Radio Sarajevo - Tijan Sila - E-Book

Radio Sarajevo E-Book

Tijan Sila

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Beschreibung

„Eine Jugend zwischen Blauhelmen und Bon Jovi. Tijan Sila erzählt rau, verletzlich, unverstellt.“ (Micky Beisenherz) Brutal ehrlich beschreibt er das Leben und Überleben im belagerten Sarajevo.

„Dies ist die Geschichte meiner Kindheit und meines Kriegs.“ Als im April 1992 der Krieg beginnt, ist Tijan Sila nur zehn Jahre alt, doch bis heute kann er sich an den Geruch von gezündetem Sprengstoff erinnern. Während Sarajevo in Flammen steht, wird aus dem Jungen, der er damals war, ein junger Mann. Er streift durch die Ruinen der ausgebombten Stadt und sammelt Dinge, die von den Geflohenen und Gestorbenen zurückgeblieben sind, um sie auf dem Schwarzmarkt gegen Essen zu tauschen. Er lernt zu überleben, und er akzeptiert die grausame neue Normalität, doch zu welchem Preis?
Seine Geschichte ist eine Geschichte des Unerwarteten. Sie erzählt davon, wie Dichter zu Mördern werden und Mörder zu Helden. Sie erzählt von Menschen, denen jede Menschlichkeit jäh genommen wurde, und von den Spreißeln, die der Krieg im Hirn jedes Überlebenden hinterlässt.

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Das ist das Cover des Buches »Radio Sarajevo« von Tijan Sila

Über das Buch

»Eine Jugend zwischen Blauhelmen und Bon Jovi. Tijan Sila erzählt rau, verletzlich, unverstellt.« (Micky Beisenherz) Brutal ehrlich beschreibt er das Leben und Überleben im belagerten Sarajevo.»Dies ist die Geschichte meiner Kindheit und meines Kriegs.« Als im April 1992 der Krieg beginnt, ist Tijan Sila nur zehn Jahre alt, doch bis heute kann er sich an den Geruch von gezündetem Sprengstoff erinnern. Während Sarajevo in Flammen steht, wird aus dem Jungen, der er damals war, ein junger Mann. Er streift durch die Ruinen der ausgebombten Stadt und sammelt Dinge, die von den Geflohenen und Gestorbenen zurückgeblieben sind, um sie auf dem Schwarzmarkt gegen Essen zu tauschen. Er lernt zu überleben, und er akzeptiert die grausame neue Normalität, doch zu welchem Preis?Seine Geschichte ist eine Geschichte des Unerwarteten. Sie erzählt davon, wie Dichter zu Mördern werden und Mörder zu Helden. Sie erzählt von Menschen, denen jede Menschlichkeit jäh genommen wurde, und von den Spreißeln, die der Krieg im Hirn jedes Überlebenden hinterlässt.

Tijan Sila

Radio Sarajevo

Hanser Berlin

Meiner Tochter, für ein Leben im Frieden

It’s always night, or we wouldn’t need light.

Thelonious Monk

Prolog

Als die ersten Bomben fielen, lag ich bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hörte Radio — der Sender spielte David Bowies Suffragette City, als plötzlich ein metallisches Kreischen die Luft zerriss und eine Explosion unsere Vorhänge aus der Schiene blies. Ihr Druck war so gewaltig, dass mir schwarz vor Augen wurde, als hätte ich mich zu lange kopfüber vom Turnreck hängen lassen.

Alle Alarmanlagen der Straße waren in Panik, ich aber nicht. Noch nicht. Bald schon würde ich in ständiger Panik sein und den Tod in jedem Schatten vermuten, aber am ersten Kriegstag war ich höchstens verdutzt. Ich kletterte auf den Heizkörper, um besser aus dem Fenster schauen zu können. Wir wohnten im sechsten Stock eines Plattenbaus, und unten, in der Tiefe, wirbelte schwarzer Rauch über dem Asphalt. Ich sah jemanden entlang der Garagentore taumeln, eine Frau, die ihre Handtasche am Fuß hinter sich herzog. In dem Augenblick detonierte eine zweite Granate, so nah und so laut, dass das Zimmer einen Satz zu machen schien. Die Druckwelle zerschmetterte unsere Fenster. Sie schlug die Kakteen vom Tisch, sie warf mein Zeichenpapier an die Decke und mich in die Arme meines Vaters.

»Wieso kommst du nicht, wenn ich rufe?«, schimpfte er, während er mit mir auf der Schulter die Treppe zum Keller hinabrannte. »Ich rufe und rufe!«

Wir holten meine Mutter und meinen Bruder im zweiten Stock ein. Sie standen bei Teta Marija, der Rentnerin aus der Wohnung unter unserer. Die Alte klammerte sich am Treppenlauf fest und keuchte so heftig, dass es wie Weinen klang. Die Luft war schwer geworden und roch seltsam: nach faulen Eiern, aber auch, als hätte jemand irgendwo im Treppenhaus Wunderkerzen gezündet. Heute kann ich diesen Duft unter tausenden ausmachen — es ist der Duft von gezündetem Sprengstoff. Von Nitrozellulose, um genau zu sein.

Nazif, einer der Nachbarn aus dem Erdgeschoss, kam die Treppe hoch:

»Braucht sie Hilfe?«

»Sie kriegt keine Luft«, antwortete meine Mutter, und da sofort darauf eine dritte Explosion die Wände erschütterte, den Glaskegel der Treppenhausleuchte von der Decke fallen und den Feuerlöscher wie einen Gong vibrieren ließ, lud sich Nazif Marija auf die Schulter, ohne sie erst um Erlaubnis zu bitten.

»Liebe Leute, was ist das?«, fragte einer der Nachbarn, als wir in den Keller traten. Er trug einen Bademantel, bibberte und roch nach Shampoo.

Die Einschläge trafen die Stadt nun in Salven, rhythmisch, unerbittlich, und dazwischen hörte man Gewehrfeuer. Der Boden zitterte, Zementstaub rieselte von der Decke, und der Nachbar im Bademantel stellte seine Frage wieder und wieder: »Was ist das? Was hat das zu bedeuten?«

»Was soll’s schon bedeuten?«, schnitt ihm Marija endlich das Wort ab. »Der Krieg ist da.«

1.

Die ersten Stunden des Kriegs verbrachten wir — meine Eltern, mein Bruder und ich — im Keller unseres Wohnhauses. Wir zuckten bei jeder Detonation, schrien und gingen in die Hocke, wenn Raketen durch die Straßenfluchten kreischten, und zwischendurch sprachen wir verängstigt über das, was uns möglicherweise bevorstand. Doch als es Abend wurde, kehrten die meisten in ihre Wohnungen zurück. Der Beschuss hatte in der Dämmerung an Heftigkeit verloren, außerdem war es im Keller zu eng zum Schlafen. Wir lebten in einem unscheinbaren Plattenbau aus den frühen Siebzigerjahren, jenen der ostdeutschen Wohnungsbauserie 70 nicht unähnlich, bloß waren unsere Balkons deutlich kleiner und die Fassade senffarben statt grau oder beige. Über vier Treppenhäuser verteilt beherbergte unser Haus insgesamt 56 Wohnungen. Davon teilten sich jeweils vierzehn einen wohnzimmergroßen Kellerraum, in dem jede Partei ein durch morsche Lattenwände abgegrenztes Lagerräumchen hatte. Sieben standen an der linken Wand, sieben an der rechten, und im engen Flur dazwischen standen wir wie in einem übervollen Straßenbahnwaggon, die Kinder an die Schenkel ihrer Eltern gepresst. Es hätten sich bestenfalls vier bis fünf Leute zum Schlafen hinlegen können, und nach kurzer Diskussion wurde man sich einig, dieses Privileg den Rentnern unseres Treppengangs zu überlassen. Die jedoch wollten, dass man lieber uns Kinder im Keller schlafen lasse.

»Wir haben unsere Leben schon gelebt, die Kleinen nicht«, sagte Zora, eine Siebzigjährige aus der Wohnung über unserer. Ihr Ehemann, der erblindete Mihajlo, fügte hinzu, dass außerdem jeder von den Alten bereits einen Krieg überlebt habe und das schon mehr sei, als ein Mensch eigentlich verkraften könne.

»Ob ich auch diese Scheiße überlebe, soll Gott entscheiden«, sagte er und schloss mit einer der beliebtesten Phrasen der bosnischen Sprache: »Soll Gott mich doch ficken.«

In meiner Muttersprache schimpft man häufiger und ausführlicher als in der deutschen. Man tut es, um Denkpausen zu füllen, um über Unsicherheiten hinwegzutäuschen, oder um wie Mihajlo eine Aussage zu bekräftigen. Dabei nutzt man in den meisten Fällen eine abstrakte Beschwörungsformel, die sich nicht wirklich ins Deutsche übersetzen lässt: Man wünscht die seltsamsten sexuellen Handlungen auf sich oder andere herab, manchmal vor Wut, manchmal auch voller Zärtlichkeit. Wenn Eltern zu ihrem Kind liebkosend »Jebo te miš-biribiš« sagen, so bedeutet das ungefähr: »Möge die Schmusemaus dich bumsen.« Doch die Übersetzung klingt schief und fremd, während der Satz im Bosnischen liebevoll und lustig ist.

Mein Treppengang wog die Lebenserwartungen von Jung und Alt gegeneinander auf und ließ daraufhin uns Kinder (das bedeutete: meinen Bruder, mich und Sanela aus dem ersten Stock) im Keller schlafen. Es gab noch Rafik, der erst vor Kurzem mit seinem Vater nach Sarajevo gezogen war, doch die beiden wohnten im Tiefparterre, sodass ihnen die Nacht auf dem schorfigen Zement des Kellerbodens erspart blieb und dafür unsere Mütter bei uns bleiben konnten.

Am nächsten Morgen meldete Radio Sarajevo, der Belagerungsring um die Stadt habe sich im Verlauf der Nacht geschlossen und man rechne mit einer Fortsetzung der Kampfhandlungen. Doch trotz dieser Nachricht hatten meine Eltern die Hoffnung, das Bombardement des ersten Kriegstags könnte eine einmalige Angelegenheit gewesen sein — vielleicht bloß der zwangsläufige Ausbruch jener nervösen, dunklen Stimmung, die seit Jahren dafür sorgte, dass Bosnien nicht zur Ruhe kam. Den Fassaden unserer Stadt waren über das letzte Jahrzehnt hinweg Schicht um Schicht um Schicht von blutrünstigen Graffiti aufgesprüht worden. Sie forderten »Moslems in die Gaskammer« zu treiben und eine Ausweitung von »Serbien bis nach Tokio« (das Original reimt sich). Sie behaupteten, dass Bosnien nie existiert habe, nicht existieren dürfe. Regelmäßig wurden diese Botschaften mit Wahlplakaten überklebt, die dann in der ersten Nacht ebenfalls beschmiert wurden. Hatten die Vandalen Humor, malten sie den Kandidaten nur Schnurrbärte, Brillen, Popel und schwarze Zähne ins Gesicht. Meinten sie es ernst, schrieben sie ihnen »Jude« oder »Zigeuner« auf die Stirn oder einen der Schimpfnamen, die Bosnier, Kroaten und Serben füreinander benutzten.

Nach zwei Wochen hingen die Wahlplakate in Fetzen, überdeckt von neuen Parolen.

*

Mein Vater holte uns am nächsten Morgen aus dem Keller ab. Er war davor beim Bäcker gewesen und hatte nicht nur Brötchen und Hörnchen, sondern sogar Plunderteilchen mitgebracht, als hätte jemand Geburtstag. Ich hatte schlecht geschlafen. In meinem Traum hatte sich eine der Rosshaardecken, die Zora und Mihajlo für uns Kinder in den Keller hatten bringen lassen, zu einem Schlangenkörper zusammengerollt und versucht, die Wände hochzukriechen. Das misslang ihr jedes Mal, und dann schüttelte sie sich vor Wut und warf sich wie angeschossen hin und her. Mein Kopf fühlte sich schon den ganzen Morgen fremd an, eine große Pustel auf kleinen Schultern. Normalerweise sauste ich die Treppe zu unserer Wohnung auf und ab, ohne außer Atem zu geraten, an diesem Morgen musste ich jedoch zwei Pausen einlegen. Mein Vater musterte mich besorgt, sagte aber nichts. Oben angekommen, half ich meiner Mutter, den Tisch zu decken, dann meinem vierjährigen Bruder auf den Hochstuhl. Er stellte fest, dass ich ihm das »falsche« Frühstücksbrettchen hingelegt hatte, und bestand wütend auf »seinem«, das mit einem Mäuse-Cartoon von Uli Stein bedruckt war. Meine Mutter hatte es bei einem Symposium geschenkt bekommen. Sie war Germanistin.

»Da hast du dein Brettchen, du Nervensäge«, sagte ich.

»Selber«, sagte mein Bruder zufrieden. Wir konnten uns endlich hinsetzen.

»Denkst du, die Schule bleibt auch morgen geschlossen?«, fragte ich meine Mutter.

»Mal schauen. Hoffentlich nicht.«

»Hoffentlich doch«, sagte ich und handelte mir einen Klaps auf den Hinterkopf ein. Wir ahnten nicht, dass es mehr als ein halbes Jahr dauern würde, bis ich wieder zur Schule ging.

Ich nahm ein gekochtes Ei, schlug die Schale an der Tischkante weich — und begann plötzlich zu weinen. Meine Eltern schauten mich überrascht an.

»Was hast du?«, fragte meine Mutter. »Wieso weinst du?«

Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Während des gestrigen Bombardements war ich so gefasst gewesen, dass mich im Keller die ganze Nachbarschaft gelobt hatte: »Wie tapfer der Junge nur ist! Unsereins kann sich an ihm ein Beispiel nehmen.«

Nun aber musste ich weinen — und sosehr ich es auch versuchte, ich schaffte es einfach nicht, mich zu beherrschen. Es war einer dieser heftigen, heiseren Heulkrämpfe, bei denen die Rotze schnell so klar wird wie die Tränen.

»Wir hätten sie nicht über Nacht im Keller lassen sollen, ich hab’s dir gesagt«, sagte meine Mutter zu meinem Vater. Sie nahm meinen Bruder auf den Arm und trug ihn ins Wohnzimmer, damit ich ihn nicht mit meiner Panik ansteckte. Um mich zu beruhigen, ging mein Vater vor mir in die Hocke und versicherte mir, dass jene, die gestern auf uns geschossen hatten, heute bestimmt selbst darüber bestürzt seien.

»Das ist menschlich.« Mein Vater reichte mir ein Brötchen aus der Papiertüte. »Manchmal tut man etwas, weil man wütend ist, und bereut es später.«

»So wie Ramiz damals, als er Damir geschlagen hat und der so geblutet hat, und dann musste Ramiz auch weinen, weil Damir so geweint hat«, schluchzte ich.

»Ganz genau.«

»Dann wird heute nicht mehr geschossen?«

»Bestimmt nicht«, versprach mein Vater.

Einen Augenblick später explodierte die erste Granate des Tages — diesmal nicht bei uns in Čengić Vila, sondern in Grbavica, dem großen Stadtteil zwei Kilometer flussabwärts. Weitere Einschläge folgten, und sie flogen dichter als gestern. Etwas pfiff an unserem Balkon vorbei — ich glaubte, ein schwarzes Reiskorn in der Luft gesehen zu haben, und eins der weißen Hochhäuser, auf die man von unserer Küche aus blickte, ging mit einem seltsamen Zirpen in Flammen auf. Der nächste Einschlag traf das Novi Grad-Krankenhaus in unserer Nähe. Diese Detonation ließ die Wände der Wohnung schaudern. In ein paar Monaten würden wir gelernt haben, das Kaliber des Geschosses an der Heftigkeit des Einschlags zu erkennen: Nur die zwei großen Haubitzen der JNA, die M56 und die M65, 120 und 150 Millimeter Projektildurchmesser, ließen Stahlträger wie Gelee wackeln. Am zweiten Kriegstag konnten wir das noch nicht wissen, aber eine dieser beiden hatte soeben das Krankenhaus getroffen.

Nach der Explosion hörte man kurz das Bersten stürzender Fenster und Ziegeltrümmer, dann verschlang die Kakophonie alles: Alarmsirenen kreischten los, Gewehrfeuer erhob sich — erst ein Prasseln, dann hallendes, betäubendes Geknüppel —, und Geschütze pflügten den Zement, hackten Beton zu Schotter. Ich hatte das Gefühl, die Erde bebe, aber vermutlich bebte nur mein überfordertes Kleinhirn.

Er hat mir doch versprochen, dass nicht mehr geschossen wird, dachte ich entrüstet, während mein Vater mit meinem Bruder und mir auf den Armen zurück in den Keller rannte. Wäre ich nur ein wenig älter gewesen, hätte ich gewusst, dass man sich auf das Urteil meines Vaters nicht verlassen konnte: Vor der letzten Parlamentswahl hatte er mir etwa versichert, dass eine der gemäßigten, multikulturellen Parteien die meisten Stimmen bekommen würde. Ich war damals erst neun gewesen, doch alt genug, um es unheimlich zu finden, wenn ein Politiker im Fernsehen sagte, im Land sei nur Platz für seine Sippe.

»Menschen wollen keinen Krieg, Kleiner!«, hatte mein Vater mir gesagt. »Sie wollen Frieden. Sie wollen das hier!« Statt eines Hörnchens reichte er mir damals die Eiswaffel, die er bei einem der Strandhändler gekauft hatte. Wir waren da nämlich an der Adria gewesen, in unserem Sommerurlaub. Es würde unser letzter Urlaub als Familie bleiben.

*

Zum Glück hatten andere mehr Ahnung von der menschlichen Natur als mein Vater. Etwa eine halbe Stunde nachdem wir uns wieder im Keller versammelt hatten, erschien ein Mann in unserem Treppengang.

»Seid ihr alle da unten?«, schrie er, um die Explosionen zu übertönen.

»Ja, alle im Keller«, schrien wir zurück.

»Wir brauchen Leute!«

Er hatte das Tiefparterre erreicht, ein schlaksiger Mittdreißiger mit langem Gesicht und bernsteinfarbenen Augen, die mich zusammen mit dem Kranz dunkler Wimpern an verblühte Sonnenblumen erinnerten. Einerseits war er schwarzhaarig, andererseits unnatürlich blass, sodass sich sein Dreitagebart von der Haut abhob, als wäre er mit einem Filzstift aufgepunktet worden. Er trug zerschlissene Jugosport-Turnschuhe, Jeans und eine weite, rotbraune Wildlederjacke. Vor seiner Brust hing ein Gewehr — keine Kalaschnikow, sondern eine fast anderthalb Meter lange Repetierbüchse, die bis auf den schwarzen Lauf nahezu ganz aus Nussholz zu bestehen schien. Sie wirkte eher für die Jagd geeignet als für den Krieg.

»Wir suchen dringend Unterstützung. Aus den anderen Haustoren kommen auch welche mit«, fuhr der Fremde fort. »Ich sag’s euch, wie es ist: Wir können jeden Mann gebrauchen, sonst wird die Stadt heute noch fallen.«

Daraufhin brach ein Streit zwischen Ismeta Hazifbegović und ihrem Sohn Ermin aus, einem Maschinenschlosser, der im Viertel als Halbstarker berüchtigt war. Ermin wollte an die Front, seine Mutter jedoch ließ ihn nicht gehen. Ihr Ehemann, sagte sie, sei erst vor zwei Jahren an Krebs verstorben, und den Sohn wolle sie nicht auch noch verlieren.

»Wenn niemand mitgeht, wirst du ihn auf jeden Fall verlieren«, beschwor der Fremde sie. »Was, denkst du, werden die Serben mit den Männern tun, wenn ihnen die Stadt in die Hände fällt?«

»Oder mit den Frauen«, sagte Ermin.

»Ist mir egal. Es haben auch noch andere Mütter Söhne, meiner bleibt hier!«, sagte Mutter Hazifbegović.

»Was ist mit mir?«, fragte mein Vater plötzlich dazwischen. »Ich war in der Armee, ich kann schießen.«

»Ich brauche niemanden zum Schießen, wir haben eh keine Waffen mehr«, sagte der Fremde. »Wir brauche Leute, die Gräben ausheben. Und da ich nicht mehr viel Platz im Wagen habe, würde ich lieber ihn mitnehmen als dich. Nichts für ungut.«

Mein Vater war dennoch ein wenig gekränkt. Vermutlich verstand er als Einziger nicht, wieso man für den Einsatz an der Front einen muskulösen Basketballspieler dem kleingewachsenen, spindeldürren Universitätsprofessor für Bibliothekswissenschaften vorzog. Bevor er aber protestieren konnte, grub ihm meine Mutter direkt vor meinem Gesicht die Fingernägel ins Handgelenk:

»Kein Wort mehr, du Esel!«, zischte sie.

»Wie sieht’s nun aus, meine Liebe? Darf ich ihn mitnehmen? Ich werde auf ihn aufpassen, ich schwör’s auf die Seele meiner Mutter.« Der Fremde küsste seinen Zeigefinger und legte ihn sich ans Herz — eine seltsame Geste, die wohl ihm alleine gehörte. Wenn man auf die eigene Mutter schwor, begleitete man es üblich nicht mit irgendwelchen Bewegungen.

»Er bleibt hier!«

»Ich gehe.« Ermin wand sich aus dem Griff der Mutter. Sie wollte ihm nachgehen, sie ergriff sogar seinen Pferdeschwanz — doch vergeblich.

Nachdem er weg war, brach sie in Tränen aus, und niemand wusste so recht, sie zu trösten. Jedenfalls versuchte nicht einmal mein Vater, ihr zu versichern, dass Ermin nichts passieren würde. Das Bombardement hatte inzwischen eine solche Intensität erreicht, dass es mir vorkam, als seien wir nicht im Keller, sondern in der Trommel einer Waschmaschine im Schleudergang. Zwischen den Explosionen hörte man Mutter Hazifbegović weinen. Ich hingegen ertrug das Bombardement wieder ohne Tränen. Sobald geschossen wurde, verkroch sich mein Geist. Ich hörte auf zu denken, fühlte weder Angst noch Langeweile, hoffte nicht auf Frieden. Ich hoffte nicht einmal, dass der Beschuss bald aufhören würde, ich fühlte weder Hunger noch Durst, ich wünschte mir nichts mehr: nicht die Bequemlichkeit meines Betts und auch nicht einen meiner Freunde zu sehen. Erst als nicht mehr geschossen wurde, trauten sich meine Gedanken aus ihren Löchern, schreiend, um sich beißend, und dann weinte ich.

So war es in den ersten zwei oder drei Monaten des Kriegs, bis die Gewöhnung einsetzte und ich aufhörte zu weinen — und zwar fast für die nächsten fünfzehn Jahre. Vom Juni 1992 bis zum Oktober 2007 vergoss ich keine einzige Träne. Ich verbot sie mir selbst nach dem Tod eines geliebten Menschen, etwa, als ein Freund verunglückte oder Oma Nadežda starb, und dieser Akt der Selbstbeherrschung bereitete mir eine seltsame Lust. Dass der Mensch sich an jede Qual gewöhnt, stimmt nämlich. Es stimmt jedoch auch, dass es eine Qual ist, sich wieder zu entwöhnen. Also verbrachte ich Jahre damit, meine Gefühle niederzukämpfen und mir dabei einzureden, dass ich auf diese Weise meine Willenskraft unter Beweis stelle.

2.

Wie soll man den Bosnienkrieg erklären?

Als Kroatien sich im Mai 1991 unabhängig erklärte, wurde es von der serbischen Armee überfallen. Als Slowenien sich im Juni 1991 unabhängig erklärte, wurde es von der serbischen Armee überfallen. Als Bosnien sich im April 1992 unabhängig erklärte, wurde es von der serbischen Armee überfallen. Als Kosovo sich 2008 unabhängig erklärte, wurde es von der serbischen Armee überfallen. Serbien nahm die Auflösung Jugoslawiens als eine Auflösung des eigenen Herrschaftsgebiets wahr — und die Unabhängigkeitsbestreben der anderen Bundesländer als einen Aufstand von Untergebenen.

Unter der Vielzahl der Kriege, die auf den Zusammenbruch Jugoslawiens folgten, war der Krieg in meinem Heimatland der komplexeste. Bosnien lag im geografischen Zentrum Jugoslawiens und war multikulturell, von muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben bewohnt. Ein Drittel der bosnischen Bevölkerung lebte in Mischehen, und eine von ihnen hat mich hervorgebracht: Meine Mutter stammte aus einer kroatisch-katholischen Familie, mein Vater aus einer bosnisch-muslimischen. Seine Mutter ist allerdings eine christlich-orthodoxe Serbin gewesen, was aber nichts an seinem Selbstverständnis als Moslem geändert hat, auch da für Bosnier die väterliche Ahnenlinie als maßgeblich gilt, wenn es um Fragen ethnischer Zugehörigkeit geht. Noch verwirrender als mein Stammbaum war der Krieg: Serbien konnte beim Überfall auf Bosnien auf die Unterstützung durch einen Teil der serbischen Minderheit in Bosnien zählen, was den Bosnienkrieg nicht ausschließlich, jedoch auch zu einem Bürgerkrieg machte. Ein Teil der bosnischen Serben kämpfte allerdings gegen die serbischen Nationalisten. Ein Teil bosnischer Moslems wiederum unterstützte die serbischen Streitkräfte und kämpfte gegen die bosnische Armee — sie folgten dem Warlord Fikret Abdić, der im Westen des Landes eine »autonome Provinz« ausgerufen hatte. Nach einem Jahr kämpften auch die Truppen kroatischer Nationalisten gegen die bosnische Armee, allerdings nicht überall — diese Kämpfe konzentrierten sich auf die Stadt Mostar, in anderen Regionen blieb man weiterhin gegen die Serben verbündet.

Wie soll man solch einen Krieg erklären?

Meistens sage ich bloß: Am Ende kämpfte jeder gegen jeden. Dass es so kommen würde, hatte sich schon früh angekündigt. Schon Monate vor dem eigentlichen Kriegsausbruch war es in Sarajevo immer wieder zu Ausschreitungen gekommen, nach Fußballspielen, nach Konzerten, nach Hochzeiten, selbst nach der Zeugnisverleihung irgendeiner technischen Mittelschule — Radio Sarajevo meldete täglich neue Vorfälle. Milizen in selbstgeschneiderten Fantasieuniformen patrouillierten nachts im Auftrag ihrer jeweiligen Ethnie durch die Straßen. Gerieten sie aneinander, hallten Schüsse durch die Straßen. Als Kind nahm ich das zwar wahr, aber ich verstand es nicht.

Meine Welt war die Plattenbausiedlung, in der ich aufwuchs. Die Gebäude waren sechsstöckig. Drei stammten aus den Sechzigerjahren, das vierte, ein rot-weißes mit versetztem Schnitt und großen Balkons, aus 1979. Meine Familie lebte in einem der »alten drei«, in einer 40-Quadratmeter-Wohnung. Sie teilte sich den Grundriss mit allen anderen Wohnungen unseres Viertels: Hinter der Eingangstür wartete stets derselbe beengte Flur, von dem aus man alle übrigen Räume erreichte: zwei Zimmer von jeweils 18 Quadratmetern, die Schlauchküche, das fensterlose Bad. Ich hatte kein eigenes Zimmer, die Spielecke mit meinen Zinnsoldaten, Holzklötzen und Comicheften befand sich im Schlafzimmer. Dort teilten mein Bruder und ich uns ein Stockbett, während meine Eltern neben uns auf der Ausziehcouch schliefen. Ich hasste die Enge unserer Verhältnisse: Sowohl meine Mutter wie auch mein Vater waren laute Schnarcher, und da nicht nur die Deutschen Zugluft fürchten, blieben unsere Fenster und die Zimmertür nachts geschlossen. Wir waren vier Schlafende auf 18 Quadratmetern. Ich träumte oft, als erschöpfte Natter durch Staubsaugerrohre zu kriechen oder aus großer Höhe in ein Gewimmel aus Wäschestricken zu stürzen, und ich erwachte morgens mit Kopfschmerzen und dem Gefühl, in einem tropischen Gewächshaus übernachtet zu haben.

Mein Bruder war erst drei Jahre alt, und es war oft meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern. Im Gegensatz zu Deutschen verstanden sich Mitglieder bosnischer Familien nicht einfach als miteinander verwandte Individuen. Bosnier betrachteten ihre Familien als Maschinen, deren Betrieb voraussetzte, dass jedes Mitglied eine Funktion erfüllte. Folglich erhob man innerhalb einer bosnischen Familie weit aggressiver Ansprüche aufeinander als in Deutschland, und man sah sich als zu jeder Zeit miteinander verschränkt: Bruder Kolben, ich das Pleuel, und Mama, Papa eine Kurbelwelle im ewigen Auf und Ab, von Bosnien nach Deutschland, aus der Wohnung in die Psychiatrie, aus dem Rollstuhl ins Grab. Aber das alles kam erst später.

Damals, in den letzten Jahren Jugoslawiens, kurz vor dem Krieg, war es so, dass ich täglich ein paar Stunden lang auf meinen Bruder aufpassen musste, damit meine Mutter ungestört an ihrer Promotion arbeiten konnte. Besuchten meine Eltern abends Freunde, Symposien, Theater oder Feiern, ohne einen ihrer Studenten als Babysitter gewinnen zu können, war mein Bruder in meiner Verantwortung. Ich musste ihn wickeln, ihm die Flasche geben, ihn beruhigen, wenn er schrie — was er tat, sobald er die Augen öffnete. Ich war erst sieben oder acht, und es war mir nie klar, ob ich diesen Aufgaben gerecht wurde. War die Milch, die ich mir aufs Handgelenk getropft hatte, wirklich hautwarm oder noch heiß? Hatte ich die Stoffwindel gut gewickelt oder würde der Urin wieder auslaufen? Wenn er es tat, würde meine Mutter mich dafür bestrafen, dass sie mehr zu waschen hatte. Später, als mein Bruder schon zwei war und die Gefahr bestand, dass er beim Toben über die Gitter seines Kinderbetts stürzte (was schon zwei Mal passiert war, zum Glück nicht unter meiner Aufsicht), traute ich mich, wenn ich alleine mit ihm war, nicht mehr, das Zimmer zu verlassen. Das führte einmal sogar dazu, dass ich mir in die Hose pinkelte.

Meine zweite Familie bildeten, wie für die meisten Kinder aus Sarajevo, die Gleichaltrigen meines Viertels, mit denen ich nicht weniger Zeit verbrachte als mit meinen Eltern. Sie mochten mich, wie man Pudel mag — weil ich putzig und schräg war. Ich wäre jedoch gerne jemand gewesen, der im Rudel nicht auffällt, und in Sarajevo bedeutete das: ein Bullterrier, ein Boxer oder eine Dogge. Wer ich zu sein hatte, war allerdings nicht meine Entscheidung. Ich war Kind von Universitätsdozenten, der Sohn eines sanften Mannes, den man im Viertel zwar für klug, aber auch für weltfremd und lebensuntüchtig hielt. Der Vater meines besten Freundes hatte meinen mal auf offener Straße verprügelt. Manchmal zogen mich meine Freunde damit auf.

Der Schüchternheit und Ängstlichkeit meines Vaters stand der unerschrockene, oft kaltherzige Hochmut meiner Mutter entgegen. Wie sie mir oft selbst beteuerte, liebte sie ausschließlich ihre zwei Kinder — und ein wenig auch ihren Ehemann, fügte sie nach einer Pause hinzu, die ich lange für ironisch hielt. Der Rest der Welt sei ihr vollkommen egal und könne in Flammen untergehen. Weitgehend stimmte das. Bis auf das Wohlergehen ihrer Kinder und Angelegenheiten, die ihre akademische Karriere betrafen, gab es nur eine weitere Sache, die die Gefühle meiner Mutter berühren konnte: Sie hasste alles Prätentiöse. Sie hasste es mit einer unerklärlichen Leidenschaft. Von mir und meinem Bruder forderte sie stets Authentizität und maßregelte uns, wenn sie fand, dass wir uns gekünstelt verhielten, selbst, wenn es Teil eines Spiels war, bei dem wir so taten, als seien wir Ärzte oder berühmte Schauspieler. Einmal ohrfeigte sie mich, weil ich meine Stimme verstellt hatte, um wie Arnold Schwarzenegger zu klingen, und als ich mir mit 16 zum ersten Mal die Brust rasierte, weigerte sie sich einen ganzen Monat lang, mit mir zu sprechen. Es war egal, was ich in dieser Zeit zu ihr sagte, die Antwort lautete immer: »Mein Sohn ist eine Tunte.«