Krach - Tijan Sila - E-Book

Krach E-Book

Tijan Sila

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Beschreibung

»Ein furioser Roman über das Erwachsenwerden im toten Winkel der Gesellschaft und eine kalte Dusche für lauwarmes Erzählen.« Arno Frank. Eine Punkband in der Pfälzischen Provinz der Neunzigerjahre – was kann da schon schiefgehen? In seinem unverwechselbaren Ton schreibt Tijan Sila einen humorvoll wilden, zarten Roman über die identitätsstiftende Kraft von Subkulturen. 1998, inmitten der Baseballschlägerjahre, gründet der 18-jährige Gansi mit seinen Freunden in der Kleinstadt Calvusberg die Punkband Pur Jus. Während es seinen Eltern, die vor vielen Jahren aus Bosnien nach Deutschland gekommen sind, lieber wäre, würde er wie sein älterer Bruder Predrag Chirurg werden und in eine Villa am Heidelberger Neckarufer ziehen, veranstaltet er Radau im heimischen Club Fiasko, tourt durch das tief gespaltene Land vom blitzsauberen Jugendzentrum in Freiburg zum besetzten Haus in Heidenau, lässt sich von einem Fascho die Lippe spalten und von der finsteren Gitarristin Ursel das Herz brechen. Dann trifft er Katja, die in »Texas« lebt, einem Viertel in Calvusberg, das sogar die Punks fürchten. Sie lernt fürs Abi, ist sehr für gewaltfreie Konfliktlösung und hört lieber Madonna statt Buzzcocks. Gansi ist bis zur geföhnten und blondierten Haartolle verliebt in sie. Alles scheint perfekt – doch bald sind es nicht mehr nur die omnipräsenten Nazis, die für Pur Jus zur Gefahr werden. Tijan Sila führt die Leser*innen ins Herz einer Szene, die er sehr gut kennt: Er zog in den Neunzigerjahren selbst mit seiner Punkband Atlas Lanze durch Deutschland und hat gerade mit seiner neuen Band Korrekte Drinks eine Single aufgenommen.

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Seitenzahl: 298

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Tijan Sila

Krach

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Tijan Sila

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

PROLOG

KAPITEL 1 

KAPITEL 2 

KAPITEL 3 

KAPITEL 4 

KAPITEL 5 

KAPITEL 6 

KAPITEL 7 

KAPITEL 8 

KAPITEL 9 

KAPITEL 10 

KAPITEL 11 

KAPITEL 12 

KAPITEL 13 

KAPITEL 14 

KAPITEL 15 

KAPITEL 16 

KAPITEL 17 

KAPITEL 18 

KAPITEL 19 

KAPITEL 20 

KAPITEL 21 

DANKSAGUNG

Inhaltsverzeichnis

Meinen Freunden Joel Holtzem und Philipp Seibel.

 

Mit Grüßen an die ganzen wilden Watze in Jeansjacken, an die ganze Lanze – an ganz Landau, von ganzem Herzen.

Inhaltsverzeichnis

Jugend! Dich kümmert nichts, sämtliche Schätze des Alls scheinst du dein Eigen zu nennen, sogar der Traurigkeit kannst du noch etwas abgewinnen, auch der Gram steht dir gut zu Gesicht, du bist selbstherrlich und keck, du sagst: ich lebe, schaut her![1]

Ivan Turgenjew: Erste Liebe

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Es waren etwa fünfzig Faschos, und obwohl sie selbst für Naziverhältnisse ziemlich schlecht angezogen waren, ging mir bei ihrem Anblick der Arsch zu: die reinsten Kannibalen. Die Straßenlaternen warfen gelbe Würmchen zwischen die Falten der Bomberjackenärmel. Irgendwie liefen sie komisch hin und her, klapperten über den Kopfstein und brüllten ihren Scheiß durch die Gegend.

Aber wir befanden uns in Sicherheit; die Flure und Türen waren barrikadiert, die Fenster vergittert. Wir standen versammelt im ersten Stock, im Zimmer einer Hausbesetzerin, die über jemanden promovierte, der entweder Manfred oder Maikel oder Massimo Maus hieß (sie hatte es vor dem Konzert erwähnt, ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört), und sahen uns das Spektakel auf der Gasse an: Nazis soweit man blickte, Baseballkeulen, Bierflaschen, Blutdurst, das Übliche.

Eine der Glatzen rüttelte an dem Ablauf der Regenrinne, wohl um zu prüfen, ob er daran hochklettern könnte. Nix da: Kameraden machten ihn auf den Stacheldraht aufmerksam, mit dem das Rohr in drei Metern Höhe gesichert war. Der Affe stiefelte vor Wut ein paar Mal gegen die Wand. Beppo und ich drückten die Gesichter ans Fenstergitter und rotzten, aber die Spucke verlor sich auf dem Weg nach unten. Einer der Hausbesetzer schob sich zwischen uns, packte den Lörres aus, pfiff und strutzelte. Der Wind zerstäubte den Strahl, und die Faschos stoben auseinander. Der Pisse folgten Flaschen und Backsteine aus den oberen Stockwerken, Nazis fielen, Nazis schrien, dann sangen sie: »Ein Baum, ein Strick, ein Zeckengenick«, und so weiter. Die Besetzer hielten mit ihren Liedern dagegen.

»Ich krieg keinen Ton raus«, sagte ich zu Ursel.

»Bin auch ganz heiser«, erwiderte sie. Wir hatten uns bei unserem Auftritt die Lunge wundgebrüllt. Dieser Abend war unser Abschied, als Band und voneinander.

»Wenn das nicht der perfekte Abschluss ist, dann weiß ich auch nicht.« Beppo schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Was fehlt denn noch?«, fragte er.

»Kuchen«, meinte Pirmin.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1 

Ich machte meinen Verstärker brav aus, Ursel nicht. Sie lehnte die Gitarre an die Lautsprecherbox und ließ das Feedback kreischen. Vor der Bühne kniffen gestandene Punks die Augen zu, zogen den Daumen über die Kehle, war ihr scheißegal. Sie stakste durch den Pulk, über die klebrigen Fliesen der Tanzfläche und zur Theke, wo ihre beste Freundin auf sie wartete.

»Hast es immer noch druff«, rief Anne schon aus der Ferne. Ich verstand es gerade noch so unter der Rückkopplung: »Is ne coole Band.«

Und es stimmte, wir waren ziemlich cool. Die Leute hatten sich nämlich bewegt. Unser erstes Konzert: zwanzig Minuten qualvoller Erregung, nun Betäubung und Zittern, aber sie hatten sich bewegt. Wir waren so laut gewesen, dass Staub von den Deckenventilatoren gerieselt war, und die Leute hatten sich bewegt. Die Haare klebten uns an den Schläfen, die Hälse glänzten, die Kragen waren dunkel, die Leute hatten sich bewegt. Und nicht bloß irgendwelche Leute: Leute in Jeans- und Lederjacken, Leute in Bandshirts, Leute mit tätowierten Knöcheln, Leute mit Frisuren.

Beppo drückte mir einen seiner Schlagzeugstöcke in den Rücken:

»War doch ganz geil.«

»Schon, oder? Pirmin, was sagst du?«

»War gut.« Unser Bassist war so verschlossen wie immer.

»Besser als im Proberaum, findet ihr nicht?«, hakte ich nach – noch wollte ich es nicht recht glauben.

»So was von. Das halt ich aber nicht mehr aus.« Beppo deutete auf Ursels Verstärker, der inzwischen vibrierend, pfeifend seine Explosion anzukündigen schien: Aus der Wand daneben fielen ein paar Kacheln, plok, plok, plok: »Gleich stürzt hier die Decke ein!«

Als Beppo aber das Stand-by schalten wollte, traf ihn eine leere Pepsi-Dose am Hinterkopf:

»Ej! Finger weg von meinem Scheiß, Kleiner!« Ursel hatte die Hände flach auf dem Bühnenrand aufgestützt und blickfickte uns wie so zwei Diebe. Es war nur halb im Scherz. Ihr stand gleich noch ein Auftritt bevor, und sie wollte nix verstellt bekommen.

Der Krach war jedoch inzwischen wirklich unerträglich, gerade wenn man wie wir direkt vor der Box stand: Hundert Watt blinde Tobsucht. Ich machte ein flehendes Gesicht, legte die Handflächen wie zum Gebet zusammen. Ursel lachte, winkte ab:

»Mach aus.«

Endlich Stille.

×××

So cool wir auch waren, das FIASKO war nicht wegen PUR JUS voll. Leute waren angereist (manche sogar aus Hamburg und Köln), um die Abschiedsshow von Ursels erster Band zu sehen. Sie und Anne hatten PASTELOGRAM 1992 gegründet und waren zu zweit ganz schön um die Häuser gezogen: Touren von Bautzen bis Boston, selbst das Maximum Rocknroll hatte sie irgendwann mal interviewt. PASTELOGRAM, der Stolz Calvusbergs: Zwei Mädchen aus dem Niemandsland, frickeliger Arschtritt, und die Trommlerin sang genauso viel wie die Gitarristin. Es schien unwahrscheinlich, dass unser Kaff jemals wieder etwas vergleichbar Cooles hervorbringen würde.

Ich war der Einzige von PUR JUS, dem es Druck machte, mit Ursel zu spielen. Beppo war ihr Bruder und hatte darum einen ganz anderen Blick auf sie, und Pirmin war kein Punk, er konnte null einschätzen, wie gut und groß PASTELOGRAMeigentlich waren. Außerdem spielte ich Gitarre und musste darum noch mehr als die anderen Ursels fürchterlichen Ansprüchen genügen.

Und schließlich war Ursel Ursel.

Ich sah sie neben Anne an der Theke lehnen, die Füße über Kreuz, der Kopf schief, fast auf der Schulter. Sie stopfte das Poison-Idea-Shirt (mit löchrigen Ärmeln) wieder in die schwarze Jeans (mit löchrigen Knien), schob den Pony zurück und lachte über irgendetwas. Neben ihrem Ellbogen fauchte eine Katze, die sie sich nach einem Konzert in Marseille hatte stechen lassen. Als sie bemerkte, dass ich sie angaffte, tat ich, als hätte ich ihre Aufmerksamkeit gesucht. Ich machte ein fragendes Gesicht und hielt den Daumen hoch: War sie mit uns zufrieden? Sie zwinkerte mir zu. Anne, die uns beobachtet hatte, sagte ihr etwas ins Ohr, worüber sie lachten. Obwohl ich nicht wusste, ob es um mich ging, fraß mich die Scham.

 

Ich ging ein bissl an die frische Luft. Es würde bestimmt noch eine halbe Stunde dauern, bis PASTELOGRAMspielten. Beppo hing mit seiner Freundin ab, Ursel mit Anne. Und ich wusste nie, worüber ich mit Pirmin reden sollte. Wir kannten uns kaum.

Ein Typ mit Fischerhut rempelte mich am Ausgang an. Er nahm die nasse Krempe zwischen Zeige- und Mittelfinger und sagte: »Désolé.«Noch bevor die Eisentür zuknallte, fing ich an, mich abzutasten: Geldbeutel da, Schlüssel da. In letzter Zeit wurde viel geklaut, hauptsächlich von Franzosen. Scheiß-Schengen: Für einige Wackes aus dem Elsass war Calvusberg leider näher als Straßburg oder Colmar und außerdem waren Pillen und Pep bei uns billiger.

»Alles, wos sein soll?«, fragte Ekki, der an diesem Abend die Tür machte und falschrum auf einer schwarzen GSXRthronte, ein furchterregender Mann in der Uniform wahrer Assis: Bomberjacke und Air Jordans.

»Jawohl, alles da«, antwortete ich eilig; wenn Ekki spöttelte, machte man am besten auf Knetschüler.

»Und der Schwanz?«, fragte er.

Ich griff mir in den Schritt: »Hab die Dienstwaffe dabei, Herr Kommissar.«

Er schmunzelte – saß plötzlich aufrecht:

»Was war das? Psst! Still!«

Wir schwiegen. Einen Augenblick lang war nur Schneerieseln zu hören, dann aber, plötzlich und mit der Gewalt einer Explosion: ein Schrei!

»Wars ein Tier?«, fragte ich. Ekki schwang sich vom Motorrad, als würde er eine Turnübung abschließen, und knirschte los:

»Komm mit!«

Aus irgendeinem Grund tat ich es.

Die Silhouetten, die wir durch den Schneevorhang auf dem Parkplatz des FIASKO erkannten, sahen so aus, als ob sie einen Tanz aufführten – aber wir befanden uns in Calvusberg: Natürlich tanzten sie nicht, sie stiefelten auf jemanden ein. Ein Mädchen (ihre Schreie hatten wir gehört) versuchte, dazwischenzugehen: »Aufhören! Aufhören!« Sie wurde fortgeschleudert und fiel und brüllte um Hilfe.

Einige Meter rechts kroch einer auf allen vieren stöhnend und keuchend zwischen Corsas und Puntos. Sie hatten ihn schon abkassiert. Das Blut troff von seinem Kinn, von der Nasenspitze, selbst von seinen Ohrläppchen: Schwarze Punkte auf dem Schnee.

»Den kenn ich von der Schule!«, sagte ich. »Torben, Torsten, irgendwas.«

»Egal.« Ekki rief: »Männers, ist gut jetzt!«

Nur einer der Schläger beachtete uns: »Das entscheiden wir.«

Er watschelte uns breitbeinig in voller Assitekker-Montur entgegen – glitzerndes Nylon einer teuren Spiewak, glitzernde Goldspray-Jeans und ein großer glitzernder Ring an jedem Finger.

»Ne, ne, Liewerle«, hielt Ekki dagegen. »Ich mache hier die Tür, also sag ich auch, wann Schluss ist.«

Ich riss mich zusammen und blieb an seiner Seite. Zwei gegen drei war immer scheiße, gegen diese drei würde es auf Krücken enden. Fliehen kam aber nicht infrage: Die Schande überlebte man in Calvusberg nicht.

Die Freunde des Glitzernden trampelten ein letztes Mal über ihr Opfer und richteten steinerne Blicke auf uns.

»Was wollen die Hinkel?«, fragte der eine.

»Arschficken wollen sie«, antwortete der andere.

»Schweine! Schweine!«, schluchzte das Mädchen. »Wir haben euch nichts getan!«

»Ich mach ab und zu die Tür vom Monokel«, sagte der Glitzernde.

»In Jockgrim?«, fragte Ekki, und der andere nickte. »Gehört das immer noch Heiner?«

»Ne, Pensi, seinem Bruder.«

»Bei den beiden kommt man irgendwann nicht mehr mit.«

»Heiner macht wieder das Bistro.«

»Ist er nicht gelernter Koch?«

»Konditor.« Der Glitzernde spuckte lautlos durch die Zähne, steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke – kalt sei es.

»Arschkalt«, pflichtete ich leise bei. Er musterte mich kurz und musste grinsen:

»Okay.«

Bevor sie abzogen, trat er zu dem Mädchen und ihrem immer noch bewusstlosen Freund. Er fragte, wer jetzt der Pisser wäre, und fegte ihr mit dem Fuß gelb getränkten Schnee an die Brust – der Zerstampfte hatte sich wohl vor Schmerz und Schrecken eingenässt.

Wasn Bastard!, dachte ich, heilfroh, dass er und seine Freunde aus Kollegialität zu Ekki darauf verzichteten, auch uns zu schlachten. Doch sie waren keine zwanzig Schritte weg, da kam Torsten-Torben plötzlich durchs Gestöber angetorkelt und krähte:

»Wichser! Wichser! Einer gegen einen, traut euch! Einer gegen einen, ich mach euch fertig!«

»Halt die Fresse, Junge!«, zischte Ekki.

»Halt die Gosch, Tormund!«, zischte ich.

Zu spät – die drei drehten sich beschwingt um, grinsend wie Kinder, die nun auch das letzte Stück vom Geburtstagskuchen haben durften, und so, wie sie sich auffächerten, war klar, dass auch Ekki und ich es fassen sollten. Seltsam, dass es mich nicht in Panik versetzte – am meisten Schiss hat man ja genau bevor jemand zum ersten Schlag ausholt. Hatte mein Körper beim Auftritt sein ganzes Adrenalin verbraucht?

Torben-Torsten ging an uns vorbei, und als er über die Schulter blickte, um zu sehen, ob wir ihm folgten (taten wir nicht), hieb ihn der Glitzernde nieder. Tormunds Kopf schlackerte, als wär sein Hals ein Gummiband, und prallte dann mit einem dumpfen Krachen auf dem Boden auf. Zum Glück schneite es.

Der Glitzernde breitete die Arme aus, als hätte er etwas bewiesen. Er sah uns an, rot glimmende Augen über einem Lächeln, das versprach: Nun ihr.

»Kleiner«, flüsterte Ekki, zurückweichend, eine Hand an meiner Brust. »Hier kommen wir nicht mehr friedlich raus.«

»Eeeey«, schallte es vom FIASKO her über den Parkplatz. »Ekki, Gansi, wasn da?«

Ich hörte Sohlen knirschen, Verstärkung. Wer auch immer da kam, sein Anblick trieb die Gewaltlust aus den Gesichtern der drei Assis.

Der Glitzernde ging als Erster zu Boden. Uwe Spitz – Aparillo, Fascho, Hool, Assi-Fürst und der ältere Bruder von Ursel und Beppo – barst mit einem kehligen Laut, halb Husten, halb Schrei, durch die Schneegardine und fällte ihn mit einem Schwinger. Er rotzte ihm verächtlich hinterher, voll aufs Tomatengesicht: »Da, du Fotze!« Für so was hatte Uwe immer Zeit. Ekki trat zweimal mit dem Spann nach, wie auf dem Hackplatz. Ich sah weiße Funken in die Nacht fliegen – irgendein Zahnarzt in Jockgrim würde sich freuen. Die Freunde des Glitzernden wollten sich rühren, aber es war zu spät. Den einen scheitelte Beppo mit einem Schoppenglas, der andere wollte sprinten und lief mir in die Knöchel. Uwe bekam seine Kapuze zu fassen, und wir beerdigten ihn zu viert.

1998 fing gut an.

 

Als die Sache rum war, sah der Parkplatz aus wie ein Schlachthof. Drei gegen zwei war scheiße, vier gegen drei aber auch – insbesondere, wenn einer der vier Uwe Spitz hieß. Wie mir Beppo später sagte, war es nur ein Zufall, dass er uns geholfen hatte. Schließlich mochte er weder Ekki noch mich; er mochte nicht einmal seine Geschwister wirklich und war nur im FIASKO, um sie anzuschnorren. Beppo hatte nichts für ihn übrig (grundsätzlich), Ursel war weichherziger. Zum Glück hatte die Angst vor diebischen Wackes sie dazu bewegt, den Geldbeutel im Handschuhfach von Beppos Astra zu lassen, was die drei zu uns auf den Parkplatz geführt hatte.

Am Clubeingang stand eine flüsternde Menge, aus der uns die meisten entsetzt anstarrten. Da waren auch vermeintlich coole Punkrocker aus Berlin oder München dabei, und sie glotzten wie Mäuse beim Anblick eines roten Katers. In einer Hinsicht hatten Ossis, sosehr wir sie auch verachteten, recht: Fast alle westdeutschen Punks waren Milchbrötchen – Gymnasiasten, deren Härte nur Schau war. Das galt umso mehr, wenn sie aus Großstädten kamen, dann bestanden ihre Kampferfahrungen darin, ab und an vor Glatzen wegzurennen.

Die Erste, die laut sprach, war Anne:

»Ursel, du musst hier echt mal raus. Hier ist es so drecksasozial wie eh und je.«

»Keine Bullen«, bellte Uwe überflüssigerweise, und Beppo antwortete genervt, die würde hier eh keiner rufen.

Ursels Blick streifte mich wie eine Ohrfeige, bevor er an ihren Brüdern hängen blieb. Aber ihr Gesicht verriet mir nichts.

×××

Die PASTELOGRAM-Show endete erst um drei Uhr morgens. Um sich vom blutigen Grauen Calvusbergs zu erholen, forderten die Angereisten eine Zugabe nach der anderen. Für mich, der drei-, viermal die Woche mit Ursel probte, war es wenig aufregend, ihr beim Spielen zuzuschauen, und ich war dankbar, als das Ganze mit einem Cover (No Class von Reagan Youth) zum Ende kam. Auf einmal wurde mir bewusst, dass das Publikum voller Typen war, die sich für die Gelegenheit, mit Ursel in einer Band zu sein, die Nase hätten abschneiden lassen, und ich fing an, mich besonders uninteressiert zu geben. Ich genoss die heimlichen Blicke: Auch wenn ich die Gewalt nicht gesucht hatte, hatte es sich doch ganz gut gefügt, dass es sie gegeben hatte. Ruhm hat noch niemandem geschadet. Auch dunkler Ruhm nicht. Mein bisschen änderte aber nix daran, dass ich Pirmin und Beppo helfen musste, unseren Kram zurück in den Proberaum zu karren; Ursel hatte sich selbstverständlich schon verpisst.

 

Unser Proberaum befand sich unter dem Hauptbahnhof – auf dessen Vorplatz herrschte trotz des Schnees der normale Betrieb einer ausklingenden Samstagnacht: Zerzauste Dorfschönheiten stöckelten zu Taxis, die sie nach Hause bringen sollten; Nightlife, die nahe gelegene Großraumdisse, war dabei, zu schließen.

»Guck dir die Vögel an«, sagte Beppo. Er meinte zwei Typen, beide Anfang zwanzig, einer im Blaumann, der andere im Sportanzug eines Tischtennisvereins, die zwischen den Gruppen der heimkehrenden Miezen liefen und ihnen Rosen anboten – nicht zum Verkauf, sondern als Geste. Die Mädchen mussten schon zwei- oder dreimal abwinken, damit die beiden aufhörten, ihnen nachzulaufen.

»Was sind das für Affen?«

Pirmin schielte an mir vorbei und sagte, einen von ihnen kenne er.

»Woher?«

»Wie sagt man? Umfeld, Umkreis.«

Wir hatten keine Ahnung, wovon er sprach. Ursel hatte ihn irgendwann angeschleppt – ein großer Blonder, der supergut Bass spielte und mit mittelschwerem russischen Akzent sprach. Er schien außer uns niemanden zu haben, der mit ihm Zeit verbrachte.

Wir fuhren direkt zum ersten Bahnsteig hoch (da sich im Erdgeschoss des Bahnhofs eine Kegelwirtschaft befand, war er teilweise für Fahrzeuge zugänglich), wo die Tür zum »Kerker« war: Unter der Haupthalle reihten sich auf beiden Seiten eines engen, neonbeleuchteten Korridors Proberäume. Unserer war der zweite links.

Beppo und ich froren uns beim Ausladen den Arsch ab. Niemand glaubte fester als Punks, dass leiden musste, wer cool sein wollte, also trugen wir bloß Stoff-Vans und viel zu dünne Jeansjacken. Pirmin ging es gut, er hatte einen Rollkragenpulli und die fieseste Helly Hansen an – aber immerhin war er stark wie ein Ochse: Ursels große Lautsprecherbox schleppte er vor der Hüfte ganz allein die Treppe hinab, dabei wog das Teil um die vierzig Kilo.

Als wir nach der ersten Runde zum Auto zurückkehrten, befanden sich auch die beiden Vögel auf dem Bahnsteig. Sie hatten die Blumensträuße auf den Kartenautomaten gelegt, trotz der Kälte die Pullis ausgezogen und machten Liegestütze. Der Typ im Blaumann war dran, der andere zählte auf Russisch ab: »Semnazat, vosemnazat …«

Als er sah, dass wir Gitarrenkoffer aus dem Astra zogen, winkte er und rief:

»Eeej, Musiker!« Er spielte kurz Luftgitarre, Kinksmäßig über dem Bauchnabel: »Was geht?«

Wir pfiffen durch die Finger, lachten:

»Glück mit den Miezen gehabt?«

»Kannste vergessen, zu kalt! Eeej, Pirmes, alles gut?«

»Hey, Waldi.« Pirmin klang, als wäre ihm die Begegnung ein bissl unangenehm. Das ließen Beppo und ich ihm natürlich nicht durchgehen und piesackten ihn, wie man das so macht:

»Betrunkenen Mädchen im Schneesturm Rosen hinterherwerfen. Ihr Russen habt die Liebe verstanden!«

»Ich bin kein Russe«, antwortete Pirmin mit dem Ernst eines Bestatters (also wie immer). »Ich bin Deutscher.«

Da ich es im Gegensatz zu Beppo durfte, äffte ich ihn nach: »Jeech bin ajne Dajča von där Volga!«

»Meine Vorfahren lassen sich bis zu Bad Dürkheimer Mennoniten aus dem 17. Jahrhundert zurückverfolgen!«, protestierte er.

»Majne Vorrrfahrä sind Mänonita, teta Me-lita sa četvrtog sprata, haha!«

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 2 

Der Hauptbahnhof hinterließ bei Besuchern einen schlechten ersten Eindruck von Calvusberg: Der Vorplatz war eine kahle Asphaltfläche, an deren Nordseite sich gekachelt und vernagelt die Ruine des 1992 aufgegebenen Hertie-Kaufhauses erhob. Die Bahnhofsumgebung war der einzige Teil der Stadt, den die Alliierten bombardiert hatten – die Franzosen hatten Calvusberg zum künftigen Hauptsitz ihrer Besatzungszone auserkoren, ähnlich wie die Amis Heidelberg. Angeblich wurden damals Flugblätter über der Stadt abgeworfen, um die Bevölkerung zu demoralisieren: Euch werden wir verschonen, hier wollen wir wohnen. Und das wollten die Scheiß-Wackes, weil es hier schön war: Calvusberg war eine alte Stadt in der Mitte eines Weinbaugebiets, Fachwerk, Kopfstein, Klinker und Zypressen. Meine Eltern hatten es nicht in einen Altbau mit Vier-Meter-Decken oder eine dieser Winzervillen geschafft, doch immerhin in das großzügige Haus des ehemaligen Gauleiters der Südpfalz – deshalb verbargen zwei Birnbäume die Front.

Es gab einen Trick, unsere Wohnungstür geräuschlos aufzusperren: Man musste sich dagegenstemmen, wenn man den Schlüssel umgedreht hatte, und durfte auf keinen Fall die Klinke drücken, da sie quietschte – unser Linoleumboden auch, darum zog ich die Schuhe immer schon im Windfang aus: Tapp, tapp, tapp ins Zimmer, ins Bett und pennen. Fast hatte ich das Ende des Flurs erreicht, als es hinter mir stereofonisch kicherte. Svrakica und Vranica, meine kleinen Schwestern (und auch noch Zwillinge), beobachteten mich durch den Spalt ihrer Zimmertür. Ich machte ein finsteres Gesicht, ich hob den Zeigefinger an die Lippen, aber die beiden Wanzen hatten mich noch nie gefürchtet:

»Mama, Papa, Sabahudin ist da!

»Er ist da, er ist da!«

Ich hörte meinen Vater im Bett aufschreien: »Ša ba? Đe smo?«

»Sabahudin will in sein Zimmer schleichen!«

»Barfuß, stellt euch das mal vor.«

»Barfuß, Papa!«

»Abartig.«

»Voll pervers.«

»Eklig, der Typ.«

»Und die Jacke hat ein Loch am Ärmel!«

»Wie bei so nem dreckigen Penner.«

»Sabahudin ist ein Penner!«

»Iih!«

»Ej, ihr seid beide so scheiße!«, klagte ich, was sie nur anspornte, mich noch leidenschaftlicher zu verhöhnen:

»Was der zu uns sagt!«

»Hey Mr Wichtig, du tickst ja wohl nicht richtig!«

»Tic Tac Toe? Meine Schwestern hören Tic Tac Toe? Wie kann man schon mit sieben so scheiße sein wie ihr zwei?«

»Selber scheiße!«

»Scheiße sagt man nicht, Mr Wichtig!«

»Ihr seid nicht wirklich meine Schwestern. Die hat Satan gefressen, bevor er euch beide in die Wiegen gekackt hat!«

»Selber Satan!«

»Rede nicht so mit deinen Schwestern, Budo.« Mein Vater schlurfte an mir vorbei in die Küche und machte die Neonleuchte über der Spüle an. Wie immer knackte es dreimal, bevor sie losglühte, dies mit einem sehr lauten, flatternden Summen, br-br-brzzzzz! Da sich mein Zimmer direkt gegenüber der Küche befand, musste ich nie den Wecker stellen. Sie hatte, genau wie das Pyjama meines Vaters, wie die Kaffeemaschine, die er anschaltete, wie der Esstisch, an den wir uns daraufhin setzten, wie überhaupt der Großteil unserer Einrichtung, ursprünglich anderen gehört: Toten. Meine Eltern betrieben nämlich eine Entrümpelungsfirma. Vor zwei Jahren hatten sie sich einen Traum erfüllt und einen Trödelladen eröffnet, in dem sie einen Teil ihrer Funde verkauften. Sie sprachen stolz vom »Antiquariat«, und ich vermutete, er wäre sogar als ein solches durchgegangen. Im Gegensatz zu den ganzen Schimmelkellern, in denen Entrümpelungsfirmen üblicherweise Waren anboten, gab es bei Mutter und Vater keine Kartons voller nackter Barbies, sondern ausschließlich schicken alten Kram: Freischwingersessel, Tiffanylampen und Röhrenradios, alles von den beiden selbst restauriert. Die ganzen Lehrer, Ärzte und Ökos Calvusbergs liebten uns dermaßen, dass wir inzwischen ganz darauf verzichten konnten, auf Flohmärkten zu verkaufen. Meine Eltern besaßen halt jenen unermüdlichen Fleiß, den man sich nur im Kommunismus aneignen konnte – um nach dessen Zusammenbruch in der richtigen Welt erfolgreich zu sein. Der Grund, wieso mein älterer Bruder am Heidelberger Universitätsklinikum Herzen operierte, während ich nur »blödes Zeug machen und schlafen« wollte, bestand laut meinem Vater darin, dass Ljuba im Unterschied zu mir noch Jungpionier gewesen war. Ich war ja erst zwei, als wir nach Deutschland kamen. Svrakica und Vranica, die hier geboren waren, bestätigten seine Vermutung: Die beiden Gulli-Kröten zockten den ganzen Tag nur Wipeout auf der Playsi und ließen dazu CDs laufen, auf denen Schlümpfe irgendwelche Lieder nachsangen. Kein Wunder also, dass sie in der ersten Klasse hocken geblieben waren. Beide – in der ersten Klasse! Wie ging das überhaupt?

»Stehst du jetzt schon auf?«, fragte ich meinen Vater.

»Scheunenräumung in Speyerbrunn.«

»Geht Mama mit?«

»Mama geht ins Antiquariat.«

Er blickte auf die Uhr (es war kurz nach fünf) und sagte, ich solle mich noch ein bissl hinlegen. Da mein Körper jedoch inzwischen sein Hormontief überwunden hatte, war ich wieder hellwach und hibbelig.

»Kann nicht, bin zu aufgedreht!«

»Wegen eurem Konzert?«

»Wir waren richtig gut!« Das zusätzliche Abenteuer auf dem Parkplatz verschwieg ich – meine Eltern fanden nichts schlimmer als Kloppereien. »Richtig gut.«

»Daran habe ich keine Zweifel«, sagte er und verlor dann, wie üblich, den Bezug zum eigentlichen Thema sowie jegliches Maß: »Nichts ist aufregender, als dabei zu sein, wenn etwas Neues auf die Welt kommt. Früher, da haben die Männer gesagt, man solle nicht bei der Geburt seiner Kinder anwesend sein, danach würde man Intimitäten scheuen. Ich habs trotzdem gemacht.«

»Warst du auch bei unserer Geburt dabei?«, fragte Svrakica und kletterte auf seinen Schoß; ihre Schwester strullerte bei offener Klotür.

»Selbstverständlich war ich das.«

»Wer von uns kam zuerst?«

»Ihr kamt Hand in Hand.«

»Jawohl!«, jubelte Svrakica.

»Das waren meine echten Schwestern«, warf ich ein. »Dich und die andere da hat Satan …«

»Psscht, was redest du da?«, unterbrach mich mein Vater und küsste den kleinen Lemuren auf den Scheitel. »Ich kenne doch meine Töchter.« Svrakica streckte mir die Zunge raus. »Ich war bei eurer Geburt dabei, und es war – wie soll ich es sagen? Du siehst, was da passiert! Was es heißt, auf diese Welt zu kommen. Was es heißt, ein Mensch zu sein!«

»Wo habe ich mir nur diesen Schwätzer angelacht?«, hörte ich meine Mutter im Flur sagen, dann maßregelte sie Vranica wegen der offenen Klotür; die Kleine antwortete, dass sie doch hören wolle, worüber wir redeten.

»Es war wundervoll!«, schwärmte mein Vater.

»War es nicht!« Meine Mutter steckte den Kopf in die Küche. »Wie er daherredet – dich würde ich gerne mal gebären sehen, du Dichter …« Ein sehr lauter Furz – eigentlich zu laut, um vom Körper einer Siebenjährigen hervorgebracht zu werden – unterbrach ihre Ansprache. »Veronika!«

»Ha ha, ich habe gefurzt!«

Die niedliche Idiotin kam aus dem Flur herangewatschelt und versuchte, mir auf den Schoß zu klettern. Sie blieb auf halbem Weg hängen, ließ die Füße baumeln und lag bäuchlings auf meinen Oberschenkeln – so werde sie jetzt schlafen, hörte ich sie flüstern.

 

Wir nippten den Kaffee fertig, dann spülte ich die Tassen aus und jammerte: Todmüde sei ich, aber hellwach, ich hätte Kopfweh, ich wisse nicht, was mit mir los sei.

»Selber schuld«, antwortete mein Vater und die Zwillinge zwitscherten es ihm nach: »Ja, Budo, bist selber schuld, du hässlicher Affe!«

»Du könntest halt auch mal rechtzeitig ins Bett. Niemand zwingt dich, dich nachts mit dieser bagra rumzutreiben.« Auch wenn es meinem Vater gefiel, dass ich etwas »Künstlerisches« tat, konnte er mit Ursel und Beppo wenig anfangen. Meine Eltern ließen mir und meinen Schwestern jedoch alles durchgehen, weil sie ihre gesamte Strenge für meinen älteren Bruder verbraucht hatten: Er hatte sich immer wie ein Depp anziehen müssen, er hatte nie bei Freunden übernachten dürfen, hatte ohne Ausnahme um einundzwanzig Uhr zu Hause zu sein, und wenn ihn mal ein Mädchen besucht hatte, hatte die Zimmertür offen bleiben müssen. Darum hatte ich als Kind ziemlichen Bammel davor, dass meine eigene Jugend auch so aussehen würde – Regeln ohne Ende, Verbote überall! Aber meine Eltern hatten keine Patronen mehr. Wie sich herausstellte, waren sie nicht einmal von Natur aus streng. Es schien sie alle Kraft gekostet zu haben, ihre Unerbittlichkeit Ljubomir gegenüber aufrechtzuerhalten, denn als ich mit Eiter und Erektionen dran war, interessierten sie sich kaum dafür, was ich anstellte, leistete, versäumte, vergaß, zerbrach. Lieber versuchten sie, meine Neigungen zu fördern. Irgendwann kam ich von der Schule, und da lag eine alte taubenblaue Fender Mustang auf meinem Bett. Mein Vater hatte sie bei einer Haushaltsauflösung für mich sichergestellt, ebenso wie den Music-Man-Verstärker, der mich etwas später auf dem Schreibtisch erwartete.

Es war ein komisches Gefühl, ernst genommen zu werden, wenn man sich nicht sicher war, ob man es verdiente.

×××

Ich versuchte, wach zu bleiben, und quälte mich bis zum frühen Vormittag. Auf 3Sat lief so ein italienischer Schwarz-Weiß-Film, den ich schauen wollte, von dem ich aber nichts mitbekam, weil ich alle paar Minuten einnickte. Schließlich wurde es mir zu eklig, und ich kroch ins Bett. Als ich kurz vor sechs aufwachte, fühlte ich mich dann, wie man sich halt fühlt, wenn man in Straßenklamotten gepennt hat: wie Mundgeruch auf Beinen. Also duschte ich, rasierte mich, knetete mir ein Kilo Nu-Nile in die Haare (die ich bald wieder blondieren lassen musste – der schwarze Ansatz biss wie Sau) und kämmte und föhnte, bis die Tolle stand.

Ich sah dennoch aus wie ausgekotzt. Selbst unter besten Bedingungen tat ich mich schwer damit, mich so zurechtzumachen, dass ich mir gefiel. Ich zog den alten Creamers-Pulli an und hätte ihn zu meiner engsten Jeans gut gefunden, diese lag und stank aber im Wäschekorb. Ich zog den Negative-Approach-Zipper an und musste mir endlich eingestehen, dass er mir viel zu groß war. Ich zog die hohen weißen Vans an und fand, dass sie wie eine Mischung aus Clownsschuh und Gipsfuß aussahen. Und sie bogen sich auch noch an der Spitze hoch, wie so ein dreckshässlicher Entenschnabel. Dann doch lieber Half-Cabs.

Um halb acht war ich einigermaßen fertig (aber nicht zufrieden), da kam auch schon Beppo vorbei, er wollte mich zur Probe abholen. Svrakica und Vranica, die verrückt nach ihm waren, zogen ihn in ihr Zimmer, um ihm ihre neue Wipeout-Bestzeit zu zeigen.

»Wo ist deine Schwester?«, fragte ihn Svrakica, und noch bevor er antworten konnte, quakte die andere:

»Kannst du nicht auch unser Bruder sein?«

»Ihr habt doch schon zwei.« Er setzte sich auf den Fußboden und ließ zu, dass eine der beiden Trottelinen die Pins auf seiner Jeansjacke befummelte.

Vranica, beschäftigt damit, die Playstation an den Fernseher anzuschließen (das konnten sie – das Einmaleins aber nicht!), sprach seltsam erwachsen und ohne sich umzudrehen:

»Weißt du, was der Budo ist?«

»Was bin ich denn, du Arschpickel?«

»Der Budo ist ein hässlicher Kater!« Diese Beschimpfung war so goldig, dass mir meine leidtat. »Ein ganz hässlicher roter Kater.«

»Ich mag ihn trotzdem«, sagte Beppo. »Ein bissl hässlich ist er, aber voll der gute Kumpel. Und ihr müsstet mal meinen Bruder sehen, der ist nämlich ein richtig hässlicher Kater.«

»Welche Farbe?«, fragte Svrakica.

»Braun.«

 

Meine Eltern erwiderten mein »Biće kasno!« mit »Pamet u glavu!«. Beppo hatte halb auf dem Gehweg vor unserem Haus geparkt, und ich wollte die Beifahrertür öffnen, sah dort aber seine Freundin Valerie sitzen. An manchen Tagen hing sie bei uns im Proberaum ab. Sie klopfte zum Gruß gegen die Scheibe, ein Glimmen zwischen dem Ring- und Mittelfinger, denn sie quarzte was. Natürlich quarzte sie was.

Im Astra stank es so krass nach Gras, dass es selbst Beppo störte.

»Hab dich mal nicht so.«

Ich wusste nicht, ob sie belustigt oder genervt war. Valerie war schon zweiundzwanzig und gammelte seit dem Abitur bei ihren Eltern rum, eine gelangweilte Tagediebin, die in letzter Zeit halbherzig mit dem Gedanken spielte, ein freiwilliges soziales Jahr zu machen. Ihre Familie war einigermaßen wohlhabend (Valerie hatte keins der Calvusberger Gymnasien besucht, sondern ein Internat irgendwo in Norddeutschland) und bestand ausschließlich aus jener Sorte »Idioten, die drum streiten, wer die Kulturbeilage der Süddeutschen als Erster lesen darf« – auch wenn meine Eltern keine deutschen Zeitungen kauften, sondern ausschließlich die Oslobođenje (wenn wir probten, brachte ich sie aus der Bahnhofsbuchhandlung mit), wusste ich ungefähr, was Valerie meinte.

Aber irgendwie war sie trotz allem an Beppo hängen geblieben, der genau wie Ursel und Uwe, genau wie eigentlich alle Mitglieder der Malocherfamilie Spitz, Tagediebe verachtete.

Komische Kiste.

×××

Da es Sonntagabend war, parkten wir wieder auf dem Bahnsteig vor der Kerkertür, wo Ursel und Pirmin bereits auf uns warteten. Durch die Bodengitter hörten wir das Scheppern von Schlagzeugbecken, dazwischen dröhnte eine Gitarre, ziemlich scheiße das Ganze.

»Sind sie immer noch nicht fertig?«, fragte ich.

»Gino hat gefragt, ob sie noch ne Viertelstunde haben können.« Ursel stampfte ein paarmal aufs Bodengitter, um ihn wissen zu lassen, dass diese inzwischen rum war.

Die Band, die sonntags immer vor uns probte, hieß MUSCLE CARVAGGIOund war genauso käsig wie der Name. Die Brüder Guzzoni hatten sie gegründet, Punkrocker aus Ursels Jahrgang und mit ihr die Letzten aus der »großen Clique«, die noch in Calvusberg lebten. Im Gegensatz zu Ursel hatten sie es mit ihren Bands nie rausgeschafft – ab und zu mal ein Konzert in Tübingen oder Bielefeld, mehr nicht. Der Rest von MUSCLE CARVAGGIO waren irgendwelche Badenser aus Karlsruhe und Ettlingen. So tief musste man erst mal sinken.

Die Guzzonis waren Zwillinge, aber keine eineiigen. Während sich meine Schwestern wie Reiskörner glichen, waren diese beiden vollkommen unterschiedlich. Gino entsprach dem Bild, das Deutsche von Italienern hatten: Er war liebenswürdig und gut aussehend, jemand, der auch ohne Parfüm gut roch. Massi hingegen war so, wie wir vom Balkan uns Italiener vorstellten: Klein, hinterfotzig, lästig und immer kurz vor einer Frechheit, die ihn Zähne kosten würde. Klar laberte er Beppo und mich wegen der gestrigen Schlägerei zu:

»Krass, richtig krass, schon geil.« Er sagte es mit der Aufdringlichkeit von einem, der Gewalt zwar fürchtete, aber auch geil fand. Obwohl sie Musik hörten, in der es oft darum ging, war es unter den Calvusberger Punks aus Ursels Generation keineswegs normal, dass man sich fetzte. Für Beppo und mich schon. Unsere älteren Brüder, Uwe und Ljubomir, hatten uns gezeigt, wie wirksam sich Ehre mit Gewalt verteidigen oder einfordern ließ. Aber vielleicht hatten wir es uns gar nicht von ihnen abschauen müssen, vielleicht lag es einfach im Blut der Familien Spitz und Hadžijalijagić – wobei das eigentlich nicht sein konnte, denn Gerd Spitz und Ismet Hadžijalijagić waren sanfte, friedfertige Männer. Woher auch immer es kam – Beppo und ich waren jedenfalls schon ein bissl halbstark. Die Brüder Guzzoni ärgerten sich, wenn irgendein Szenewichser aus Hamburg etwas Abfälliges über ihre Klamotten sagte. Beppo und ich verdroschen ihn. Außerhalb Calvusbergs hielt man uns oft für Brüder. Dass wir uns beide die Haare blondierten und zu Tollen kämmten, lenkte davon ab, wie unterschiedlich unsere Gesichter waren: Meins war eckig, lang und endete mit einem spitzen Kinn, Beppos war groß, offen und voller Grübchen. Aber wir waren beide fast 1,90 und ein bissl muskulös, ich, weil ich gerungen hatte, und Beppo, weil er körperlich arbeitete. Da manche Klischees über Länder wohl stimmten, waren die Guzzonis gut anderthalb Köpfe kürzer als wir und ziemliche Salzstangen.

»Hättest ja helfen können, als es rundging«, sagte ich zu Massi, und Beppo lachte verächtlich. »Nur darüber reden bringt nix, lieber Massimo.«

Dieser Hanswurst machte mich traurig.

»Alles, was die machen, macht mich traurig«, sagte Ursel später, als die Brüder endlich gegangen waren. »Was soll das jetzt für Scheißmusik sein? Shellac für Knetschüler?«

Sie zog ihren Kapuzenpullover aus, das Lazy-Cowgirls-Shirt ging mit, und für einen Augenblick sah ich ihren Bauchnabel – eine Wölbung auf weißer Fläche, daneben das Pünktchen eines Muttermals.

»Was ist? Du guckst«, sagte sie.

»Coole Schuhe.« Zum Glück war mir aufgefallen, dass sie ein paar Puffmutter-Creeper trug, schwarz und mit Zebrafell-Imitat auf der Oberseite. Mein Blick war zwar woandershin gerichtet gewesen, doch die Ausrede schien zu langen.

»Hab ich von Anne bekommen. Sie meint, ich soll auch nach Köln, da gäbs so was an jeder Ecke. Gäb auch violette und welche in Knatscherot.«

»Köln ist schon geil«, sagte Valerie, ohne von der Kippe aufzublicken, die sie sich gerade drehte.

 

Ursel war ein ziemlicher Band-Hitler, und dass am nächsten Wochenende zwei Konzerte anstanden, machte sie sogar noch tyrannischer als sonst.

»Nicht auf die eins, aufs UND!«, bellte sie. »Ihr zwä macht mich verrückt! Wieso kommt ihr auf die eins, obwohl ich es euch wieder und wieder und wieder sage? Ihr werdet mich nicht in Potsdam blamieren!« Das Letzte knurrte sie durch die Zähne und sah kurz aus wie ihr schrecklicher Bruder Uwe!

Am Freitagabend stand erst einmal ein Konzert in einem besetzten Haus in einem Kaff zwischen Aue und Schwarzenberg an und am Tag darauf Potsdam: in der Nähe Berlins, mit ausländischen Bands, im ruhmreichen Hindi, einem »autonomen Wohnprojekt«, das seit fast zehn Jahren in Besetzung gehalten wurde (und mit dessen Namen man laut Zines keine bösen Wortspiele betreiben durfte – sonst Plenum!). Ursel hatte Kontakte aus PASTELOGRAM-Zeiten bemüht, um uns da reinzubringen, doch Potsdam war immer noch im Osten und alles andere als Berlin oder Hamburg. Dort würden wir erst spielen, wenn Ursel uns hundertprozentig vertraute. »Uns« bedeutete dabei: Beppo und mir. Pirmin war voll die Maschine am Bass.

Ursel legte ihre Gitarre (eine schick abgefuckte cremeweiße SG mit goldener Mechanik) ab, um Beppo zu zeigen, wie er die Taschentücher auf die Snare zu kleben hatte. Sie ließ ihn ein paarmal schlagen und schüttelte den Kopf:

»Mach noch enns druff, das scheppert mir zu arg nach.«

Wenn wir probten, sprach sie mit uns grundsätzlich von oben herab, wie eine Veteranin mit Rekruten. Immerhin beschränkte sich das inzwischen auf die Proben. Früher, so in der Zeit, als Beppo und ich grad dabei waren, Punkrocker zu werden und ihr deswegen wie zwei Welpen hinterherrannten, da war sie supergemein zu uns, auch gerne vor anderen. So richtig, richtig fies und arrogant.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 3 

Ich verbrachte die Schulwoche, wie immer, in gelangweilter Erwartung der letzten Klingel. Gott sei Dank war es das letzte Schuljahr. Obwohl ich meine Mitschüler seit der Fünften kannte, waren sie mir komplett fremd. Ich konnte mir noch gar nicht vorstellen, wie mein Leben aussehen würde, wenn nicht der halbe Tag diesem Scheißdreck anheimfiel.