der nun bereits auf dem Bett lag, um befüllt zu werden. Er stopfte wahllos Socken, Unterhosen, Hemden und Jacketts hinein, wählte zwei der schwarzen, sich ähnelnden Lederschuhpaare aus und suchte im Bad eilig Rasierer und Zahnbürste zusammen. Alex war keineswegs ungeübt im Packen – für Reisen, die ein oder zwei Tage dauerten. Aber für eine Reise ins verregnete Irland, deren Länge ungewiss war, hatte er noch nie gepackt. Schließlich entschloss er sich dazu, auch einige Pullover mitzunehmen, auch wenn er diese normalerweise im Job nie trug.

Wenn es diese Ruinen bloß wert waren! Er verfluchte sie bereits jetzt schon.

Ausgelaugt schloss Alex den Koffer, trug ihn zurück in Wohn- und Küchenbereich zur bereitstehenden Aktentasche und suchte mit den Augen sein Handy.

Zwei Anrufe später war klar, wie sein letzter Abend in Deutschland verlaufen würde: Ein Taxi würde ihn zur Kneipe bringen, Andy hatte ihm sogar das Gästezimmer angeboten. Und dann, irgendwann am frühen Morgen, würde er zum Flughafen aufbrechen. Erneut resignierend sank er auf seine Couch. Auch der letzte Anflug von Aufregung war nun entflogen. Er fühlte sich nur noch müde. Die Erschöpfung der gesamten letzten Monate kroch in ihn. Wie hatte er sie nur überstanden? Wie würde er weiter sein Leben überstehen? Würde es irgendwann wieder besser werden? Seine Glieder waren so schwer, als versuchten sie, ihm einzureden, dass es spät am Abend war. Doch sein logischer Verstand sagte Alex, dass es noch früh war. Sein Blick fiel auf die große Wanduhr. 19.19 Uhr. Flüchtig fiel Alex ein Kinderspiel ein, das sich um Schnapszahlen rankte. War nicht die Moral von diesem Spiel, dass es Glück brachte, solch eine Zahl auf der Uhr zu entdecken? Das könnte er zumindest gebrauchen. »Wobei 1919 keine Schnapszahl ist«, sprach der Zahlenliebhaber laut aus ihm. Eine Palindromzahl? Ein Primzahlzwilling? Wie schön wäre es, jetzt in die Mathematik abzutauchen und das nachforschen zu können.

Das Klingeln des Taxifahrers riss ihn aus seinen Gedanken. Ohne sich noch einmal umzublicken, ohne Nachricht, stürmte Alex aus der Tür seines Appartements hinaus, wie es Vik nicht mal eine halbe Stunde zuvor getan hatte. Doch Alex schlug die Tür nicht mit einem Knall zu. Leise und gemächlich schloss sich der Zugang zu seinem bisherigen Leben, von dem er in diesen Augenblick dachte, dass es nie mehr so sein würde. Denn was er bisher nicht gewagt hatte, laut auszusprechen, geisterte ihm nun immer wieder durch den Kopf.

Er kannte diese Siedlung.

Er hatte die Ruinen schon einmal in seinen Träumen gesehen.

Aufbruch ins Ungewisse

Juli 2019

Sein eigener Schrei riss ihn aus dem Schlaf. Schweißgebadet versuchte Alex sich zu orientieren. Er blinzelte, um die schwarzen Gestalten vor seinem inneren Auge zu verscheuchen. Bedrohlich waren sie von oben herab auf ihn eingedrungen, als wollten sie ihn verschlingen. Modriger, fauliger Geruch hatte sie umgarnt. Neben ihnen standen deutlich die schwarzen Ruinen. Ebenso klar konnte er immer noch die düsteren Stimmen hören, die wie ein Mantra fünf Worte immer und immer wieder flüsterten.

Du wirst es nicht schaffen.

»Alles in Ordnung?«, fragte der dicke Mann neben ihm, der den Mittelplatz ziemlich ausdehnte.

»Ja. Ich habe nur geträumt.«

Alex setzte sich im unbequemen Sitz auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er bereits anderthalb Stunden in der Luft war. Der Flug würde nicht mehr lange dauern. Gott sei Dank. Noch mehr düstere Visionen konnte er wirklich nicht gebrauchen.

Die Landung war ausgesprochen hart und schlug Alex mächtig ins Kreuz. Das Ende des Fluges war genauso unbequem wie der gesamte Trip. Zum tausendsten Mal verfluchte er seine Wahl der Billigairline. Alex hatte die letzten zwei Stunden eingequetscht in einem Flugzeugsitz ausharren müssen und permanente Werbedurchsagen über sich ergehen lassen. Immer gerade dann, wenn er ein wenig wegdöste. Nein, er wollte kein Los kaufen. Nein, er brauchte weder Parfüm noch Aftershave. Alles, was er wollte, war endlich auf diesem Provinzflughafen anzukommen.

Dabei erschien ihm am Tag vorher die günstige Option deutlich leichter, vom etwas abgelegeneren Flughafen Frankfurt Hahn direkt nach Kerry fliegen zu können, anstatt in Dublin zwischenzulanden. Doch die Schmerzen in seinem Kopf beim Aufsetzen der Maschine ließen ihn das nun irgendwie bereuen. Alex hatte einen ausgewachsenen Kater und das Aspirin, das Andy ihm zum Frühstück serviert hatte, konnte nur für wenig Linderung sorgen. Er wusste doch, dass er Whiskey nicht vertrug. Aber seine schlechte Laune hatte ihn verführt. Das musste er eben jetzt ausbaden.

Zumindest war er endlich gelandet und das Anschnallzeichen erlosch soeben, sodass er sich von dem unbequemen Gurt befreien konnte. Augenblicklich sprangen alle Passagiere um ihn herum auf, öffneten die Gepäckablagen über sich und stellten den Gang voll, um so schnell wie möglich aus der Maschine zu kommen. Alex schüttelte ungläubig den Kopf. Er war viel zu träge, als dass ihn nun diese Eile anstecken könnte. Er war sowieso in der Mitte des Flugzeuges. Reihe 19 bedeutete eben, dass er in beide Richtungen zu den Ausgängen gleichlang warten müsste. So blieb er im Gegensatz zu den anderen auf seinem Fensterplatz sitzen und schloss für ein paar letzte Sekunden die Augen. Erst als die nette Stewardess ihn aufforderte, nun auch auszusteigen, trat er mit seiner Laptoptasche bestückt auf die wacklige Treppe des Vorderausgangs.

Eine ungewöhnlich milde Luft schlug ihm entgegen. Sie roch nach Regen, der offenbar nur Minuten zuvor heruntergekommen war. Sie roch frisch. Alex hatte keine Ahnung, wie weit der Flughafen Kerry vom Meer entfernt war, aber er roch es irgendwie. Seine Augen schmerzten fast beim Anblick des satten Grüns auf den Hügeln hinter der Start- und Landebahn. Vereinzelt grasten Schafe, ein kleines idyllisches Haus thronte zwischen den Hügeln. Direkt neben dem Flughafen. Was für ein toller Anblick, schoss es ihm durch den Kopf. Wäre er nicht so schlecht gelaunt, könnte er Irland glatt als schönes Fleckchen Erde empfinden.

»Das ist nur der Anfang«, lachte ein älterer Mann hinter ihm und bedeutete ihm, die Treppe doch endlich hinabzusteigen. »Zum ersten Mal in Irland, was?«

»Ja. Entschuldigen Sie.«

Alex folgte hastig den bereits ausgestiegenen Menschen in das kleine Flughafengebäude. Das sollte ernsthaft ein international operierender Flughafen sein? Alles wirkte simpel, klein und unscheinbar. In Deutschland wäre das kaum möglich, hier gab es nur zwei Gates. Unfassbar, dachte Alex.

»Das nenn ich mal Provinz«, murmelte er vor sich hin und verglich Kerry mit dem riesigen Frankfurt National Airport. Doch den Abläufen kam die geringe Größe zugute. Der Beamte an der Passkontrolle schaute nur flüchtig auf seinen Ausweis, das Gepäckband war schon angesprungen und trug bereits die ersten Koffer auf seiner Runde. Alex konnte auch die neuen Passagiere durch die Glasscheibe sehen, die das Flugzeug nun für die Rückreise bestiegen. Irgendwie hatte er den Wunsch erwartet, sich unter ihnen befinden zu wollen. Doch tatsächlich war ihm das inzwischen gleichgültig. Er wollte nur schnell diese Fotografin treffen, einen Blick auf die Siedlungen werfen und dann im Bett des B&Bs den Rest seines Katers auskurieren.

Wenn nur endlich sein Koffer auch kommen würde. Das Gepäckband hatte sich sichtlich geleert. Immer mehr Mitreisende zogen ihre Tasche weg und stolperten rechts und links von ihm Richtung Ausgang. Sehnsüchtig starrte Alex zum Anfang des Gepäckbandes. Er versuchte, durch die dicken Lamellen zu sehen, wann sein Koffer durch das winzige Loch erscheinen würde. Ohne es zu merken, nahm er seine Laptoptasche vor die Brust und krallte die Arme darum.

»Was zum Teufel?«

Sekunden später stoppte das Gepäckband. Sein Koffer war immer noch nicht zu sehen. Alex beschlich ein mulmiges Gefühl.

»Hey«, schrie er Richtung Lamellenloch und trat näher. »Hey Sie da draußen. Mein Koffer fehlt noch.« Doch die Schattengestalt hinter dem Vorhang reagierte nicht auf ihn. Im Gegenteil. Er konnte erkennen, wie der dünne, schwarz gekleidete Mann das kleine Gefährt mit den Anhängern in Bewegung setzte und davon fuhr. Die Anhänger waren leer.

»Hey. Mein Koffer.«

Doch der war weit und breit nicht zu sehen.

»Kann ich Ihnen helfen«, ertönte eine männliche Stimme plötzlich neben ihm. Alex fuhr herum und schaute in die Augen eines ziemlich jungen Burschen in Flughafenuniform.

»Mein Koffer fehlt noch.«

Alex zeigte auf das nun fast leere Gepäckband.

»Er muss noch im Flieger sein. Sie müssen ihn holen!«

Ein Schauer rann über seinen Rücken, als ein Blick zum Flugzeug verriet, dass gerade die letzten Passagiere auf der Gangway standen, um einzusteigen. Das Flugzeug würde bald starten. Mit seinem Koffer im Gepäckraum. Oh Gott. Panik stieg in ihm auf.

»Bitte Sir, mein Koffer«, flehte Alex den jungen Burschen an. Doch dieser wollte ihn nicht verstehen. Bestimmt und dominant legte er eine Hand auf Alex‘ Rücken und schob ihn sanft Richtung Ausgang. Alex verstand kein Wort, was der Bursche auf Englisch in rasender Geschwindigkeit quasselte.

»Was? Wie bitte? Nicht so schnell. Mein Koffer.« Alex versuchte sich gegen den Druck von hinten zu wehren. Er wollte nicht ohne seinen Koffer aus dem Sicherheitsbereich heraus.

»Information desk.« Der junge Bursche schaute ihn nun eindringlicher an und zeigte mit dem freien Arm weiter Richtung Ausgang.

»Information?« Alex runzelte die Stirn. Hilflos schaute er zwischen dem jungen Burschen, dem vor ihm liegenden Ausgang und dem hinter der Glasscheibe auf dem Rollfeld stehenden Flugzeug hin und her, bei dem sich gerade die Türen schlossen.

»Information desk«, wiederholte der junge Bursche.

Alex gab auf. Er ließ sich zum Ausgang drängen und trat schließlich durch die automatische Doppelflügeltür.

»Herzlich willkommen«, dröhnte ihm eine schrille Frauenstimme entgegen. »Sie müssen Alex …«

»Wo ist der Informationsschalter?«, unterbrach er die Rothaarige vor sich rüde.

»Wie bitte?« Maggy runzelte die Stirn.

»Wo ist der verdammte Informationsschalter?«, blaffte Alex sie an. »Mein Koffer ist noch in dem Flugzeug. Es darf nicht starten.«

»Ihr Koffer?«

»Ja, Herrgott noch mal«, fluchte Alex. »Will mich denn hier keiner verstehen?«

»Dort drüben«, zeigte Maggy nun mit der Hand nach rechts in die kleine Halle hinein und schüttelte verwundert den Kopf. So hatte sie sich die Begrüßung nicht vorgestellt.

Alex blickte hinüber, las erleichtert das Schild mit der Aufschrift »Information« und stürmte darauf zu. Gott sei Dank, dachte er, ohne einen weiteren Gedanken an sein Begrüßungskomitee zu verschwenden.

»Soll ich vielleicht?«, fragte Maggy Minuten später. Ihr tat die Dame leid, die krampfhaft hinter der Glasscheibe versuchte, Alex zu beruhigen. Zugegeben: Wild durch die gesamte Flughafenhalle auf Deutsch herumzuschreien, war nicht wirklich hilfreich gewesen. Doch zumindest Maggy neben ihm hatte inzwischen verstanden, dass sein Koffer nicht auf dem Gepäckband gewesen war und er nun dachte, er würde noch im Bauch des Flugzeuges sein. Deswegen hatte er immer lauter geschrien, dass das Flugzeug nicht starten dürfe. Zwei Polizisten waren längst in greifbare Nähe gerückt, hatten aber bisher auf eine Intervention verzichtet.

Nun starrte er Maggy unverhohlen an.

»Bitte.« Alex trat einen Schritt zur Seite.

Im perfekten Englisch erklärte sie der Flughafenmitarbeiterin nun das Anliegen. Natürlich war das Flugzeug längst gestartet. Der Zeitplan auf diesem kleinen Airport einer Billigairline war eng. Wenn der Koffer noch an Bord wäre, war er längst wieder auf dem Rückweg nach Deutschland.

»Es tut mir leid«, begann sie wieder auf Deutsch zu erklären. »Das Einzige, was sie noch tun können, ist, den Gepäckwagen noch mal zu inspizieren, ob der Koffer dort vergessen wurde.« Alex dachte augenblicklich an den Moment, als der dünne Schatten den Wagen samt Anhänger in Bewegung gesetzt hatte. Da war kein Koffer zurückgeblieben.

»Bitte, das sollen sie tun.« In Alex keimte die vage Hoffnung, dass er sich verguckt hatte und sein Koffer doch noch da war.

Maggy übersetzte und sofort setzte sich einer der Polizisten neben ihnen in Bewegung. Die Frau hinter der Glasscheibe schob ein Papier durch den Scheibenschlitz.

»Wenn der Koffer nicht auftaucht, sollten Sie dieses Formular ausfüllen.«

Alex fröstelte es augenblicklich. Ihm leuchteten die Buchstaben eines deutschen Gepäckverlustformulars entgegen, das zahlreiche leere Felder aufwies, die es auszufüllen galt. Lediglich das obere rechte Kästchen hatte die Dame bereits mit Kuli beschriftet.

Vorgangsnummer 19/2019!

Jegliches Blut war aus Alex‘ Gesicht entwichen.

»Geht es Ihnen gut?« Maggy starrte ihn erschrocken an. Der Mann vor ihr sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Alex vermochte lediglich, zu nicken.

»Sie müssen das nicht jetzt tun. Keine Sorge. Sie können das auch später machen und mit der Post hierher schicken.«

Alex nickte wieder stumm. Verzweifelt versuchte er, sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Einatmen.

Ausatmen.

Das war nur der Kater, dachte er. Und die Aufregung. Beides würde hoffentlich bald vorbei sein. Er musste sich setzen.

Im Augenwinkel sah er den Polizisten wiederkommen und mit den beiden Damen reden. Er holte tief Luft. Der Polizist war ohne einen Koffer in der Hand zurückgekehrt.

»Das ist das Einzige, was sie auf dem Anhänger gefunden haben.«

Maggy trat zu Alex und reichte ihm einen schwarzen Gegenstand, dessen Blut in seinen Adern gefror. Das war sein schwarzer Regenschirm. Er hätte schwören können, dass dieser IM Koffer war und nicht woanders. Wie konnte er nun einsam und einzeln auf dem Kofferwagen gelandet sein? War das wirklich alles nur ein Versehen?

»Ist das Ihrer?«

Alex nickte nur stumm. Ihm blieb jeder Ton im Halse stecken, in seinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Der Regenschirm verströmte einen Geruch, der mit dem von faulen Eiern leicht hätte konkurrieren können. Modrig. Feucht. Muffig. Als wäre er vor Jahren nass eingerollt worden.

Doch Alex hatte ihn noch nie benutzt.

»Gestohlen.«

»Wie bitte?«

»Er muss gestohlen sein. Der Koffer.« Alex‘ Hände zitterten nun. Anders konnte er sich nicht erklären, wie der Regenschirm aus seiner Tasche gekommen war. Vielleicht war er herausgefallen, als die Diebe auf die Schnelle schauten, was der Inhalt so hergeben würde?

»Blödsinn. Das ist sicher nur ein Versehen. Der Koffer wird sicher wieder auftauchen, nachdem das Flugzeug in Deutschland gelandet ist.«

Die fröhlichen grünen Augen vor ihm lachten Alex an, als wäre wirklich alles in Ordnung. Erst jetzt kam er dazu, sie ein wenig genauer zu betrachten. Margarete Shean war eine durchaus attraktive Erscheinung in ihrer Leinenhose und dem leichten Baumwollpullover. Dazu wippten ihre roten Locken frech um das herzförmige Gesicht bei jeder Bewegung, die sie tat. Maggy hatte eine frische Aura. Wenn Alex nicht in dem von ihr noch letzte Nacht geschickten Lebenslauf gelesen hätte, dass sie bereits 44 Jahre alt war, hätte er sie weitaus jünger geschätzt. Diese Frau war zwar klein und zierlich, aber ihre Ausstrahlung umso gewaltiger. Maggy schien einen ganzen Raum mitreißen zu können. Ihr Gesicht war von Sommersprossen übersät, ihre Lippen rosa und voll, ihr Lächeln voller Authentizität. Spätestens ihre blaugrünen Augen hätten sie optisch vollständig zu einer Irin gemacht. Die deutschen Gene waren ihr nicht anzusehen.

Was sie wohl von ihm dachte? Er hatte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht den besten ersten Eindruck hinterlassen. Und nun starrte er die Frau auch noch an. Was stimmte bloß nicht mit ihm? Alex versuchte, sich aus seiner Starre herauszureißen, doch sie kam ihm zuvor.

»So, jetzt aber erst einmal offiziell.« Maggy setzte erneut ein fröhliches Lächeln auf und streckte Alex die rechte Hand entgegen. »Hallo, ich bin Margarete Shean. Kurz Maggy. Und Sie sind Alex?«

»Ja. Danke, dass Sie mich abholen«, murmelte er nun ein wenig verlegen. Alex schüttelte die Hand flüchtig, bevor er sich wieder zurückzog.

»Aber natürlich. Das ist doch selbstverständlich. Sind Sie zum ersten Mal in Irland?«

»Ja.« Alex nickte nur. Ihre weiche Stimme summte in seinem verkaterten Gehirn. Langsam kehrte seine Fassung zurück.

»Dann ist es auch ein großes Abenteuer für Sie, das nur ein wenig holprig begonnen hat.« Maggy lachte wieder. Sie hatte ja auch gut lachen.

»Kommen Sie, ich habe das Auto auf dem Kurzzeitparkplatz, da kann ich nicht mehr lange stehen.«

Entschlossen nahm sie das Papier vom Schaltersims und deutete ihm, ihr zu folgen. Alex umkrallte immer noch krampfhaft Laptoptasche und Regenschirm. Doch so langsam setzten sich seine Füße in Bewegung. Er folgte ihr roboterartig durch die Ausgangstür, lief zwischen Autoreihen hinterher und blieb schließlich neben ihr stehen.

»Oh, Mist. Entschuldigung.« Maggy stotterte plötzlich und spürte, wie Röte in ihre Wangen stieg. Aus Gewohnheit hatte sie den Kofferraum geöffnet. Ein größeres Fettnäpfchen hätte es wirklich nicht geben können. Und Maggy trampelte mit wehenden Fahnen hinein.

»Ich nehme den Laptop mit nach vorne«, kommentierte Alex entsprechend grimmig die Szenerie, warf jedoch den Regenschirm verächtlich in die Tiefen des Kofferraums.

»Wie lange werden Sie bleiben?«

»Äh … keine Ahnung. Ich kann es nicht sagen.«