Die Fahne der Wünsche - Tijan Sila - E-Book

Die Fahne der Wünsche E-Book

Tijan Sila

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Beschreibung

Was ist das für ein Land, in dem schon das Flippern ein Verbrechen ist? Crocutanien, ein totalitärer Staat am Rande Europas, versinkt im Chaos. Mittendrin: ein junger Rennradfahrer, der lernt, nicht aufzugeben, auch wenn es scheinbar nichts mehr zu gewinnen gibt. Scharfsichtig, knallhart und mit einzigartigem Witz erzählt Tijan Sila von der Macht und Ohnmacht des Einzelnen in einem amoralischen System und von der revolutionären Kraft des Flipperns. Es sind finstere Zeiten, in denen der sechzehnjährige Ambrosio, der später unter dem Spitznamen »Goldener« zur Rennradlegende wird, seine Karriere beginnt. Das Land Crocutanien ist gezeichnet von Jahrzehnten der totalen Abschottung und fest in der Hand der spiroistischen Partei. Diese versucht mit immer brutaleren Methoden, die rebellierenden Jugendbanden und spiroistischen Splittergruppen zu bekämpfen. Ambrosio, der eigentlich genug damit zu tun hat, mit seiner Freundin Betty die ersten sexuellen Erfahrungen zu machen und von Wettkämpfen im Ausland zu träumen, wird von den Schergen des Regimes verhört und verprügelt. Alles nur, weil er ein neues Hobby für sich entdeckt hat: das Flippern.Von einem Tag auf den anderen werden die Spielautomaten als gesinnungsfeindlich eingestuft und verboten. Als sein Trainer flieht und das Sportinternat, in dem er lebt, von linientreuen Turnern und Balletttänzern bevölkert wird, gerät er mehr und mehr unter Druck. Eine Geschichte, wie nur Tijan Sila sie zu erzählen vermag: abgründig, berührend, voller Humor und grandioser literarischer Kraft.

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Seitenzahl: 335

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Tijan Sila

Die Fahne der Wünsche

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Tijan Sila

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Prolog | Eine Rede des Marschall-Vaters Spiro an Schüler der Grundschule Südstadt III Sport freiII Umzüge, AusflügeIII Blut, GoldIV Verein und GemeinschaftV Weggehen, AusgehenVI Fremde MächteVII Unter BestienVIII Wie VerbrecherEpilog | Tränen ins FeuerZitat
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PrologEine Rede des Marschall-Vaters Spiro an Schüler der Grundschule Südstadt II

Liebe Kadetten!

Der Blick auf euch ist ein Blick in mich; unmöglich, euch zu sehen und nicht an meine Zeit als Grundschüler zu denken. Unmöglich, eure Jugend losgelöst von meiner zu denken. Es ist, als wären wir Haare eines Haupts, liebe Kadetten. Doch nein! Wartet! Dieses Bild missfällt mir.

(Pause.)

Im Gegensatz zu den Haaren eines Haupts teilen wir uns unsere Wurzeln. Wir sind vereint im Wurzelgeflecht unserer Partei. Sind wir also nicht vielmehr die Äste eines Baums? Trifft es dieses Bild nicht besser? Strömen unsere Energien nicht zusammen, verbinden sie sich nicht zu einem Stamm, den kein Sturm ausreißen kann?

(Pause.)

Kein Sturm.

(Pause.)

Kein Sturm!

(Pause.)

Unsere Nachbarn betonen häufig die Macht und Brüderlichkeit ihrer Staatengemeinschaft – wir sind unsere eigene Gemeinschaft. Wir müssen unsere Brüder nicht aus fremden Ländern adoptieren, wir sind bereits Brüder, wir sind ein Volk von Brüdern. Ein Volk von Brüdern braucht keinen greisen Vater, der sich weisungsbefugt glaubt. Ein Volk von Brüdern braucht keinen Vater, keine Mutter, kein schlechtes Gewissen. Was wir brauchen, haben wir bereits: euch. Eure Jugend, euren Willen, eure Energie.

 

Kadetten, ihr seid die Kraft in der Bewegung, welche dazu berufen ist, das Alte, Verfaulte, all das, was das Wachstum des Neuen, Vernünftigen, Reinen und Hellen, das Wachstum der crocusischen Kultur erschwert, zu sprengen und in Schutt und Asche zu verwandeln.

(Pause.)

Kadetten, ihr seid wir und wir sind ihr.

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ISport frei

Der junge Mann, der mir die wahre Todesursache meiner Mutter verriet, gehörte zu einer Gruppe von Aktivisten, die sich in meiner alten Heimat Crocutanien um die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Bevölkerung bemühten.

»Gefährdet waren alle, die sich in der Obhut der Partei befanden.« Es war ein Vortrag, den er schon oft gehalten hatte. »In Gefängnissen, in Erziehungsheimen, in sogenannten Heilanstalten. Die Geschichten ähneln sich: Menschen erfrieren, sie sterben an den Folgen der Misshandlungen. Oder es ergeht ihnen wie Ihrer Mutter, Goldener: sie verhungern.«

Wir schwiegen. Er schien darauf zu warten, dass ich mich zu dem, was er gesagt hatte, äußerte.

»Ich will Ihnen etwas gestehen«, sprach er schließlich weiter. »Hier in unserem Büro hängt ein großes Plakat von Ihnen, ein altes aus den Achtzigerjahren. Wir haben es ersteigert und eingerahmt. Wissen Sie wieso?«

»Weil Sie Radsport mögen?«, fragte ich schwach.

»Nein! Nein!«, rief er. »Sie stehen für etwas. Darum wende ich mich an Sie. Sie sind ›der Goldene‹! Ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen bewusst ist, wie sehr Sie von Ihrem Volk noch immer geliebt werden. Ihre Narben, Ihre Zähne … Sie sind der Unbeugsame – der, den die Spiroisten nicht brechen konnten!«

Ich stöhnte und legte den Hörer auf.

 

Nach dem Gespräch verfiel ich in Trauer. Es hatte mich noch nie Überwindung gekostet, mich anzutreiben – auch nicht im Ruhestand –, nun hörte ich auf, mich zu rasieren, und frühstückte Schokoriegel. Für eine Weile war mir alles gleich.

Durch meine einzige Begabung, die übernatürliche Leidensfähigkeit meines Körpers, war ich zu Wohlstand gekommen, und dennoch fiel es mir schwer, mich vom Gefühl zu befreien, dass ich im Leben auf etwas ganz anderes hätte setzen sollen.

Als ich wieder klarer sah, sagte ich mir, ich hätte nie eine Wahl gehabt. Ich hätte damals das Beste aus der gegebenen Lage gemacht. Dabei war ich allerdings alles andere als unbeugsam. Diesen Unfug hatte ich alleine der Pressefrau meines ersten Teams zu verdanken. Zu Beginn meiner Karriere beantwortete sie einmal im Fernsehen die Frage nach den Narben in meinem Gesicht mit der Behauptung, Schergen der spiroistischen Partei hätten mich so zugerichtet, weil ich gegen sie rebelliert hätte. Ich kam nie dahinter, ob sie die Geschichte aufrichtig glaubte oder einfach ahnte, wie gut sie bei den Ausländern ankommen würde. Tatsache ist: Ich bäumte mich niemals auf. Ja, Spiroisten drehten mich mehr als einmal durch die Mangel, aber schuld daran waren alleine Flipper.

 

Ich war sechzehn, als ich zum ersten Mal Flipper spielte. Bernardino brachte mich dazu; er erzählte im Training, es gebe in einer Trinkhalle einen ausländischen Spielautomaten, einen Flipper. Ich war der Einzige, den es interessierte:

»Was soll das sein?«

»Schwer zu beschreiben – du musst eine eiserne Kugel über die Spielfläche schlagen. Es ist sehr schwierig.«

»Wie groß ist diese Kugel?«, fragte ich. Bernardino formte ein O mit Zeigefinger und Daumen. »Und womit schlägt man sie?«

»Mund halten da hinten!«, blaffte Niccoló, unser Trainer. Hager, knochentrocken, wehende weiße Haare – er fuhr mit dem Moped voran und gab die Geschwindigkeit vor, wir radelten ihm im Knäuel hinterher. Bernardino stützte die Unterarme auf dem Lenker ab, lehnte sich zu mir und flüsterte:

»Ich schwöre dir, Ambrosio, so etwas hast du noch nie gesehen. Komm nachher zur Trinkhalle mit.«

 

Seit Jahren durfte Alkohol nur noch in Trinkhallen ausgeschenkt werden. Der Begriff »Halle« ist missverständlich, denn sie waren winzige, zu Gaststätten verwandelte Garagen und Zeitungskioske. Die Trinkhalle, in die mich Bernardino mitnahm, hatte einen kurzen Tresen, keine Hocker, keine Stühle und keine Spiegel. Ein schulterhoher Kühlschrank voller Bierdosen summte hinter der Theke, darüber waren Regale mit Schnapsflaschen, Zigarettenstangen und einer Maschine für Filterkaffee angebracht. Schließlich in einer Ecke: eine Dartscheibe, ein Flipper – Unterhaltung für eine Kundschaft, die stehen musste.

Der erste Flipper, den ich je sah, war ein Rockmakers-Automat mit drei Paddeln. Sein Thema war irgendwas mit Vulkanen, Höhlenmenschen und Dinosauriern – die verrückte Urzeit, alles violett und taubenblau. Für Bonuspunkte musste man mit der Kugel Buchstaben anspielen, um ROCK oder MAKERS zu schreiben. Wir waren überfordert. Als wir zum zweiten Mal Münzen einwarfen, kam ein Bauarbeiter hinzu und fragte, ob er mitspielen dürfe, und da er von den Schultern bis zur Leber breit war, wie man damals sagte, trauten wir uns nicht, ihn abzuweisen. Er spielte überraschend gut und holte eine halbe Stunde aus der ersten Kugel. Er redete unentwegt, erklärte uns, wie man das Spiel angehen müsse. Offenbar war er regelmäßig hier, denn er sammelte viele Punkte und rüttelte absichtsvoll am Gerät. »Ein bisschen mit dem linken Becken, ein bisschen mit dem rechten Becken«, erklärte er. »Ein bisschen an der linken Ecke, ein bisschen an der rechten. Müsst ihr üben, müsst ihr üben.«

Als er die Kugel schließlich verlor, entschuldigte er sich wie nach einer Peinlichkeit: Betrunken sei er, betrunken und müde. Bevor er ging, brachte er jedem von uns zum Dank eine Zitronensoda, sodass Bernardino und ich uns schämten. Wir hatten befürchtet, der Mann habe die Absicht, uns auszurauben, tatsächlich hatte er aber bloß mitspielen wollen. Wir kamen zu der Erkenntnis, dass Flippern Jung und Alt vereinte. Wir waren Sklaven altmodischer Vorstellungen gewesen: Nur Kinder durften spielen, Erwachsene hatten reifen Spaß, sie lasen Zeitung – was für ein dummes Zeug! Jetzt wussten wir es besser.

Ich ging danach zum Nachmittagstraining, Bernardino nicht. Um in der Leistungssektion bleiben zu dürfen, hatten wir ein wöchentliches Mindestmaß von zwei Zusatzeinheiten am Nachmittag zu erfüllen. An diesem Tag fühlte ich mich stark, das Flippern hatte mich euphorisch gestimmt. Ich dachte, eine mysteriöse Energie wäre in mir erwacht, aber im Training war ich nicht schneller als sonst.

Wir fuhren eine steile Straße auf und ab und übten Sprints beim Klettern und das Nehmen von Kurven in der Abfahrt. Es war Frühsommer, die beste Zeit, um Rennrad zu fahren. Die Straße befand sich in einem Klinkersteinviertel, das man zu Beginn des Jahrhunderts für die Arbeiter einer Spinnerei gebaut hatte. Sie lag noch immer in der Senke hinter dem Hügel, den wir hochsprinten mussten. Niccoló kauerte auf der Bordsteinkante, trank Bier aus der Dose und beobachtete uns. Er sollte mir später das Leben retten, er sollte mich hintergehen.

Als das Training zu Ende ging, dämmerte es bereits. Bevor wir nach Hause fahren durften, mussten wir uns wie üblich in einer Reihe aufstellen und Niccoló verteilte Plastikflaschen mit leicht gezuckertem Wasser; wir mussten sie vor seinen Augen ganz austrinken und danach in eine Tüte werfen, die am Sitz seines Mopeds hing.

»Ich hoffe, dein Wachstum setzt niemals ein, Männlein«, sagte er zu mir. Ich war der Schmächtigste der Sektion und darum der Schnellste am Berg. Den Jungen zu meiner Linken zwickte er in den Bauch: »Und du musst nicht jedes Butterbrot essen, das dir deine Mutter schmiert.«

 

Auf dem Heimweg – ich fuhr entlang der Spinnerei – rief mir jemand hinterher: »Kamerad! Hej! Kamerad Blindfisch!« Ich dachte, einer der Jungs wäre mir nachgekommen, um mit mir zusammen in die Weststadt zu fahren, und bremste. Aus dem Schatten der Fabrikmauer trat jedoch eine Mitschülerin.

»Hej, Betty!«

»Ich habe dir die ganze Zeit gewinkt! Hast du mich nicht gesehen?«, fragte sie.

»Ich war in Gedanken«, antwortete ich. »Und ich bin todmüde.«

»Kommst du auch vom Training?« Wir hatten nur ein Halbjahr in einer Klasse verbracht, aber ich wusste, dass sie auch Leistungssport machte, sie war eine Schwimmerin, und dass die Lehrer sie immer für ihre Erfolge lobten.

»Ja, wir sind diesen Berg dort auf und ab gefahren.« Ich zeigte auf die Silhouette, die sich schwarz vor dem Abendhimmel abzeichnete.

»Auf den Krötenbuckel?«

»Heißt der so?«

»Ich bin ein Mädchen vom Krötenbuckel!«, sagte sie und zog ein Lächeln. »Fährst du mich nach Hause? Mir fallen die Beine ab.«

Niccoló hatte uns eingeschärft, niemals irgendwen auf dem Oberrohr mitzunehmen – auch nicht den besten Freund, und wenn er mit gebrochenem Arm ins Krankenhaus musste –, da sich die Rahmen von Rennrädern, hohl und spröde wie Vogelknochen, leicht verziehen konnten. Ich nahm Betty trotzdem mit; ich tat es, obwohl sie ein breitschultriges Riesenmädchen war und es für mich kaum etwas Schlimmeres gegeben hätte als den Verlust meines Rads.

»Du bist schwer!«, keuchte ich auf einer Rampe.

»Sport frei, Kamerad!«

»Ich sterb gleich!«

»Nur noch ein paar Meter«, versprach sie. »Da. Mit der grünen Tür.«

Die Straße, in der Betty lebte, glich jener, in der wir trainiert hatten – ein sich bergauf schlängelnder Streifen aus Katzenköpfen, an dem sich Ziegelhäuschen entlangzogen.

»Stark!«, sagte Betty und stieg ab. »Jetzt weißt du, wo ich wohne.«

»Im Haus mit der grünen Tür.«

»Ist Opas.« Eine Frau erschien am Fenster, und Betty hielt ihr die Handflächen entgegen, um zu bedeuten, dass sie gleich komme. »Und das ist meine Mutter. Habt ihr auch morgen frei?«

»Klar.« Keine der Disziplingruppen trainierte sonntags.

»Hast du was vor?«

»Nein.« Es war nicht die Wahrheit; eigentlich wollte ich in Weststädter Trinkhallen nach Flippern suchen, und wenn ich dort keine fand, wieder den Rockmakers spielen. Aber ich ahnte, was mich Betty fragen würde:

»Sollen wir was machen?«

»Klar.«

»Kannst du gut schwimmen?«

»Geht so.«

Sie klappte den Schirm meiner Mütze hoch.

»Aber du kannst schwimmen?«

»Ja. Und ich bin gerne im Wasser«, log ich wieder.

»Sehr gut – ich wollte zum See.«

 

Bevor ich heimkam, hatte ich geglaubt, dieser Tag sei der beste meines Lebens. Ich hatte Flipper gespielt und mich mit einem Mädchen verabredet – sogar mit einer Kameradin aus dem Leistungssport. Als ich zu Hause meine Mutter beim Abendessen vorfand, überkam mich das Bedürfnis, ihr von alldem zu berichten; ich hoffte, meine Stimmung würde sich auf sie übertragen. Es kam nicht so, und ich hätte es wissen müssen: Kaum hatte ich den Flipper erwähnt, wandte sie ihr Gesicht ab und schloss die Augen. Es dauerte, bis sie sie wieder öffnete.

»Hast du nichts Vernünftiges zu erzählen?«

»Ich weiß nicht, was du damit meinst, Mama.«

»Nicht wahr? Genau das ist das Problem.«

»In Ordnung.«

»Nichts ist in Ordnung«, giftete sie, stand auf, warf ihr Besteck mit großem Krach ins Spülbecken und ging aus der Küche.

Dieser Vorfall alleine hätte nicht ausgereicht, um mir den Tag zu verderben – schließlich ging es bei uns bereits seit einiger Zeit so zu –, aber später, um kurz vor zehn, klopfte jemand an die Wohnungstür. Ich lag schon im Bett und nahm an, meine Mutter, die ich im Bad klappern hörte, würde aufmachen – sie erschien jedoch in meinem Zimmer. Ich solle schauen, wer es sei, und dafür sorgen, dass sie wieder gingen.

»Ich möchte niemanden sehen. Niemanden.«

»Wer ist es denn?«, fragte ich blöd.

Es waren mein Patenonkel Lino und seine Frau, vom Neonlicht des Treppengangs versilbert und so herausgeputzt, wie es die damalige Zeit erlaubte – Pomade, Lidschatten und die guten Schuhe. Sie wüssten, dass es spät sei, sprach Lino, doch es sei Samstag, und samstags gehe man in die Trinkhalle.

»Die Erwachsenen jedenfalls«, berichtigte ihn seine Frau. »Ambrosio gehört ins Bett.«

»Was hackst du auf dem Jungen herum?«, ärgerte sich Lino. »Siehst du nicht, dass er schon im Schlafanzug ist? Braucht seinen Schlaf, unser … unser Sportler! Lass mich mal durch, Kurzer.« Er schob mich mit einer Hand aus dem Weg und trat ein. Seine Pomade roch nach Mandeln, sein Atem nach Bier und Sauergurken. »Kara! Kara, es ist Samstag! Auf!«

Sie warteten im Flur darauf, dass meine Mutter aus ihrem Zimmer kam. Da sie nicht erschien – egal, wie oft Lino nach ihr rief –, sagte seine Frau nach einer Weile leise:

»Komm, lass, sie will nicht.«

»Das wusste ich schon vorher – deswegen sind wir doch hier. Ambrosio, wo bleibt sie?«

»Sie hat Zahnschmerzen!«, antwortete ich; Lino strich mir grob durch die Haare:

»Jaja. Genau. So weit ist es: Sie lässt den Jungen für sie lügen. Kara!« Er klopfte an ihre Zimmertür und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten. Sein Ehering klackerte gegen die Wand, als er in der Dunkelheit nach dem Lichtschalter tastete. Er fand ihn und klang nun fast bedrückt: »Kara, Mädchen – was sitzt du hier im Dunkeln wie eine Fledermaus?«

»Ich wollte schlafen«, hörte ich meine Mutter sagen.

»Ah, komm schon. Erzähl mir keine Geschichten. Du trägst gar kein Nachthemd, du bist ausgehfertig. Sie ist ausgehfertig, wir können sie mitnehmen.«

»Ich möchte nicht raus.«

»Je-des Mal!«, entrüstete er sich. »Jedes Mal sagst du das. Das ist doch nicht gesund.«

»Ich möchte nicht raus.«

»Du musst unter die Leute.«

»Ich möchte nicht raus.«

»Das hier – es geht schon viel zu lange, und es tut Ambrosio nicht gut.«

»Ich möchte nicht raus.«

»Du musst dich endlich wieder trauen. Bist doch nicht bei der Partei, bist unter Freunden. Es tut dir niemand was, denk mal an früher.« Er begann zu singen:

»Mein Mädchen, sie ist süß und hart.

Wie ein Bonbon.

Es gibt keine andere, auf die ich wart’.

Sie ist wie ein Bonbon.

Weißt du noch? Kara? Kara? Jetzt schau mich mal an.«

Ich ging zu ihnen ins Zimmer, um zu sehen, was er angerichtet hatte. Meine Mutter lag im Bett, mit dem Gesicht zur Wand und der Decke über den Ohren. Lino konnte sie zu keinem Wort mehr bewegen.

Er meinte es gut. Ihr Rückzug vor der Welt hatte uns alle überrascht, denn nach dem Tod meines Vaters war sie dem Leben zunächst entschlossen entgegengetreten. Sie hatte sich weiterhin mit Freunden verabredet und die Samstagabende wie gewohnt in Trinkhallen verbracht. Aber bald hörte sie auf, unsere Wohnung zu verlassen. Da mein Vater im Agrarkommissariat als Fotograf angestellt gewesen war, mussten wir immerhin keine Miete zahlen – abgesehen von der Witwenrente besaßen wir jedoch keine Einkünfte. Meine Mutter hatte mit der Außenwelt auch die Arbeitsstelle im Büro der Militärwerft aufgegeben.

Ihre Abkopplung dauerte nunmehr achtzehn Monate an, und Linos Versuch, sie zum Ausgehen zu bewegen, war der erste seit Langem. Sein Befund, dass mir ihr Verhalten nicht guttue, stimmte – die Launen meiner Mutter wurden immer unvorhersehbarer und übler; es war inzwischen kaum noch möglich, Gespräche mit ihr zu führen.

Als wir wieder alleine waren, jagte sie mich schreiend von einem Raum zum nächsten: Sie habe mich nur um eines gebeten – dass ich niemanden reinlasse. Ob sie mich ohne Rückgrat auf die Welt gebracht habe? Manche Kinder würden ohne Hirn geboren, ob ich eines von ihnen sei?

Je größer ihre Wut wurde, desto häufiger stellte sie diese letzte Frage, manchmal sieben- oder achtmal hintereinander, wobei ihr Tonfall zwischen den Wiederholungen nur wenig variierte. Es war, als wollte sie, dass auch ich verrückt werde.

Als ihr Zorn nach fünfzehn Minuten nicht abgeklungen war – ganz im Gegenteil, sie wurde immer lauter –, schloss ich mich in meinem Zimmer ein.

Ich kann es nicht erwarten, morgen Betty zu sehen – das hier ist unerträglich, dachte ich mit dem Kopf unter dem Kissen. Meine Mutter hielt der Zimmertür einen Vortrag und schlug hin und wieder gegen sie.

 

Am nächsten Tag auf dem Weg zum See hatte ich das Gefühl, Betty wollte mir Angst vor ihm machen: Er befinde sich in einem Moor außerhalb der Stadt, sagte sie. Libellen, Seerosen und Schlamm. Von glitschigen Membranen bedeckte Steine am Ufer. Und außerdem Enten, die ins Wasser machten, wovon man einen Ausschlag bekommen könne; in ihrem Kot seien Larven, die sich in die menschliche Haut bohrten und dort stürben, da wir ein Fehlwirt für sie seien. In Wirklichkeit wollten sie zurück in die Enten.

Aber Betty sagte auch, mir würde der See gefallen, und sie sah mich dabei genau an. Wir waren schon auf Kollisionskurs und zupften beliebige Fäden, in der Hoffnung, dass etwas Gutes passierte.

Es war toll am See, man merkte gar nicht, dass man im Spiroismus lebte. Wir kamen bereits um neun Uhr an und saßen eine halbe Stunde auf einem Felsen im Schilf, bevor wir ins Wasser gingen. Es war trüb und hellgrün, wie Tee, dachte ich, also sicherlich warm – ein Irrtum. Nach dem Abtauchen wurde ich fast ohnmächtig vor Kälte und atmete eine Minute lang saugend, während Betty Kreise um mich schwamm und lachte. Das Wasser gefiele ihr gerade, weil es so seltsam war – als würde man durch Gelatine treiben. Man konnte nie den Grund sehen und hatte nach dem Schwimmen einen Film auf der Haut, der ein wenig wie Talkumpuder roch. Ich verstand ihre Begeisterung nicht; alles am Ufer war von Moos und schlüpfriger Fäulnis bedeckt, und im Wasser schwammen außer uns auch Frösche.

Wir waren beide durch unsere Väter zu Sportlern geworden. Meiner war in seiner Jugend als Amateur bei Radrennen mitgefahren; Bettys Vater war der Übungsleiter im städtischen Leistungsstützpunkt für Schwimmdisziplinen und trainierte seine Tochter an jedem zweiten Tag persönlich. Mir wurde klar, dass Betty in der Hierarchie der Leistungsjugend über mir stand, denn ich durfte nur auf Einladung in den Stützpunkt. Ich verstand auch erst während unseres Gesprächs, wie erfolgreich sie war: Sie gewann international fast jeden Wettkampf ihrer Altersklasse.

»Wie ist es im Ausland?«, fragte ich.

»Ganz anders, ganz anders. Was du dir dort kaufen kannst …«

»Was zum Beispiel?«

»Alles!« Sie hielt beide Arme in die Luft und tauchte kurz bis zur Stirn ins Wasser. »Alles, was du dir vorstellen kannst. Du müsstest sehen, was die Mädchen, gegen die ich schwimme, anziehen, wenn sie abends ausgehen. Ich bin froh, dass ich da nicht mitdarf. Stell dir das vor: die in ihren Kleidern und Stöckelschuhen und ich in der Parteibluse – nein, nein, lieber nicht.«

»Du darfst nicht mit? Erlaubt es dein Vater nicht?«

»Ihm wär’s egal. Aber es sind immer zwei Mäntel dabei.«

 

Eine Eiche, durch Unwetter entwurzelt, trieb in der Seemitte und sammelte in ihrer Krone Kartons, ausgerissene Äste und Autoreifen. Wir erklommen sie und setzten uns rittlings vors Wurzelgeflecht, was Erdklumpen und Larven ins Wasser schauern ließ. Der Baumstamm war so dick, dass nur unsere Zehenspitzen das Wasser berührten. Betty hatte die Idee, zwei Zaunlatten, die wir im Geäst gefunden hatten, als Paddel zu verwenden. Sie war voller guter Einfälle, fand ich – dieser Ausflug etwa. Mir war damals zwar bewusst, dass es Dinge gab, die Jungs anstreben sollten, wenn sie alleine mit Mädchen waren, aber Küsse, Sex und dergleichen waren für mich nur unbestimmte Ideen, Sachen, die ich nur vom Hörensagen kannte. Doch trotzdem konnte ich nicht aufhören, Betty anzublicken. Ich hatte genug Beherrschung, um ihr nicht auf den Busen zu starren, dafür fiel mir alles andere auf: die Kurve ihres Halses, die Form ihrer Hände, die besondere Dunkelheit ihrer Augen. Mit der Ausrede, so lasse es sich leichter paddeln, drehte ich ihr schließlich den Rücken zu.

Es war damals schwer, intim zu sein. Die herrschende Prüderie war unerbittlich, und es wurde schnell getratscht, wenn unverheiratete Frauen und Männer einer Siedlung viel Zeit miteinander verbrachten, insbesondere, wenn sie jung waren. Niemand wollte zum Anlass dieser Gespräche werden. Niemand wollte böse angestarrt werden. Menschen im Land waren bereit, ein gewisses Maß staatlicher Überwachung und willkürlicher Verurteilung zu ertragen, weil sie diese als Legitimation verstanden, selbst zu überwachen und zu verurteilen. Über meine Mutter und mich wurden die gemeinsten Sachen erzählt. Das war eigentlich gut. Wenn man als verwahrlostes Kind einer Irren galt, das nicht zufällig ausgerechnet eine Sportart betrieb, in der alle vor Wettkämpfen Drogen nahmen, dann konnte man wenigstens so viel Zeit mit Mädchen verbringen, wie man wollte. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das hätte ausnutzen können – bereits Bettys Anblick überforderte mich.

Es ist mir übrigens bis heute unerklärlich, wie irgendjemand in unserem Land Geschlechtsverkehr haben konnte. Es gab nur ein Zeitfenster für unbeschwerten Koitus: in den Monaten nach der Hochzeit und vor dem ersten Kind. Wenn dieses zur Welt kam, wurde die 50-Quadratmeter-Wohnung zu klein. Das Kind leistete die Überwachung; man klebte für immer aneinander. Es wurde zwar irgendwann volljährig, aber es zog spät aus, weil es ewig dauerte, eine Wohnung bewilligt zu bekommen. Bis es so weit war, zog ein Partner zum anderen, in die Wohnung der Eltern, und man teilte sich die zwei Zimmer, und Sexualität fand unter Bettdecken statt, als Fingern und Stochern, stumm und blind. Am Ende hassten alle Geschlechtsverkehr, verdammten junge Menschen dafür, dass sie sich noch nicht davor ekelten und wünschten sich heimlich einen Krieg. Es war allerdings nicht oft so, dass junge Menschen tatsächlich miteinander schliefen, dafür war die Angst vor Schwangerschaften zu groß. Kondome waren nur teuer auf dem Schwarzmarkt zu bekommen, und die Pille wurde allenfalls »verdienten Müttern« gestattet. Betty bekam sie verschrieben, obwohl sie keine war. Sie litt an Akne, sollte aber an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Ein Gesicht voller eiterspeiender Vulkane entsprach nicht dem Parteiwunsch, demzufolge spiroistische Athleten perfekte Repräsentanten unseres Gesellschaftsmodells zu sein hatten.

 

Einer der Autoreifen in der Krone unseres Eichbaums war durch ein Hanfseil mit einem der tiefsten Äste verbunden und hatte irgendwem als Schaukel gedient. Betty befreite ihn aus den Zweigen, warf ihn ins Wasser und machte sich daran, den Knoten am Ast zu lösen. Ich wusste zwar nicht, wieso sie das tat, half aber, da Betty sich benahm, als würde ich ein Geschenk bekommen. Das Seil war glitschig und steif, und nachdem wir es befreit hatten, band sie es wie den Riemen einer Tasche um die Brust und befahl, ich solle ins Wasser springen, zum Reifen schwimmen und mich an ihm festhalten:

»Wie an einem Rettungsring.«

Ich verstand nicht, wieso: »So schlecht schwimme ich nicht.«

»Mach einfach.«

»Ohne Zögern!« Ich salutierte, bevor ich ins Wasser sprang, Betty folgte mir. Als ich den Reifen erreicht hatte, erklärte sie, sie würde mich zum Ufer ziehen.

»Das schaffst du niemals. Du wirst vor Erschöpfung ertrinken!«

Aber sie schwamm los, noch bevor ich fertiggesprochen hatte. »Sport frei!« Das Seil spannte sich plötzlich, und ich wurde in Bewegung gesetzt. Betty kraulte drei Meter voraus. Ihr Rücken war ein starres Dreieck, ein Pflug im Wasser, nur die Arme waren in Bewegung. Manchmal wurde ich beim Radfahren fast taub vor Erschöpfung und hörte nicht, wenn mir Kameraden etwas zuriefen – diesen Zustand hatte ich hier erreicht, ohne erschöpft zu sein. Bettys Arme hätten beim Einstechen ins Wasser Geräusche machen müssen, ich sah die Gischt an ihren Füßen, aber ich hörte nichts. Dafür nahm ich alles mit neuer Schärfe wahr: das Wasser, die weiße Zeile des reflektierten Sonnenlichts auf den Wellen vor Bettys Scheitel, jedes Bläschen. Ich verstand, dass meine Taubheit kein Zeichen von Erschöpfung war, sondern von Ekstase. Ein riesiger Rücken, sie ist so unglaublich stark, dachte ich. Als wir fast das Ufer erreicht hatten und meine Füße den Schlamm berühren konnten, drehte sie sich um, schwamm in Rückenlage weiter und sah mich lächelnd an.

Es war kein sanftes Lächeln. Sie hatte mir gezeigt, wo der Frosch die Locken hatte.

 

Natürlich bekam ich einen Ausschlag, am gleichen Abend noch. Es fing mit einer kreisförmigen Stelle voller roter Bläschen in der linken Achselhöhle an, drei weitere entdeckte ich am nächsten Morgen. Eine befand sich an der Innenseite des rechten Oberschenkels, eine andere zwischen den Arschbacken. Diese zwei Stellen quälten mich beim Sport sehr; der harte Ledersattel und die Wollfasern meines Trainingstrikots rieben sie auf, bis sie blutig waren und nach dem Training so sehr nässten, dass sich Flecken auf meiner Hose bildeten. Die unangenehmste Stelle befand sich aber an der rechten Seite meines Halses, direkt unter dem Kiefer: Sie ließ sich nicht verbergen und führte zu Hänseleien meiner Sportskameraden, über die auch Niccoló lachen musste.

»Zeig mal. Wo hast du dir das geholt?«, fragte er.

»Im Laufhaus!«, rief Bernardino.

»Beim Schwimmen!«, rief ich zurück.

»Lasst ihn mal in Ruhe – beim Schwimmen?«

»Es liegt an der Entenscheiße«, antwortete ich ernst. Mein Versuch zu erklären, was ich damit meinte, ging im Gelächter unter.

Als ich nach dem Training mit Bernardo zum Flippern aufbrechen wollte, warf mir Niccoló eine fingergroße Tube zu.

»Hilft gegen den Juckreiz. Und lass dir mal von deiner Mutter das Trikot nähen.« Ihm war aufgefallen, dass zwei meiner Rückentaschen aufgerissen waren und mir in Fetzen über den Hintern hingen. Ich war vertieft ins Lesen des kleinen Aufdrucks auf der Tube und antwortete unbedacht:

»Die wird es nicht machen.«

Der Ausrutscher ärgerte mich – bis ich losfuhr, wollte Niccoló nicht mehr den Blick von mir nehmen.

 

Betty musste zu einem Wettkampf ins Ausland und hatte erst am kommenden Sonntag wieder Zeit für ein Treffen, weshalb ich die Tage vor allem damit verbrachte, mit Bernardino Flipper zu spielen. Wir gingen noch drei- oder viermal in die Trinkhalle mit dem Rockmakers und versuchten, neue Highscores zu setzen. Wir mussten die Punktstände auf einem Zettel festhalten, ich erinnere mich nicht mehr genau, wieso. Vielleicht waren die Batterien des Speichers leer, oder wir waren nicht gut genug. Piero, der Bauarbeiter, den wir beim ersten Besuch kennengelernt hatten und den wir fast täglich in der Trinkhalle trafen, blieb uns überlegen.

Wir hätten noch Wochen mit dem Rockmakers verbracht, wenn es nicht Ärger mit dem Besitzer der Trinkhalle gegeben hätte. Er fand, dass wir, gemessen an der Zeit, die wir in seinem Lokal verbrachten, zu wenig tranken:

»Es passt nicht, Jungs, tut mir leid. Das ist ’ne kleine Trinkhalle, und wenn die Leute euch von draußen sehen, haben sie keine Lust reinzukommen, weil es voll aussieht. Zwei Getränke die Stunde, oder ihr müsst weiterziehen.«

»Wie kannst du so was von Schülern verlangen? Das kann nicht mal ich mir leisten«, antwortete Piero für uns.

»Ich kann hier machen, was ich will, es ist meine Trinkhalle.«

»Die Buben werfen doch Münzen in den Flipper, oder nicht?«

»Ich habe sie beobachtet: Inzwischen kauen sie eine halbe Stunde auf einem einzigen Dinero herum. Das bringt mir nichts.«

»Sie sind halt besser geworden.«

»Hier soll nichts besser werden.« Er schlug den Rand des Glases, das er soeben abgewaschen hatte, gegen den Hals von Pieros Bierflasche – der Glockenton unterstrich seine Pointe.

»Tränen ins Feuer, sei doch ein Mensch.«

Piero appellierte vergeblich – der Besitzer fing plötzlich an, ihn zu verhöhnen: Er setze sich nur so für uns ein, weil er sonst niemanden zum Spielen habe.

»Na und?«, brummte Piero. »Selbst wenn.«

Sein Zurückweichen entfachte die Grausamkeit des Besitzers vollends:

»Schau dich doch mal an: Ein erwachsener Mann, der mit Kindern spielt. Da weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll.«

Bernardino wurde wütend: »Schau doch mal in den Spiegel – du verkaufst Schnäpse in einer Garage! Also halt den Mund!«

»Soll ich dich mal übers Knie legen, du Teelöffel?«

»Versuch’s doch!«, schrie mein Freund und hob die Fäuste. Das war wenig bedrohlich, denn Rennradfahrer haben dünne Arme und spitze Schultern, der Wirt hätte seinen Nacken mit Mittelfinger und Daumen umgreifen können.

»Jungs, egal«, Piero stellte seine Flasche ab. »Ich kenne eine andere Trinkhalle, und sie hat auch einen Flipper – sogar einen besseren. Geben wir unser Geld dort aus.«

 

Der Flipper selbst war nicht besser, sondern schwieriger – schneller und ohne Reißverschlusspaddel. Wir verspielten die Kugeln innerhalb weniger Minuten und vertrieben uns die Wartezeit auf die nächste Runde mit Comicheften, die der Besitzer auf der Theke ausgelegt hatte. Unter ihnen befand sich die begehrte »Detektiv Omegabet jagt den Nekro Sapiens«-Ausgabe.

Der Name des Flippers lautete Smart Set, und sein Thema war das Segeln: Ein Yachtdeck vor türkisfarbenem Himmel, darauf junge Menschen, die etwas zu feiern schienen – ich dachte an Betty. Am See hatte ich ihr angeboten, zum Flippern mitzukommen.

»Nein, danke.« Sie habe keine Lust, von Jungs umgeben zu sein, die sich an Großtuerei überbieten würden. »Alle schreien und wollen dich anfassen.« Wieso nur konnte sie uns so gut beschreiben?

Zu meiner Erleichterung verhinderte ein Sturm, dass wir unser zweites Treffen wieder am grünen See verbrachten. Mein Ausschlag war zwar besser geworden, hatte mich aber über die Woche trotz Niccolós Salbe ziemlich gequält – im Training brannte er, im Bett juckte er –, und ich wäre ungern wieder in das Wasser gegangen, das ihn verursacht hatte, allerdings befürchtete ich, Betty zu enttäuschen.

»Ambrosio! Was machen wir jetzt?«, rief sie mir zu, als sie mich heranfahren sah. Wie am letzten Sonntag hatten wir uns vor dem Tor der Spinnerei verabredet, und Betty versteckte sich unter der Überdachung des Pförtnerhauses. Der Regen hatte auf meinem Weg zum Krötenbuckel als leises Geprassel begonnen, ergoss sich aber inzwischen mit einer Wucht, die mich flach auf den Lenker drückte. Ich war froh, als ich mich bei ihr unterstellen konnte.

»Was machen wir jetzt?«, wiederholte sie lachend. Ich lehnte mein Fahrrad an ihres und schüttelte den Kopf. »Du bist klatschnass.«

»Ich hätte meine Regenjacke mitnehmen sollen.« In Wahrheit hatte ich sie nicht finden können. Als ich meine Mutter fragte, ob sie sie irgendwo gesehen habe, antwortete sie mir nicht. Stumm und ohne mich anzublicken, ging sie in ihr Zimmer und schloss sich dort ein – ich hörte wirklich den Riegel einrasten!

Doch davon wollte ich Betty nichts erzählen; ich sagte lediglich, dass es zu kalt zum Schwimmen sei.

Der Regen begleitete eine Sturmfront, die uns in der Hauptstadt nur streifte und weiter nördlich ins Innere des Landes vordrang. Die Verwüstung, die sie dort über Nacht anrichtete, sollte die Erwachsenen über Wochen beschäftigen: Mehrere Dörfer wurden überflutet, nachdem der plötzliche Druckanstieg die Turbine eines Wasserkraftwerks hatte explodieren lassen. Jugendliche der Hauptstadt – bis auf jene spiroistischen Jungkader, die in den folgenden Tagen von der Partei in den Norden geschickt wurden, um Hilfe zu leisten – interessierte die Katastrophe nicht. Bei uns hatte sich der Sturm schnell ausgetobt – Betty und ich hatten nur eine halbe Stunde auf die Sonne warten müssen. Sie änderte nichts an der Kühle des Tages, aber es war wieder möglich, etwas zu unternehmen.

»Ich weiß was«, sagte Betty. »Ist aber nicht so gut wie der See, und wir müssten auf die Buckelspitze.«

»Führ an!«

»Keine Rennen bergauf! Dein Rad ist viel leichter als meins.«

»Wir können die Räder tauschen«, schlug ich vor.

»Nein, keine Rennen.«

Betty führte mich zu einem Aussichtspunkt und von dort weiter in den Wald. Etwa zwei Kilometer lang gingen wir Seite an Seite zwischen Zypressen hindurch. Wir mussten die Räder schieben, was aber leicht war, da der Boden sanft abfiel und nur von Streifen eines gelblichen Grasflaums bedeckt war. Gelegentlich wehte ein Windstoß Tropfen von den Zweigen, und sie blitzten im Sonnenlicht wie Zinkstückchen auf.

»Schön hier«, sagte ich zu Betty.

»Wart’s ab.« Sie zeigte auf etwas in der Ferne.

»Was ist das?«

Es war ein hölzerner Pavillon, alt und bemoost, aber nicht verfallen – nur einige der Dachschindeln lagen ringsum im Gras. Betty legte ihr Rad ab und schwang sich über die Brüstung:

»Komm.«

Der Pavillon befand sich am höchsten Punkt des Talhangs, auf dem sich der Zypressenwald erstreckte. Die Sitzbänke waren im Halbkreis angeordnet, mit Blick auf die Landschaft, die vierhundert Meter tiefer lag: Ausläufer unserer Stadt – eine Schraffur sichelnder Reihen sechs- und siebenstöckiger Wohnhäuser – und Felder, die das Dreieck zwischen den Siedlungen, dem Meer und den Bergen im Norden füllten. Über diesen wirbelte der Orkan, dem wir davongeschlüpft waren – tausend Hektar hagelspeiende Eiswolken ganz im Ultramarin des Horizonts eingefasst.

Ich fragte Betty, welches Viertel es sei, das man da unten sehe.

»Das müsste die Oststadt sein.«

»Da bin ich fast nie.«

»Schau, das kleine Gebäude da, dunkler als die anderen, siehst du es?«

»Nein. Ich weiß nicht, welches du meinst.«

»Na, da vorn!« Ich legte das Kinn auf ihre Schulter und versuchte zu erkennen, worauf sie zeigte.

»Siehst du es jetzt?«

»Ja, ich glaube ja«, log ich.

»Das ist der Leistungsstützpunkt Ost. Da trainiere ich zweimal wöchentlich.«

»Aha!«

»Und jetzt zeige ich dir was richtig Verrücktes.« Sie stellte sich auf die Bank und klopfte auf die Stelle, an der sich die Dachbalken des Pavillons kreuzten. »Siehst du das? Komm hoch.«

Es war ein Brandmal, das einen dreiköpfigen Greifvogel darstellte. Jeder der Köpfe trug eine Krone, und in den Krallen hielt er etwas, das wie eine Gabel aussah. Ich fragte, was er damit wolle und ob er irgendwo einen Löffel verstecke; Betty lachte darüber.

»Keine Ahnung. Aber weißt du, was das ist? Das Wappen des Königshauses!«

»Echt?«

»Ja. Das hier haben sie übersehen!« Sie setzte sich wieder auf die Bank und schlug die Beine übereinander.

»Scheiße! Wenn uns die Mäntel hier erwischen …«

»Was wollen die schon im Wald? Überhaupt: Siehst du diese Jacke?« Sie war mir bereits vorhin aufgefallen, da sie aus dem Ausland stammen musste. Bei uns wurde nichts mit einem solchen Schnitt hergestellt, und erst recht nicht in Weiß, da diese Farbe dem Parteiemblem vorbehalten war. »Ich habe sie aus dem Ausland mitgebracht. Zwei Mäntel haben auf mich aufgepasst – nichts haben sie gemerkt!«

»Wie hast du das geschafft?«

»Hab sie einem der Ausländermädchen geklaut. Sie ist nach dem Schwimmen auf ihr Zimmer gegangen und hat die Jacke in der Umkleide einfach hängen lassen.« Betty machte eine Handbewegung, als werfe sie eine Papierkugel in den Mülleimer.

»Geschieht ihr recht!«, jubelte ich.

»Oder? Als niemand geschaut hat, hab ich sie eingepackt. Und weißt du was? Am nächsten Tag hat sich das Mädel benommen, als wäre nichts passiert.«

»Hat sie es nicht gemerkt?«

»Glaub ich nicht. Es war ihr egal. Ambrosio, ich sage dir, diese Ausländer haben so viel … Sie haben es zum Fortschmeißen.«

»Bring mir das nächste Mal auch eine mit.«

»Ich versuch’s, versprochen.« Sie zeigte auf einige Tropfen auf ihrem Ärmel. »Sieh mal, wie schön das perlt. Mein Vater hat gelacht, als ich sie heute angezogen habe – ›Es ist doch viel zu warm dafür!‹ –, aber ich wollte sie dir unbedingt zeigen.«

 

Bernardino und ich lernten in der neuen Trinkhalle einen Gleichaltrigen kennen, der auch Flipper spielte; er wurde uns schnell ein enger Freund. Im Gegensatz zu uns beiden war Mihailo, genannt Miha, in keinem Sportkader und gehörte keiner Leistungssektion an. Er bezeichnete sich als »normal«.

Er hatte keine doppelten Trainingseinheiten in den Sommerferien, keine schlaflosen Nächte vor Wettkämpfen, keine körperlichen Beschwerden und er musste nicht hungern, um schlank zu bleiben. In der Schule hingen Plakate, auf denen Arbeit ist Brot stand, aber Miha war das egal. Er legte Wert darauf, täglich zu entspannen.

»Sein Leben möchte ich haben«, sagte Bernardino. Er meinte es nicht wirklich ernst. Wir empfanden das Leben zwar als zermürbend, fühlten uns dadurch aber sehr männlich – in der Schule hingen auch Plakate, auf denen die spiroistische Partei an Hungersnöte und Todesmärsche erinnerte.

Bernardino war offener und geselliger als ich und traf sich als Erster – eigentlich schon einen Tag, nachdem wir ihn kennengelernt hatten – alleine mit Miha. Irgendwann brachte er ihn mit, als er mich abholen kam – es musste der Samstag in der ersten Sommerferienwoche gewesen sein, da ich am folgenden Tag mit Betty verabredet war. Wir wollten uns verabschieden, da sie für einen Monat in ein Trainingscamp im Norden musste.

Bernardino hielt sich an meinen Wunsch, nicht an der Wohnungstür, sondern am Fenster meines Zimmers anzuklopfen, jedoch fragte Miha, sobald ich sie begrüßt hatte, ob er unsere Toilette nutzen könne.

Nach dem Verhalten meiner Mutter beim letzten Besuch war ich überzeugt, dass der nächste Gast eine Eruption verrückter Energie erleben würde. Ihr Zustand hatte sich seitdem verschlimmert. Sie sprach kaum noch mit mir. Sie weigerte sich, auf Fragen – selbst alltägliche, wie etwa, ob ich auf dem Heimweg Brot mitbringen solle – zu antworten, außer ich schrie, außer ich stellte sie fünf- oder sechsmal hintereinander, jedes Mal nachdrücklicher. Manchmal kam es mir so vor, als fürchte sie mich aus irgendeinem Grund: Solange ich zu Hause war, verließ sie nur selten ihr Zimmer. Beim Aufschließen der Wohnungstür hörte ich gelegentlich, wie sie aus der Küche eilte; panische, klatschende Schritte, und auf dem Herd köchelte die Milch. Traf ich sie außerhalb ihres Verstecks an, war sie mit sinnlosen Handlungen beschäftigt: Sie ordnete unsere Schuhe nach Farben; sie häkelte und hielt die Anzahl der Knoten auf einem Blatt fest; sie mischte Karten und sortierte sie wieder nach Blättern; sie las Lexika und sammelte Wörter in Listen.

Natürlich weinte ich deswegen. Häufig, aber nur, wenn ich alleine war. Ein einziges Mal überkam es mich fast vor Betty, das war, als ich mich nach unserem Ausflug zum Pavillon von ihr verabschiedete. Es hatte keinen Auslöser gegeben. Vermutlich traf mich der Gedanke an meine Mutter so schwer, weil er der erste seit Stunden war; ich konnte die Tränen nur mit großer Willensanstrengung zurückdrängen.

 

Ich hätte sagen sollen, unsere Toilette sei verstopft – aber als es darauf ankam, fiel mir keine Ausrede ein, mit der ich Miha aus unserer Wohnung hätte fernhalten können. Außerdem ließ er mir keine Wahl, weil er so höflich war. Die meisten Jungs, mit denen ich zu tun hatte, waren verroht, immer am Fluchen, Spucken und Raufen, aber Miha war wohlerzogen: »Dürfte ich bitte euer Bad benutzen?«

Ich wusste, dass es diese Art von Sprache gegeben hatte, aber ich hatte sie für ausgestorben gehalten; mit siezenden Klassenfeinden im Wald verscharrt.

Als sie Stimmen im Flur hörte, erschien meine Mutter in der Tür zu ihrem Zimmer und starrte uns an. Miha stellte sich vor, während Bernardino hinter ihm stand, sich umsah und feststellte, er sei zum ersten Mal bei mir in der Wohnung. Ich schwitzte, als würde ich Rad fahren.

»Herzlichen Dank, dass ich Ihre Toilette benutzen darf«, sagte Miha, mit zu viel Lächeln, zu vielen Zähnen, zu viel Überschwang. Meine Mutter sah ihm stumm in die Augen, aber ihr Gesicht bebte vor widerstreitenden Regungen: Argwohn, Zorn, Kränkung und schließlich, als sie mich anblickte, Belustigung. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, schweigend, natürlich schweigend, aber sie schlug die Tür mit so viel Gewalt zu, dass die Blumenvasen erzitterten. Miha und Bernardino tauschten einen dieser kurzen heimlichen Blicke von Verbündeten in bedrohlichen Situationen – er entging mir nicht, weil ich ihn erwartet hatte –, dann verschwand Miha im Bad und kam nach einer Minute starr lächelnd zurück. Bernardino sagte fröhlich: »Gehen wir flippern, oder was?«

Mein Versuch, den Abend so zu verbringen, als wäre nichts passiert, ging daneben. Ich verlor die Kugeln, kaum dass sie auf dem Spielfeld waren, und stammelte dann Unsinn. Wenn meine Freunde etwas sagten, wusste ich nicht, wie ich antworten sollte. Ich war überzeugt, dass sie einander hinter meinem Rücken weitere bedeutsame Blicke zusandten.

 

Am darauffolgenden Tag war ich zum ersten Mal in Bettys Haus. Wir saßen bei geöffneter Tür in ihrem Zimmer, sie auf dem Bett und ich auf einem Stuhl. Da ihr Vater in der Woche vor dem Trainingscamp körperliche Anstrengungen verboten hatte, gingen wir wieder nicht schwimmen. Diesmal fand ich das schade. Der gestrige Vorfall lag mir immer noch schwer im Magen. Die Bestürzung war über Nacht einem nervösen Ärger gewichen, den ich gerne durch Bewegung entladen hätte. Ich war wenig gesprächig. Als sich Betty erkundigte, was los sei, erwog ich, mich ihr anzuvertrauen. Am Ende war die Scham zu groß – und die Furcht, dass Betty sich vor mir zurückziehen würde. Ich hatte eigentlich herausfinden wollen, ob sie sich mehr Nähe wünschte; meine Laune ließ das nicht mehr zu.