Five Nights at Freddy's: Der vierte Schrank - Scott Cawthon - E-Book

Five Nights at Freddy's: Der vierte Schrank E-Book

Scott Cawthon

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Beschreibung

In Band 3 der offiziellen Roman-Serie zum populären Horror-Survival-Game bekommt der Leser eine Antwort auf die Frage, was wirklich mit Titelheldin Charly geschehen ist. Ihr Freund John versucht unterdessen - von Albträumen geplagt - den Horror um Freddys Pizzeria zu vergessen. Doch die Geister der Vergangenheit, denken gar nicht daran, sich einfach so begraben zu lassen …

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Seitenzahl: 436

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FIVENIGHTSATFREDDY’S

Die Romanreihe von Scott Cawthon

Band 1: Die silbernen Augen

ISBN 978-3-8332-3519-1

Band 2: Durchgeknallt

ISBN 978-3-8332-3616-7

Band 3: Der vierte Schrank

ISBN 978-3-8332-3781-2

Nähere Infos und weitere spannende Romane unter www.paninibooks.de

Roman

Von Scott Cawthon & Kira Breed-Wrisley

Aus dem Englischen von Robert Mountainbeau

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „Five Nights at Freddy’s: The Fourth Closet“ by Scott Cawthon and Kira Breed-Wrisley published in the US by Scholastic Inc., New York, 2018.

Copyright © 2018 Scott Cawthon. All rights reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70 178 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Robert Mountainbeau

Lektorat: Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDFIVE003E

ISBN 978-3-7367-9912-7

Gedruckte Ausgabe: ISBN 978-3-8332-3781-2

1. Auflage, August 2019

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

1

„Charlie!“ John kletterte über das Geröll bis hin zu der Stelle, wo sie sich gerade noch befunden hatte. Der Staub der Explosion ließ ihn husten. Die Ruine bebte immer noch unter seinen Füßen. Er stolperte über einen Betonbrocken und konnte sich gerade noch fangen, bevor er der Länge nach hinfiel, schürfte sich aber die Hände auf, als er nach der zerstörten Oberfläche griff. Dann erreichte er die Stelle, wo er sie gesehen hatte – er konnte spüren, dass sie irgendwo dort unter ihm war. Er umklammerte ein riesiges Stück Beton und hob es mit aller Kraft an. Es gelang ihm, den Beton zur Seite zu wuchten, sodass er schließlich mit einem dumpfen Krachen auf den Boden prallte und die Erde unter John erzittern ließ. Über seinem Kopf quietschte ein Stahlträger und schwankte bedrohlich.

„Charlie!“, rief John erneut, während er einen weiteren Brocken zur Seite schob. „Charlie, ich komme!“ Er rang nach Atem und räumte praktisch die Überreste des gesamten Hauses mit verzweifelter, von Adrenalin getriebener, übermenschlicher Kraft beiseite. Er biss die Zähne zusammen und hielt keine Sekunde inne. Seine Handflächen rutschten ab, als er versuchte, das nächste Trümmerstück hochzustemmen, und als er genauer hinsah, erkannte er wie in Trance, dass seine Hände, wo immer er hinfasste, breite, blutige Streifen hinterließen. Er wischte sich die Handflächen an seiner Jeans ab und versuchte es erneut. Diesmal konnte er den Brocken bewegen. Er balancierte ihn auf seinem Oberschenkel und trug ihn drei Schritte weiter, wo er ihn auf einen Haufen anderer Trümmer fallen ließ. Der Beton krachte auf den Schutt, den zerschmetterten Fels, das zersplitterte Glas, wodurch eine neue Lawine ausgelöst wurde. Und dann – durch den Lärm hindurch, der von dem Schutt aufstieg – hörte er ihr Flüstern: „… John …“

„Charlie …“SeinHerzsetzteeinenSchlagaus,alserihrFlüsternerwiderte,underneutrutschtederSchuttunterseinenFüßenweg.DiesesMalfielerhinundlandetesohartaufdemRücken,dassihmdieLuftwegblieb.ErrangnachAtem,dochseineLungenschienenihnimStichlassenzuwollen.Schließlichschaffteeres,wiederetwaszuAtemzukommen.Ersetztesichauf,schwindelig,undsah,wasderEinsturzfreigelegthatte:ErbefandsichindemkleinenverstecktenRauminCharliesHausausKindertagen.Vorihmerhobsicheineschmucklose,glatteMetallwand.UndinderMittebefandsicheineTür.

Nur die Umrisse waren zu erkennen, ohne Scharniere oder einen Griff, aber er wusste, was es war, denn Charlie hatte es gewusst, als sie mitten auf ihrer Flucht stehen geblieben war und ihre Wange gegen die Oberfläche gepresst hatte, während sie nach jemandem rief, nach jemandem, der sich dahinter befand.

„… John …“, flüsterte sie erneut, und sein Name schien von allen Seiten gleichzeitig widerzuhallen, zurückgeworfen von den Wänden des Raumes. John stand auf und legte seine Hände auf die Oberfläche der Tür. Sie fühlte sich kühl an. Er drückte seine Wange dagegen, genau wie Charlie es getan hatte, und sie wurde noch kälter, als saugte sie die Wärme aus seiner Haut. John trat einen Schritt zurück und rieb die kalte Stelle in seinem Gesicht, während das schimmernde Metall der Tür vor seinen Augen stumpf wurde. Die Farbe verblasste, und dann wurde die Tür selbst immer dünner, bis sie wie Milchglas erschien. Und John sah einen Schatten hinter dem Glas, die Umrisse eines Menschen. Die Gestalt trat näher, das Milchige der Tür wurde klarer, bis er fast hindurchsehen konnte. Er ging näher heran und folgte den Bewegungen der Gestalt auf der anderen Seite. Sie besaß ein Gesicht, schlank und glatt, die Augen glichen denen einer Statue, aus Stein geformt, aber blind. John spähte durch die Tür, die sich zwischen ihnen befand. Sein Atem kondensierte auf der fast durchsichtigen Barriere. Und plötzlich klappten die Augen auf.

Die Gestalt stand ruhig vor ihm, den Blick in die Ferne gerichtet. Die Augen waren trüb, sie bewegten sich nicht, wirkten – tot. Jemand lachte. Es war ein krampfhaftes, freudloses Lachen, das in dem kleinen, versiegelten Raum widerhallte, und John blickte sich hektisch nach der Quelle um. Das Lachen wurde immer lauter und lauter. John hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, während das durchdringende Geräusch unerträglich wurde. „CHARLIE!“, rief er erneut.

John schreckte aus dem Schlaf auf, sein Herz raste. Das Lachen hörte nicht auf und folgte ihm ins wache Leben. Verwirrt huschte sein Blick durch den Raum und blieb an dem Fernseher hängen, wo das geschminkte Gesicht eines Clowns das ganze Bild füllte, gefangen in einem zuckenden Lachkrampf. John setzte sich auf und rieb sich die Wange, wo seine Armbanduhr einen Abdruck in der Haut hinterlassen hatte. Er warf einen Blick auf die Zeitanzeige, dann atmete er erleichtert auf – er hatte noch genug Zeit, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Er legte sich zurück und brauchte einen Moment, um zu Atem zu kommen. Im Fernsehen hielt ein Reporter einem Mann, der wie ein Zirkusclown gekleidet war, geschminkt mit einer roten Nase und einer Perücke in allen Regenbogenfarben auf dem Kopf, ein Mikrofon vor die Lippen. Um seinen Hals trug er einen Kragen, der aus einem Renaissancegemälde zu stammen schien. Er trug einen gelben Clownsanzug mit roten Pompons als Knöpfe.

„Also erzählen Sie mal“, sagte der Reporter strahlend. „Hatten Sie dieses Kostüm schon, oder haben Sie es extra für die große Eröffnung angefertigt?“

John schaltete den Fernseher aus und schlurfte unter die Dusche.

* * *

Das Geräusch ertönte schon den ganzen Tag, aber es war immer noch unerträglich: ein Rattern und Scheppern, durchbrochen von Rufen. Und immer wieder ließen die Presslufthämmer die Erde beben. John schloss die Augen und versuchte, das alles auszublenden: die Vibrationen hallten in seiner Brust wider, erfüllten seinen ganzen Körper, und mitten in dem Lärm hörte er plötzlich verzweifeltes Gelächter. Die Gestalt aus seinem Traum erschien ihm erneut; noch war sie nicht zu sehen, und doch hatte er das Gefühl, würde er nur in die richtige Richtung blicken, würde er ihr Gesicht hinter einer Tür entdecken …

„John!“

John wandte sich um. Luis stand keinen halben Meter entfernt von ihm und musterte ihn verwundert. „Ich habe dreimal deinen Namen gerufen“, sagte er. John zuckte die Achseln und deutete auf das Chaos um ihn herum.

„Hey, ein paar von den Jungs gehen nachher noch einen trinken. Kommst du mit?“, wollte Luis wissen. John zögerte. „Jetzt komm schon, das wird dir guttun. Du machst doch schon nichts anderes mehr als arbeiten und schlafen.“ Er lachte gutmütig und schlug John auf die Schulter.

„Stimmt, das wäre gut für mich.“ John erwiderte das Lächeln, dann blickte er zu Boden, während das Lachen aus seinem Gesicht schwand. „Bei mir ist im Moment einfach so viel los.“ Er versuchte, glaubhaft zu klingen.

„Stimmt, hier ist eine Menge los. Sag mir einfach Bescheid, falls du es dir noch anders überlegst.“ Wieder klopfte er John auf die Schulter und ging zurück zu seinem Stapler. John blickte ihm nach. Es war nicht das erste Mal, dass John eine solche Einladung abgelehnt hatte. Auch nicht das zweite Mal und nicht das dritte, und ihm wurde allmählich klar, dass der Moment kommen würde, an dem sie es einfach aufgeben würden, ihn zu fragen. Vielleicht war das dann auch am besten.

„John!“, meldete sich eine andere Stimme.

Was denn jetzt noch?

Es war der Vorarbeiter, der aus der Tür seines Bürocontainers nach ihm rief. Das Ding war ein Anhänger, den man für die Dauer der Bauarbeiten hingestellt hatte und der etwas wackelig auf einem Vorsprung stand.

John trottete über die Baustelle, schob sich durch einen schweren Plastikvorhang, der vor der Tür des Anhängers hing. Im nächsten Moment stand er vor dem Klapptisch des Vorarbeiters, dessen nachgemachte hölzerne Plastikoberfläche genauso wenig vertrauenerweckend wirkte wie die Wände um sie herum.

„Ein paar der Jungs draußen haben mir erzählt, dass du immer wieder abgelenkt bist.“

„Ich konzentriere mich nur auf meine Arbeit, das ist alles“, erwiderte John, zwang sich zu einem Lächeln und versuchte darauf zu achten, dass man ihm seine Frustration nicht ansah. Oliver lächelte ebenfalls, aber nicht sehr überzeugend.

„Du konzentrierst dich“, ahmte Oliver ihn nach. John rutschte erschrocken das Lächeln aus dem Gesicht. Oliver seufzte. „Hör zu, ich habe dir hier eine Chance gegeben, weil dein Cousin gesagt hat, du könntest hart anpacken. Die Tatsache, dass du bei deinem letzten Job einfach abgehauen und nie wiederaufgetaucht bist, habe ich ignoriert. Weißt du, dass ich mit dir ein echtes Risiko eingegangen bin?“

John schluckte. „Ja, Sir. Das weiß ich.“

„Hör auf mit dem ‚Sir‘. Hör mir einfach zu.“

„Aber ich tue doch alles, was man mir sagt. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.“

„Du reagierst nur langsam. Du siehst aus, als würdest du den ganzen Tag lang träumen. Du bist kein Teamplayer.“

„Was?“

„Auf dieser Baustelle wird gearbeitet. Wenn du irgendwo in La-La-Land unterwegs bist oder wenn du nicht an die Sicherheit der anderen Männer da draußen denkst, könnte jemand verletzt oder getötet werden. Ich sage ja nicht, dass ihr über Geheimnisse tuscheln und euch gegenseitig Zöpfe flechten sollt. Ich sage nur, dass du zu einem Teil des Teams werden musst. Alle müssen darauf vertrauen können, dass du sie nicht im Stich lässt, wenn es darauf ankommt.“ John nickte. Er verstand. „Das hier ist ein guter Job, John. Ich glaube, die Männer da draußen sind auch gute Jungs. Heutzutage ist es nicht leicht, an Arbeit zu kommen, und es ist wichtig, dass du anfängst, dieses Spiel hier mitzuspielen. Denn wenn ich das nächste Mal beobachte, dass du mit dem Kopf in den Wolken unterwegs bist … Bring mich besser nicht in diese Situation. Verstanden?“

„Ja, ich verstehe“, murmelte John. Er rührte sich nicht. Stand auf dem verschlissenen braunen Teppich, der mit dem mobilen Büro mitgeliefert wurde, und wartete darauf, dass er gehen konnte.

„Okay. Das war es dann für heute.“ Und John ging. Die Standpauke hatte die letzten paar Minuten seines Arbeitstages gedauert. Er half Sergei noch, einen Teil der Ausrüstung zu verstauen, dann ging er mit einem gemurmelten „Wiedersehen“ zu seinem Auto.

„Hey!“, rief Sergei ihm nach. John blieb stehen. „Letzter Versuch!“

„Ich …“ John verstummte, als er Oliver im Augenwinkel erkannte. „Vielleicht nächstes Mal“, sagte er.

Doch Sergei gab nicht auf. „Jetzt komm schon, das ist meine Entschuldigung, dass ich nicht mit in den neuen Kinderladen gehen muss … Meine Tochter quengelt schon die ganze Woche, dass wir dahin gehen sollen. Lucy bringt sie hin, aber Roboter sind einfach nicht mein Ding.“

John hielt inne, und um ihn herum wurde plötzlich alles ganz still. „Was für ein Laden?“, wollte John wissen.

„Du kommst also?“, fragte Sergei erneut.

John trat ein paar Schritte zurück, als wäre er zu nahe an eine Abbruchkante getreten. „Vielleicht ein anderes Mal“, sagte er und ging entschlossen zu seinem Auto. Es war ein alter rotbrauner Wagen, der vielleicht cool gewesen war, als er auf die Highschool gegangen war. Jetzt erinnerte er ihn lediglich daran, dass er irgendwie immer noch ein Kind war; er war keinen Schritt weitergekommen. Ein Statussymbol, das innerhalb eines Jahres zu einem Symbol seiner Schande geworden war. Schwer ließ er sich hineinfallen, eine Staubwolke stieg aus den Sitzen auf, als er hineinsackte. Seine Hände zitterten. „Reiß dich zusammen!“ Er schloss die Augen und umklammerte das Lenkrad, um sich zu beruhigen. „So ist das Leben nun einmal, und du schaffst das“, flüsterte er, dann öffnete er die Augen wieder und seufzte. „Klingt nach irgendeinem lahmen Spruch, den mein Vater hätte sagen können.“ Er drehte den Schlüssel in der Zündung.

Die Fahrt nach Hause hätte eigentlich zehn Minuten gedauert. Aber über die Route, die er nahm, war er eher eine halbe Stunde unterwegs, da er es vermied, mitten durch die Stadt zu fahren. Wenn er das nicht tat, ging er auch kein Risiko ein, auf Leute zu treffen, mit denen er nicht sprechen wollte.

Aber noch wichtiger war, dass er nicht riskierte, auf Leute zu treffen, mit denen er sprechen wollte. SeieinTeamplayer. John konnte gegen Oliver keine echte Abneigung entwickeln. Er war tatsächlich kein Teamplayer, nicht mehr. Seit sechs Monaten fuhr er jetzt von zu Hause zur Arbeit und wieder zurück, wie ein Zug auf Schienen. Er hielt nur, um hin und wieder etwas zu essen zu kaufen, aber sonst eigentlich kaum. Er sprach nur, wenn es nötig war, vermied jeden Augenkontakt. Er zuckte zusammen, wenn Menschen ihn ansprachen, ob es nun Kollegen waren, die ihn grüßten, oder Fremde, die sich nach der Uhrzeit erkundigten. Er redete dann ein bisschen, aber am liebsten sagte er lediglich irgendetwas im Vorbeigehen. Er war immer höflich, während er gleichzeitig deutlich machte, dass er schon irgendwo erwartet wurde – was er, wenn nötig, dadurch unterstrich, dass er sich abrupt in die entgegengesetzte Richtung wandte. Manchmal hatte er das Gefühl, irgendwie zu verblassen, und es war unangenehm und enttäuschend, zu erkennen, dass man ihn immer noch sehen konnte.

Er fuhr auf den Parkplatz seiner Apartmentanlage. Ein einstöckiger Bau, der nicht dafür vorgesehen war, dass jemand lange in ihm wohnte. Hinter dem Fenster des Büros des Managers brannte Licht: Seit Monaten hatte er versucht herauszubekommen, wie die Öffnungszeiten waren, es dann aber aufgegeben, weil er bemerkte, dass sie keinem wirklichen Rhythmus folgten.

Er griff sich den Briefumschlag aus dem Handschuhfach und ging zur Tür. Er klopfte, aber es antwortete niemand, obwohl er im Inneren eine Bewegung wahrnahm. Wieder klopfte er, und diesmal wurde die Tür ein Stück weit geöffnet. Eine alte Frau mit der Haut eines Menschen, der sein Leben lang geraucht hatte, blinzelte ihn an. „Hey, Delia!“ John lächelte. Sie lächelte nicht zurück. „Der Scheck für die Miete.“ John gab ihr den Umschlag. „Ich weiß, es ist spät. Ich war gestern schon hier, aber das Büro war leer.“

„War es während der Öffnungszeiten?“ Delia warf einen vorsichtigen Blick in den Umschlag, als könnte sie darin eine böse Überraschung erwarten.

„Das Licht war aus, deshalb …“

„Dann war es nicht während der Öffnungszeiten.“ Delia zeigte ihre Zähne, aber einem Lächeln ähnelte ihre Grimasse dennoch kaum. „Ich habe gesehen, dass du eine Pflanze aufgehängt hast“, meinte sie plötzlich.

„Oh, ja.“ John warf einen Blick über die Schulter zu seinem Apartment, als könnte er es von hier aus sehen. „Es ist schön, sich um etwas zu kümmern, findest du nicht?“ Erneut versuchte John zu lächeln, gab es aber schnell auf. Er begab sich hier auf dünnes Eis. „Das ist doch erlaubt? Eine Pflanze zu haben?“

„Ja, du kannst eine Pflanze haben.“ Delia trat wieder zurück ins Büro und wollte gerade die Tür schließen. „Die Leute lassen sich hier nur gewöhnlich nicht für länger nieder, das ist alles. Normalerweise besorgen sie sich erst ein Haus, dann eine Frau und erst dann die Pflanze.“

„Stimmt.“ John blickte hinunter auf seine Schuhe. „Es ist einfach nur ein schweres …“, begann er, aber die Tür fiel mit einem harten Knallen ins Schloss, „… Jahr gewesen.“

Einen Moment lang betrachtete John die Tür, dann ging er zu dem Apartment im Erdgeschoss an der Vorderseite des Komplexes, das er nun einen weiteren Monat lang sein Zuhause nennen konnte. Es bestand aus zwei Räumen, einem Vollbad und einer Küchenzeile. Wenn er nicht da war, ließ er die Jalousien offen, damit jeder sah, dass er nichts besaß. In der Gegend wurde viel eingebrochen, und das Sicherste war, jedem zu zeigen, dass es bei ihm nichts zu holen gab.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte er sorgfältig die Kette vor. Sein Apartment war kühl und dunkel und ruhig. Er rieb sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren immer noch da, aber er gewöhnte sich langsam daran.

Die Wohnung war nur spärlich möbliert – er hatte sie so übernommen –, und die einzige persönliche Note, die er dem Wohnzimmer verliehen hatte, waren vier Kartons voller Bücher, die unter dem Fenster an der Wand standen. Er ging ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Die Federn unter ihm quietschten steif. Er verzichtete darauf, das Licht einzuschalten. Durch das kleine Fenster über seinem Bett fiel noch genug Tageslicht herein.

John sah hinüber zu seiner Kommode, wo ein vertrautes Gesicht zurückblickte: der Kopf eines Plüschkaninchens, dessen Körper nirgends zu sehen war.

„Was hast du heute gemacht?“, erkundigte sich John und sah dem Kaninchen in die Augen, als wollte er darin einen Funken des Erkennens bemerken. Doch Theodore starrte nur leer zurück. Seine Augen waren dunkel und leblos. „Du siehst fürchterlich aus, noch schlechter als ich.“ John stand auf und ging auf den Kopf des Kaninchens zu. Der Geruch von Mottenkugeln und schmutzigem Stoff stieg ihm in die Nase. Johns Lächeln verblasste, und er packte den Kopf bei den Ohren und hielt ihn in die Luft. Es ist Zeit, dich wegzuwerfen. Fast jeden Tag zog er es in Betracht. Er presste die Zähne aufeinander, dann stellte er den Kopf zurück an seinen Platz auf der Kommode und wandte sich ab. Er wollte ihn nicht länger sehen.

* * *

John schloss die Augen, ohne dass er damit rechnete einzuschlafen, aber er hoffte es natürlich. Die Nacht zuvor war nicht gut gewesen und die davor auch nicht. Allmählich begann er den Schlaf zu fürchten. Er schob ihn so lange vor sich her, wie er nur konnte, lief Kilometer um Kilometer Straßen entlang, bis es weit nach Mitternacht war, kehrte dann nach Hause zurück und versuchte zu lesen oder starrte einfach an die Wand. Es war immer das gleiche Spiel, einfach frustrierend. Er legte sich auf die Couch und hängte die Arme über die Lehne, damit er draufpasste. Die Stille in dem kleinen Apartment begann in seinen Ohren zu klingeln, und er griff sich die Fernbedienung vom Boden und schaltete den Fernseher ein. Das Bild war schwarz-weiß und der Empfang fürchterlich. Durch das Rauschen konnte er kaum Gesichter ausmachen, aber das Geschnatter, das offenbar von einer Talkshow stammte, klang flott und fröhlich. Er drehte den Ton leiser und legte sich wieder zurück. Er starrte zur Decke und lauschte mit halbem Ohr auf die Stimmen im Fernseher, bis er allmählich einschlief.

Ihr Arm war schlaff, der einzige Teil ihres Körpers, den er aus dem verdrehten Metallanzug ragen sah. Blut lief in kleinen Rinnsalen über ihre Haut und sammelte sich am Boden. Charlie war ganz allein. Wenn er sich anstrengte, konnte er wieder ihre Stimme hören:„Lass mich nicht los! John!“ Sie hat meinen Namen gerufen. Und dann hat dieses Ding – Er zitterte, hörte erneut das Jaulen, das immer ertönte, wenn der animatronische Anzug klackte und quietschte. Er starrte auf Charlies leblosen Arm, als wäre die Welt um sie herum verschwunden, und während das Geräusch in seinem Kopf widerhallte, beschwor sein Verstand unerwünschte Gedanken herauf: Das Knacken und Krachen waren ihre Knochen. Das Reißen alles andere.

John riss die Augen auf. Ein paar Meter entfernt lachte ein Studiopublikum, und er blickte auf den Fernseher. Das Rauschen und das Geplapper brachten ihn zurück in die Gegenwart.

John setzte sich auf und ließ seinen Kopf von links nach rechts rollen, um seinen Hals zu dehnen. Die Couch war zu klein, und sein Rücken war verkrampft. Sein Kopf schmerzte, und er war erschöpft, aber ruhelos. Das Adrenalin pumpte immer noch durch seine Adern. Er trat hinaus, schloss entschieden die Tür hinter sich und atmete die Nachtluft ein.

Dann ging er die Straße hinunter in Richtung Stadt. Irgendwo würde schon noch offen sein. Die Straßenlaternen standen weit auseinander, und es gab keinen Bürgersteig, nur einen flach ausgeschütteten Seitenstreifen. Wenige Autos überholten ihn, doch wenn sie es taten, tauchten sie plötzlich hinter einer Biegung auf oder erschienen auf der Kuppe steiler Hügel, wobei sie ihn mit ihren Scheinwerfern blendeten und mit einer Wucht vorbeirasten, die ihn manchmal zur Seite zu werfen drohte. Ihm fiel auf, dass er, während er lief, immer näher an die Straße herankam. Wenn er merkte, dass er sich zu sehr von ihr entfernte, ging er mit ein paar entschlossenen Schritten zurück auf den Seitenstreifen, und irgendwie enttäuschte es ihn, dass er offenbar so feige war.

Während er sich der Stadt näherte, zerrissen wieder Scheinwerfer die Dunkelheit. Mit einer Hand beschirmte er seine Augen und ging von der Straße herunter. Der Wagen wurde langsamer, als er ihn überholte, und blieb dann plötzlich stehen. John drehte sich um und ging darauf zu, als der Fahrer das Fenster herunterrollen ließ.

„John?“, rief jemand. Es wurde der Rückwärtsgang eingelegt, und das Auto rauschte ihm entgegen und auf den Seitenstreifen. John sprang ihm aus dem Weg. Eine Frau stieg aus und kam mit ein paar schnellen Schritten auf ihn zu, als wollte sie ihn umarmen, doch er rührte sich nicht von der Stelle, die Arme steif an der Seite, und sie blieb einen guten Meter von ihm entfernt stehen. „John, ich bin es!“, sagte Jessica mit einem Lächeln, das schnell verblasste. „Was tust du hier draußen?“, wollte sie wissen. Sie trug ein kurzes Oberteil, und sie rieb sich in der Kühle der Nacht über die Arme, während sie die fast ausgestorbene Wüstenstraße hinauf- und hinunterblickte.

„Ich könnte dich das Gleiche fragen“, antwortete er, als hätte sie ihm einen Vorwurf gemacht. Jessica deutete über Johns Schulter. „Ich brauche Benzin.“ Sie lächelte ihn strahlend an, und er konnte nicht anders, als ihr Lächeln zumindest halbwegs zu erwidern. Ihre Fähigkeit, sozusagen auf Knopfdruck gute Laune zu versprühen und jeden damit anzustecken, hatte er schon fast vergessen. „Wie geht es dir?“, fragte sie mit Bedacht.

„Gut. Ich arbeite, meistens.“ Er zeigte auf seine schmutzige Arbeitskleidung, die er noch nicht gewechselt hatte. „Was gibt es bei dir Neues?“, fragte er, weil ihm plötzlich bewusst wurde, wie absurd ihr Gespräch war, während Autos an ihnen vorbeirauschten. „Ich muss jetzt wirklich los. Schönen Abend noch!“ Er drehte sich um und ging davon, ohne ihr auch nur die kleinste Möglichkeit einer Antwort zu geben.

„Mir fehlt, dass du nicht mehr da bist“, rief Jessica. „Und ihr auch.“

John hielt inne und bohrte seine Fußspitze in die Erde.

„Hör zu.“ Jessica holte ihn mit ein paar schnellen Schritten ein. „Carlton wird ein paar Wochen lang in der Stadt sein. Es sind Frühlingsferien. Wir wollen alle zusammenkommen.“ Erwartungsvoll blickte sie ihn an, aber er sagte nichts.

„Er will uns unbedingt zeigen, was für ein Mann von Welt er geworden ist“, fügte Jessica strahlend hinzu. „Als ich letzte Woche mit ihm telefoniert habe, hat er einen Brooklyner Akzent nachgemacht, um zu testen, ob ich es wohl merke.“ Sie rang sich ein Kichern ab. John lächelte milde.

„Wer kommt sonst noch?“, wollte er wissen und sah sie zum ersten Mal, seit sie aus dem Auto gestiegen war, direkt an. Jessica kniff die Augen zusammen.

„John, irgendwann wirst du mit ihr sprechen müssen.“

„Und wieso?“, entgegnete er brüsk und setzte sich wieder in Bewegung.

„John, warte!“ Er hörte, wie sie hinter ihm anfing zu laufen. Schnell hatte sie ihn eingeholt und trabte neben ihm her, um mit ihm Schritt zu halten. „Das halte ich nicht den ganzen Tag durch“, warnte sie ihn, aber John antwortete nicht.

„Du musst mit ihr reden“, wiederholte Jessica. Er warf ihr einen scharfen Blick zu.

„Charlie ist tot“, entgegnete er barsch und mit rauer Stimme. Es war lange her, dass er diese Worte laut ausgesprochen hatte. Jessica blieb abrupt stehen. Er ging weiter.

„John, sprich wenigstens mit mir.“

Er antwortete nicht.

„Du tust ihr weh“, fügte sie hinzu. Er blieb stehen. „Begreifst du denn nicht, was du ihr antust? Nach all dem, was sie durchgemacht hat? Das ist doch verrückt, John. Ich weiß nicht, was in dieser Nacht mit dir passiert ist, aber ich weiß was diese Nacht mit Charlie gemacht hat. Und weißt du was? Ich glaube, nichts schmerzt so sehr, wie dass du dich weigerst, mit ihr zu sprechen. Zu sagen, sie sei tot.“

„Ich habe sie sterben sehen.“ John starrte hinüber zu den Lichtern der Stadt.

„Nein, das hast du nicht“, entgegnete Jessica, dann zögerte sie. „Hör mal, ich mache mir Sorgen um dich.“

„Ich bin nur verwirrt.“ John wandte sich zu ihr um. „Nach allem, was ich durchgemacht habe, was wir durchgemacht haben, ist das keine völlig unverständliche Reaktion.“ Er wartete einen Moment, ob sie reagieren würde, dann wandte er den Blick ab.

„Ich verstehe das. Das tue ich wirklich. Ich habe auch geglaubt, dass sie tot wäre.“ John öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie ließ sich nicht aufhalten. „Ich dachte, sie sei tot, bis sie wiederaufgetaucht ist, lebendig.“ Jessica zog an Johns Schulter, bis er ihr wieder in die Augen blickte. „Ich habe sie gesehen“, erklärte Jessica, und ihre Stimme brach. „Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist es. Und das …“ Sie ließ seine Schulter los und ließ ihre Hand über seinem Kopf kreisen, als würde sie ihn beschwören. „Das, was du tust, das bringt sie um.“

„Sie ist es nicht“, flüsterte John.

„Okay“, fuhr Jessica ihn an und drehte sich auf dem Absatz um. Sie ging zurück zum Wagen, und Augenblicke später fuhr sie zurück auf die Straße und drehte mit quietschenden Reifen. John blieb, wo er war. Jessica raste an ihm vorbei, bremste dann wieder abrupt, dass die Reifen qualmten, und kam zurück zu ihm. „Wir treffen uns am Samstag in Clays Haus“, sagte sie erschöpft. „Bitte.“ Er blickte sie an. Sie weinte nicht, aber ihre Augen schimmerten feucht, ihr Gesicht war gerötet. Er nickte.

„Vielleicht.“

„Das reicht mir. Wir sehen uns dort!“, sagte Jessica, dann fuhr sie ohne ein weiteres Wort davon, der röhrende Motor entfernte sich in der Stille der Nacht.

„Ich habe vielleicht gesagt“, murmelte John in die Dunkelheit.

2

Der Stift kratzte über das Papier, während der Mann hinter dem Schreibtisch sorgfältig das Formular ausfüllte. Plötzlich hielt er inne. Ein Gefühl des Schwindels überrollte ihn wie eine Welle. Die Buchstaben verschwammen, und er rückte seine Lesebrille zurecht. In seinem Kopf schien sich alles zu drehen. An der Brille lag es nicht. Er nahm sie ab und rieb sich die Augen. Dann war das Gefühl genauso schnell verschwunden, wie er es empfunden hatte. Der Raum drehte sich nicht mehr, die Buchstaben waren klar und deutlich zu erkennen. Er kratzte sich den Bart, immer noch verwirrt. Dann begann er wieder ruhig zu schreiben. Eine Glocke ertönte, und die Eingangstür wurde geöffnet.

„Ja, Sir?“, bellte er, ohne aufzublicken.

„Ich wollte mich gern im Hof umsehen.“ Es war die leise Stimme einer Frau.

„Oh, entschuldigen Sie bitte, Ma’am.“ Der Mann blickte auf und lächelte kurz, dann wandte er sich wieder seinem Formular zu, sagte aber, während er schrieb: „Schrott kostet fünfzig Cent pro Pfund. Vielleicht wird es auch teurer, wenn Sie ein bestimmtes Teil finden, aber das sehen wir dann, wenn Sie zurückkommen. Sehen Sie sich einfach um. Sie müssen ihr eigenes Werkzeug mitbringen, aber wir können Ihnen helfen, die Sachen aufzuladen, wenn Sie alles haben, was Sie brauchen.“

„Ich suche etwas ganz Bestimmtes.“ Die Frau musterte ihn und warf einen Blick auf sein Namensschild. „Bob“, fügte sie mit kurzer Verzögerung hinzu.

„Also, ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll.“ Er legte den Stift zur Seite, dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Es ist ein Schrottplatz“. Er lachte. „Wir versuchen zumindest, die alten Autos von den Blechdosen zu trennen, aber was Sie sehen, ist auch genau das, was Sie bekommen.“

„Bob, Sie haben an diesem Tag und von diesem Ort mehrere Ladungen Altmetall bekommen.“ Die Frau legte ein Stück Papier auf das Formular, an dem Bob gearbeitet hatte. Bob nahm es auf und rückte seine Lesebrille zurecht, dann blickte er über ihren Rand zu ihr hoch.

„Wie schon erwähnt, reden wir hier von einem Schrottplatz“, sagte er langsam und allmählich besorgt, weil sich die Sache so lange hinzog. „Ich könnte Ihnen vielleicht eine ungefähre Richtung zeigen. Ich meine, wir katalogisieren das Zeug nicht.“

Die Frau ging um den Schreibtisch herum und trat neben Bobs Stuhl, und er richtete sich nervös auf. „Ich habe gehört, ihr hattet hier letzte Nacht ziemlichen Ärger“, meinte sie.

„Keinen Ärger.“ Bob runzelte die Stirn. „Ein paar Kinder haben sich reingeschlichen. So etwas passiert.“

„Ich habe etwas anderes gehört.“ Die Frau betrachtete ein Bild an der Wand. „Ihre Töchter?“, fragte sie wie nebenbei.

„Ja, zwei und fünf Jahre alt.“

„Sie sind wunderhübsch.“ Die Frau hielt inne. „Behandeln Sie sie gut?“ Bob war verblüfft.

„Natürlich tue ich das“, erwiderte er und versuchte, seine Empörung zu verbergen. Einen Moment lang herrschte Stille. Die Frau legte den Kopf schräg und blickte immer noch auf das Bild.

„Ich habe gehört, Sie hätten die Polizei gerufen, weil Sie gedacht hatten, irgendetwas sei in dem Schrotthaufen da draußen gefangen“, sagte sie.

Bob antwortete nicht. „Ich habe gehört …“ Die Frau fuhr fort und beugte sich näher an die Bilder heran. „… Sie meinten, Sie hätten Schreie gehört, als wäre jemand in Angst und Panik. Irgendetwas war dort gefangen. Ein Kind war gefangen, dachten Sie. Vielleicht mehrere.“

„Hören Sie, wir führen hier ein sauberes Geschäft, und wir haben einen guten Ruf zu verlieren.“

„Ich stelle nicht Ihren guten Ruf infrage. Ganz im Gegenteil. Ich denke, was Sie getan haben, war sehr ehrenhaft. Sie haben mitten in der Nacht Hilfe geleistet, sich die Beine an scharfen Metallkanten aufgerissen, während Sie blindlings über den Platz gelaufen sind.“

„Woher wissen Sie …?“ Bobs Stimme zitterte, und er verstummte. Er zog seine Beine unter den Tisch und hoffte, die Verbände, die deutlich unter seiner Hose zu erkennen waren, zu verbergen.

„Was haben Sie gefunden?“, wollte die Frau wissen.

Er antwortete nicht.

„Was war da draußen?“, fragte sie mit Nachdruck. „Als Sie auf allen vieren zwischen den Stahlträgern und den Kabeln herumgekrochen sind? Was war dort?“

„Nichts“, flüsterte er. „Es war nichts da.“

„Und die Polizei? Die hat auch nichts gefunden?“

„Nein, nichts. Es war absolut nichts da. Ich bin heute noch einmal hinausgegangen, nur um zu …“

Er spreizte die Finger auf der Schreibtischplatte, um sich zu sammeln. „Wir führen ein gutes Geschäft“, erklärte er entschieden. „Es ist mir unangenehm, darüber zu sprechen. Wenn ich in irgendwelchen Schwierigkeiten stecke, dann …“

„Sie stecken nicht in Schwierigkeiten, Bob, solange Sie mir einen kleinen Gefallen tun.“

„Und der wäre?“

„Ganz einfach.“ Die Frau beugte sich über Bob, stützte sich auf die Armlehnen seines Stuhls und brachte ihr Gesicht so nah an seines heran, dass sie sich fast berührten. „Bringen Sie mich dorthin!“

* * *

John fuhr auf den Parkplatz der Baustelle und erkannte sofort Oliver, der am Eingangstor des Maschendrahtzauns stand. Er hatte die Arme verschränkt, kaute auf irgendetwas herum und blickte finster drein. Als deutlich wurde, dass er nicht aus dem Weg gehen würde, hielt John an und stieg aus.

„Was ist los?“, fragte er. Oliver kaute weiter.

„Ich muss dich entlassen“, sagte er schließlich. „Du bist zu spät, schon wieder.“

„Ich bin nicht zu spät“, protestierte John, dann warf er einen Blick auf seine Uhr. „Ich meine, zumindest nicht viel“, fügte er hinzu. „Komm schon, Oliver. Es passiert auch nicht wieder. Tut mir leid.“

„Mir auch“, sagte Oliver. „Viel Glück, John!“

„Oliver!“, rief John. Oliver schlüpfte selbst durch das Tor und verschloss es hinter sich. Er warf noch einen Blick zurück, dann ging er davon. Einen Moment lang lehnte John sich gegen das Auto. Mehrere Kollegen starrten ihn an, wandten sich aber plötzlich ab, als John sie bemerkte. John stieg wieder in sein Auto und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war.

Als John sein Apartment erreichte, setzte er sich auf den Rand seines Bettes und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Und was jetzt?“, fragte er sich laut und sah sich im Zimmer um. Sein Blick fiel auf den einzigen Schmuckgegenstand. „Du siehst immer noch schrecklich aus“, sagte er zu Theodores abgerissenem Kopf. „Und du bist immer noch in einem schlechteren Zustand als ich.“ Plötzlich erinnerte er sich wieder daran, wie er in jener Nacht versucht hatte, zu der Party zu gehen. Der Gedanke löste ein nervöses Flattern in seinem Bauch aus, aber er war sich nicht sicher, was es war – Angst oder Aufregung. Ich habe auch gedacht, dass sie tot ist, hatte Jessica am Abend zuvor gesagt. Ich habe sie gesehen. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist es.

John schloss die Augen. Und wenn sie es nun tatsächlich ist? Wieder sah er sie vor sich, in dem Moment, in dem er sie immer sah: der zitternde Anzug mit Charlie darin gefangen, während er zuckte und knirschte – und dann ihre Hand und das Blut. Sie konnte das nicht überlebt haben. Doch dann erschien vor seinem geistigen Auge noch ein weiteres Bild, unaufgefordert – Dave, der zu Springtrap geworden war. Er hatte das überlebt, was Charlie zugestoßen war. Er hatte den gelben Kaninchenanzug wie eine zweite Haut getragen und zweimal dafür bezahlt: die Narben, die seinen Oberkörper überzogen wie ein Hemd aus Kabelbindern, erzählten die Geschichte seines knappen Entkommens. Und beim zweiten Mal … da hatte Charlie ihn getötet, indem sie die Schnappverschlüsse ausgelöst hatte. Zumindest glaubten das alle. Niemand hätte das überleben können, was sie gesehen hatten. Und doch war er zurückgekehrt. Einen Moment lang stellte John sich Charlie vor, vernarbt und buchstäblich defekt, aber auf wundersame Weise am Leben. „Das klingt aber nicht nach der Person, die Jessica gesehen hat“, sagte John zu Theodore. „Jemanden, der so kaputt und vernarbt ist, den hat Jessica nicht beschrieben.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht die Person, die ich in dem Restaurant gesehen habe.“

AmnächstenTaghattesieausgesehen,alswäresiegeradeeinemMärchenentstiegen. John riss sich zusammen und schüttelte den Kopf, während er versuchte, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er wusste wirklich nicht, was mit Charlie geschehen war. Er spürte, dass er immer mehr bereit war, das Fünkchen Hoffnung zuzulassen. Vielleichthabeichmichgeirrt.VielleichtwarallesinOrdnungmitihr. Genau das hatte er sich gewünscht – das hatten sich in ihrer Trauer alle gewünscht: Essollteeinfachnichtgeschehensein.Allessolltegutsein. Die gewagte Vermutung begann sich zu manifestieren, und John spürte, wie ein schweres Gewicht von seinen Schultern gehoben wurde. Sein Nacken, seine Schultern entspannten sich nach der langen Zeit in dieser verkrampften Haltung, die ihm gar nicht bewusst gewesen war. Die Müdigkeit, die sich in den vielen Monaten voller schlechter Nächte angesammelt hatte, breitete sich plötzlich wie eine Welle in ihm aus.

Er blickte zu Theodore. Er hatte den Kopf des Kaninchens so fest gepackt, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren. Langsam ließ er das Spielzeug los und setzte es auf das Kissen.

„Ich werde nicht dorthin gehen“, sagte er. „Es war nie wirklich meine Absicht, ich wollte nur, dass Jessica mich in Ruhe lässt.“ Einen Moment lang hielt er den Atem an, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. „Stimmt doch, oder?“, sagte er, auf einmal ziemlich aufgebracht. „Was soll ich denn überhaupt zu diesen Leuten sagen?“ Theodore starrte ihn blicklos an.

„Verdammt!“, seufzte John.

* * *

Das Flattern in Johns Magen wurde immer schlimmer, je weiter er sich dem Haus von Clay näherte. Er warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war erst sechs. Vielleichtistüberhauptnochniemandhier, dachte er, doch als er die geschwungene Straße hinunter zum Haus rollte, reihte sich an beiden Seiten der Straße bereits ein Auto ans andere. Er quetschte seinen Wagen zwischen einen Pick-up und eine verrostete Limousine, die fast so verbeult war wie sein eigenes Auto.

Alle Fenster des zweistöckigen Gebäudes waren erleuchtet und hoben sich wie strahlende Leuchtfeuer vor den dunklen Bäumen ab. John blieb zurück, hielt sich aus dem Licht. Er konnte Musik hören, die aus dem Haus drang, und Gelächter. Der Lärm ließ ihn stocken. Er zwang sich, den Rest des Wegs bis zur Tür zu gehen, blieb aber erneut stehen, als er sie erreichte. Hineinzugehen kam ihm wie eine enorme Entscheidung vor, nach der sich einfach alles verändern würde. Aber auch dann, wenn er jetzt einfach fortging.

Er hob die Hand, um zu klingeln, doch dann zögerte er. Bevor er einen Entschluss fassen konnte, wurde die Tür vor ihm aufgerissen. John blinzelte in das plötzlich helle Licht und fand sich direkt Clay Burke gegenüber, der genauso verdutzt zu sein schien wie er.

„John!“ Clay packte John mit beiden Händen, zog ihn ins Haus, umarmte ihn, stieß ihn wieder von sich und klopfte ihm auf die Schultern. „Komm doch rein!“ Clay machte den Weg frei, und John betrat das Haus, wobei er sich vorsichtig im Raum umsah. Bei seinem letzten Besuch hier war das Haus ein Chaos gewesen, vollgestopft mit den Dingen eines Mannes, die zeigten, dass ihm sein Leben entglitt. Jetzt waren die Wäscheberge und Aktenschränke verschwunden. Die Sofas und der Boden waren sauber, und Clay selbst lachte offen und ehrlich. Er sah John in die Augen, und sein Lächeln verblasste.

„Eine Menge hat sich verändert.“ Er lächelte, als würde er Johns Gedanken lesen.

„Ist Betty …?“ John unterbrach sich zu spät. Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Nein, sie ist immer noch weg“, antwortete Clay unbewegt. „Ich wünschte, sie würde zurück nach Hause kommen. Vielleicht tut sie es ja auch eines Tages. Das Leben geht weiter“, fügte er mit einem knappen Lächeln hinzu. John nickte, weil er sich nicht sicher war, was er sagen sollte.

„John!“ Marla winkte von der Treppe herüber und kam sofort mit ihrer übersprudelnden Energie herübergestürmt, umarmte ihn, bevor er auch nur Hallo sagen konnte. Auch Jessica tauchte auf, sie kam aus der Küche.

„Hey, John!“, sagte Jessica zwar ruhiger, aber mit einem strahlenden Lächeln.

„Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Es ist so lange her“, meinte Marla und ließ ihn schließlich los.

„Ja“, sagte er. „Viel zu lange.“ Er überlegte, was er sonst noch sagen könnte, und Marla und Jessica warfen einander einen Blick zu. Jessica öffnete den Mund, wurde aber von Carlton unterbrochen, der aufgeregt die Treppe heruntergepoltert kam.

„Carlton!“, rief John und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend aus ganzem Herzen. Carlton winkte und kam zu den anderen herüber.

„Hey!“, sagte er.

„Hey!“, wiederholte John, während Carlton John durchs Haar wuschelte.

„Bist du jetzt schon mein Großvater?“ John machte eine halbherzige Geste, um sich das Haar wieder glatt zu streichen, während er die anderen musterte.

„Ich bin überrascht, dass du gekommen bist.“ Marla schlug ihm auf die Schulter.

„Natürlich ist er gekommen!“, korrigierte Carlton sofort. „Ich weiß nur, dass du viel zu tun hast! Zu viele Freundinnen, habe ich recht?“

„Wie ist es in New York?“, erkundigte sich John, um irgendein Thema anzuschneiden, während er seine Kleidung zurechtzupfte.

„Toll! Die Uni, die Stadt – lernen – Freunde. Ich war in einem Theaterstück über ein Pferd. Es war echt toll.“ Er nickte heftig. „Marla ist auch an der Uni.“

„In Ohio“, rief Marla dazwischen. „Ich bin im medizinischen Vorbereitungsjahr.“

„Das ist wunderbar.“ John grinste.

„Ja, es war viel harte Arbeit, aber die war es wert“, meinte sie fröhlich, und John begann sich zu entspannen. Allmählich fühlte er sich wieder vertraut mit seinen Freunden. Marla war immer noch Marla. Carlton war immer noch undurchschaubar.

„Ist Lamar da?“, fragte Carlton und blickte einen nach dem anderen an. Marla schüttelte den Kopf.

„Ich habe ihn angerufen, als … vor ein paar Monaten“, sagte sie. „Er will seinen Abschluss vorziehen.“

„Und er kommt nicht?“, bohrte Carlton nach. Marla lächelte leicht.

„Er hat gesagt: ‚Ich werde nie, nie, nie wieder einen Fuß in diese Stadt setzen, nicht, solange ich lebe, und du solltest das auch nicht tun.‘ Aber er hat gesagt, wir seien alle bei ihm willkommen.“

„In New Jersey?“ Carlton machte ein skeptisches Gesicht, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Jessica zu. „Jessica, was ist eigentlich im Moment mit dir los? Ich habe gehört, du hättest eure Studentenbude jetzt ganz für dich allein.“

John erstarrte, da ihm plötzlich klar wurde, was Carlton in Wirklichkeit fragte. Das Licht blendete ihn auf einmal, die Geräusche wurden lauter. Jessica warf John einen Blick zu, aber er erwiderte ihn nicht.

„Ja“, sagte sie und wandte sich wieder den anderen zu. „Ich weiß auch nicht, was passiert ist, aber ich bin eines Tages zurückgekommen … ungefähr vor sechs Monaten, und sie hatte schon alles zusammengepackt, was sie tragen konnte. John und mir hat sie es überlassen, den Rest aufzuräumen. Wären wir nicht gerade zur Tür hereingekommen … ich glaube nicht, dass sie vorgehabt hätte, uns mitzuteilen, dass sie auszieht.“

„Hat sie gesagt, wohin sie will?“, fragte Marla mit gerunzelter Stirn. Jessica schüttelte den Kopf.

„Sie hat mich umarmt und mir gesagt, sie würde mich vermissen, aber ansonsten meinte sie nur, dass sie gehen müsse. Wohin, hat sie mir nicht gesagt.“

„Das können wir sie ja immer noch fragen“, meinte Carlton. Erstaunt blickte John ihn an.

„Hast du sie gesehen?“

Carlton schüttelte den Kopf. „Noch nicht, ich bin erst heute gelandet, aber sie wird heute Abend hier sein. Jessica sagt, sie sieht gut aus.“

„Okay“, meinte John. Alle schauten ihn an, als könnten sie erkennen, was er dachte. Sie sieht gut aus, aber sie sieht nicht aus wie Charlie.

„John, hilf mir doch bitte mal eben in der Küche!“, rief Clay, und John löste sich erleichtert aus der Gruppe, obwohl er sich gleichzeitig bewusst war, dass er in der Küche keine große Hilfe sein würde.

„Was gibt es?“, erkundigte er sich. Clay lehnte am Waschbecken und musterte ihn von oben bis unten. „Soll ich die Ketchupflasche aufmachen?“, fragte John und wurde zunehmend nervös. „Ist irgendwo das Regal zu hoch?“

Clay seufzte. „Ich wollte nur sichergehen, dass es dir da draußen gut geht.“

„Wie meinst du das?“

„Ich dachte, du bist vielleicht nervös. Ich weiß, dass es eine Weile her ist, seit du und Charlie … seit ihr miteinander gesprochen habt.“

„Es ist auch eine Weile her, seit du und ich miteinander gesprochen haben“, erklärte John, ohne dass es ihm möglich war, eine gewisse Schärfe aus seiner Stimme zu nehmen.

„Also, das ist etwas anderes, und du weißt es“, erwiderte Clay trocken. „Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Aufmunterung brauchen.“

„Aufmunterung?“, wiederholte John.

Clay zuckte die Achseln. „Und, brauchst du Aufmunterung?“ Clay starrte ihn fest an, doch mit einer gewissen Sanftheit in den Augen, und Johns Nerven beruhigten sich etwas.

„Jessica hat es dir erzählt?“, fragte er, und Clay legte den Kopf zur Seite.

„Einiges. Wahrscheinlich nicht alles. Hier.“ Clay öffnete die Kühlschranktür, an der er gelehnt hatte, und reichte John eine Cola. „Versuch, dich zu entspannen. Du bist hier unter Freunden. Diese Menschen da draußen mögen dich.“ Clay lächelte.

„Ich weiß“, erwiderte John und stellte die Dose auf die Arbeitsplatte neben sich. Er betrachtete sie eine Sekunde, nahm sie aber nicht hoch, weil er das Gefühl hatte, würde er sie trinken, wäre das ein Zeichen dafür, dass er nachgebe, dass er alles akzeptieren würde, was man ihm erzählte. Es käme genau der Pille gleich, die hier offenbar alle anderen bereits geschluckt hatten.

John warf einen Blick zur Hintertür.

„Denk nicht mal dran“, sagte Clay abrupt. John versuchte gar nicht erst, so zu tun, als hätte er nicht daran gedacht. Clay seufzte. „Ich weiß, wie hart das für euch sein muss.“

„Weißt du das?“, entgegnete John scharf, aber Clays Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

„Bleib und rede mit ihr. Ich finde, das schuldest du ihr und auch dir selbst.“

Johns Blick war immer noch auf die Tür geheftet.

„All dieser Kummer, den du dir zumutest, das kann doch nicht das sein, was du willst.“ Clay beugte sich zur Seite und in Johns Blickfeld.

„Du hast recht“, sagte John. Er richtete sich auf und erwiderte Clays Blick. „Das ist nicht das, was ich will.“ Er ging zur Hintertür, stieß sie auf und lief die Betonstufen so schnell hinab, als würde Clay ihn verfolgen. Dann ging er mit klopfendem Herzen um die Seite des Hauses herum und zu seinem Auto. Ihm war ein wenig schwindelig, und er hatte keine Ahnung, ob er gerade die richtige Entscheidung traf.

„John!“, rief jemand hinter ihm. Die vertraute Stimme ließ ihn zusammenzucken, und er blieb stehen. Einen Moment lang schloss er die Augen.

Er hörte ihre hohen Hacken auf dem Bürgersteig, dann wurden die Schritte leiser, als sie über das Gras zu ihm kamen. Er öffnete die Augen und wandte sich ihrer Stimme zu. Sie stand keine zwei Meter von ihm entfernt.

„Danke, dass du gewartet hast“, sagte Charlie. Sie wirkte aufgeregt. Ihre Arme hatte sie trotz des milden Wetters eng um den Körper geschlungen, als wäre ihr kalt.

„Ich wollte nur meine Jacke holen“, sagte John und versuchte dabei, so unaufgeregt wie möglich zu klingen, obwohl es sich dabei um eine offensichtliche Lüge handelte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, und sie rührte sich nicht von der Stelle, als wüsste sie, was er tat und wieso. Sieistesnicht. Sie sah vielleicht aus wie eine hübsche Cousine von Charlie, aber sie war es nicht. Nicht das rundgesichtige, ungeschickte Mädchen mit dem krausen Haar, das er fast sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Sie war größer, dünner, ihr Haar länger, dunkler. Ihr Gesicht war in unheimlicher Weise anders, obgleich er nicht genau erklären konnte, in welcher Hinsicht. Selbst ihre Haltung, während sie dastand und aufgeregt die Arme um sich schlang, wirkte irgendwie elegant. Während er sie anblickte, wich der erste Schock des Wiedersehens plötzlicher Übelkeit. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Wiekannnurirgendjemandglauben,dasssiedasist?, dachte er. Wiekannirgendjemandglauben,dasseimeineCharlie?

Sie biss sich auf die Lippe. „John, sag doch etwas“, bat sie ihn flehend. Er zuckte die Achseln und hob einfach nur beide Hände.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, gestand er.

Sie nickte. Dann ließ sie die Arme sinken, als hätte sie gerade begriffen, wie fest sie sich selbst gehalten hatte, und begann an ihren Nägeln zu zupfen. „Ich freue mich so sehr, dich zu sehen“, sagte sie und klang, als würde sie gleich anfangen zu weinen. John spürte Mitgefühl in sich aufsteigen, verdrängte es jedoch sofort wieder.

„Ich mich auch“, sagte er, und es klang irgendwie monoton.

„Ich habe dich vermisst“, begann sie erneut und suchte in seinem Gesicht nach irgendeiner Regung. John hatte keine Ahnung, wie er wohl aussah, aber er fühlte sich wie ein Stein. „Ich … äh … musste mal für eine Weile weg“, fuhr sie unsicher fort. „In der Nacht, John, da habe ich gedacht, ich müsste sterben.“

„Ich dachte, du seist gestorben“, erwiderte er und versuchte den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in seiner Kehle gebildet hatte.

Sie zögerte.

„Du glaubst, ich bin nicht ich?“, fragte sie schließlich leise.

Einen Moment blickte er hinunter auf seine Füße, denn er konnte es ihr nicht ins Gesicht sagen.

„Jessica hat es mir erzählt. Das ist okay, John“, erklärte sie. „Ich möchte einfach nur, dass du weißt, dass es okay ist.“ Ihre Augen glänzten voller Tränen. Sein Herz machte einen Satz, und plötzlich schien sich die ganze Welt um ihn herum zu verändern.

Er blickte auf die Frau, die zusammengesunken vor ihm stand und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Die Veränderungen, die er an ihr bemerkt hatte, waren plötzlich Dinge, die sich so leicht erklären ließen. Ihre Schuhe hatten Absätze, deswegen war sie größer. Sie trug ein körperbetontes Kleid anstatt der gewöhnlichen Jeans mit einem T-Shirt, weswegen sie ihm dünner erschien. Es waren elegante Sachen, die sie anhatte, und sie bewegte sich selbstbewusst, erfahren, aber es waren alles nur Äußerlichkeiten, zu denen Jessica ihr schon immer geraten hatte. Charlie war einfach erwachsen geworden.

Wir sind alle erwachsen geworden.

John dachte an die Strecke, die er von der Arbeit nach Hause gefahren war – zumindest bis heute Morgen –, die Strecke, die er gemieden hatte, weil sie an ihrem Haus vorbeiführte und an der Stelle, wo früher das Freddy Fazbear’s gestanden hatte. Vielleicht gab es bei Charlie auch Dinge, die sie gern vermied. Vielleicht wollte sie einfach anders sein.

Vielleicht hatte sie sich so verändern wollen, wie du selbst es getan hast. Wenn du an den Moment denkst, was hat er mit dir gemacht – und was hat er dann wohl mit ihr gemacht? Was für Albträume hast du, Charlie? Auf einmal hatte er das unstillbare instinktive Bedürfnis, sie danach zu fragen, und zum ersten Mal erlaubte er sich, ihr in die Augen zu sehen. Sein Magen verkrampfte sich, als er es tat, und sein Herz begann zu rasen. Zaghaft lächelte sie ihn an, und er lächelte zurück, spiegelte ihr Verhalten unbewusst, aber irgendetwas Kaltes packte ihn. Das sind nicht ihre Augen.

John senkte den Blick, und eine große Ruhe breitete sich in ihm aus. Sofort schien Charlie verwirrt. „Charlie“, fragte John behutsam. „Erinnerst du dich an das Letzte, was ich zu dir gesagt habe, bevor du … in dem Anzug eingequetscht wurdest?“ Sie sah ihn einen Moment an, dann schüttelte sie den Kopf.

„Tut mir leid, John“, sagte sie. „Ich erinnere mich kaum noch an diese Nacht. Vieles ist einfach … verschwunden. Ich erinnere mich daran, dass ich in dem Anzug gesteckt habe … ich bin ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich war ich es stundenlang.“

„Du erinnerst dich also nicht?“, wiederholte er düster. Es erschien ihm unmöglich, dass sie es vergessen hatte. Vielleicht hat sie mich nicht gehört.

„Bist du verletzt worden?“, fragte er schroff.

Sie nickte schweigend, ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, und wieder schlang sie die Arme um ihren Körper. Diesmal schien es nicht daran zu liegen, dass ihr kalt war. Es wirkte eher, als hätte sie Schmerzen. Vielleicht hatte sie die auch. John trat einen Schritt auf sie zu. Auf einmal wollte er ihr geradezu verzweifelt versprechen, dass alles gut werden würde. Doch dann trafen sich ihre Blicke. Er blieb stehen und wich zurück. Sie streckte eine Hand aus, aber er ergriff sie nicht, und wieder legte sie die Arme um ihren Körper.

„John, würdest du dich morgen mit mir treffen?“, fragte sie.

„Warum?“, fragte er, bevor er richtig nachgedacht hatte, aber sie reagierte nicht darauf.

„Ich möchte einfach nur mit dir reden. Gib mir eine Chance.“ Ihre Stimme bebte, und er nickte.

„Sicher. Klar, wir treffen uns morgen.“ Er hielt kurz inne. „Im selben Laden, okay?“, fügte er zögernd hinzu, um zu sehen, wie sie reagierte.

„Dem Italiener? Unser erster Abend?“, sagte sie und lächelte. Ihre Tränen schienen versiegt zu sein. „Gegen sechs?“

John atmete einmal tief durch. „Ja.“ Wieder sah er ihr in die Augen und hielt ihrem Blick stand, zum ersten Mal an diesem Abend. Reglos betrachtete sie ihn, als hätte sie Angst, ihn zu verschrecken. John nickte, dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon. Zügig lief er zu seinem Auto und hatte Mühe, seinen Schritt gleichmäßig zu halten. Er fühlte sich, als wäre ihm etwas Wundervolles gelungen, und gleichzeitig, als hätte er einen schrecklichen Fehler begangen. Ein ganz seltsames Gefühl durchflutete ihn, wie ein Adrenalinrausch, und während er durch die Dunkelheit fuhr, stellte er sich erneut ihr Gesicht vor.

Das waren nicht ihre Augen.

* * *

Charlie blickte ihm nach, ohne sich von der Stelle zu rühren, als wäre dies der Ort, an dem sie schon ihr ganzes Leben lang gestanden hatte. Er glaubt mir nicht. Jessica hatte ihr nicht von Johns seltsamer und hartnäckiger Überzeugung erzählen wollen, aber seine Weigerung, jetzt mit ihr zu sprechen, sein Widerwille, auch nur ihre Anwesenheit damals im Restaurant anzuerkennen, war einfach zu grotesk, um sie zu übergehen. Wie kann er nur glauben, dass ich nicht ich bin?