Das Glück wartet am Strand - Mary Kay Andrews - E-Book

Das Glück wartet am Strand E-Book

Mary Kay Andrews

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Beschreibung

Versteck gesucht, Liebe gefunden Letty und Maya, ihre vierjährige Nichte, müssen nach einem Schicksalsschlag ganz neu anfangen: Ihr altes Leben haben sie zurückgelassen, im sonnigen Florida suchen die beiden nach einem neuen Zuhause. Übergangsweise landen sie in einem kleinen Motel am Strand. Je mehr Letty und Maya sich dort einleben und an die eigenwilligen Stammgäste gewöhnen, desto schwerer fällt es ihnen, wieder zu gehen. Auch Joe, der häufiger im Motel nach dem Rechten sieht, kann sich sein Lebenbald nicht mehr ohne sie vorstellen. Aber Letty muss sich erst ihrer dunklen Vergangenheit stellen. Wird sie sich auf die Liebe und ihr neues Leben einlassen können? Ein gefühlvolles Strand-Abenteuer von Mary Kay Andrews, der Königin des Sommerromans

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Seitenzahl: 650

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Mary Kay Andrews

Das Glück wartet am Strand

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

 

Über dieses Buch

 

 

Nach dem Tod ihrer Schwester Tanya kümmert Letty sich um ihre Nichte Maya. Die beiden wollen sich ein neues Leben aufbauen. Vorübergehend kommen sie in einem Strand-Motel in Florida unter, zu dem Tanya scheinbar eine Verbindung hatte. Maya blüht dort regelrecht auf, und es gelingt der Kleinen sogar, die ablehnenden Stammgäste um den Finger zu wickeln. Joe, der örtliche Detective und Sohn der Motelbesitzerin, muss sich hingegen anstrengen, um einen Blick hinter Lettys Fassade werfen zu können. Die schöne Unbekannte, die nichts von sich preisgibt, fasziniert ihn. Doch als Mayas Vater auftaucht, müssen Letty und Joe alles daran setzen, Maya vor ihm zu beschützen. Erst danach können sie sich ihren Gefühlen füreinander widmen …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mary Kay Andrews wuchs in Florida, USA, auf und lebt mit ihrer Familie in Atlanta. Im Sommer zieht es sie zu ihrem liebevoll restaurierten Ferienhaus auf Tybee Island, einer wunderschönen Insel vor der Küste Georgias. Seit ihrem Bestseller ›Die Sommerfrauen‹ gilt sie als Garantin für die perfekte Urlaubslektüre.

 

Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über zwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im nördlichen Münsterland.

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

Epilog

Danksagung

Für meine Schreibgefährtinnen in der Pandemie, gleichzeitig die Mitbegründerinnen von Friends & Fiction. Widrige Umstände führten uns zusammen, Liebe und Glück sorgten dafür, dass wir am Ball blieben.

 

Voller Dankbarkeit und Liebe für Kristin Harmel, Kristy Woodson Harvey, Patti Callahan Henry, Mary Alice Monroe und Meg Walker.

1

Es war noch dunkel, als Letty auf den Parkplatz fuhr. Langsam rumpelte der Wagen über den Muschelsplitt, und sie drehte sich zu Maya um, dankbar, dass das Kind endlich schlief. Der Kopf der Kleinen war seitlich gegen die Lehne des Kindersitzes gesackt, ihre Locken waren verschwitzt, die rosa Lippen zum Schmollmund vorgeschoben. Sie schnarchte leise und hatte Ellie, den Stoffelefanten, der nie fehlen durfte, fest an sich gedrückt.

Neben der Einfahrt zum Motel hing ein großes handgemaltes Schild: PARKEN NUR FÜR GÄSTE AUF ZUGEWIESENEN PLÄTZEN! WIDERRECHTLICH GEPARKTE PKW WERDEN ABGESCHLEPPT! OHNE AUSNAHME!

Letty gähnte. Ihre Augen brannten, die Muskeln in ihren Schultern und Armen waren verspannt. Sie ignorierte das Schild und manövrierte den silbernen Kia rückwärts in eine Lücke am hintersten Ende, damit sie es mitbekam, falls sich jemand ihrem Wagen näherte. Der Platz war so gut wie voll besetzt mit rund zwei Dutzend Autos, die in Parkbuchten mit nummerierten Holzschildern standen. Über Letty bogen sich die vergilbten Wedel einer großen Palme, direkt neben ihr war ein Müllcontainer. Es würde sich doch wohl niemand an einem kleinen alten Kia stören, der in der letzten Ecke stand, wo sonst niemand hinwollte, oder?

Letty stellte den Motor aus, versperrte die Türen und schob den Sitz so weit wie möglich nach hinten. Sie seufzte erschöpft, ihr fielen die Augen zu. Derweil blinkte die Neonreklame des Motels: pinkfarbene Buchstaben vor stahlblauen Wellen und grünen Palmen. An, aus, an, aus. MURMURING SURF. FREIES WLAN. SWIMMINGPOOL. FARB-TV. Bevor sie in die Parklücke gefahren war, hatte sie kurz gestutzt, als sie das gelbe Schild mit der Aufschrift VOLL BELEGT entdeckte, doch dann dachte sie, vielleicht sei ja noch ein Zimmer frei. Möglicherweise würde am frühen Morgen jemand auschecken.

Letty griff zu dem akkurat gefalteten Zeitungsausschnitt, den sie auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Die verblasste Seite war aus einer alten Ausgabe der Zeitschrift Southern Living gerissen und trug den Titel: »Floridas versteckte Schätze: vier Familienmotels zum Neu-Entdecken.« Unten auf dem Blatt war ein Foto des Murmuring Surf, das mit einem schwarzen Permanentmarker eingekreist war. Verglichen mit dem Gebäude vor Letty musste das Foto vor langer Zeit aufgenommen worden sein.

Wahrscheinlich würde die Sonne in einer halben Stunde aufgehen, am dunkelblauen Himmel sah man bereits das zarte Versprechen rosafarbener Steifen, und Letty konnte gerade so eine Reihe kleiner Wohneinheiten erkennen, symmetrisch in Hufeisenform angeordnet. In der Mitte befand sich ein leuchtend blaues nierenförmiges Schwimmbecken, überschattet von hohen Palmen und umringt von Liegestühlen und Tischen. Nirgends brannte Licht, nur in der Mitte des Hufeisens, im Fenster eines zweistöckigen Gebäudes, das doppelt so groß wie die anderen war, hing ein kleines Neonschild mit der Aufschrift »REZEPTION/BÜRO«. Neben der Tür stand ein beleuchteter Cola-Automat.

Letty ließ die Fensterscheibe ein paar Zentimeter hinunter. Sie sog die frische, salzhaltige Luft ein und lauschte dem sanften Rauschen von Wellen. Was würde sie darum geben, im Mondschein am Strand spazieren zu gehen, mit den Füßen im Sand zu versinken und das warme Wasser an ihren Knöcheln zu fühlen, das die traumatischen Schrecken der vergangenen sechsunddreißig Stunden abwusch.

Maya bewegte sich, murmelte etwas im Schlaf. Letty wurde in die Wirklichkeit zurückgeholt.

Liebevoll betrachtete sie das Mädchen, dessen Gesicht so ruhig und sorglos wirkte. Was hatte die Kleine miterleben müssen? Woran würde sie sich erinnern? »Armes Spätzchen«, flüsterte Letty. Unbewusst benutzte sie den Kosenamen, den ihre Großmutter Mimi immer für sie und ihre jüngere Schwester verwendet hatte.

Auf der langen Fahrt von New York hierher hatte Maya stundenlang geweint, zuerst laut schluchzend, später war es zu Wimmern und Schniefen abgeebbt. Sie hatte sich geweigert, etwas zu essen, hatte in einem Fastfoodladen am Highway in West Virginia einen Wutanfall bekommen, ihre geliebten (und normalerweise verbotenen) Chicken Nuggets auf den Boden geworfen und aus Leibeskräften geschrien: »Ich will zu MOMMY!«, so dass Letty Panik bekam und das Kind schnell nach draußen brachte. Ihr eigenes Essen vergaß sie im Laden. Stunden später hatte sie sich in die Schlange am Drive-in einer anderen Fastfoodkette gestellt und Maya mit einem Schoko-Milchshake bestochen, den die Kleine gierig mit dem Strohhalm trank – nur um eine halbe Stunde später alles wieder zu erbrechen, weshalb Letty an der nächsten Tankstelle erneut haltmachen musste.

Sie griff zu ihrem Handy. Sechs Textnachrichten, die sie alle löschte. Die letzten beiden waren von Zoey.

WO BIST DU?

OMG! RUF MICH AN! ALLES OKAY?

Sie zögerte. Zoey war ihre erste richtige Freundin in New York gewesen. Irgendwem musste Letty vertrauen, oder nicht? Nein, beschloss sie und schüttelte den Kopf. Sie konnte niemandem vertrauen. Nicht nach dem, was passiert war. Je weniger Zoey wusste, desto besser für alle.

Wieder fielen Letty die Augenlider zu, und sie sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

Ein metallisches Klopfen an der Fensterscheibe weckte sie. »Ma’am? Hey, Ma’am? Aufwachen!«

»Hm?« Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe.

Maya begann zu wimmern. »Letty? Ich hab Hunger.«

»Sie können hier nicht schlafen, Ma’am«, sagte ein Mann, der durch das Fenster auf der Fahrerseite hereinspähte. Er trug eine Pilotenbrille und ein dunkelblaues Hemd mit einem Abzeichen an der Brusttasche.

Trotz der Hitze im Wagen fuhr Letty ein Schauer über den Rücken. Ein Polizist!

Sie schüttelte den Kopf, um klar zu denken. »Hä? Ich habe nicht geschlafen.«

»Was denn dann? Sind Sie etwa betrunken? Mit einem Kind im Auto?« Die Sonnenbrille verdeckte die Augen des Mannes, aber er wirkte nicht sehr alt. Ende dreißig, stark gebräunt, äußerst misstrauisch.

»Letty?«, quengelte Maya von hinten. »Ich muss mal Pipi.«

Letty reagierte nicht auf den Polizisten, sondern drehte sich zu ihrer Nichte um. »Gut, Mäuschen. Wir gehen jetzt ins Motel und fragen nach einer Toilette. Kannst du noch eine Minute aushalten?«

Dann wandte sie sich wieder an den Mann und versuchte dabei, sich ihre Angst und Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Hören Sie, ich bin absolut nüchtern, nur sehr müde. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren und habe mich vor ungefähr einer Stunde auf diesen Parkplatz gestellt. Ich habe nur darauf gewartet, dass das Motel öffnet, damit ich mir ein Zimmer nehmen kann. Würden Sie mich jetzt bitte in Ruhe lassen, damit ich mit der Kleinen zur Toilette gehen kann?«

»Haben Sie das Schild nicht gesehen? ›Voll belegt‹?« Er wies in Richtung Straße.

»Ich dachte, heute Morgen checkt bestimmt jemand aus.«

Letty öffnete die Wagentür und schwang ihre Beine heraus. Der Cop versperrte ihr den Weg. »Hier ist kein Zimmer frei«, sagte er. »Das Motel ist ausgebucht.«

»Wenn es Sie nicht stört, gehe ich kurz rein und frage selbst nach«, sagte Letty. »Außerdem brauche ich dringend eine Toilette für das Kind, ja?«

»Die Straße runter ist ein Citgo.« Er wies mit dem Finger in die betreffende Richtung.

»Würden Sie mit Ihrem Kind dort auf die Toilette gehen? Der Parkplatz ist total ungepflegt.«

Maya hampelte auf dem Rücksitz herum und versuchte, ihren Sitzgurt zu öffnen. »Ich muuuuss!«, jammerte sie.

Letty stieß die Tür weit auf, stieg aus und drückte sich an dem Polizisten vorbei. Sie öffnete die hintere Tür, hob Maya aus dem Kindersitz auf ihre Hüfte und packte sich Handtasche und Handy.

»Entschuldigung«, sagte sie, ohne sich noch einmal umzudrehen. Im Stechschritt eilte sie auf die Rezeption beziehungsweise das Büro des Motels zu. Mittlerweile musste nicht nur Maya dringend zur Toilette.

An der Tür schaute sich Letty noch einmal um. Der Cop verharrte neben ihrem Kia, die Hände in die Hüften gestützt, und sah ihr nach.

Sie riss die Glastür auf, und eine Klingel ertönte. Hinter dem Tresen stand eine blonde Frau von ungefähr Mitte fünfzig und telefonierte. Sie hob den Blick und runzelte die Stirn.

»Gehört Ihnen der Kia da draußen?«, fragte sie. »Ich will gerade einen Abschleppwagen rufen.«

»Wo ist die Toilette?«, fragte Letty mit Nachdruck. »Bitte! Meine Kleine …«

»Pipi!«, jammerte Maya wie aufs Stichwort. Die Kleine hatte ein astreines Timing. Wie ihre Mutter, dachte Letty resigniert.

Die Frau hinter der Theke stutzte, dann zuckte sie mit den Schultern und wies auf einen schmalen Gang. »Da vorn. Aber die ist eigentlich nur für Motelgäste.«

»Gut«, sagte Letty und hastete zur Toilettentür.

Sie ließ sich Zeit, wusch Mayas tränenüberströmtes Gesicht und ihre Hände, fuhr mit den Fingern durch die feuchten Locken des Kindes und tat ihr Bestes, um selbst einigermaßen »vorzeigbar« auszusehen, wie ihre Mimi sich ausgedrückt hätte.

Letty setzte Maya auf die hinuntergeklappte Klobrille. Sie wusch sich selbst die Hände, spritzte sich Wasser ins Gesicht und an den Hals, band ihre langen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Schließlich holte sie einen Lippenstift aus der Handtasche, die prall mit all den Gegenständen gefüllt war, die Letty schnell hineingestopft hatte, als sie aus New York geflohen war.

Sie schloss die Augen und versuchte, das erstickende Gefühl von Panik hinunterzuschlucken, das sie beim Anblick des Polizisten auf dem Parkplatz ergriffen hatte. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass sie sich in den Kia setzen und weiterfahren sollte.

Aber …

Der Zeitschriftenartikel. Irgendwas an diesem Motel hatte Tanya etwas bedeutet. Lettys Schwester war nicht besonders sentimental gewesen. Normalerweise hob sie keine Beiträge aus Magazinen auf. Trotzdem hatte sie den Artikel über dieses besondere Motel aufbewahrt. Warum?

Immer weiter atmen, sagte sich Letty. Ein und aus.

Als sie die Augen wieder öffnete, war das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, blass und hager. Ihre grünbraunen Augen waren blutunterlaufen, darunter waren dunkle Ringe. Letty betrachtete das blau-weiß gestreifte Shirt, das sie aus Tanyas Kleiderschrank genommen hatte, als sie den Blutfleck an der Manschette ihrer weißen Bluse entdeckt hatte.

»Du siehst so richtig abgewrackt aus«, brummte sie im West-Virginia-Dialekt ihrer Großmutter. Sie bemerkte das Preisschild, das unter dem Ärmel baumelte, und riss es heraus. Letty kannte die Designermarke nicht, aber der Preis verschlug ihr den Atem. Tanya hatte 325 Dollar für diesen schlichten blau-weiß gestreiften Pulli mit U-Boot-Kragen bezahlt, den sie noch nicht mal angezogen hatte, an den sie sich wahrscheinlich gar nicht mehr erinnern konnte. Der begehbare Kleiderschrank im Townhouse ihrer Schwester war vollgestopft mit derartig teuren Klamotten, und viele davon hatte Tanya nie getragen.

Mit brennenden Tränen in den Augen riss Letty das Preisschild durch und stopfte es in ihre Tasche.

»Letty?« Mayas strahlend blaue Augen fixierten sie. »Weinst du?«

»Nein, Mäuschen.« Letty beugte sich vor und gab dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. »Alles gut. Wir schaffen das schon. Jetzt reden wir mal mit der netten Frau über ein Zimmer, ja?«

Die nette Frau stand direkt vor der Toilettentür im Gang, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Polizist vom Parkplatz leistete ihr Gesellschaft.

»Hi«, sagte Letty und zwang sich zu einem müden Lächeln. »Vielen Dank, dass wir Ihre Toilette benutzen durften. War ein kleiner Notfall.«

»Gern geschehen«, sagte die Frau. Sie trug ein rosafarbenes Poloshirt und eine Mom-Jeans mit hohem Bund. Ein Namensschild an ihrem Kragen wies sie aus als »AVA DECURTIS, MOTELLEITUNG MURMURING SURF«. Ihre aschblonden Haare waren zu einer kurzen, missratenen Dauerwelle gelegt. Ava wies auf den Polizisten. »Joe sagt, Sie suchen ein Zimmer.«

»Ja, Ma’am.« Letty setzte den breiten Südstaatenakzent auf, den sie sich lange mühsam abtrainiert hatte. »Wir brauchen nichts Besonderes, nur ein sauberes Zimmer zum Schlafen.«

»Tut mir leid, aber wie das Schild draußen schon sagt, sind wir voll belegt.«

»Hab ich ihr auch gesagt«, bemerkte der Polizist, der die Sonnenbrille abgezogen hatte. Wenn er nicht so mies wäre, hätte man ihn tatsächlich als halbwegs ansehnlich bezeichnen können, dachte Letty.

»Ja«, bestätigte sie. »Das hat er mir gesagt. Ich hatte bloß gehofft, dass heute Morgen vielleicht jemand abreist. Wir sind die ganze Nacht durchgefahren, ich habe seit Ewigkeiten nicht geschlafen. Haben Sie wirklich überhaupt nichts frei? Also gar nichts?«

»Tut mir wirklich leid, meine Liebe, aber wenn Sie vorher angerufen hätten, hätte ich Ihnen sagen können, dass wir ausgebucht sind. Ist ja immer noch Hochsaison.«

»Hm.« Letty ließ die Schultern hängen. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Tritt in die Magengrube bekommen.

»An der Straße zurück zur Interstate gibt es wahrscheinlich noch Zimmer«, schlug Ava DeCurtis vor. »Ich könnte auch Mark drüben von der Econo Lodge anrufen.«

Letty schüttelte den Kopf. »Ich habe mein Herz wirklich an dieses Motel gehängt. Ich habe schon so viel darüber gehört und Maya versprochen, dass wir am Strand wohnen.«

»Ach, dieser verfluchte Artikel in der Southern Living«, schimpfte die Motelbesitzerin. »Vergessene Motels neu entdecken – von wegen! Das ist schon fünf Jahre her, und bis heute muss ich die Leute abwimmeln.«

Joe, der Cop, sah Letty eindringlich an. »Zu dieser Jahreszeit finden Sie mit Sicherheit nichts direkt am Strand«, sagte er. »Wir haben März, und wir sind in Florida.«

»Das ist mir durchaus klar«, gab Letty zurück und kämpfte gegen den Drang, ihm zwischen die Beine zu treten. Sie seufzte schwer. »Ich hab nur … ach, in meiner Familie gibt es ganz besondere Erinnerungen an dieses Motel.«

Unbewusst hatte sie eine andere Rolle eingenommen. War es die gescheiterte Schauspielerin, die gerade aus ihr sprach?

»Ach, ja?«, fragte Ava DeCurtis. »Ich habe das Murmuring Surf in den Achtzigern übernommen. Vielleicht kenne ich Ihre Familie ja?«

»Meine Großeltern haben hier ihre Flitterwochen verbracht, aber das muss schon in den sechziger Jahren gewesen sein.« Die Lüge ging Letty glatt über die Lippen. »Mimi hat uns immer erzählt, wie sie im Meer geschwommen ist und wie sie Garnelen in dem Restaurant die Straße runter gegessen hat …«

»Das ist kein Meer, das ist der Golf von Mexiko«, unterbrach der Polizist sie. »Und wir haben immer noch kein Zimmer frei.«

»Joe!«, sagte Ava streng. »Sei nicht so unhöflich!« Sie kniete sich vor Maya. »Die kleine Maus hier möchte an den Strand, stimmt das, Schätzchen?«

Maya klimperte mit ihren unglaublich langen dunklen Wimpern. Sie hatte wirklich das Beste aus zwei Genpools auf sich vereint, dachte Letty. »Ja! Ich will schwimmen!«

»Wie heißt du denn, Schätzchen?«

»Maya Abigail. Und ich bin vier Jahre alt. Und ich komme bald auf die Schule für große Mädchen.«

Die Inhaberin des Motels war auf der Stelle in das Kind vernarrt. Diese Wirkung hatte Maya auf viele Menschen. Genau wie Mayas Mutter.

»Das Econo Lodge hat auch einen Pool«, bemerkte Joe.

Ava stand auf und sah sich seufzend in der Lobby des Motels um. »Vielleicht der alte Lagerraum?«

»Mom!«

Letty blickte von einem zum anderen. »Das ist Ihre Mutter?«

»Schuldig im Sinne der Anklage.« Ava sah ihren Sohn warnend an. »Na ja, da hat seit Jahren keiner mehr drin geschlafen, denn es ist das einzige Ein-Zimmer-Apartment, das wir hier haben. Es ist winzig. Aber es ist nichts Wichtiges dort gelagert. Nur ein Berg kaputter alter Liegestühle, ausrangierte Bettwäsche und Sperrmüll, den ich schon längst wegbringen wollte …«

»Solange es ein Bett und ein Badezimmer gibt, stört mich das nicht. Ich bin an wenig Platz gewöhnt.« Letty dachte an all die kakerlakenverseuchten Zimmer, in denen sie in New York gewohnt hatte. Sie klang verzweifelt, denn sie war ehrlich verzweifelt.

»Und wer entsorgt den ganzen Müll?«, wollte Joe wissen.

»Ich«, sagte Letty.

»Mit dem mickrigen Kia?«

Letty hätte ihm am liebsten in den Allerwertesten getreten, mit Anlauf. »Auf dem Parkplatz steht doch ein Container.«

»Stimmt«, sagte Ava. Sie warf ihrem Sohn einen kurzen Blick zu, dann schaute sie Maya an, die ihren schmuddeligen Stoffelefanten an sich drückte.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie das Studio leer räumen und den ganzen Sperrmüll zum Container bringen, können Sie das Zimmer haben. Da steht auf jeden Fall irgendwo ein Bett, nur für den Zustand der Matratze kann ich nicht garantieren. Das Bad ist alt, aber soweit ich weiß, funktioniert noch alles. Es ist auch eine kleine Küchenzeile drin. Wahrscheinlich reicht Ihnen das.«

»Doch«, sagte Letty. »Das ist genug für uns.«

»Ich kann allerdings keine Putzfrau erübrigen, die Ihnen helfen könnte«, warnte Ava.

Letty nickte und dachte an das Bündel Bargeld, das sie unter den Vordersitz des Kia gestopft hatte. Sie spürte schon jetzt, wie es schrumpfte. »Wenn ich das Zimmer leer räume und sauber mache, was kostet es dann pro Woche?«

»Ohne Putzfrau?«, fragte Ava.

»Ja, ohne, Ma’am«, erwiderte Letty wieder mit Südstaatenakzent. »Die Kleine und ich brauchen nur eine Unterkunft am Strand. Ich bin es gewöhnt, schwer zu arbeiten und hinter mir sauber zu machen.«

»Wie lange?«, fragte Joe.

»Weiß ich noch nicht«, sagte Letty. »Kann ich das entscheiden, wenn es so weit ist?«

Ava sah ihren Sohn nachdrücklich an, bis er mit den Schultern zuckte und den Blick abwandte.

»Von mir aus«, sagte Ava. »Wie wäre es mit dreihundert die Woche?«

»Wenn ich statt mit Kreditkarte bar zahle, könnten Sie dann noch etwas runtergehen?«

Ava zuckte mit den Schultern. »Zehn Dollar weniger sind noch drin. Aber Sie dürfen keinem Gast erzählen, was Sie zahlen. Ich kann keinen Aufstand gebrauchen.«

»Dann sind wir uns einig.« Letty hielt Ava die Hand hin. »Ich bin übrigens Letty. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihren Entschluss nicht bereuen werden.«

Ava nahm Lettys Hand in ihre beiden Hände und schüttelte sie. »Ich hole den Schlüssel. Sie können die Schubkarre nehmen, die hinter dem Pumpenhäuschen vom Pool steht.«

»Ich möchte kurz zu Protokoll geben, dass ich dagegen bin.« Joe schüttelte entnervt den Kopf.

»Okay, notiert«, entgegnete Ava. Sie streckte Maya die Arme entgegen, die bei Fremden normalerweise nicht schnell auftaute, sich aber anstandslos von Ava auf den Arm nehmen ließ. »Süßes Mäuschen«, säuselte die Motelchefin und fuhr mit den Fingern durch Mayas Locken. »Ich weiß gar nicht mehr, wann wir zuletzt ein Kind hier hatten.«

»Warte ab, bis die Feldmans spitzkriegen, dass ein Kind im Motel ist«, sagte Joe. »Die steigen auf die Barrikaden.«

Ava sah ihren Sohn böse an. »Musst du nicht zum Dienst?«

2

Das als Lager genutzte Studio befand sich am nördlichen Ende der pastellfarben gestrichenen Häuschen aus Betonblockstein. Es war wirklich klein und zu Mayas Freude kaugummirosa gestrichen. »Das ist Barbies Haus«, kicherte sie.

Die Lamellenfenster waren mit einer dicken Schicht aus Salz und Schmutz überzogen. Der Lack an der Tür, ein unansehnliches Erbsengrün, blätterte ab.

»Da wären wir«, erklärte Ava und schloss die Tür auf. »Wie gesagt, es ist nichts Besonderes.«

»Oje«, sagte Letty beim Blick auf ihr neues Zuhause. Es roch nach Schimmel und alten Socken.

Wie angekündigt, war das Studio winzig. Und es war bis zur Decke zugestellt mit Sachen, die in den letzten Jahrzehnten kaputtgegangen oder überflüssig geworden waren. Letty entdeckte einen Stapel Clubsessel aus Aluminium mit zerfranstem Plastikgewebe, sieben unterschiedlich alte Fernsehgeräte, Plastikkörbe mit ausgeblichenen Tagesdecken und vergilbten Handtüchern sowie Berge von Bildern, hässliche Massenware. Drei verrostete Klimaanlagen wankten wie zu einem Marterpfahl aufeinandergestellt in einer Ecke. Vor den Fenstern lehnten durchgelegene Matratzen, dazwischen waren eine Waschmaschine und drei Kloschüsseln geschoben.

Seufzend stieß Ava mit dem Fuß gegen eine resopalbeschichtete Kommode, die schon bessere Tage gesehen hatte. »Ich hab verdrängt, was sich hier angesammelt hat.« Sie schaute finster drein. »Das ist die gerechte Strafe dafür, dass ich diesen angeblichen Handwerker nicht früher in die Wüste geschickt habe. Bis mir klar wurde, dass er zwei linke Hände hat und stinkfaul ist, dass er bloß trinken und im Casino in Tampa Geld verlieren kann, hatte er mein Auto geschrottet und den ganzen Kram, den er reparieren sollte, in diesen Raum gestopft.«

Letty lächelte verständnisvoll.

»Eins sage ich Ihnen, Letty: Mit seinen Freunden soll man trinken und lachen, aber keine Geschäfte machen!«

»Das hat meine Großmutter Mimi auch immer gesagt«, gab Letty zurück.

»Waren Sie mal verheiratet?«

»Nein.«

»Auch nicht mit Mayas Vater?«, fragte Ava. »Ich meine, das geht mich natürlich nichts an. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe zwei Kinder, für die ich dem lieben Gott jeden Tag dankbar bin, aber heute wäre es mir lieber, ich hätte keinen von den beiden Vätern geheiratet.«

Letty warf einen kurzen Blick auf Maya, die neugierig in einem Plastikkorb mit Bettzeug herumwühlte.

»Also, Maya ist meine Nichte«, sagte Letty leise, ein kleines Zugeständnis an die Wahrheit.

»Guck mal, Letty!« Maya hielt eine violett und gelb geblümte Tagesdecke aus Kunstfaser hoch: »Für Ellies Bett.«

»Ellie? Haben Sie etwa noch ein Kind?«, fragte Ava verwirrt.

»Nein. Ellie ist der Stoffelefant. Mayas bester Freund.«

»Ach so.« Ava lächelte Maya zu und fragte Letty flüsternd: »Wo sind denn die Eltern?«

»Verstorben«, antwortete Letty traurig. Komplett gelogen war das nicht. Schließlich war Tanya wirklich tot, und Evan war für Letty auch gestorben.

»Das tut mir leid«, sagte Ava. Sie wollte noch etwas hinzufügen, da summte es in ihrer Jeans. Sie zog ihr Handy aus der Gesäßtasche.

»O Gott. Entschuldigung. Der Elektriker schreibt, er wäre unterwegs. Ich überlasse Sie jetzt sich selbst. Werfen Sie den Kram einfach in den Container, neben dem Sie geparkt haben. Wenn Sie Sachen zum Putzen brauchen, kommen Sie ins Büro, dann gebe ich Ihnen so ein Wägelchen mit Putzzubehör, ja?«

»Danke«, sagte Letty.

Als Ava fort war, sah sie sich im Zimmer um und seufzte. »Wo soll ich nur anfangen?«

Da hörte sie klar und deutlich Mimis Stimme: »Nicht lange überlegen, einfach loslegen.«

Während ihrer anstrengenden Jugend hatten Letty und Tanya zwei Sommer bei den Eltern ihrer Mutter, die sie liebevoll »Mimi« und »BopBop« nannten, auf deren Farm in Indiana gelebt. Derweil genoss ihre Mutter Terri die Flitterwochenphase ihres Lebens mit ihrem dritten Mann Bobby Ray Braithwaite.

Schließlich implodierte die Ehe, ohne dass es irgendwen gewundert hätte, und nach BopBops Schlaganfall und seinem darauffolgenden Tod war Schluss mit den Sommerferien auf der Farm. Die kleine Familie war wieder auf den ungepflegten Campingplatz in Tennessee gezogen, wo Terri Bobby Rays Trailer in Beschlag nahm. Mimi hatte sie in BopBops Chevy Impala nach Knoxville gefahren und ihnen beim Umzug in den Trailer geholfen. Sie hatte den Kühlschrank und die Schränke mit Lebensmitteln gefüllt und war zwei Tage später widerstrebend auf ihre Farm zurückgekehrt.

»Ihr passt aufeinander auf, Mädels, hört ihr?«, hatte Mimi zum Abschied gesagt und jeder Schwester einen Arm um die Schultern gelegt. »Eure Mama, die Arme, ist nur in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, deshalb ist es deine Aufgabe, Letty, dich um Tanya zu kümmern, und du, Tanya, hörst auf das, was Letty sagt. Versprecht ihr mir das, ja?«

Die Mädchen hatten pflichtschuldig genickt und Mimi nachgewinkt, die noch einmal auf die Hupe des Impala drückte und dann aus dem Blickfeld verschwand. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie ihre Großmutter sahen.

Nun lud Letty einen Berg Bettwäsche auf die Schubkarre, setzte Maya obenauf und schob alles nach draußen zum Container. Nachdem sie die alten Sachen hineingeworfen hatte, schloss sie ihren Wagen auf und holte so viele Sachen von Maya heraus, wie sie tragen konnte: Das zerfledderte Exemplar von Kekse für die Maus im Haus, eine kleine rosa Plastikdose mit Mayas Buntstiften und ein Malbuch sowie den Koffer des Mädchens, auf dem ihre Lieblingsdisneyfigur prangte: Elsa aus Die Eiskönigin. Letty sah sich um, überzeugte sich, dass niemand sie beobachtete, und griff zu dem Stoffbeutel, den sie aus Tanyas Schrank genommen hatte. Ihr war unwohl, wenn sie den Beutel nicht im Blick hatte, selbst wenn er im Auto eingeschlossen war.

»Fährst du mich zurück, Letty?« Maya kletterte wieder in die Schubkarre.

»Ja, gut, aber wenn wir in dem Zimmer sind, muss ich putzen. Du kannst ja spielen, okay? Ich habe dein Malbuch und deine Stifte mitgenommen. Bist du ein liebes Mädchen, während ich unser Zimmer sauber mache?«

Maya nickte eifrig, ihre Locken tanzten. »Ich bin ein liebes großes Mädchen.«

Letty drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Du bist das größte, beste Mädchen der Welt.«

 

Bis zum Mittag war es Letty gelungen, die Hälfte des Sperrmülls rauszubringen. Zigmal war sie mit der Schubkarre zum Container gefahren, während sich Maya aus den am wenigsten benutzten Laken und Kissen, die Letty aus dem Berg ausrangierter Bettwäsche gerettet hatte, ein Zelt baute.

Tanya würde durchdrehen, dachte Letty, wenn sie ihre Tochter hier sähe. Nach Mayas Geburt wurde ihre Schwester extrem penibel, verlangte von allen Gästen, dass sie ihre Schuhe an der Tür auszogen, stellte in jedes Zimmer eine Flasche mit Desinfektionsmittel und kaufte für ihre Tochter nur noch Dinge zum Essen oder Spielen, die ein Biosiegel trugen.

Aber Tanya war nicht mehr da, dachte Letty. Und Bakterien waren ihr geringstes Problem. Ihr war warm, sie war dreckig, ihre Arme und Beine taten weh, und ihr Magen knurrte.

»Komm, Mausezahn«, sagte Letty und klappte eins der Laken zurück, unter denen ihre Nichte hockte. »Wir gehen was essen.«

»Jippie!«, rief Maya und rappelte sich auf. »Chicken Nuggets!«

»Nee«, widersprach Letty. »Salat. Und Obst. Und Milch.«

»Und Kekse?«

»Mal sehen.«

Als sie den Kia aufschloss, kam Ava aus dem Büro und winkte ihnen zu. »Wollt ihr was essen?«

»Ja!«, rief Maya.

»Wir wollten gerade einkaufen fahren«, erklärte Letty und ging zu Ava hinüber. »Ich wollte fragen: Wo ist der nächste Supermarkt?«

»Ein paar Meilen weiter ist ein Publix, aber erst mal könnt ihr doch was bei mir essen, hm? Nichts Besonderes, nur Sandwiches mit Schinken und Salat, Möhrensticks und Weintrauben.«

»Und Kekse?« Maya gab die Hoffnung nicht auf.

Ava nahm die Hand des Kindes in ihre. »Hm, mal sehen. Ich denke, ich kann ein paar auftreiben.«

Letty folgte Ava ins Büro, durch eine Tür und eine schmale Treppe hinauf.

»Da wären wir. Home sweet home.« Ava öffnete die Tür am Ende der Treppe.

Sie gelangten in einen großen, sonnigen Raum mit glänzendem Kiefernholzboden, blassblauen Wänden und einer Fensterreihe, die auf das funkelnde Wasser des Ozeans ging. Das Zimmer machte einen gemütlichen Eindruck: Im Wohnbereich stand ein bequemes Sofa mit einem Schonbezug aus Jeansstoff vor einem Flatscreen-Fernseher, im Essbereich umgaben bunte Rattanstühle einen Bauerntisch aus Kiefernholz.

»Sieht das nett aus!« Letty bemühte sich, nicht neidisch zu klingen. Ihr ehemaliges Apartment in New York hätte in den Raum gepasst, den die Essgruppe einnahm. Bei dem Gedanken an ihre alte Wohnung musste sie unvermutet die Tränen zurückdrängen. In ihrer Eile, die Stadt zu verlassen, hatte sie nur wenige Habseligkeiten einstecken können: ihren Laptop, die Kultursachen und die Kleidung, die in ihren kleinsten Koffer passte. Alles andere hatte sie zurückgelassen. Sie war überzeugt, dass Evan inzwischen in ihrer Wohnung herumwühlte, in ihren Klamotten, ihren Büchern, in den wenigen Familienfotos, die sie aufbewahrt hatte, auf der verzweifelten Suche nach einem Anhaltspunkt, wo Letty sein mochte. Bei der Vorstellung, dass Evans Hände – dieselben Hände, die für Tanyas Tod verantwortlich waren – ihr Eigentum anfassten, bekam Letty eine Gänsehaut.

»Wohnt Ihr Sohn auch hier?«, fragte sie mit Blick durch das Zimmer, dessen Einrichtung eine deutlich weibliche Handschrift verriet.

»Joe? Ganz bestimmt nicht. Nein, der hat was Eigenes ein Stück weiter unten am Strand. Hier wohnen nur ich und meine Jüngste, Isabelle. Es ist nichts Besonderes, aber es gehört mir, und es ist so gut wie abbezahlt. Kommt mit in die Küche! Ihr müsst doch einen Riesenhunger haben.«

 

Die Küche war kleiner und älter als die beiden vorderen Zimmer. Die Küchenzeile bestand aus Metallschränken, einem Herd mit vier Platten und einem Kühlschrank. Vor einem großen Fenster, von dem man durch die Wedel hoher Palmen auf den sandigen Parkplatz des Motels blickte, stand eine Essecke aus Chromgestell und Resopal.

Ava deckte den Tisch mit drei Tellern und legte eine Kindersitzerhöhung auf einen der vier gelben mit Vinyl gepolsterten Stühle.

»Ich wusste, dass es einen guten Grund gibt, das hier nicht zu spenden«, bemerkte sie.

Ava stellte eine Platte mit Sandwiches in die Mitte des Tisches, dazu kam ein Teller mit Möhrensticks und Apfelspalten. »Was möchte unser Mäuschen denn trinken?«

»Ein Saftpäckchen!« Maya schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Milch wäre gut«, sagte Letty. Kaum hatte sie ein Sandwich auf Mayas Teller gelegt, griff die Kleine danach und stopfte es in sich hinein. Letty musste sich zwingen, langsam zu kauen und jeden Bissen zu genießen.

»Hmmm«, machte Maya und kaute auf einem Stück Möhre herum.

Ava strahlte und legte eine zweite Sandwichhälfte auf Mayas Teller. »Die Kleine hat Hunger. Stürzt sich ja regelrecht auf das Essen. Die futtert wie ein Scheunendrescher!«

Letty unterdrückte ein Lachen. »Tut mir leid. Wir hatten gestern eine lange Fahrt. Wir haben zwar eine Essenspause eingelegt, aber dann wurde Maya schlecht, und ich hatte Angst, ihr danach noch viel zu essen zu geben. Sobald wir uns in unserem Zimmer eingerichtet haben, müssen wir uns wieder an geregelte Mahlzeiten gewöhnen.«

»Woher kommen Sie eigentlich? Ihr Auto hat ein Kennzeichen aus South Carolina.«

»Aus New Jersey.« Letty blieb absichtlich vage. »Ich habe den Wagen aus zweiter Hand gekauft und hatte noch keine Zeit, ein neues Kennzeichen zu besorgen.«

»Ich hatte mal eine Schwägerin aus New Jersey, aus der Gegend von Newark«, sagte Ava und trank einen Schluck Eistee. »Aber die wurde von einem Müllwagen überfahren. Das war für mich immer ausgleichende Gerechtigkeit. Von wo sind Sie genau?«

»Aus Hoboken«, antwortete Letty. Das stimmte halbwegs. Sie hatte mal kurz in Hoboken gewohnt, als sie nach New York gezogen war.

»Wie lange haben Sie schon das Murmuring Surf?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»Mal überlegen. Joe war noch klein. Er war so klein, und wir waren so arm, dass er in einer Kommodenschublade geschlafen hat, bis wir uns ein gebrauchtes Kinderbett leisten konnten. Im Juli wird er achtunddreißig, so lange sind wir schon hier.«

Letty schaute aus dem Fenster auf den Parkplatz. Eine silberne Limousine parkte neben ihrem Kia. Letty wurde unruhig. Eine ältere Frau stieg aus und begann, einen Rollstuhl aus dem Kofferraum zu laden. Letty entspannte sich ein wenig.

»Arbeitet Ihr Sohn auch hier? Ich meine, wenn er nicht als Officer unterwegs ist?«

»Er ist sogar Police Detective, und er würde behaupten, dass er hier einen Vollzeitjob hat, Polizeidienst hin oder her.« Ava verdrehte die Augen. »Beide Kinder helfen im Betrieb aus. Joe ist für die Instandhaltung und die Security zuständig, falls wir mal Probleme haben, und Isabelle geht noch zur Highschool. Wenn sie nicht lernt, sitzt sie an der Rezeption oder hilft woanders aus. Ich habe sie so großgezogen, wie ich erzogen wurde: früh im Leben Verantwortung zu übernehmen. Und was ist mit Ihnen, Letty? Was machen Sie beruflich?«

Letty dachte an den Ratschlag, den sie von Siobhan bekommen hatte, der Schauspiellehrerin, bei der sie in ihren ersten Monaten in New York kurz studiert hatte: »Suche in jeder Geschichte nach deiner Wahrheit, selbst in denen, die total bescheuert sind. Wenn du gut bist, glaubt das Publikum dir, auch wenn alles gelogen ist.«

Letty lächelte ihr aus einer Person bestehendes Publikum reumütig an. »Ich habe immer gedacht, ich würde mal eine berühmte Schauspielerin. Tatsächlich habe ich ein bisschen geschauspielert, aber letztlich habe ich alles gemacht, was sich anbot, um die Miete zu bezahlen. Mal habe ich gekellnert, mal Vertretung im Büro gemacht, ich habe auch in einem Bagel-Shop und in einer Immobilienfirma gearbeitet. So was halt.«

»Ich hab mir früher eingebildet, ich würde mal eine richtig dreckige Rock ’n’ Roll-Röhre wie Linda Ronstadt«, gestand Ava. »Es gab Zeiten, da konnte ich ›You’re No Good‹ richtig schön grölen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich es recht bedenke, könnte das das Motto meiner beiden Ehen sein. Aber wenn ich seit der Highschool irgendwo gesungen habe, dann nur zum Spaß.«

Letty warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Das war wirklich lecker, Ava, aber ich glaube, ich muss mich langsam in Bewegung setzen, wenn ich unser Zimmer noch so weit ausgeräumt haben will, dass wir da heute Abend schlafen können.« Sie schob den Stuhl nach hinten und hob Maya von ihrem Platz.

»So, Schnucki. Die Mittagspause ist vorbei. Wir müssen weitermachen. Sagst du Miss Ava Dankeschön?«

»Sie hat gesagt, es gibt Kekse.« Mayas Gesicht wurde rot und verzog sich. Letty sah, dass ein Wutausbruch im Anzug war.

Ava sprang auf und ging zum Küchenschrank. Sie holte eine Dose mit Vanillewaffeln heraus. »Süßes Mäuschen … Ich habe ihr Kekse versprochen. Halt mal deine Hand auf, Schätzchen.«

Maya streckte zwei schmutzige Hände aus, Ava schüttete ihr Waffeln aus der Dose hinein.

»Die könnten ein bisschen älter sein«, flüsterte sie Letty zu, während sich das Kind eine Waffel in den Mund schob. »Isabelle schimpft mit mir, wenn ich Süßigkeiten kaufe.«

Grinsend steuerte Letty Maya in Richtung Tür. »Die Kleine soll eh nicht so viel Zucker essen, aber ich muss erst mal den Dreh mit diesem Erziehungskram herausbekommen.«

Ava ging hinter ihr durch das Wohnzimmer und die Treppe hinunter. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie es geschafft haben!«

3

Im Traum kam Tanya zu ihr. Nachdem Letty drei Stunden am Stück Sperrmüll zum Container gebracht hatte, war sie so müde und schmutzig, dass sie keinen Schritt mehr tun konnte. Sie warf eine Matratze auf den Boden, breitete eine Decke darüber und zog Maya an sich.

»Schlafenszeit«, verkündete Letty, und ausnahmsweise wehrte sich Maya nicht, sondern kuschelte sich mit dem Stoffelefant im Arm an ihre Tante. Kurz darauf hörte Letty, wie die Atemzüge ihrer Nichte langsamer wurden. Sie spürte, wie sich Mayas warmer Körper neben ihr entspannte, und streichelte die vollen rosigen Wangen der Kleinen. Dann schloss Letty selbst die Augen, um fast sofort in einen tranceähnlichen Schlaf zu fallen.

Schon bald tauchte Tanya auf. Ihr hübsches Gesicht war blass und erregt, ihre Pupillen vergrößert. »Versprich es mir!«, rief sie und tippte Letty mit dem Finger auf die Brust. »Wenn mir etwas zustößt, dann versprich mir, dass du Maya nimmst und abhaust.«

Dieses Gespräch hatten sie im wahren Leben unzählige Male geführt, jetzt kam es im Traum zu Letty zurück. Tanya schwor ihr, nüchtern zu sein, zu den Gruppentreffen zu gehen und alle Medikamente weggeworfen zu haben. Letty wollte ihr so gern glauben.

»Dir passiert doch nichts«, hatte sie immer geantwortet. Tanya übertrieb gern, sie wurde schnell hysterisch. War immer schon eine Drama-Queen gewesen.

»Das kannst du nicht wissen. Du kennst Evan nicht. Ich meine, den echten Evan. Er wird alles tun, um mir Maya wegzunehmen. Er gibt keine Ruhe, bis er seinen Willen bekommt.«

»Okay, egal«, hatte Letty gesagt, damit sich ihre Schwester nicht noch mehr aufregte.

»Das ist mein Ernst, Letty! Wenn mir irgendwas zustößt, wird er dahinterstecken. Er hat Detektive auf mich angesetzt. Ich glaube, dass er mein Handy überwacht. Ich bin super vorsichtig, aber er ist schweinereich, das weißt du, oder? Und er kennt wichtige Leute. Er bekommt immer seinen Willen. Immer.«

»Diesmal nicht«, hatte Letty gesagt, um Tanya zu beruhigen. »Du machst alles richtig. Du warst bei der Therapie, du gehst zu den Treffen. Das hat dir diese Schiedsfrau selbst gesagt. Du bist eine gute Mutter. Das kann Evan nicht widerlegen.«

Und da machte Tanya es. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Ich weiß, dass du glaubst, ich sei paranoid, aber das bin ich nicht. Wenn mir was zustößt, musst du dir Maya schnappen und sehen, dass du wegkommst. Erzähl niemandem, wohin du gehst und warum. Hau einfach ab. Versprich mir, dass du meine Kleine vor ihm beschützt.«

»Klar«, sagte Letty, eingeschüchtert von der Eindringlichkeit ihrer Schwester. »Ich verspreche es dir, Tanya. Es passiert nichts, aber wenn doch, bringe ich Maya in Sicherheit.«

Der Tag lag – wie lange? – sechs, sieben Wochen zurück?

»Ich zeig dir was«, hatte Tanya gesagt und nach Lettys Hand gegriffen, um ihre Schwester ins Schlafzimmer zu führen.

Letty hatte diesen Raum nie gemocht. Evans Innenarchitektin – eine Ex-Freundin von ihm, behauptete Tanya – hatte dort alle Register gezogen. An den Wänden war eine auf alt gemachte silberne Spiegeltapete, die laut Tanya viertausend Dollar pro Rolle gekostet hatte. Die Decke war ebenfalls verspiegelt, auf dem Boden lag ein flauschig-dicker weißer Teppich, der Letty an einen zotteligen Hund erinnerte, aber nicht in positivem Sinn. Über dem mit schweren Stoffen behängten Himmelbett funkelte ein Kristallleuchter; die Farben der Tagesdecke und der Kissenberge beschränkten sich auf Grau, Silber und Weiß. Für Lettys Geschmack war die Einrichtung zu neu, zu glänzend, einfach übertrieben, aber Tanya fand alles schick und elegant.

»Hier drin.« Letty folgte ihrer Schwester zum begehbaren Kleiderschrank, der so groß wie Lettys Einzimmerwohnung war. Dort hing ebenfalls ein Kristallleuchter, an der Wand stand ein antiker dreiteiliger Klappspiegel mit versilbertem Rahmen. Das kleine mit Seide bezogene Sofa davor bezeichnete die Innenarchitektin als »Canapé«. Eine Vitrine in der Mitte des Raums stellte Tanyas Schmuck aus. Drei Wände wurden von Regalen voller Designerklamotten und Accessoires eingenommen. Tanya hatte alles nach Größe sortiert, von ihrer sogenannten »Prä-Maya-Zeit«, als sie Größe 32 trug, bis zu ihrem »dicken Post-Baby-Körper«, der immerhin noch in Größe 36 passte.

Eine komplette Wand des Raums wurde von Regalen beherrscht, in denen nur Handtaschen und Schuhe standen. Tanyas Stiefel, Dutzende von Paaren, waren unten im Schuhschrank aufgereiht. Tanya tastete herum und nahm einen hohen schwarzen Wildlederstiefel mit einem acht Zentimeter langen spitzen Absatz heraus.

»These boots are made for walking«, flüsterte sie verschwörerisch. Sie schob die Hand in den Stiefel und zog einen Leinenbeutel hervor, eine Art Säckchen, wie sie edle Lebensmittelläden an Kunden ausgaben, die glaubten, den Planeten retten zu können, indem sie wild gefangenen Lachs für dreißig Dollar das Pfund kauften.

»Was ist das?«

»Meine Notfalltasche«, flüsterte Tanya. »Mama hatte doch auch so eine.«

Terri hatte ihren Töchtern eingebläut, dass sie jederzeit bereit sein müssten zu gehen, wenn, wie ihre Mutter sich ausdrückte, »die Hütte brennt«.

»Mädchen«, sagte sie manchmal zu ihnen. »Ein Mann ist schnell mit Schwüren dabei, er würde einen lieben. Vielleicht glaubt er das auch wirklich. Aber irgendwann wacht er auf und findet dich zu alt, zu dick, zu laut, oder er hat einfach genug von dir. Man muss immer auf alles vorbereitet sein. Wie ihr es bei den Pfadfindern gelernt habt.

Legt immer ein bisschen beiseite, wenn ihr Geld bekommt, ganz egal, wie viel es ist. Ich meine Bargeld, das ihr so mitnehmen könnt, Tag wie Nacht. Versteckt es gut. Und macht euch einen Plan, damit ihr die Tasche schnell packen und abhauen könnt, wenn es so weit ist.«

An jenem Tag im begehbaren Kleiderschrank ließ Tanya ihre Schwester in den Beutel spähen. Letty erhaschte einen Blick auf ein samtbezogenes Schmuckkästchen, in dem sich der Diamantring befand, den Tanya zur Geburt von Maya geschenkt bekommen hatte, dazu ein mit Gummibändern zusammengehaltenes dickes Geldbündel. Dann entzog Tanya ihrer Schwester den Beutel und stopfte ihn in sein Versteck zurück.

»Versprich es mir!«, sagte die Traum-Tanya jetzt und zerrte an Lettys Arm. »Versprich mir, dass du Maya holst und zusiehst, dass du wegkommst.«

»Mache ich«, brummte Letty. »Ich verspreche es dir.«

»Letty, Letty!« Das Zerren am Arm hörte nicht auf. Langsam öffnete Letty die Augen und merkte, dass ihre sehr reale Nichte an ihrer Hand zog. »Letty, ich muss Kacka.«

»Ist gut, Schätzchen.« Letty stand auf und ging ins Badezimmer mit den rosa Fliesen. Auch die Keramik war rosafarben. Auf dem Waschbecken stapelte sich noch mehr ausrangierte Bettwäsche, und in der rosa gefliesten Duschkabine lagen Berge verstaubter Pappkartons. Es roch säuerlich, doch davon konnte sich Letty im Moment nicht abschrecken lassen.

Sie zog Maya die Hose aus und hielt das Kind wenige Zentimeter über die Toilettenbrille aus rosa Plastik. »So, dann mach mal«, sagte sie.

Maya kicherte und tat, wie ihr geheißen.

»Ich muss den Putzwagen holen, aber schnell«, sagte Letty zu sich selbst. Sie schob die Bettwäsche beiseite, fand ein kleines Stück Seife und wusch ihrer Nichte und sich selbst die Hände.

 

Um sechs Uhr abends stand sie in dem so gut wie ausgeräumten Motelzimmer, stützte die Hände in die Hüften und betrachtete die Gegenstände, die sie nicht allein hatte rausschaffen können. »Wie soll ich diesen Mist wegbekommen?«

Sekunden später klopfte es an der Tür, kurz darauf rief eine ungeduldige Männerstimme: »Hey! Jemand da?«

Aufgeschreckt lief Letty zum Fenster und spähte durch die schmutzige Scheibe. Dann öffnete sie schulterzuckend die Tür. Der Polizist hatte keine Dienstmarke und Waffe mehr dabei, er trug eine Jeans, T-Shirt und Flipflops. Vielleicht wollte er Letty doch nicht direkt verhaften oder erschießen.

»Ja?«, fragte sie betont kühl und sah ihm in die Augen. Ein weiterer Trick, den sie im Schauspielunterricht gelernt hatte.

Ungefragt trat er ein und sah sich um. Die Kloschüsseln, die Waschmaschine und eine Matratze hatte Letty noch nicht entsorgt. Nach ihrem unterbrochenen Nickerchen hatte sie noch einen Bettrahmen zutage gefördert und ihn mit der am ehesten brauchbaren Matratze aufgestellt. Unter einem Berg Gardinen mit verblasstem Blumenmuster hatte sie eine stabile, wenn auch hässliche Kommode entdeckt, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten verstauen konnte. Im Badezimmer hatte sie zudem einen abgenutzten Besen gefunden und damit den gröbsten Schmutz und die Spinnenweben entfernt.

»Nicht schlecht«, sagte Joe. »Das haben Sie alles allein gemacht?«

»Ich und die Schubkarre«, entgegnete Letty.

Er wies auf die Waschmaschine. »Wollen Sie die behalten?«

Letty verdrehte die Augen. »Klar, da wollte ich eine Palme reinpflanzen.«

»Gut, dann brauchen Sie mich ja nicht.«

»Ehrlich gesagt, habe ich gerade überlegt, was ich damit tun soll«, gestand sie.

»Dieses Arschloch von Chuck«, brummte Joe. Er ging nach draußen und kam mit einer Sackkarre zurück. »Ich hab ihr von Anfang an gesagt, dass er ein Nichtsnutz ist, aber sie hatte schon immer eine Schwäche für Rumtreiber und Streuner.«

»Wer? Ihre Mutter?«

»Wer sonst?« Joe rollte die Sackkarre zur Waschmaschine. »Okay. Ich klemme jetzt eine Kante unter die Maschine, und Sie schieben sie drauf, aber vorsichtig, bis die Karre nach hinten kippt. Wie ein Hebel. Verstanden?«

»Denke schon.«

Interessiert sah Maya den beiden Erwachsenen zu, den Daumen im Mund. Letty streckte sich nach ihrer Nichte und zog ihr vorsichtig den Daumen heraus. »Bleibst du bitte auf dem Bett sitzen und kommst uns nicht in die Quere? Schaffst du das, Mausezahn?«

Maya nickte und steckte den Daumen wieder in den Mund.

Joe schlang einen Gurt um die Maschine und befestigte ihn an den Griffen der Sackkarre.

»Los!«, sagte er.

Letty drückte mit beiden Händen gegen das Gerät, schloss die Augen und lehnte sich dagegen. Plötzlich gab es einen Knall.

»Auuuuuuuu!«, jaulte Joe.

Letty öffnete die Augen. Das Gurtband war gerissen, die Waschmaschine offenbar auf Joes Fuß gelandet.

Irgendwie hatte er sie zur Seite gerückt und sich auf den Boden gesetzt, wo er sich jetzt vor- und zurückwiegte und mit beiden Händen seinen nackten rechten Fuß umklammerte, das Gesicht vor Schmerz oder Wut verzerrt.

»Verdammt nochmal!«, rief er und funkelte Letty böse an. »Ich glaub, ich hab mir den Zeh gebrochen.«

»Entschuldigung«, sagte sie. »Soll ich mal gucken?«

Er rutschte rückwärts, weg von ihr. »Ganz bestimmt nicht.«

»Ich tue Ihnen nicht weh«, entgegnete sie. »Ich gucke nur kurz drauf. Welcher Zeh ist es?«

»Geht Sie gar nichts an!«, blaffte Joe. Er nahm einen seiner abgetretenen Flipflops in die Hand und schob ihn vorsichtig unter den verletzten Fuß, dann stand er auf und lehnte sich gegen die Waschmaschine. »Mensch, tut das weh.«

»Ich habe mich entschuldigt. Aber hätten Sie nicht besser richtige Schuhe angezogen? Ich meine, wer macht solche Arbeiten denn in Flipflops?«

»Ein Mann, der gerade eine Achtstundenschicht hinter sich hat«, entgegnete Joe. »Ein Mann, der sich um seinen eigenen Kram kümmert und sich ein kaltes Bier gönnt, bis seine Mutter ihm solche Schuldgefühle einredet, dass er ihrem neuesten Gast hilft.«

Letty spürte, wie ihre Wangen in einer Mischung aus Wut und eigenen Schuldgefühlen brannten. »Ich habe mich bei Ihnen entschuldigt. Wenn Sie mir erlauben, einen Blick drauf zu werfen, hole ich etwas Kaltes und helfe Ihnen, den Fuß zu kühlen.«

»Vergessen Sie’s!«, brummte Joe. »Ich werd’s überleben.« Er drehte sich zur Waschmaschine um und untersuchte die Sackkarre genauer. »Dieses Arschloch von Chuck. Ich hätte wissen müssen, dass er das Teil vergammeln lässt. Die Reifen sind auch so gut wie platt.«

»Und jetzt?«, fragte Letty.

»Jetzt werfe ich dieses Schrottstück in den Container, fahre nach Hause und hole eine vernünftige Stechkarre. Und meine Stiefel.« Er nahm sich die Karre und verließ den Raum. Im Gehen schlug er die Tür zu.

Mit einem Seufzer setzte sich Letty neben Maya aufs Bett, die das ganze Debakel verfolgt hatte. »Er hat ganz schlimm Aua«, flüsterte das Kind.

»So schlimm auch wieder nicht«, erwiderte Letty. »Der ist einfach eine große Heulsuse, mehr nicht.«

 

Als Joe zwanzig Minuten später zurückkam, trug er staubige Arbeitsstiefel und rollte eine Sackkarre ins Studio. »Auf ein Neues! Aber vorsichtig, ja?«

Der zweite Versuch lief deutlich glatter als der erste. Joe befestigte das Gurtband rutschfest an der Waschmaschine. Letty schob sie auf die Karre, Joe kippte sie nach hinten und konnte sie relativ problemlos nach draußen rollen. Genauso gingen sie mit den Kloschüsseln und der restlichen Matratze vor. Als Joe vom Container zurückkam, hatte er eine zerknüllte braune Papiertüte dabei, die er Letty entgegenhielt.

»Was ist das?«

»Ein Friedensangebot«, sagte er schroff. »Sie hatten recht. Es war ein Unfall, ich hätte Ihnen nicht die Schuld geben dürfen. Und schon gar nicht hätte ich vor dem Kind fluchen dürfen.«

»Das war nichts Neues für sie«, bemerkte Letty schuldbewusst. Sie öffnete die Papiertüte und zog eine Flasche kalten Weißwein und zwei Plastikbecher heraus.

»Der hat einen Schraubverschluss, weil ich dachte, Sie haben vielleicht keinen Korkenzieher, aber das ist trotzdem keine billige Plörre.« Er schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und sah Letty unsicher an. »Sie trinken doch Alkohol, oder?«

Ohne es zu wollen, musste sie grinsen. »Man sagt es mir nach.«

Joe hielt ihr noch eine Tüte hin. »Das ist für die Kleine.«

Es war ein Liter Schokomilch.

»Sie heißt Maya«, bemerkte Letty.

»Das weiß ich«, erwiderte er gereizt.

»Nett von Ihnen«, sagte sie, hob die Flasche hoch und zeigte sie ihrer Nichte. »Maya?«

»Schokomilch!« Maya riss Letty die Flasche aus der Hand.

»Was sagt man da?«, fragte Letty.

Maya war damit beschäftigt, die Plastikversiegelung vom Flaschenhals zu entfernen. »Danke.«

»Ja, vielen Dank«, bekräftigte Letty, die sich wieder an ihren Anstand erinnerte. »Was macht Ihr Zeh?«

»Tut tierisch weh.«

»Hm.« Ihr war unbehaglich zumute. »Ich mache mich wohl besser wieder an die Arbeit.«

»Was ist mit Essen?«, fragte Joe.

»Ava hatte ein spätes Mittagessen für uns«, erklärte Letty. »Ich fahre gleich zum Supermarkt.«

»Mom wollte, dass ich kurz nachschaue, ob der Kühlschrank funktioniert.« Joe wies auf die Küchenzeile neben der Tür zum Badezimmer. Sie bestand aus einer Edelstahlspüle mit einem Becken, neben dem sich mehrere Sechzigerjahre-Kaffeemaschinen sammelten, sowie dem erwähnten kleinen Kühlschrank. Auf der abgeplatzten Resopal-Arbeitsplatte stand eine elektrische Kochplatte mit zwei Heizringen.

»Ich war so sehr damit beschäftigt, alles rauszuwerfen, dass ich mir die Küche noch gar nicht genauer angesehen habe«, gab Letty zu.

Joe hockte sich hin und zog den Kühlschrank auf. Er hielt die Hand hinein und zuckte mit den Schultern.

»Müsste mal sauber gemacht werden, aber ist kalt.« Er richtete sich auf und rieb sich die Hände an der Hose ab.

»Sieht aus, als wäre alles so weit fertig«, bemerkte er.

Letty folgte ihm nach draußen. Zwei Türen weiter saßen zwei ältere Frauen auf leicht rostigen Metallstühlen. Beide trugen geblümte Blusen in Pastelltönen und weiße Stoffhosen. Ihre Augen schützten sie mit pastellfarbenen Sonnenblenden. Die eine Dame war groß und dünn, hatte lange, knochige Arme und kurze graue Haare. Die andere war kleiner, rundlicher und molliger. Sie trug die blassblonden schulterlangen Haare in einem strengen Pagenschnitt.

»Hallo, Joseph!«, sagte die Große und schielte hinter ihrer dicken getönten Brille zu Letty hinüber.

»Hallo, Miss Ruth!« Joe nickte den Damen zu. »Miss Billie …«

»Wen haben Sie denn da?«, fragte die Rundliche. Sie hatte eine Katzenaugenbrille an einer Kette um den Hals, die sie nun aufsetzte, um Letty zu mustern, ohne eine Miene zu verziehen.

»Ähm, also, das ist Letty.«

»Hallo!«, grüßte diese.

»Ziehen Sie da ein?« Die dünne Frau spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »In den Lagerraum?«

»Ja, Ma’am.« Wieder verfiel Letty in die Sprechweise der Südstaaten, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. »Ich habe heute den ganzen Tag sauber gemacht. Joe hat gerade die letzte Ladung zum Container gebracht.«

»Haben wir gemerkt«, sagte Ruth. »Wir haben uns schon gefragt, was da los ist.« Sie wies in die grobe Richtung von Lettys Studio. »Ava hat uns nicht darüber informiert, dass sie den Lagerraum vermietet.«

»Das war eine ganz spontane Entscheidung«, erklärte Joe. »So, die Damen. Falls Sie noch Fragen haben, beantwortet meine Mutter die sicher gern.«

Ruth, die Größere, wies anklagend auf Maya an Lettys Hand. »Zu wem gehört das Kind?«

Maya versteckte sich hinter ihrer Tante.

»Zu mir.« Sofort fühlte sich Letty in der Defensive.

»Joseph?« Ruth hob die Stimme. »Ist Ava bekannt, dass diese Person ein Kind hat?«

»Yep«, erwiderte Joe. »Wie gesagt, jedwede Fragen, Sorgen et cetera bitte an meine Mutter richten.« Ohne die beiden Frauen eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte er in Richtung Parkplatz davon.

»Tja …« Letty legte die Hand auf den Türknauf. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Meine Liebe«, sagte Billie, »da Sie hier neu sind, darf ich Sie vielleicht darauf hinweisen, dass die meisten von uns schon seit Jahren im Murmuring Surf Urlaub machen.«

»Seit vielen, vielen Jahren«, ergänzte Ruth.

»Wir sind an gewisse Dinge gewöhnt«, sagte Billie.

»Normalerweise vermietet Ava in der Saison nicht an Leute mit Kindern«, sagte Ruth streng. »Ich dachte, da wären wir uns einig.«

»Haben Sie vielleicht etwas gegen Kinder?« Lettys Stimme wurde hart.

»Nur wenn sie in direkter Nähe zu unserem Zimmer wohnen«, sagte Ruth. Sie fixierte Maya über ihren Brillenrand hinweg, als sei das kleine Mädchen eine tote Kakerlake. »Wir schätzen die Ruhe in diesem Motel. Keine stinkenden Windeln im Mülleimer, keine schreienden Gören, die im Pool herumspritzen und ihr Spielzeug überall herumliegen lassen, so dass andere darüber stolpern.«

»Werde ich mir merken.« Letty wandte sich zum Gehen.

Was für Nachbarinnen! Terri hätte über die »alten Schachteln« gelästert oder noch schlimmere Bezeichnungen gebraucht. Letty kannte diesen Menschenschlag aus ihrer Kindheit. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die alten Damen in der Kirche, die Tanya und sie schmallippig musterten, wenn Terri ihre Töchter an der nächsten Sonntagsschule absetzte.

»Geht eure Mutter nicht in die Kirche? Wo wohnt ihr beiden denn? Holt euer Vater euch nach dem Gottesdienst ab?«

Gedemütigt hatte Letty mit den Schultern gezuckt und den Blick gesenkt, doch Tanya, ihre resolute kleine Schwester, ließ sich nichts gefallen. »Geht euch gar nichts an!«, rief sie.

»Wo ist denn der Vater des Kindes?«, fragte Ruth, eine Augenbraue erwartungsvoll gehoben.

Maya schlang die Arme fest um Lettys Beine, schniefte und zog den Kopf ein.

»Kann ich wirklich nicht sagen«, erwiderte Letty. Sie nickte den beiden Frauen kurz zu, nahm das Kind auf den Arm und zog sich in ihr Apartment zurück.

4

Als Letty nach dem Einkauf im Supermarkt in der zunehmenden Dunkelheit auf den Parkplatz des Murmuring Surf fuhr, entdeckte Maya den Swimmingpool des Motels. Das leicht gekräuselte türkisblaue Wasser verzauberte sie.

»Oh, ich will in den Pool! Letty, ich will schwimmen gehen!«, rief die Kleine und trat mit ihren Sandalen von hinten gegen den Fahrersitz.

Letty war erschöpft von dem langen Tag, vom Putzen und Schleppen, dazu noch der anstrengende Einkauf im Supermarkt, wo die Vierjährige mit großem Gezeter um jeden bunten Gegenstand gekämpft hatte, der ihr ins Auge fiel.

»Ach, Mausezahn«, sagte sie und drehte sich zu ihrer Nichte um. »Bist du nicht müde? Wir können doch morgen früh schön schwimmen gehen …«

»Nein!«, schrie Maya und verzog das Gesicht, ein sicheres Zeichen, dass sie jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. »Ich will in den Pool! Ich will jetzt schwimmen.«

»Na gut«, sagte Letty schnell. »Aber zuerst müssen wir unsere Einkäufe wegräumen. Und wir können nicht lange im Wasser bleiben. Heute gehen wir beide früh ins Bett.«

Bestimmt war es nicht ratsam, den Forderungen des Kindes so schnell nachzugeben. Letty hatte bereits Schuldgefühle, weil sie der Kleinen schon wieder Fastfood gestattet hatte, aber sie hatte jetzt am Abend einfach keine Kraft mehr für Diskussionen und Gebrüll.

Dreimal mussten sie laufen, bis das Auto leer war. Zum Glück hatte Letty außer Saft, Milch, Müsli, Obst, Kaffee und anderen Lebensmitteln auch Badesachen für Maya und sich selbst gekauft, außerdem einen aufblasbaren Schwimmreifen.

Kaum waren sie im Zimmer, streifte Maya ihre Kleidung ab. Dann stellte sie sich in ihren weißen Sandalen in die Tür zum Bad und sang: »Schwimmi-schwimm, schwimmi-schwimm.«

»Na gut.« Letty musste lachen. Sie holte die Schwimmsachen aus einer Tüte, riss die Preisschilder von dem rosa-weiß gestreiften Bikini, den sie für ihre Nichte gekauft hatte, und hielt ihn der Kleinen hin.

»Schwimmi-schwimm, schwimmi-schwimm«, summte Maya vor sich hin und stieg in das Bikinihöschen.

»Schwimmi-schwimm, schwimmi-schwimm«, sang Letty mit und zog dem Kind das Oberteil über den Kopf.

»Jetzt du«, sagte Maya und gab ihrer Tante den unauffälligen dunkelblauen Badeanzug, den Letty für sich mitgenommen hatte.

Als sie umgezogen waren, traten sie mit dem aufgeblasenen Schwimmreifen und frisch gekauften Strandlaken nach draußen. Entschlossen lief Maya in Richtung Schwimmbecken, das hinter einem Zaun lag, um den herum in Form geschnittene Hibiskusbüsche blühten.

Am Eingang hing ein großes Schild: KEINE BADEAUFSICHT. GLÄSER IM POOLBEREICH VERBOTEN. SCHWIMMEN AB 22 UHR VERBOTEN.

Als die beiden durch das Törchen gingen, sahen sie, dass zwei Frauen im Becken ihre Runden drehten.

»Ich kann auch schwimmen!« Maya zeigte zu ihnen hinüber. Das stimmte. Kaum hatte die Kleine laufen können, hatte Tanya ihre Tochter zu einem eindrucksvollen Strauß von Mutter-Kind-Kursen angemeldet. Musikalische Früherziehung, Töpfern, Ballett und sogar ein Schwimmkurs, den Maya in dem Sommer, als sie drei wurde, in einem Privatclub in den Hamptons absolvieren konnte, weil ihr Vater das für sie organisiert hatte.

Evan, hatte Tanya berichtet, zahlte für alles, was nach Optimierung roch. Wie sich herausstellte, hatte Maya keinerlei musikalisches Gehör und interessierte sich weder fürs Töpfern noch fürs Tanzen, aber im Wasser war sie ein Naturtalent.

»Evan meint, das hätte sie von ihm geerbt«, sagte Tanya. »Er hat auf der Privatschule in der Wasserballmannschaft gespielt.«

Der Swimmingpool des Murmuring Surf war mit dem in den noblen Hamptons nicht zu vergleichen. Ringsherum standen Alutische und -stühle, jede Sitzgruppe wurde von einem Sonnenschirm mit ausgeblichenem gelb-weiß gestreiften Muster überschattet. Letty setzte sich hin und nahm die sich windende Maya auf den Schoß. Sie öffnete die Schnallen ihrer Sandalen und schob ihr den Schwimmreifen über Kopf und Oberkörper.

»Jetzt können wir ins Wasser gehen«, verkündete sie, stand auf und streckte die Hand nach dem Mädchen aus.

Doch bevor Letty die Kleine an die Hand nehmen konnte, lief Maya zum Beckenrand und sprang einfach hinein. Sie landete direkt vor einer der beiden Schwimmerinnen, die gerade das flache Ende erreicht hatte.

Die Frau richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, schob die Schwimmbrille auf die Badekappe und stieß das Kind von sich, das in seinem orangefarbenen Schwimmreifen glücklich im Wasser trieb.

»He!«, rief die Frau und sah böse zu Letty hoch, die hilflos am Beckenrand stand.

Es war Ruth, eine der beiden Damen, die Letty am Nachmittag kennengelernt hatte.

»Das tut mir furchtbar leid.« Letty sprang ebenfalls ins Wasser. Maya schlang ihr die Arme um die Schultern und drückte den Kopf in die Halsbeuge ihrer Tante. Letty klopfte ihr auf den Rücken, hörte aber bereits das Schniefen und spürte, wie warme Tränen an ihrem Hals hinabliefen.

Die andere Schwimmerin hatte ebenfalls das flache Ende des Beckens erreicht. Es war Billie, die zweite Nachbarin.

»Was ist passiert?«, fragte sie. Ihr Blick sprang zwischen Ruth und Letty hin und her.

»Manche Menschen haben einfach kein Benehmen«, empörte sich Ruth. »Sie hat das Kind einfach auf mich drauf springen lassen.«

»Jetzt ist Erwachsenenzeit!«, rief Billie. »Da sind keine Kinder im Becken erlaubt.«

»Tut mir leid«, wiederholte Letty. »Das wusste ich nicht. Ich habe kein Schild oder so gesehen.«

»Das fällt unter allgemeine Rücksichtnahme«, entgegnete Ruth. »Jeder hier weiß, dass wir abends von acht bis neun unsere Bahnen ziehen. Haben Sie uns nicht gesehen? Lassen Sie Ihr Kind immer einfach herumlaufen wie ein wildes Tier? Sie hat mit Sicherheit nicht mal eine Schwimmwindel an.«

»Sie ist kein wildes Tier. Das ist ein vierjähriges Mädchen!«, rief Letty. Sie spürte, wie die Wut in ihr hochkam. »Sie hockt jetzt seit drei Tagen im Auto oder im Motelzimmer und wollte einfach mal ins Wasser und ein bisschen schwimmen. Ist das vielleicht verboten? Ich habe mich dafür entschuldigt, dass sie einfach so in den Pool gesprungen ist. Das wird nicht noch mal vorkommen, deshalb brauchen Sie nicht so garstig zu werden.«

»Darüber werde ich mit Ava sprechen«, drohte Ruth, dann wandte sie sich an die andere Frau: »Komm, Billie, wir gehen.«

Billie nickte. »Neulinge!«, murmelte sie verächtlich und paddelte an Letty und der inzwischen heulenden Maya vorbei.

Langsam stiegen die beiden Frau die Betonstufen hinauf. Wasser strömte aus ihren schlabbrig sitzenden geblümten Badeanzügen.

Maya hob den Kopf. »Entschuldigung, Letty«, flüsterte sie.

5

Als Letty endlich eingeschlafen war, wurde sie von ihrem Handy geweckt, das leise unter dem Kopfkissen plingte. Besorgt schaute sie auf Maya, die sich wie ein Igel zusammengerollt und an sie geschmiegt hatte. Oder vielleicht eher wie eine Entenmuschel. Schlaf schön weiter, dachte Letty und griff nach dem Handy. Bitte schlaf weiter!

Sie hatte eine neue Nachricht von Zoey:

OMG! Evan war heute im Laden, hat herumgeschrien und mich unter Druck gesetzt, damit ich ihm sage, wo du bist. Er hat fast dafür gesorgt, dass ich gefeuert wurde. Dann kam ein Bulle rein und stellte auch jede Menge Fragen. Ich habe gesagt, ich wüsste gar nichts, und das stimmt ja auch. Die glauben, du hättest deine Schwester umgebracht. Total irre. Sei bitte vorsichtig!

Letty starrte auf den Text und löschte ihn dann, ohne zu antworten. Das GPS auf ihrem Handy hatte sie bereits deaktiviert. Lange hatte sie überlegt, ob sie das Gerät loswerden und sich stattdessen ein billiges Prepaid-Handy zulegen sollte, wie man es überall kaufen konnte, doch sie war noch nicht bereit, auf den Rettungsanker zu verzichten, den das Telefon für sie darstellte. Noch nicht. Letty schaltete es aus und zwang sich, wieder einzuschlafen.

Wir sind hier in Sicherheit, dachte sie. In diesem