Die Zeitgene - Christian Manhart - E-Book

Die Zeitgene E-Book

Christian Manhart

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Beschreibung

Die Fortsetzung der Geschichte des Molekularbiologen Prof. Dr. Johann Baptist Schellberg. Kaum aus dem Koma erwacht, stürzt er sich in ein neues Projekt. Er vermutet hinter den zahlreichen Pseudogenen, versteckte Funktionen, die sogenannten Zeitgene. Mit ihnen hofft er eine Art Zukunftsgedächtnis aktivieren zu können. Sein Forscherdrang lässt ihn dabei alle Gefahren und Nebenwirkungen ignorieren. Der Selbstversuch hat fatale Folgen. Er beginnt Visionen zu empfangen und fühlt sich bedroht. Karin Grodberg die ihn mit dem genetisch verkleinerten Winston begleitet, unterstellt er Verrat. Es beginnt eine regelrechte Jagd um den halben Globus. Hinweis: Um die Handlung zu verstehen ist es notwendig 'Reduktion - Der Mensch muss kleiner werden!' gelesen zu haben.

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Der Autor:

Jahrgang 1958, lebt seit Jahren mit seiner Familie in München. In seinem Hauptberuf Elektronik hat er jahrelang Handbücher und detaillierte illustrierte Reparaturanleitungen verfasst. Zuletzt arbeitete er als gefragter Ideengeber für komplizierte elektronische Anlagen und Prozesse. Einige beachtliche Comicbücher und Kurzgeschichten zählen zu seinem Portfolio.

Die rasante technische Entwicklung der Neuzeit faszinierte den Autor seit langem. Die unglaublichen Fähigkeiten der Menschen auf sich und ihrer Umwelt Einfluss zu nehmen gleichermaßen.

Noch verbieten es Hemmschwellen den Menschen grundlegend zu verändern. Aber Wissenschaftler sind dem Altern und der Lebenszeit auf der Spur. Einige Bücher die sich mit diesen Themen beschäftigen, sind bereits von diesem Autor erschienen und als Paperback und Ebook erhältlich.

München, 2011

Professor Dr. Johann Baptist Schellberg

Die

Zeitgene

Ein Roman

von

Christian Manhart

Impressum:

Die Zeitgene

Christian Manhart

Copyright : © 2011 Christian Manhart

published by epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-1397-3

Kapitel 1

Vorwort

Dies ist der zweite Teil der Geschichte die von den Forschungen des Professor Dr. Johann Baptist Schellberg erzählt. Im ersten Teil wurde er von Dr. Timmen durch Schüsse schwerverletzt. Nur knapp hatte Johann die anschließende Brandkatastrophe überlebt. Beide Beine mussten ihm anschließend amputiert werden. Er lag sechs Monate lang in einem komaähnlichen Schlaf. Kaum erwacht, hat er jedoch hochtrabende Pläne. Er möchte die vielen ungenutzten Gene des Menschen erforschen. Er vermutet hinter den zahlreichen, dieser so genannten Pseudogene, eine umfangreiche und komplexe Funktion, die bei entsprechender Aktivierung, eine Art Zukunftsgedächtnis ermöglichen soll.

Karin, die einzige Überlebende der Familie Grodberg, welche im ersten Buch die verkleinerte Katze gefunden hatte, besuchte ihn während des Komas regelmäßig. Sie hatte neben Johann, auch Winston, ein genetisch stark verkleinertes Baby gerettet.

Winston dürfte der kleinste lebende Mensch der Welt sein. Seine prognostizierte Körpergröße die er als Erwachsener erreichen könnte, dürfte kaum die fünfzig Zentimeter übersteigen. Doch Winston leidet immer noch an irreparablen Anomalien, wie viel zu kleine Augen und einer verkümmerten Zunge.

Klaus Timmen, der Chef von Prometheus, litt immer noch stark unter dem Verlust seiner Mutter Carol. Doch seine Geschäfte entwickelten sich weiterhin prächtig. Niemand war bisher auf die Idee gekommen und ihn für das grausame Unglück, das er verursacht hatte, verantwortlich gemacht.

Vieles lässt sich heute von uns beeinflussen und präzise steuern. Der Mensch ist in Bereiche vorgedrungen, die sich unvorstellbar klein und kompliziert darstellen. Die kompletten Baupläne der Lebewesen wurden bereits entschlüsselt, katalogisiert, definiert und für alle nutzbar gemacht. Wir wissen bereits mehr als einem großen Teil uns manchmal lieb ist. Zuviel vielleicht?

Aber manches bleibt uns wohl für immer verschlossen.

Das ist zum Beispiel die Zeit. Die Zeit ist eine feste Größe. Unabänderbar, ständig fortschreitend, durch nichts und niemanden auf zu halten. Oder doch?

Jeder von uns kennt das Paradoxon der Zeitreisenden. Der Zeitreisende tötet seinen eigenen Großvater und vernichtet damit den Ursprung seiner eigenen Existenz. Zeitreisen die in die Vergangenheit führen, um dort Änderungen vorzunehmen, werden auch in Zukunft unmöglich sein. Obwohl so viele Menschen davon träumen. Unzählige Bücher sind darüber verfasst worden. Das Gleiche gilt für Reisen in die Zukunft. So weit ist das natürlich jedem bekannt.

Aber was, wenn es noch andere, sagen wir natürliche Wege geben würde, in die Abläufe der Zeit einzudringen. Wege und Optionen die nicht so ohne weiteres in unsere Vorstellung von der Zeit passen würden. Natürlich nicht, um sie zu verändern. Aber sie zu beobachten, vorher zu sehen. Zu erkennen was passieren wird. Unser Gehirn, unsere Sinnesorgane sind unter gewissen Umständen in der Lage, Eindrücke und Erlebnisse aus der Vergangenheit und der Zukunft plastischer darzustellen, als wir das bisher kennen. Wenn man nur die richtigen Gene dafür zum Leben erwecken würde.

Johann Schellberg, frisch erwacht aus dem Koma, ist es während seines sechsmonatigen Komatraumes klar geworden. Es muss diese Sinnesorgane für die Zeit geben. Wir haben alle ein Gedächtnis. Auch Tiere und Pflanzen verfügen über ein Gedächtnis. Das heißt Zeitabläufe, Geschehenes wird automatisch gespeichert und können jederzeit wieder abgerufen werden. Aber unser Erinnerungsvermögen zeigte mitunter große Lücken. Während bei manchen dressierten Tieren die Erinnerungen ein Bestandteil ihrer Dressur sind. Sie haben sich Abläufe gemerkt und können sie jederzeit nutzen. Wir Menschen tun uns viel schwerer mit der Einordnung von Erlebnissen. Sie prägen uns nicht immer. Im Gegenteil: Psychologen versuchen mit allerlei Tricks schlechte, belastende Erlebnisse auszublenden. Kriegs- und Unfallopfer, Opfer von Vergewaltigungen und Gewaltverbrechen würden sonst ein Leben lang unter den Erinnerungen leiden. Vielleicht gibt es sogar Gene die uns in der Bewältigung von Erinnerungen helfen könnten?

Aber etwas Wichtigeres als die Vergangenheit stellt für uns eindeutig die Zukunft dar. Sie macht uns unendlich neugierig. Wie verhält es sich mit der Zeit die vor uns liegt? Warum können wir sie nicht sehen, erahnen oder spüren?

Johann glaubt zu wissen warum.

Die Natur hatte diese Funktion ursprünglich vorgesehen, sie aber nicht genutzt, weil sie sich als total unpraktisch erwiesen hatte. Die Lebewesen würden sich bei der Nutzung unablässig vor der Zukunft fürchten. Die Natur würde in eine Art Schockstarre verfallen. Die notwendige Entwicklung und Evolution würde gestoppt werden. Wenn alle wüssten, was vor ihnen liegt, wie ihr Tun und das der anderen enden wird, niemand würde mehr etwas unternehmen. Raubtiere würden erfolglose Jagden von vornherein gar nicht erst unternehmen. Beutetiere ließen sich nur noch bei einwandfreier Gefahrenlage blicken. Die Lebewesen würden ihr gesamtes Dasein unablässig in Frage stellen. Es wäre ein endloses Taktieren von Beute und Raubtieren.

Deshalb ist der Blick in die Zukunft nur für einzelne ausgewählte Wesen oder Personen aus einer Spezies eine echte sinnvolle Bereicherung. Sie könnten als eine Art Beschützer einer bedrohten Art dienen.

Welche Zusammenhänge gibt es in unserem Gehirn, wenn jemand Fähigkeiten besitzt in die Zukunft zu blicken? Bei Untersuchungen von Tieren wurden bisher keine besonderen auffälligen Abnormitäten gefunden. Wenn es denn solche Fähigkeiten tatsächlich geben sollte, wie wird die Zukunft im Gehirn wahrgenommen und analysiert? Oder ist alles nur Einbildung, kein realer Sinneseindruck.

Aber bisher war noch kein Forscher in der Lage das Geheimnis zu entschlüsseln, warum Tiere Gefahren schon im Voraus wittern konnten. Immer wieder wurde angeführt, bei Tieren würden durch Veränderungen der Luft, des Luftdruckes feine Änderungen der Temperatur, Vibrationen der Erde, ihr Fluchtreflex ausgelöst. Doch inzwischen verfügten wir Menschen über noch viel feinere Messverfahren. Müssten wir nicht über weitaus bessere Warnsysteme verfügen wie die Tierwelt? Warum spürten die Menschen die Gefahren durch Erdbeben, Tsunamis oder Feuersbrünsten nicht? Wo sind unsere feinen Antennen für derartige Gefahren geblieben?

Johann war sich sicher, dass es eine ganze Reihe von Genen gab, die verborgene und ruhende Funktionen in so komplexen und leistungsfähigen Gehirnen wie sie die Säugetiere besitzen, aktivieren können. Auf diese Idee, dass es genetische Grundlagen geben könnte war seines Wissens bisher noch niemand gekommen. In der Vergangenheit hatte man auch noch keinen der erklärten Seher oder Wahrsager untersuchen, geschweige denn sein Genmaterial analysieren können.

Johann war erwiesenermaßen kein weltfremder Spinner. Natürlich war die Idee alle Menschen zu verkleinern in gewisser Weise verrückt und anmaßend. Aber es war möglich. Das Versuchsbaby Winston erinnerte ihn jeden Tag daran.

In die Zukunft blicken zu können, war ein wiederum ein äußerst reizvoller Gedanke. Immer wieder erinnerte er sich an die langen, fast endlos wirkenden Träume während seines Komas. Es gab in der Vergangenheit eine Unmenge von so genannten Sehern, Propheten und Wahrsagern. Woher und wie hatten sie ihr Wissen bezogen? Hatten sie vielleicht die richtigen Gene dafür?

Johann hatte es sich in den Kopf gesetzt diese Fragen zu beantworten und wissenschaftlich nachzuweisen, dass alle Lebewesen grundsätzlich dafür vorbereitet waren, in die Zukunft zu blicken. An diesem Projekt, dürften auch keine moralischen Bedenken aufkommen. Denn das Aktivieren von Genen, ist nicht gleichzusetzen mit Veränderungen und Eingriffen in die bestehende genetische Programmierung. Sie ist lediglich eine Erweiterung.

Kapitel 2

Neuanfang

Im Schwesternzimmer blinkte aufgeregt das Lämpchen von Zimmer 4. In Zimmer 4 lag seit fast einem halben Jahr der Komapatient Professor Schellberg mit den amputierten Beinen. Ungläubig setzte Schwester Manuela ihre Kaffeetasse auf den Tisch. Sollte er...?

Sie stand auf und nahm vorsichtshalber ihren Piepser mit. Ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden, wippten, als sie im Laufschritt zu Zimmer 4 lief. Routinemäßig klopfte sie an der Tür und öffnete sie einen Spalt. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie Johann aufrecht im Bett sitzen sah. Sie drückte automatisch den Knopf auf ihrem Piepser. Der Stationsarzt wurde dadurch alarmiert.

„Dr. Schellberg? Hallo? Wie geht es ihnen?“

In Windeseile war sie an sein Bett geeilt und hielt ihn an der Schulter fest. Empört sah er sie an.

„Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Was ist mit meinen Beinen passiert? Was soll das mit den Schläuchen?“

Manuela drückte ihn sanft zurück in die liegende Position.

„Lehnen Sie sich bitte wieder zurück. Der Doktor kommt sofort. Bitte bleiben Sie ruhig liegen.“

Sie stellte an einem seitlich angebrachten Hebel die Lehne so hoch, dass sich Johann in einer bequemen halbsitzenden Stellung anlehnen konnte. Hinter ihr kam der Diensthabende Arzt Dr. Orter zur Tür herein.

„Na, das ist ja mal eine Überraschung. Herr Dr. Schellberg. Sie sind wach, das freut uns sehr, nicht wahr Manuela?“

Dr. Orter machte sich sogleich an eine Untersuchung von Johann. Doch Johann hatte anderes im Sinn als sich einer neurologischen Untersuchung zu unterziehen. Er wollte schleunigst die lästigen Schläuche loswerden. Gleichzeitig war ihm an einer Aufklärung über die Umstände gelegen, die ihn in diese Lage gebracht haben. In den letzten Minuten dämmerte ihm langsam, dass er wohl eine längere Zwangspause genommen hatte. Er musste unbedingt alles über sich erfahren. Abwechselnd musterte er den Arzt und die Schwester.

„Dr. Orter, hätten Sie bitte die Güte und befreien mich von diesen Infusionsschläuchen und vor allem diesem Katheder. Das ist sehr ...unangenehm.“

„Natürlich, Schwester Manuela...“

„Ähh, also ich...“

„Herr Dr. Schellberg, Schwester Manuela macht so etwas nicht zum ersten Mal. Haben Sie nur Vertrauen.“

Schwester Manuela hatte inzwischen einen Rolltisch herangefahren auf dem alles Notwendige bereit lag. Die Prozedur dauerte nur wenige Minuten. Dr. Orter erklärte sich bereit mit Johann in die Cafeteria zu fahren und mit ihm etwas zu trinken. Dabei konnte er ihm das Unglück, welches zum Verlust seiner Beine führte, näher erörtern. Johann durfte nur Wasser trinken. Geschockt reagierte er auf die Nachricht, sechs Monate im Koma gelegen zu haben.

„Sechs Monate! Ich habe sechs Monate im Koma gelegen? Mein Gott. Und meine Beine. Wer hat mir meine Beine abgeschnitten? Ich muss alles darüber wissen. Jetzt gleich sofort. Los fangen Sie schon an!“

„Warten Sie doch ab, ich erzähle ihnen alles was ich über ihren Unfall weiß.

Also, Sie arbeiteten in ihrem Institut in Tübingen und an jenem Unglückstag gab es einen terroristischen Überfall auf Sie und ihre Mitarbeiter. Es waren international operierende Wirtschaftsterroristen. Sie wurden dabei mehrmals angeschossen. In die Arme und die Beine. Die Narben an ihren Armen sind die Andenken daran. Man konnte Sie in allerletzter Sekunde retten. Das Gebäude wurde mit dem Brandbeschleuniger von schätzungsweise 5000 Liter flüssigem Brennstoff regelrecht eingeäschert. Die Feuerwehr war völlig machtlos. Soweit bekannt wurde, gab es außer ihnen keine Überlebenden. Das Inventar und Laboreinrichtung waren nur noch Asche. Bedauerlicherweise natürlich auch die gesamte Forschung. ...Tut mir leid für Sie.

Sie hatten bei dem Anschlag sehr viel Blut verloren. Man verlegte Sie umgehend hierher ans Klinikum Würzburg. Bedingt durch den Blutverlust und die schweren Gewebeverletzungen blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als die zerfetzten Gliedmaßen zu amputieren.“

„Alles vernichtet? Meine gesamte Arbeit? Ein Terrorakt? Ich versteh das nicht.“

„An was können Sie sich den erinnern? Wo waren Sie, als man auf Sie geschossen hatte?“

„Ich habe momentan keine Ahnung. Die Erinnerung daran fehlt mir vollständig. Vielleicht fällt mir ja in ein paar Tagen etwas ein.“

„Unter Umständen kann ihnen ihre Freundin weiterhelfen. Sie wird bald kommen. Sie besucht Sie fast täglich. Ihr kleiner Sohn wird Sie bestimmt auf andere Gedanken bringen, glauben Sie mir.“

„Mein Sohn?“

Johann blieb der Mund offen stehen. Sein Sohn? Wie sollte er zu einem Sohn kommen? Eine Freundin hatte er auch noch. Was war alles geschehen? Johann hatte keine Erinnerung. Nichts. Ja, das Institut und die Forschung, das wusste er alles noch. Aber die Geschehnisse vor dem Unfall waren wie weggeblasen.

„Dr. Schellberg? Alles in Ordnung?“

„Ja, ja, ich habe nur nachgedacht. Es ist alles so weit weg. Ich werde eine Zeit lang nachdenken müssen. Ich danke ihnen. Bringen sie mich jetzt bitte in mein Zimmer zurück. Wann kann ich entlassen werden? Spricht etwas dagegen, wenn ich sie mich bevorzugt behandeln, damit ich so rasch als möglich wieder arbeiten kann?“

„Nein, prinzipiell keineswegs. Ihre Verletzungen sind weitgehend ausgeheilt. Aber ohne gründliche Neurologische Untersuchungen und eine mehrwöchige Rehabilitation kann ich sie nicht gehen lassen. Ich würde ihnen aber dringend dazu raten, anschließend noch ein paar Tage länger zu bleiben. Sie sollten auch nicht unterschätzen, dass sich ihre Muskulatur durch das monatelange Liegen stark zurückgebildet hat. Das wird Sie am Anfang sehr viel Kraft kosten. Ein paar Aufbauübungen mit unseren Physiotherapeuten können da Wunder bewirken. Aber überlegen Sie es sich. Es hat keine Eile. “

Johann blickte nach unten auf seine Beinstümpfe. Sie ragten unbedeckt unter seinem Krankenhausnachthemd hervor.

„Wenn Sie möchten, dass wir Sie noch auf ihr Leben mit dieser Behinderung vorbereiten, sind wir gerne bereit dazu. Es wird leichter für Sie werden als Sie denken. Später, wenn sich ihre Muskulatur komplett erholt und regeneriert hat, sind auch Vollprothesen möglich. Sie könnten damit fast so laufen wie ein Gesunder. Dementsprechendes Training vorausgesetzt.“

„Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Aber Sie müssen wissen, ich habe viel zu tun. Ein neues sehr wichtiges Forschungsprojekt wartet bereits auf mich. Ich habe sechs wichtige Monate meines Lebens verloren.“

Nun war Dr. Orter einigermaßen irritiert. Der Mann war vor einer halben Stunde aus einem halbjährigen Koma aufgewacht, wusste praktisch nichts mehr über den Vorfall, der in diese Lage gebracht hatte und sprach von einer wichtigen Forschungsarbeit die er schnell anpacken wollte! Es war doch angebracht einige ausführliche Tests mit ihm durchzuführen. Er hatte vermutlich doch einige Schädigungen seines Geisteszustandes hinnehmen müssen. Dr. Orter beschloss seine Einschätzung mit dem Oberarzt zu besprechen. Johann verabschiedete sich und versuchte mit seinen dünnen Armen ohne Erfolg den Rollstuhl vorwärts zu bewegen. Dr. Orter sah ihm besorgt dabei zu. Nachdenklich schob er ihn in seine Zimmer. Professor Schellberg war in bestimmten Kreisen sehr bekannt und geachtet. Nicht auszudenken, wenn so eine Kapazität der Wissenschaft dauerhaft verloren ginge.

Johann vermisste seine Beine. Plötzlich nicht mehr gehen zu können, war eine grausame Erfahrung. So hilflos an das Bett gefesselt zu sein. Dazu war sein eigenes Institut abgebrannt und dem Erdboden gleichgemacht. Alles war vernichtet. Mit 5000 Litern an Brennstoff. Wer war so verrückt und hatte das getan? Seine ganze jahrelange und höchst erfolgreiche Arbeit umsonst. Er war, soweit konnte er sich noch erinnern, auf gutem Weg gewesen. Seufzend und unter größter Anstrengung mühte er sich unter Beihilfe von Dr. Orter vom Rollstuhl wieder in sein Bett. Erschöpft brachte er sich in eine liegende Position. Der Arzt hatte Recht: Seine Kraft in den Armen war bedeutungslos. Sie reichte kaum aus um sich wieder in das Bett zu ziehen. Johann seufzte und schloss die Augen. Kurz darauf schlief er ein.

Johann hörte Stimmen und wachte auf. Eine der Stimmen davon, war ihm völlig unbekannt. Sie hatte keinen menschlichen Klang. Ein hohes Quieken ähnlich einem Katzengeschrei. Eine Katze hier im Krankenhaus? Hatte jemand eine Katze mitgebracht? Er blinzelte, um unbemerkt etwas sehen zu können.

Eine junge Frau stand neben seinem Bett. Sie hatte eine Art menschliche Puppe auf dem Arm. Die Puppe bewegte sich heftig. Die Frau hatte große Mühe, die mit den Armen und Beinen heftig zappelnde Puppe festzuhalten. Er vernahm ihre Stimme die beruhigend auf die Puppe einredete. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor.

Johann öffnete die Augen.

„Johann! Du bist tatsächlich wach! Wie geht es dir? Erkennst du mich?“

Karin setzte sich auf den Bettrand. Sie lächelte in freundlich an. Die Puppe auf ihrem Arm lächelte ebenfalls.

„Schau mal, wen ich hier dabei habe, Johann. Kommt er dir bekannt vor? Das ist Winston. Schau, er kann es kaum erwarten zu dir zu kommen. Er hat immer mit dir gespielt während du im Koma warst.“

Karin setzte Winston auf seinen Schoß und der Kleine krabbelte augenblicklich los, in Richtung seines Gesichtes. Er gluckste und quietschte dabei vor Vergnügen. Johann hob die Hände, damit Winston nicht herunterfallen konnte. Winston streckte ein Händchen aus und patschte damit in Johanns Gesicht. In Johann öffneten sich die Erinnerungen. Immer klarer wurden Namen, Bilder und Zusammenhänge in seinem Gedächtnis. Winston war ihr Star gewesen. Er war mit Karin und Bernhard im Institut gewesen. Er hatte ihnen die Forschung gezeigt. Karin hatte Winston herausgenommen. Am Abend hatten sie du dritt noch endlos lange diskutiert. Aber dann war der Film vorerst zu Ende. Johann betrachtete ausgiebig den Winzling der mit seinen kleinen Händchen versuchte, die große Nase von Johann zu greifen. Johann genoss das Gefühl von diesem wunderbaren künstlich geschaffenen Wesen berührt zu werden. Er riskierte einen vorsichtigen Blick zu Karin.

„Na, was sagst du? Er mag dich. Wir haben dich sehr oft besucht, weißt du.“

Sie nahm die dürre Hand von Johann. Mit der anderen streichelte sie über seine Wangen. Deutlich spürte Sie die Knochen darunter.

„Gott sei Dank, bist du wieder aufgewacht. Weißt du eigentlich wer ich bin?“

Johann hatte plötzlich Tränen in den Augen. Sehr genau war da die Erinnerung an Karin, wie Sie im Babysaal gestanden hatte und hemmungslos geweint hatte. Damit hatte alles angefangen. Winston hatte es inzwischen geschafft und sich seiner Nase bemächtigt. Er drückte und zerrte daran herum. Mit seiner Piepsstimme begleitete er lautstark seine Erkundung.

„Karin. Ich kann es noch nicht begreifen. Wie ist das alles passiert? Woher hast du denn unseren Winston? Du musst mir alles erzählen. Mir fehlt eine ganze Menge. Eigentlich fast alles.“

„Natürlich, ich werde es dir alles haarklein erzählen, Johann. Der Arzt sagt, wenn du darauf bestehst, darfst du schon bald nach Hause gehen. Entschuldige...“

„Ist schon in Ordnung, ich werde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen nicht mehr gehen zu können. Wo wohnst du denn und was hast du seither gemacht?“

„Ich wohne mit Winston hier in Würzburg. Wir haben ein nettes Haus gemietet. Alles andere ist eine lange Geschichte, Johann. Am Besten, ich erzähle es dir wenn du zu Hause bist. Dein Freund Bernhard Hollmann wird sich auch sehr freuen, dass du wieder wach bist. Er hat mir sehr geholfen. Du kannst übrigens gerne bei mir wohnen, solltest du nicht zurück zu deiner Mutter wollen.“

„Ach ja, meine Mutter. Kennst du Sie?“

„Ja, Sie war erschüttert als man ihr das Unglück mitteilte.“

„Karin ich muss zurück in die Universität. Ich muss unbedingt weiterarbeiten. Ich habe unendlich viel zu tun.“

„Du wirst doch nicht dieses Irrsinnsprojekt weiterführen wollen? Sag, dass das nicht wahr ist! Außerdem gibt es jemand der gar nicht erfreut sein wird über deine Genesung…“

„Klaus Timmen!“

„Du hast es erfasst. Er wird dich augenblicklich umbringen lassen, sollte er erfahren, dass du diese Forschung fortführen willst. Johann überleg dir das!“

Karin hatte den letzten Satz sehr leise, fast unhörbar ausgesprochen.

„Ach, das glaube ich nicht. Er hätte doch genug Gelegenheit gehabt, während ich im Koma lag. Aber nein. Nein, keine Angst, ich werde das Projekt natürlich nicht weiterverfolgen. Das ist vorbei. Diese Forschung muss unter offiziellem Dach erfolgen und nicht unter der Knute einer Privatgesellschaft. Aber lassen wir das lieber. Ich glaube es ist besser sich nicht mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Dr. Orter hat mir schon alles Wichtige darüber erzählt. Ich will nach vorne schauen.

Ich werde ein neues Projekt verfolgen. Mir sind nämlich, während ich im Koma war, verschiedene andere Zusammenhänge klar geworden. Ich will sie wissenschaftlich beweisen und erklären. Ich muss meine Vermutungen nachweisen.“

„Und wo willst du denn diese Forschungen betreiben?“

„Na, hier in Würzburg. Robert Welger, der Dekan hatte mir eine Professur versprochen. Ich werde hier in Würzburg eine neue Forschung aufbauen.“

Karin sagte nichts darauf. Über die internen Angelegenheiten der Universität wusste sie nicht Bescheid. Sie hatte in den letzten Monaten Abstand von den Vorfällen genommen und sich voll und ganz auf Winston konzentriert. Karin wollte ihm eine gute Mutter sein. Sie hoffte darauf, Johann würde sich um die bestehenden Anomalien von Winston kümmern. Seine Existenz konnte schließlich den Behörden nicht länger verheimlicht werden. Es war schwer genug gewesen ihre eigene Existenz nachzuweisen. Ohne Bernhard wäre ihr das nie und nimmer gelungen. Er hatte bezeugt, sie bei dem Unfall gerettet zu haben und dass alles ein großes Missverständnis gewesen war. Auf diese Weise konnte sie wieder ihre Papiere bekommen. Aber Winston war noch immer ohne jeglichen Nachweis.

Sie nahm den kleinen Kerl von Johanns Brust. Johann hatte die ganze Zeit über größte Mühe damit gehabt, Winston von seiner Nase fern zu halten. Sie hatte es dem Kleinen angetan. Hin und wieder hatte Winston die Augen geöffnet. Johann war erschrocken als er die winzigen roten Augen hinter den Lidern zu sehen bekam.

Karin bändigte gekonnt den quirligen und puppenhaft wirkenden Winston. Sie steckte ihm einen selbstgebauten Schnuller in den Mund. Zufrieden nuckelte er daran. Sie verabschiedete sich von Johann und versprach am nächsten Tag wieder zu kommen.

Kaum war Karin mit Winston verschwunden, klopfte es an der Tür. Seine Mutter erschien im Türspalt.

„Johann! Mein Junge! Gott sei Dank. Du hast es geschafft. Wenn das dein Vater wüsste!“

Johann war total überrascht. Er konnte sich nicht erinnern, ob seine Mutter in den letzten Jahren gelächelt hatte. Seine Mutter zog sich aus der Ecke energisch einen Stuhl heran und setzte sich neben sein Bett. Aufmerksam beobachtete sie ihn.

„Mein Gott, Johann du bist so mager geworden. Hoffentlich erholst du dich bald. Ich freue mich schon darauf, wenn wir sonntags zusammen wieder Tee trinken können. Hast du Schmerzen? Brauchst du etwas? Kannst du dich an alles erinnern. Du kannst es mir ruhig erzählen. Man erfährt ja gar nichts. Das ist doch seltsam, findest du nicht? Johann, hörst du mir zu?“

„Ja, Mutter ich höre dir zu.“

„Weißt du, das mit deinen Beinen ist schon sehr schrecklich.“

Johann betrachtete seine Mutter aufmerksam. Sie war alt geworden. Neben ihm saß eine Frau an der die Jahre deutliche Spuren hinterlassen haben. Vor allem ihre stark ergrauten Haare, die Sie nun straff zusammengebunden hatte, verstärkten das Bild einer älteren Frau. Johann wusste in diesem Moment gar nicht wie alt seine Mutter eigentlich war. Aber es hatte sich nur ihr Äußeres verändert. Ihre schroffe, abweisende und kühle Art hatte Sie nicht abgelegt. Johann überlegte, ob Sie noch arbeitete oder bereits pensioniert war. Er entschied sich gegen die Pensionierung, weil die Arbeit der einzige Lebensinhalt seiner Mutter war. Sie wäre ob der Frage bestimmt beleidigt gewesen.

Trotz der Bedenken von Dr. Orter, hatte Johann darauf bestanden die Klinik so bald als möglich zu verlassen. Auch wenn die drei Wochen Reha geradeso genügten um seine Muskulatur soweit aufzubauen, dass er die notwendigsten Dinge ohne fremde Hilfe verrichten konnte.

Karin holte Johann wie versprochen ab. Sie hatte ihm sogar etwas Neues zum Anziehen gekauft. Ein Großteil seiner Kleidung war mitsamt seinem Hausrat verbrannt. Johann besaß deshalb kaum mehr persönliche Sachen. Während der letzten Tage im Krankenhaus hatte er diese Tatsache weitgehend verdrängt. Doch als er nun im Auto sass, wurde es ihm so richtig bewusst, was es bedeutete, seiner Habseligkeiten beraubt zu werden. Schweigend fuhren sie durch Würzburg. Er hatte nichts mehr. Seine Arbeit war restlos vernichtet. Das war eine sehr, sehr bittere Erkenntnis.

Als Dank für seine erfolgreiche Forschung hatte er einen Rollstuhl und Krücken bekommen. Das war kein gerechter Lohn für sein emsiges Streben.

Am nächsten Morgen, fuhr ihn Karin zur Universität. Johann war fassungslos, als er im Vorzimmer des Dekans erfuhr, dass Robert Welger nicht mehr an der Universität war. Er hatte kurz nach dem Brand des Instituts in Tübingen, die Universität auf eigenen Wunsch verlassen. Seine Sekretärin konnte Johann nur die Gerüchte erzählen, nachdem Welger in die Privatwirtschaft gewechselt war. Der neue Dekan der Mikrobiologie nahm sich freundlicherweise die Zeit für eine ausgiebige Unterredung mit Johann. Sie kannten sich beide nur vom Hörensagen. Professor Gerhard Epping eröffnete ihm schon nach wenigen Minuten, dass die Molekularbiologie momentan vollbesetzt sei und die Universität keine neuen Stellen schaffen wollte. Natürlich würde er sich über eine Kapazität wie Dr. Schellberg eine darstellte, außerordentlich freuen. Deshalb räumte er ihm freundlicherweise die Nutzung einer zeitlich begrenzten Stelle ein. Johann sollte die Möglichkeit haben die Geräte und Laboreinrichtungen in Anspruch zu nehmen. Mitarbeiter musste er allerdings auf eigene Kosten einstellen. Epping blieb die ganze Zeit über freundlich, aber sehr bestimmt. Trotzdem lag eine gewisse Spannung in der Luft. Dieser mysteriöse Brand in Tübingen und der Weggang von Welger hingen irgendwie zusammen. Johann konnte intensiv das Quentchen Misstrauen spüren, das ihm Epping entgegenbrachte. Professor Welger hatte seinem Nachfolger keine Informationen über die Beziehung der Universität Würzburg zu dem Molekularbiologischen Institut von Tübingen hinterlassen. Die Forschung die dort unter der Leitung von Johann betrieben wurde, lag immer noch im Geheimen. Epping nahm ihn deshalb nicht unbedingt mit offenen Armen auf. Doch Johann brauchte sofort einen Platz um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er sagte trotzdem zu, um wenigstens für den Anfang einen Platz zum Forschen zu haben. Johann musste unbedingt wieder in seinen gewohnten Rhythmus zurückfinden. Er brauchte die Arbeit um sein privates und körperliches Unglück zu kompensieren.

Die nächsten Tage waren trotz seines Ehrgeizes enorm anstrengend für Johann. Sein Körper war durch das monatelange Liegen immer noch total geschwächt. Er hatte den Muskelschwund und die Schwäche völlig unterschätzt. Vielleicht wäre es besser gewesen auf Dr. Orter zu hören und sich im Krankenhaus noch weiter aufbauen zu lassen. An seinem ersten Arbeitstag war er jedenfalls schon mittags nicht mehr in der Lage seine Arme zu heben. Er hatte einfach keine Kraft mehr darin. Nur sein Kopf arbeitete weiter auf Hochtouren. Wie besessen war er von seinem Forschungsvorhaben. Diesmal drängte ihn niemand von außerhalb. Die Triebfeder war er nun selber. Er selbst konnte es kaum erwarten, die Geheimnisse der ruhenden und abgeschalteten Gene auf zu decken.

Johann hatte von Epping nur ein winziges Arbeitszimmer bekommen. Das hatten die anderen Mitarbeiter eher widerwillig an ihn abgetreten. Johann fühlte sich überhaupt nicht wohl in diesem Klima des Misstrauens. Und doch hatte sich die Nachricht von seiner Genesung in der wissenschaftlichen Welt wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Nach drei Tagen wurden von der Telefonverwaltung immer mehr Gespräche an ihn durchgestellt. Nachdem sich die Anrufer nach seinem Gesundheitszustand erkundigt hatten, wollten sie über seine weiteren Pläne informiert werden. Professor Johann Baptist Schellberg war zurückgekehrt und er genoss weiterhin einen exzellenten wissenschaftlichen Ruf.

So dauerte es keine Woche und Johann hatte ein interessantes Angebot der Universität von Münster auf dem Tisch liegen. Der Dekan Professor Waldhans sicherte ihm sorgloses Arbeiten zu. Zufälligerweise hatte man dort einen Auftrag zur Erforschung der Krankheit Parkinson auszuführen und eine unbesetzte Stelle zu vergeben. Weiterhin wurde ihm von Waldhans in Aussicht gestellt, dass er die Einrichtungen der Universität für eigene Forschungen nutzten konnte. Das war das eigentlich Reizvolle an dem Angebot.

Am Abend besprach er die aktuelle Situation mit Karin.

„Niemand an dieser Universität will mir etwas über den Weggang von Robert erzählen. Das ist doch komisch, findest du nicht?“

„Bernhard hatte erzählt, dass Welger sich geweigert hatte über die Forschung in Tübingen Auskunft zu geben. Immerhin hatte er dich doch zu dem Projekt gedrängt, oder nicht?“

„Doch, das ist schon richtig. Aber ich werde von den Kollegen wie ein Fremdkörper behandelt. Ich komme mir vor wie ein Eindringling. Das ist kein Platz mehr für mich. Ich habe übrigens ein Angebot bekommen. Nach Münster. Was hältst du davon?“

„Münster?“

„Genau, dort ist eine Stelle frei und sie haben keine Vorurteile. Ich könnte mich um meine Privatforschung kümmern und nebenbei etwas von der Parkinson herausfinden. Möchtest du mitgehen? Wenn du Lust hast könnte ich dir ein Stelle beschaffen.“

„Wie weit ist denn das von Würzburg entfernt?“

„Ziemlich genau 400 Kilometer. Mit dem Auto wird man 3 bis 4 Stunden unterwegs sein.“

„Na, ja wenn du meinst. Ich kann schon mitkommen.“

„Ich habe noch nicht zugesagt. Ich habe gehofft, du begleitest mich beim Vorstellungsgespräch. Ich meine, diese Beinstummel schränken meine Mobilität ein. Es wäre schön wenn du mich fahren könntest. Winston nehmen wir natürlich mit.“

Karin zuckte mit den Achseln. Sie befand sich immer noch in einer Art seelischem Schwebezustand. Ihr Leben war noch lange nicht im Lot. Ob Sie nun in Würzburg lebte oder in Münster, spielte dabei keine Rolle. Sie spürte, dass es noch Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern würde, bis Sie in der Lage war, die schrecklichen, traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

„Na gut. Ich kann dich gerne begleiten. Wann hast du einen Termin?“

„Ich kann morgen anrufen und etwas vereinbaren.“

„Ich habe Zeit.“

„Vielen Dank, Karin. Das ist wirklich sehr nett von dir…Ich meine alles ist sehr nett. Wie du dich um mich kümmerst. Und Winston. Es ist dein Baby. Dein Kind.“

Ohne es wirklich zu wollen, brach es plötzlich aus ihr heraus. Gerade Winston war zu einem zentraler Punkt in ihrem Leben geworden, nach den Ereignissen in Tübingen. Johann hatte in darin herumgerührt und die Erinnerungen waren wieder lebendig wie schon lange nicht mehr. Sie erhob die Stimme und wurde wütend. Es war eine Wut gemischt mit Trauer und Vorwürfen.

„Weißt du Johann, ihr habt mein Leben zerstört. Ihr habt mir meine Familie genommen. Ihr habt sogar meine Existenz ausgelöscht. Einfach so. Weil wir euch lästig waren und dieser Timmen um seine dubiosen Geschäfte fürchtete. Johann, du bist ein einsamer Phantast. Sie haben dich in deiner Naivität schamlos ausgenutzt. Schau dir doch Winston an. Das ist allein dein Werk...“

„Es, es tut...mit leid. Ich werde alles was möglich ist, für ihn tun. Und für dich auch, sofern du es möchtest.“

Karin stand auf und ging zum Fenster. Oft hatte Sie in den vergangen Monaten dagestanden und in die Nacht hinausgeblickt. Gedanken von Rache und Genugtuung sind ihr dabei durch den Kopf gegangen. Aber jedes mal wenn Sie Johann mit Winston besuchte, war das Mitleid und Mitgefühl stärker als alles andere. Jeden Tag, ständig wurde Sie daran erinnert, dass es sich tatsächlich jemand in den Kopf gesetzt hatte, kleinere Menschen zu produzieren. Und dieser Jemand hatte nichts gemein mit einem Monster oder einem durchgedrehten Wissenschaftler. Johann hatte aus tiefster Überzeugung der Menschheit zu helfen gehandelt. Die Gespräche, die Sie vor der Katastrophe mit ihm geführt hatte, waren sehr überzeugend gewesen. Nun sass er da, ohne Beine, zu einem Skelett abgemagert, die langen Arme und Hände in den Schoss gelegt und Sie konfrontierte ihn mit den Folgen seiner Forschung.

Karin musste in nächster Zeit über ihre Zukunft nachdenken. Sie hatte schließlich ihr eigenes Leben. Das war sehr kurz gekommen in den vorangegangenen Monaten. Sie hatte ohne Ziel dahingelebt, in der Hoffnung wenn Johann aufwachen würde, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Im Moment sah es nicht danach aus.

Denn Johann war nach der Entlassung aus der Klinik, ein körperliches Wrack. Sie beschloss ihn vorerst zu begleiten und noch eine Weile bei ihm zu bleiben, bis er mit seiner Behinderung besser zurechtkam.

Wenn Johann soweit war und in seinem Forscherdrang lebte, brauchte er sie nicht mehr. Vielleicht tat eine Ortsveränderung ganz gut, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie brauchte eine Inspiration wie sie ihr Leben mit Winston gestalten sollte.

Sie drehte sich wieder um und sah Johann in die Augen. Er erwiderte ihren Blick.

„Karin, ich könnte es sehr gut verstehen, wenn du...“

„Mach dir keine Sorgen, ich werde dich fahren. Du solltest im Übrigen mehr essen. Du musst unbedingt zu Kräften kommen. Du siehst immer noch sehr mitgenommen aus.“

„Ich habe aber keinen Hunger.“

Schon bei dem schieren Gedanken an Essen wurde Johann schlecht. Essen war doch außerdem reine Zeitverschwendung. Er hasste das Gefühl einen vollen Magen zu haben.

Karin nötigte ihn dennoch eine für seine Verhältnisse üppige Mahlzeit einzunehmen. Es gab Spagetti mit Fleischsosse und Salat. Danach klagte er über Bauchweh.

Johann telefonierte am nächsten Tag fast zwei Stunden lang mit Professor Waldhans. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Sie vereinbarten einen Termin. Waldhans konnte es kaum erwarten Johann persönlich kennen zu lernen.

Das Vorstellungsgespräch in Münster verlief mehr als erfreulich. Münster empfing sie als eine wunderbare Stadt. Die Universität, die Menschen dort, begegneten ihnen mit einer warmen Freundlichkeit, die sie beide überraschten. Die Verwaltung war in einem historischen schlossähnlichem Prachtbau untergebracht. Vom Schlossplatz bis zu Fakultät der Mikrobiologie an der Corrensstrasse waren es nur wenige hundert Meter Entfernung.

Nach dem Gespräch gingen sie mit Professor Waldhans durch den wunderschönen botanischen Garten der Schlossanlage. Waldhans war ein kräftiger Mitvierziger mit schwarzen langen Haaren und einem sympathischen Lächeln. Bei jedem seiner Worte konnte man den Ehrgeiz und die Begeisterung heraushören, die er bei seinem Beruf empfand.

Sprachlos wurde Waldhans allerdings erst, als er Winston erblickte. Zuerst hatte er, wie so viele Menschen vor ihm, an eine Puppe gedacht die Karin mit sich führte. Es gab ja jede Menge Leute die einen absonderlichen Spleen hatten. Aber die Puppe war lebendig. Ein Mensch im Miniformat. Karin liess Winston herunter und er lief wie ein Wiesel durch den Park.

Waldhans beugte sich zu Johann hinunter während Karin Winston wieder einzufangen versuchte.

„Sagen Sie, Schellberg: Ist das wirklich ein Mensch? Das ist ja sensationell.“

„Selbstverständlich ist das ein Mensch. Ich möchte Sie bitten, Diskretion zu bewahren. Meine Freundin leidet sehr darunter. Der Kleine hat ein sehr ausgeprägtes Hallermann-Streiff-Syndrom. Ich hoffe ich werde ihm eines Tages helfen können.“

„Ah, davon habe ich schon mal gehört. Tut mir leid. Aber es sieht so surreal aus, wie er da läuft.“

„Kann ich mir vorstellen. Sie müssen wissen, die Krankheit ist extrem selten. Meines Wissens gibt es auf der ganzen Welt nur eine Handvoll Betroffene. Ich hätte nicht gedacht, dass er älter wie ein Jahr wird. Aber Karin kümmert sich so aufopfernd um ihn. Ansonsten ist er übrigens kerngesund.“

„Mein Vertrauen haben Sie. Ich neige im Allgemeinen nicht zum Ausplaudern von Geheimnissen.“

„Vielen Dank. Das kommt uns sehr entgegen.“

Karin kam mit Winston wieder zu ihnen zurück. Winston streckte sein Ärmchen nach Waldhans aus. Er zögerte kurz und nahm aber dann doch Winston in seine Hände. Genau genommen hätte eine Hand gereicht. Winston lachte vor Vergnügen und Waldhans bekam einen weiteren Schock. Karin konnte sehen wie er blass wurde. Sie kam nicht umhin Professor Waldhans aufzuklären.

„Seine Augen und seine Zunge sind leider verkümmert. Aber er stört sich nicht daran. Es sieht schlimmer aus als es ist.“

„Ich sehe schon, Sie haben ihre Freude mit ihm. Entschuldigen Sie bitte meine Reaktion. Er ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich.“

Während Sie nebeneinander her gingen untersuchte Winston ausgiebig das Gesicht von Waldhans.

„Na, das ist mir aber ein aufgeweckter Junge. Der ist ja kaum zu bändigen.“

Waldhans musste lachen. Er wollte ihn gar nicht mehr hergeben.

Seine Freude über die Zusage von Johann Schellberg konnte er kaum verbergen. Die Fakultät versprach sich durch die Mitarbeit von einer Kapazität wie Johann, einen baldigen Durchbruch bei den Erkenntnissen der Parkinsonschen Krankheit. Schon lange vermutete man genetische Ursachen für deren Auftreten. Professor Waldhans fand, Johann sei genau der Richtige für die Besetzung der Stelle. Beim ersten Anblick von Johann war er einigermaßen schockiert. Dass Johann die Beine amputiert werden mussten, war ihm bereits bekannt, nicht jedoch sein schlechter Allgemeinzustand. Diese hagere ausgezehrte Gestalt hatte wenig mit seiner eigenen Persönlichkeit zu tun. Doch das Äußere von Johann täuschte. Im Grunde war Johann sein Körper nur lästig. Sein Kapital war sein Kopf und sein genialer Verstand.

So waren sie sich nach der Besichtigung der Labore im Institut sehr schnell einig. Waldhans stellte es Johann frei, die Stelle sofort anzutreten, sobald es ihm wegen des Umzuges möglich war. Aber zuerst brauchten sie eine behinderten gerechte Wohnung oder ein Haus.

Professor Waldhans empfahl ihnen eine Immobilienagentur die vorzugsweise für leitende Universitätsmitarbeiter Objekte bereithielt.

Bevor sie die Rückreise antraten, statteten sie dem Büro einen Besuch ab und liessen sich einige Angebote heraussuchen. Entscheiden konnten sie sich auch noch zu Hause. Für Johann war es ohnehin zu stressig sich auch noch Wohnungen oder Häuser anzusehen. Er überliess diese Arbeit lieber Karin. Er war überzeugt, sie würde das Richtige für sie finden.

Münster

Eine behindertengerechte Wohnung zu finden war dann doch nicht so einfach wie anfangs gedacht. Karin entschied sich nach langen hin und her für eine relativ teure Wohnung in der Nähe der Fakultät. Johann hatte kein Problem darin gesehen, jeden Monat fast 2000 Euro dafür auszugeben. Ein großer Vorteil des Objekts war, dass sie einen Teil der Möbel übernehmen konnten. Den für den Einkauf von Möbel hätte Johann nie und nimmer Zeit gefunden. Gleich nach ihrer Ankunft stürzte sich Johann mit Enthusiasmus in die Arbeit. Parallel zu den Forschungsarbeiten des Universitätsprojektes betrieb er natürlich seine Studien zur Erforschung der Zukunftsgene.