Five Nights at Freddy's: Durchgeknallt - Scott Cawthon - E-Book

Five Nights at Freddy's: Durchgeknallt E-Book

Scott Cawthon

3,0

Beschreibung

Band 2 der offiziellen Romanreihe zum kultigen Survival-Horror Überraschungserfolg Five Nights at Freddy's. Seit den unheimlichen Geschehnissen in Freddy's Pizzeria ist ein Jahr vergangen. Charlie versucht den Horror zu vergessen, doch gerade als sie neuen Mut schöpft, werden in der Nähe ihrer Schule ein paar Leichen entdeckt, deren Zustand ihr nur allzu vertraut ist. Die animatronischen Killerpuppen scheinen wieder auf der Jagd zu sein ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 361

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



FIVE NIGHTS AT FREDDY’S

Die Romanreihe von Scott Cawthon

Band 1: Die silbernen Augen

ISBN 978-3-8332-3519-1

Band 2: Durchgeknallt

ISBN 978-3-8332-3616-7

Nähere Infos und weitere spannende Romane unter www.paninibooks.de

Roman

Von Scott Cawthon & Kira Breed-Wrisley

Aus dem Englischen von Robert Mountainbeau

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „Five Nights at Freddy’s: The Twisted Ones“ by Scott Cawthon and Kira Breed-Wrisley published in the US by Scholastic Inc., New York, 2017.

Copyright © 2017 Scott Cawthon. All rights reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Robert Mountainbeau

Lektorat: Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDFIVE002E

ISBN 978-3-7367-9977-6

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3616-7

1. Auflage, Juni 2018

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

1

„Trauen Sie niemals Ihren Augen.“

Dr. Treadwell ging auf der Bühne des Auditoriums auf und ab. Ihre Schritte waren langsam und gleichmäßig, fast hypnotisierend. „Ihre Augen täuschen Sie jeden Tag, indem sie die Lücken in dieser Welt der Reizüberflutung für Sie füllen.“

Auf der Leinwand hinter ihr erschien ein Bild, das eine Fülle schwindelerregender geometrischer Details zeigte.

„Wenn ich ‚Reizüberflutung‘ sage, dann meine ich das wörtlich. In jedem Augenblick strömen weit mehr Informationen auf Ihre Sinne ein, als Sie gleichzeitig verarbeiten könnten, deswegen ist Ihr Hirn dazu gezwungen auszuwählen, welchen Signalen es seine Aufmerksamkeit schenken will. Das tut es, basierend auf Ihren Erfahrungen und darauf, was Sie für normal halten. Die Dinge, die uns vertraut sind, sind die Dinge, die wir – in der Regel – ignorieren können. Ganz einfach können wir das an der sogenannten olfaktorischen Ermüdung sehen: Ihre Nase nimmt einen Geruch nicht mehr wahr, wenn Sie ihm eine Zeit lang ausgesetzt waren. Unter Umständen sind Sie für dieses Phänomen äußerst dankbar, je nach den Gewohnheiten Ihres Mitbewohners.“

Die Studenten lachten pflichtschuldig, verstummten aber sofort wieder, als das Bild eines weiteren, vielfarbigen Musters auf der Leinwand erschien.

Die Professorin zeigte die Andeutung eines Lächelns und fuhr fort.

„Ihr Hirn erkennt Bewegung, wo keine ist. Es ergänzt Farben und Linien, die auf dem basieren, was Sie zuvor schon einmal gesehen haben, und berechnet, was Sie jetzt sehen sollten.“

Ein weiteres Bild erschien auf der Leinwand.

„Würde Ihr Hirn diese Arbeit nicht leisten, würde es Sie schon all ihre mentale Energie kosten, einen Baum zu betrachten. Sie wären dann zu nichts anderem mehr in der Lage. Um in dieser Welt funktionieren zu können, füllt Ihr Hirn die Lücken in diesem Baum mit seinen eigenen Blättern und Zweigen.“ Hundert Stifte kratzten gleichzeitig über Papier und erfüllten den Hörsaal mit einem Geräusch, das wie umherhuschende Mäuse klang.

„Das ist der Grund, warum Ihnen, wenn Sie ein Haus zum ersten Mal betreten, kurz schwindelig wird. Ihr Hirn muss mehr als gewöhnlich verarbeiten. Es zeichnet einen Grundriss, entwirft eine Farbpalette und speichert einen Vorrat an Bildern ab, aus dem es sich später bedienen kann, damit Sie nicht jedes Mal erneut so viele Informationen aufnehmen müssen. Wenn Sie dasselbe Haus erneut betreten, wissen Sie bereits, wo Sie sich befinden.“

„Charlie!“ Eine drängende Stimme flüsterte ihren Namen, nur Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. Charlie schrieb weiter. Sie blickte starr auf das, was sich auf dem Podium des Hörsaals abspielte.

Während Dr. Treadwell fortfuhr, wurden ihre Schritte schneller, und gelegentlich deutete sie auf die Leinwand, um zu verdeutlichen, worauf sie hinauswollte. Ihre Worte schienen mit dem Tempo ihrer Gedanken nicht mithalten zu können. Bereits am zweiten Tag des Kurses war Charlie aufgefallen, dass ihre Professorin manchmal einen Satz in der Mitte abbrach, um dann einen völlig anderen zu beenden. Man hatte den Eindruck, sie würde den Text in ihrem Kopf überfliegen und hier und dort ein paar Worte laut vorlesen. Die meisten Teilnehmer des Studiengangs für Robotertechnik machte das wahnsinnig, aber Charlie gefiel es. Dadurch wurde die Vorlesung zu einer Art Puzzle, das erst zusammengesetzt werden wollte.

Wieder erschien ein neues Bild auf der Leinwand. Es zeigte verschiedene mechanische Bauteile und die schematische Darstellung eines Auges. „Und das ist es, was Sie nachbauen müssen.“ Dr. Treadwell trat ein paar Schritte zurück, um gemeinsam mit den Studenten das Bild zu betrachten. „Bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz geht es zu Beginn ausschließlich um die Verarbeitung von Reizen. Sie haben es nicht mit einem Hirn zu tun, das diese Dinge von ganz allein filtern kann. Sie müssen Programme entwerfen, die einfache Formen erkennen und dabei unwichtige Informationen aussortieren. Sie müssen für Ihren Roboter das tun, was Ihr eigenes Hirn für Sie tut: eine vereinfachte und geordnete Zusammenstellung an Informationen kreieren, die sich danach richtet, was tatsächlich relevant ist. Sehen wir uns einmal ein paar Beispiele für einfache Formenerkennung an.“

„Charlie“, zischte die Stimme erneut, und sie versuchte mit einer ungeduldigen Handbewegung die Gestalt fortzuscheuchen, die ihr über die Schulter spähte. Es war ihr Freund Arty. Die Unterbrechung kostete sie einen Moment ihrer Aufmerksamkeit, und sie fiel etwas hinter die Ausführungen der Professorin zurück. Schnell versuchte sie wieder aufzuholen, weil sie keinen einzigen Satz verpassen wollte.

Das Papier, auf dem sie schrieb, war bedeckt mit Formeln, Randnotizen, Skizzen und Diagrammen. Sie wollte alles gleichzeitig niederschreiben. Nicht nur die mathematischen Fakten, sondern auch all die Dinge, die ihr dazu einfielen. Wenn es ihr gelang, die neuen Erkenntnisse mit ihrem bereits vorhandenen Wissen zu verknüpfen, würde sie sich alles leichter merken können. Sie hungerte geradezu nach dem, was sie hier hörte, und wartete voller Spannung wie ein Hund unter dem Esstisch auf all diese informativen Leckerbissen.

Ein Junge, der weiter vorn saß, hob eine Hand, um eine Frage zu stellen, und Charlie spürte, wie eine Welle der Ungeduld sie überlief. Jetzt würde der ganze Kurs warten müssen, während die Professorin noch einmal einen ganz einfachen Begriff erklärte. Charlie ließ ihre Gedanken schweifen und zeichnete abwesend kleine Skizzen an den Rand ihres Notizblocks.

John würde in – unruhig warf sie einen Blick auf ihre Uhr – einer Stunde hier sein. Ich habe ihm gesagt, dass wir uns vielleicht eines Tages wiedersehen werden. Ich schätze, heute ist dieser Tag. Er hatte sie völlig überraschend angerufen: „Ich komme nur kurz vorbei“, hatte er gesagt, und Charlie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu fragen, woher er wusste, wo sie war. Natürlich wusste er es. Und es gab keinen Grund, sich nicht mit ihm zu treffen. Doch sie schwankte zwischen einer gewissen Aufregung und ebenso starker Furcht. Während sie kleine Rechtecke an den unteren Rand ihres Notizblocks zeichnete, zog sich ihr Magen zusammen. Es kam ihr vor, als habe sie John seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihn erst gestern getroffen zu haben, als sei inzwischen kein ganzes Jahr vergangen. Aber das stimmte natürlich nicht, und für Charlie hatte sich wieder einmal alles verändert.

In jenem Mai, in der Nacht vor ihrem achtzehnten Geburtstag, hatten die Träume begonnen. Charlie war an diese Albträume gewöhnt, in denen die schlimmsten Erlebnisse ihrer Vergangenheit wie bittere Galle in ihr aufstiegen, verzerrte Erinnerungen dessen, was allein schon zu schrecklich war, um es sich noch einmal vor Augen zu führen. Sie hatte diese Träume am folgenden Morgen immer verdrängt, doch sie wusste, sobald die Nacht anbrach, würden sie zurückkehren.

Doch diese neuen Träume waren anders. Wenn sie aufwachte, fühlte sie sich stets körperlich vollkommen erschöpft. Sie war nicht nur ausgelaugt, ihr tat auch alles weh, und ihre Muskeln besaßen keine Kraft mehr. Ihre Hände waren steif und schmerzten, als hätte sie stundenlang die Fäuste geballt. Diese Träume suchten sie nicht jede Nacht heim, doch wenn sie kamen, drängten sie sich in ihre gewöhnlichen Albträume. Es war egal, ob sie gerade rannte und um ihr Leben schrie oder ziellos durch ein düsteres Sammelsurium der verschiedenen Orte irrte, an denen sie schon die ganze Woche gewesen war. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, spürte sie ihn dann: Sammy, ihren verschwundenen Zwillingsbruder, und er war ganz in der Nähe.

Sie wusste, dass er genauso gegenwärtig war wie sie. Und in welchem Traum auch immer sie sich gerade befand, alles löste sich in diesen Momenten einfach auf – Menschen, Orte, Licht, Geräusche. Dann suchte sie Sammy in der Dunkelheit, rief seinen Namen. Er antwortete nie. Sie ließ sich auf alle viere nieder und ertastete sich in der Dunkelheit ihren Weg, während sie sich von seiner Gegenwart leiten ließ, bis sie auf ein Hindernis stieß. Es war immer glatt und kühl. Metall. Sie konnte es nicht sehen, aber sie schlug mit der Faust dagegen, und ein hohles Echo erklang.

„Sammy?“, rief sie und schlug noch fester zu. Sie stand auf und tastete die glatte Oberfläche ab, um herauszufinden, ob sie daran hinaufklettern konnte, doch das Ding ragte noch weit über ihren Kopf empor. Mit den Fäusten trommelte sie auf das Hindernis ein, bis es schmerzte. Sie schrie den Namen ihres Bruders, bis sie heiser war, bis sie zu Boden sank und sich gegen das Metall lehnte, wobei sie ihre Wange gegen die kühle Oberfläche presste und hoffte, von der anderen Seite ein Flüstern zu vernehmen. Er war dort. Das wusste sie so sicher, als sei er ein Teil ihrer selbst.

In diesen Träumen gab es keinen Zweifel daran, dass er anwesend war. Doch sobald sie wach war, wusste sie, dass er nicht da war.

Im August hatten Charlie und Tante Jen ihre erste Auseinandersetzung gehabt. Ihr Verhältnis war immer zu distanziert gewesen, um wirklich in Streit zu geraten. Charlie hatte nie das Bedürfnis gehabt zu rebellieren, da Jen für sie keine wirkliche Autoritätsperson darstellte. Und Jen nahm nie etwas persönlich, das Charlie tat, versuchte nie, sie von irgendetwas abzuhalten, solange sie sich nicht in Gefahr begab. An dem Tag, als Charlie mit sieben Jahren zu ihr gezogen war, hatte Tante Jen ihr sofort gesagt, dass sie kein Ersatz für Charlies Eltern sei. Inzwischen war Charlie alt genug, um zu verstehen, dass Jen es als eine Geste des Respekts gemeint hatte, um Charlie zu versichern, dass ihr Vater nie in Vergessenheit geraten, dass sie immer sein Kind bleiben würde. Aber damals war es ihr wie eine Ermahnung vorgekommen. Erwarte nicht, dass ich dich wie mein Kind behandele. Erwarte keine Liebe. Und deswegen hatte Charlie das auch nicht getan. Jen hatte sich immer um Charlie gekümmert, sie mit Essen und Kleidung versorgt, ihr das Kochen beigebracht, sie gelehrt, wie man einen Haushalt führt, wie man mit Geld umgeht und das eigene Auto repariert. Du musst unabhängig sein, Charlie. Es ist wichtig, dass du auf dich selbst achtgeben kannst. Du musst stärker sein als … Sie hatte sich unterbrochen, aber Charlie wusste, wie der Satz enden würde. Als dein Vater.

Charlie schüttelte den Kopf, um diese Erinnerungen abzuschütteln.

„Was ist?“, fragte Arty, der neben ihr saß.

„Nichts“, flüsterte sie. Immer wieder fuhr sie mit ihrem Bleistift dieselben Linien nach: hoch, runter, zur Seite. Die Striche wurden immer dicker.

Charlie hatte Jen gesagt, dass sie nach Hurricane zurückfahren würde. Jen hatte sie mit versteinerter Miene angesehen und war ganz blass geworden.

„Wieso hast du das vor?“, fragte sie mit einer gefährlichen Ruhe in der Stimme. Charlies Herz schlug schneller. Weil ich ihn dort verloren habe. Weil ich ihn mehr brauche als dich. Der Gedanke zurückzukehren, war jetzt schon seit Monaten in ihrem Kopf und wurde mit jeder Woche, die verging, stärker. Eines Morgens dann war sie aufgewacht und hatte ihre Entscheidung getroffen, endgültig, tief in ihren Gedanken verankert.

„Jessica geht aufs St. George College“, sagte sie ihrer Tante. „Sie fängt zum Sommersemester an, deswegen kann ich bei ihr wohnen, während ich dort bin. Ich möchte das Haus noch einmal sehen. Es gibt immer noch so viel, was ich nicht verstehe. Ich habe einfach das Gefühl … es ist wichtig“, beendete sie ihren Satz lahm und schrumpfte unter dem Blick aus Jens dunkelblauen Augen, die wie Murmeln wirkten, in sich zusammen.

Eine ganze Weile schwieg Jen, dann sagte sie nur: „Nein.“

Wieso nicht?, hätte Charlie früher vielleicht entgegnet. Du hast mich doch sonst auch hinfahren lassen. Aber nach dem, was letztes Jahr geschehen war, als sie und Jessica und die anderen zum Freddy’s zurückgekehrt waren und die entsetzlichen Dinge entdeckt hatten, die sich hinter den Morden in der alten Pizzeria ihres Vaters verbargen, hatte sich ihr Verhältnis verändert. Charlie hatte sich verändert. Jetzt hielt sie Jens Blick entschlossen stand. „Ich fahre“, sagte sie, bemüht, dass ihre Stimme nicht zitterte.

In diesem Moment geriet die Situation völlig außer Kontrolle.

Charlie wusste nicht mehr, wer von ihnen beiden zuerst angefangen hatte zu schreien, aber sie brüllte, bis ihre Kehle brannte, und warf ihrer Tante jeden Schmerz an den Kopf, den sie ihr jemals zugefügt hatte, jeden Schmerz, den sie nicht verhindert hatte. Jen schnauzte zurück, dass sie immer nur für Charlie hatte sorgen wollen, dass sie immer ihr Bestes gegeben habe, doch die Worte troffen irgendwie vor Gift.

„Ich fahre!“, erklärte Charlie entschieden, ohne noch irgendeinen Widerspruch zu dulden. Sie lief zur Tür, aber Jen packte sie am Arm und riss sie heftig zurück. Charlie verlor das Gleichgewicht und stürzte fast, bevor sie sich am Küchentisch festhalten konnte, und Jen ließ erschrocken los. Einen Augenblick sahen sich die beiden schweigend an, dann ging Charlie hinaus.

Sie packte eine Tasche und hatte das Gefühl, irgendwie aus der Wirklichkeit hinausgetreten zu sein, in eine ihr völlig fremde Parallelwelt. Dann stieg sie in ihr Auto und fuhr davon. Sie erzählte niemandem, wohin sie wollte. Die Freunde, die sie hier hatte, standen ihr nicht besonders nah, und keinem schuldete sie eine Erklärung.

Als Charlie Hurricane erreichte, wollte sie eigentlich direkt zu dem Haus ihres Vaters fahren, um die nächsten paar Tage dort zu verbringen, bis Jessica auf dem Campus eintreffen würde. Doch als sie die Stadtgrenze erreichte, hielt sie irgendetwas zurück. Ich kann es nicht, dachte sie. Ich kann niemals dorthin zurückgehen. Sie drehte um, fuhr direkt zum St. George und schlief eine Woche lang in ihrem Auto.

Erst nachdem sie geklopft hatte und Jessica überrascht die Tür öffnete, begriff Charlie, dass sie ihrer Freundin gegenüber nichts von ihren Plänen erwähnt hatte. Also erklärte sie Jessica, was sie vorhatte, und die bot ihr zögernd an, zu bleiben. Bis zum Ende des Sommers hatte sie dann auf dem Boden geschlafen, und als das Herbstsemester näher rückte, bat Jessica sie nicht darum, zu gehen.

„Es ist schön, jemanden hier zu haben, der mich kennt“, hatte sie gesagt, und Charlie hatte ihre Freundin umarmt, obwohl das sonst eigentlich überhaupt nicht ihre Art war.

Die Highschool war Charlie immer egal gewesen. Sie hatte im Unterricht nie besonders aufgepasst, trotzdem bekam sie gute Noten. Auch die Fächer hatte sie weder besonders gemocht noch gehasst, obwohl es manchmal dem einen oder anderen Lehrer gelang, für eine gewisse Zeit einen Funken von Interesse bei ihr zu entzünden.

Über das Ende des Sommers hatte Charlie sich nicht wirklich Gedanken gemacht, doch als sie träge das Vorlesungsverzeichnis durchblätterte und Aufbaukurse für Robotik entdeckte, war ihr plötzlich klar, was sie tun wollte. St. George gehörte zu den Colleges, bei denen sie Anfang des Jahres angenommen worden war, obwohl sie nie vorgehabt hatte, eins davon zu besuchen. Jetzt allerdings wurde sie im Sekretariat vorstellig und trug ihr Anliegen vor, bis man ihr erlaubte, sich einzuschreiben, obwohl sie die dafür notwendige Frist eigentlich um Monate versäumt hatte. Es gibt immer noch so viel, was ich nicht verstehe. Charlie wollte lernen, und die Dinge, die sie lernen wollte, waren sehr speziell.

Natürlich gab es Dinge, mit denen sie sich beschäftigen musste, bevor es Sinn machte, an Vorlesungen über Robotik teilzunehmen. Mathematik war für Charlie immer sehr direkt, funktionell, fast wie ein Spiel gewesen. Man tat einfach, was nötig war, und bekam ein Ergebnis. Trotzdem war es nie ein besonders interessantes Spiel gewesen. Natürlich machte es Spaß, etwas Neues zu lernen, aber dann musste man sich wochenlang und bis zum Erbrechen damit beschäftigen. Doch schon während ihrer ersten Vorlesung in Analysis war etwas geschehen. Es kam ihr vor, als habe sie seit Jahren Stein um Stein eine Mauer hochgezogen und nichts gesehen außer dem Mörtel und ihrer Kelle, bis sie nun jemand einen Schritt zurück zog und sagte: „Sieh nur, dieses Schloss hast du gebaut. Du kannst jetzt hineingehen und darin spielen!“

„Das wäre es für heute“, erklärte Dr. Treadwell schließlich. Charlie blickte auf das Stück Papier vor ihr und bemerkte, dass sie die ganze Zeit darauf herumgekritzelt hatte. Sie hatte dabei das Papier durchgedrückt und die Striche schon auf den Schreibtisch gemalt. Halbherzig versuchte sie, den Grafit mit ihrem Ärmel von der Platte zu reiben. Dann öffnete sie eine Mappe, um ihre Notizen zu verstauen. Arty schob seinen Kopf über ihre Schulter, und hastig klappte sie den Aktendeckel zu, doch er hatte genug gesehen.

„Was ist das? Ein Geheimcode? Abstrakte Kunst?“

„Nur Mathe“, erwiderte Charlie ziemlich knapp und schob die Mappe in ihre Tasche. Arty war in seiner verpeilten Art irgendwie niedlich. Er hatte ein angenehmes Gesicht, dunkle Augen und lockiges braunes Haar, das ein Eigenleben zu führen schien. Er hatte ebenfalls drei ihrer vier Kurse belegt und und tapste seit Semesterbeginn wie ein verirrtes Entenjunges hinter ihr her. Charlie bemerkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass es ihr absolut nichts ausmachte. Während Charlie den Hörsaal verließ, nahm Arty seinen inzwischen angestammten Platz an ihrer Seite ein.

„Und hast du eine Entscheidung getroffen, was das Projekt angeht?“, wollte er wissen.

„Das Projekt?“ Nur vage erinnerte sich Charlie daran, dass er gerne gemeinsam mit ihr an einem Projekt arbeiten wollte. Er nickte kurz und wartete darauf, dass sie wieder wusste, worum es ging.

„Erinnerst du dich? Wir müssen für Chemie einen Versuchsaufbau machen. Ich dachte, wir könnten das zusammen tun. Du weißt schon, mit deinem klugen Kopf und meinem Aussehen …“ Er verstummte grinsend.

„Ja, das klingt … Ich muss mich mit jemandem treffen“, unterbrach sie sich dann selbst.

„Du triffst dich nie mit jemandem“, entgegnete er überrascht und wurde knallrot, kaum waren die Worte über seine Lippen. „So habe ich es nicht gemeint. Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber wer ist es denn?“ Er strahlte sie an.

„John“, sagte Charlie, ohne näher darauf einzugehen. Arty wirkte einen Augenblick lang geknickt, aber er fing sich schnell wieder.

„Klar, John. Toller Typ“, neckte er. Fragend hob er eine Augenbraue, aber sie lieferte ihm keine weiteren Einzelheiten. „Ich wusste ja nicht, dass du … dass ihr … das ist cool.“ Arty bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Charlie musterte ihn verwundert. Sie hatte nicht andeuten wollen, dass John und sie ein Paar waren, aber sie wusste auch nicht, wie sie das jetzt wieder aus der Welt schaffen sollte. Es gab keine Möglichkeit, Arty zu erklären, in welchem Verhältnis sie zu John stand, ohne ihm mehr zu verraten als sie eigentlich wollte.

Eine Minute lang gingen sie schweigend nebeneinander über den Campus.

„Stammt John aus deiner Heimatstadt?“, erkundigte sich Arty schließlich.

„Meine Heimatstadt liegt eine halbe Stunde von hier entfernt. Das College ist praktisch nur eine Erweiterung von ihr“, meinte Charlie. „Aber ja, er stammt aus Hurricane.“ Arty zögerte, dann beugte er sich zu ihr herüber und blickte sich um, als könne jemand sie belauschen.

„Das habe ich dich schon immer fragen wollen“, begann er.

Misstrauisch blickte Charlie ihn an. Frag mich nicht danach.

„Bestimmt fragen dich die Leute das ständig, aber du kannst es mir nicht verdenken, dass ich neugierig bin. Die ganze Sache mit den Morden, das ist hier in der Gegend so etwas wie eine moderne Legende. Ich meine, nicht nur hier. Überall. Freddy Fazbear’s Pizzarestaurant …“

„Hör auf.“ Charlies Gesichtszüge fühlten sich plötzlich an, als seien sie zu Stein erstarrt. Es kam ihr vor, als bedürfe es einer geradezu übernatürlichen Fähigkeit, die ihr längst verloren gegangen war, um auch nur einen Muskel darin zu bewegen. Artys Gesichtsausdruck hatte sich ebenfalls verändert. Sein scheinbar ungezwungenes Lächeln erlosch. Fast wirkte er ein wenig ängstlich. Charlie zwang ihren Mund, sich zu bewegen, und biss sich auf die Unterlippe.

„Als all das passiert ist, war ich noch ein Kind“, sagte sie leise. Arty nickte, schnell und hektisch. Charlie rang sich ein Lächeln ab. „Ich treffe mich mit Jessica“, log sie. Ich ertrage deine Nähe nicht. Arty nickte weiter wie ein Wackeldackel. Sie drehte sich um und ging in Richtung des Studentenwohnheims davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Charlie blinzelte ins Sonnenlicht. Immer wieder blitzten vor ihrem geistigen Auge Bilder von dem auf, was letztes Jahr im Freddy’s geschehen war, Erinnerungen, die mit kalten, eisernen Fingern an ihr zerrten. Der Haken erhoben, bereit zum Schlag – kein Entkommen. Eine Gestalt, die hinter der Bühne aufragte, rotes, verfilztes Fell, das die metallenen Knochen der mörderischen Kreatur kaum bedeckte. Auf den Knien in absoluter Dunkelheit, unter ihr der kalte, geflieste Boden der Toilette, und dann – das riesige Plastikauge, das sie durch den Spalt anstarrte, der Pesthauch leblosen Atems auf ihrem Gesicht. Und die andere, die ältere Erinnerung: der Gedanke, der ihr in einer Weise Schmerzen bereitete, die sie nicht in Worte fassen konnte, Leid, das sie erfüllte, als wäre es in ihr Mark gehämmert worden. Sie und Sammy, ihr anderes Selbst, ihr Zwillingsbruder, spielten lautlos in der vertrauten Wärme der Kostümkammer. Dann erschien die Gestalt in der Tür und blickte auf sie herab. Plötzlich war Sammy fort, und ihre Welt stürzte zum ersten Mal ein.

Charlie stand vor ihrem Studentenzimmer und wusste kaum, wie sie dorthin gekommen war. Langsam zog sie die Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss auf. Es brannte kein Licht. Jessica saß also noch in einer Vorlesung. Charlie drückte die Tür hinter sich zu und überprüfte sicherheitshalber zweimal das Schloss. Dann lehnte sie sich gegen das Türblatt. Sie holte tief Luft. Es ist vorbei. Entschlossen richtete sie sich auf und schaltete das Deckenlicht ein. Die Uhr neben ihrem Bett verriet Charlie, dass sie noch knapp eine Stunde hatte, bis John eintreffen würde – Zeit, um an ihrem Projekt zu arbeiten.

Charlie und Jessica hatten das Zimmer nach ihrer ersten gemeinsamen Woche mit einem Streifen Malerkrepp in der Mitte geteilt. Jessica hatte es halb im Scherz vorgeschlagen. Sie kannte das aus einem Film. Aber Charlie hatte gegrinst und ihr geholfen, das Zimmer auszumessen. Sie wusste, dass Jessica Charlies Unordnung von ihrer Seite fernhalten wollte. Nun wirkte der Raum wie ein Vorher-nachher-Bild aus einer Anzeige für einen Reinigungsservice oder einer Atombombenexplosion. Es kam darauf an, welche Seite man zuerst betrachtete.

Auf Charlies Schreibtisch bedeckte ein Kopfkissenbezug zwei Erhebungen. Man konnte nicht erkennen, was es war. Sie ging zu dem Tisch, nahm den Bezug hoch, legte ihn sorgfältig zusammen und hängte ihn über die Rückenlehne ihres Stuhls. Dann betrachtete sie ihr Projekt.

„Hallo“, sagte sie leise.

Zwei Maschinengesichter wurden von Metallgerüsten gestützt und waren an einem Brett befestigt. Ihr Ausdruck war unbestimmt, wie der von alten, vom Wetter verwitterten Statuen oder wie aus Ton, der noch nicht richtig ausgeformt war. Sie bestanden aus formbarem Plastik, und anstatt eines Hinterkopfes besaßen sie kleine Gehäuse, Mikrochips und Kabel.

Charlie beugte sich zu ihnen hinunter und überprüfte jeden Millimeter ihres Entwurfs, um sicherzugehen, dass alles noch genauso war, wie sie es zurückgelassen hatte. Dann legte sie einen kleinen, schwarzen Schalter um, und kleine Lichter begannen zu blinken, winzige Lüfter zu surren.

Die Gesichter bewegten sich nicht sofort, aber eine Veränderung war zu erkennen. Die zuvor leeren Mienen schienen einen entschlossenen Ausdruck anzunehmen. Ihre blicklosen Augen richteten sich nicht auf Charlie – sie sahen nur einander an.

„Du“, sagte das erste Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, um die Silbe zu formen, aber sie teilten sich nie. Dafür waren sie nicht gebaut.

„Ich“, erwiderte das zweite Gesicht und vollführte dabei die gleiche steife Bewegung.

„Du bist“, sagte das erste.

„Bin ich?“, erwiderte das zweite.

Die Hand vor den Mund gepresst, beobachtete Charlie die beiden. Sie hielt die Luft an, weil sie die Gesichter nicht unterbrechen wollte. Sie wartete, aber offensichtlich waren sie fertig und starrten einander jetzt nur noch an. Sie können nicht sehen, machte Charlie sich klar. Sie schaltete die beiden aus und drehte das Brett um, damit sie von hinten in die beiden Figuren hineinsehen konnte. Dann steckte sie ein Kabel um.

Ein Schlüssel kratzte im Schloss, und Charlie zuckte zusammen. Schnell griff sie nach dem Kopfkissenbezug und warf ihn über die Gesichter, während Jessica das Zimmer betrat. Ihre Mitbewohnerin blieb stehen und grinste.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Was?“, erwiderte Charlie unschuldig.

„Jetzt komm schon. Du hast doch an dem Ding gearbeitet, das ich nie sehen darf.“ Sie ließ ihren Rucksack zu Boden fallen und warf sich aufs Bett. „Wie auch immer, ich bin total erschöpft!“, verkündete sie. Charlie lachte, und Jessica richtete sich auf. „Jetzt rede mit mir“, meinte sie. „Was ist los mit dir und John?“

Charlie setzte sich gegenüber von Jessica auf ihr eigenes Bett. Trotz ihres so unterschiedlichen Lebensstils lebte sie gerne mit dem anderen Mädchen zusammen. Jessica war warmherzig und klug, und während ihre Leichtigkeit, mit der sie durch die Welt lief, Charlie immer noch ein wenig einschüchterte, hatte sie inzwischen irgendwie das Gefühl, ein Teil davon zu sein. Vielleicht übernahm man ein wenig von Jessicas Selbstvertrauen, wenn man ihre Freundin war.

„Ich habe ihn noch nicht gesehen. Ich muss in …“, sie warf einen Blick über Jessicas Schulter auf die Uhr, „… fünfzehn Minuten los.“

„Bist du aufgeregt?“, wollte Jessica wissen.

Charlie zuckte die Achseln. „Ich denke schon“, meinte sie.

Jessica lachte. „Du bist dir nicht sicher?“

„Klar bin ich aufgeregt“, gab Charlie zu. „Es ist so viel Zeit vergangen.“

„So viel ist es gar nicht“, entgegnete Jessica. Dann machte sie ein nachdenkliches Gesicht. „Aber irgendwie vielleicht schon. Alles ist so anders, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben.“

Charlie räusperte sich. „Du interessierst dich also wirklich für mein Projekt?“, fragte sie und war selbst von sich überrascht.

„Ja!“, erklärte Jessica und sprang auf. Sie folgte Charlie zu deren Schreibtisch. Charlie schaltete den Strom ein und riss dann wie ein Zauberer den Kopfkissenbezug zur Seite. Jessica schnappte nach Luft und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Was ist das?“, fragte sie vorsichtig. Aber noch bevor Charlie antworten konnte, meldete sich das erste Gesicht zu Wort.

„Ich“, sagte es.

„Du“, antwortete das andere, dann verstummten sie beide wieder.

Charlie blickte zu Jessica. Das Gesicht ihrer Freundin wirkte angestrengt, als würde sie irgendetwas unterdrücken.

„Ich“, sagte nun das zweite Gesicht.

Schnell schaltete Charlie die beiden aus. „Warum ziehst du so eine Miene?“, wollte sie wissen.

Jessica holte einmal tief Luft und lächelte dann. „Ich habe noch nichts gegessen“, meinte sie, doch ihre Augen sagten etwas ganz anderes.

Jessica sah zu, wie Charlie behutsam den Kopfkissenbezug wieder über die Gesichter breitete, als würde sie liebevoll ein Kind zudecken. Unbehaglich blickte sie sich im Zimmer um. Charlies Seite war ein einziges Chaos: Überall lagen Kleidungsstücke und Bücher herum, aber da waren auch Computerteile, Werkzeug, Schrauben und Plastikstücke und Metall, von denen Jessica nicht wusste, worin ihre Funktion bestand. Es war ein völliges Durcheinander. Ihrer Meinung nach konnte man darin absolut nichts wiederfinden. Oder alles verstecken, was man wollte, begriff sie etwas schuldbewusst. Jessica wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Charlie zu.

„Was programmierst du ihnen denn ein?“, fragte sie, und Charlie lächelte stolz.

„Eigentlich programmiere ich sie gar nicht. Ich helfe ihnen nur dabei, selbstständig zu lernen.“

„Klar, natürlich. Liegt auf der Hand“, sagte Jessica langsam. Und dann fiel ihr etwas ins Auge: In einem Haufen schmutziger Wäsche waren ein paar glänzende Plastikaugen und lange Ohren zu erkennen.

„Hey, ich habe gesehen, dass du Theodore mitgebracht hast, dein kleines Roboterkaninchen!“, rief sie und freute sich, dass ihr der Name von Charlies Spielzeug aus Kindertagen wieder eingefallen war. Noch bevor Charlie etwas erwidern konnte, hob sie das Stofftier an den Ohren hoch – hatte aber nur seinen Kopf in der Hand.

Jessica stieß einen Schrei aus, ließ den Kopf fallen und schlug eine Hand vor den Mund.

„Tut mir leid!“, sagte Charlie und sammelte den Kopf des Kaninchens schnell vom Boden auf. „Ich habe ihn auseinandergenommen, um mir sein Innenleben anzusehen. Einige seiner Teile sind in meinem Projekt verbaut.“ Sie deutete auf den Schreibtisch.

„Oh“, meinte Jessica und versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen. Sie blickte sich im Zimmer um und erkannte plötzlich, dass überall Teile des Kaninchens herumlagen. Sein puscheliger Schwanz lag auf Charlies Kopfkissen, und ein Bein hing von der Lampe über dem Schreibtisch herab. Sein Oberkörper lag in einer Ecke, wo er fast nicht zu sehen war. Er war brutal aufgerissen worden. Jessica blickte in das runde, fröhliche Gesicht ihrer Freundin, das von schulterlangem, krausen braunen Haar umrahmt wurde. Jessica schloss einen Moment die Augen.

Oh Charlie, was ist nur los mit dir?

„Jessica?“, fragte Charlie unsicher. Ihre Mitbewohnerin hatte immer noch die Augen geschlossen, ihre Miene war schmerzlich verzogen. „Jessica?“ Dieses Mal öffnete sie die Augen und schenkte Charlie ein plötzliches, etwas übertrieben strahlendes Lächeln. Es wirkte befremdlich, aber Charlie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt.

Jessica blinzelte heftig, als würde sie ihr Hirn erst wieder hochfahren müssen. „Und macht dich die Vorstellung nervös, John bald wiederzusehen?“, erkundigte sie sich.

Charlie dachte einen Moment nach.

„Nein. Ich meine, warum sollte ich nervös sein? Es ist doch nur John, oder?“ Charlie versuchte zu lachen, aber es gelang ihr nicht. „Jessica, ich weiß nicht, worüber ich reden soll!“, platzte es schließlich aus ihr heraus.

„Wie meinst du das?“

„Ich weiß nicht, womit ich mit ihm reden soll!“, erklärte Charlie. „Wenn wir sonst keine Themen haben, werden wir darüber reden, was … letztes Jahr passiert ist. Und das kann ich einfach nicht.“

„Klar.“ Jessica machte ein nachdenkliches Gesicht. „Vielleicht spricht er es nicht an“, gab sie zu bedenken.

Charlie seufzte und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf ihr Projekt. „Natürlich wird er das tun. Sonst verbindet uns doch nichts.“ Schwer ließ sie sich auf ihr Bett fallen und sank vornüber.

„Charlie, du brauchst über nichts zu reden, worüber du nicht reden willst“, wandte Jessica sanft ein. „Du kannst ihm immer noch absagen. Aber ich glaube nicht, dass John dich in Verlegenheit bringen wird. Du bist ihm wichtig. Ich bezweifle, dass es ihm nur darum geht, was in Hurricane passiert ist.“

„Was soll das denn heißen?“

„Ich meine nur …“ Jessica schob behutsam einen Haufen Wäsche zur Seite, setzte sich neben Charlie und legte eine Hand auf ihr Knie.

„Ich finde einfach, dass es für euch beide vielleicht Zeit ist, diese ganze Geschichte hinter euch zu lassen. Und ich denke, John versucht das auch.“

Charlie wandte den Blick ab und starrte Theodores Kopf an, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Du meinst, darüber hinwegkommen? Wo sollte ich damit anfangen?

Jessicas Stimme wurde sanfter. „Das kann doch nicht mehr dein ganzes Leben bestimmen.“

„Ich weiß.“ Charlie seufzte. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. „Wie war eigentlich deine Vorlesung?“ Charlie fuhr sich über die Augen und hoffte, Jessica würde verstehen.

„Fantastisch.“ Jessica stand auf und streckte sich, indem sie sich vorbeugte und mit den Händen den Boden berührte, wodurch sie Charlie die Chance gab, sich wieder zu fangen. Nachdem Jessica sich aufgerichtet hatte, lächelte sie strahlend und war wieder ganz die Alte. „Wusstest du, dass Leichen im Moor erhalten bleiben können wie Mumien?“

Charlie rümpfte die Nase. „Jetzt weiß ich es. Wirst du das also machen, wenn du deinen Abschluss hast? Im Moor herumkriechen und nach Leichen suchen?“

Jessica zuckte die Schultern. „Vielleicht.“

„Ich werde dir zum Abschluss einen Schutzanzug schenken“, witzelte Charlie. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ich muss los! Wünsch mir Glück.“ Mit den Fingern fuhr sie sich durchs Haar und warf einen Blick in den Spiegel, der an der Tür hing. „Ich fühle mich furchtbar.“

„Du siehst toll aus.“ Jessica nickte ermutigend.

„Ich habe Sit-ups gemacht“, meinte Charlie verlegen.

„Was?“

„Vergiss es.“ Charlie griff nach ihrem Rucksack und ging zur Tür.

„Hau ihn aus den Socken!“, rief Jessica ihrer Freundin nach.

„Ich weiß nicht, was du damit meinst“, erwiderte Charlie und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, noch bevor sie ihren Satz beendet hatte.

Charlie entdeckte ihn, als sie sich dem Haupteingang zum Campus näherte. John lehnte an einer Wand und las ein Buch. Sein braunes Haar war so zerzaust wie immer, und er trug ein blaues T-Shirt und Jeans.

„John!“, rief sie und ihre Zurückhaltung fiel sofort von ihr ab, als sie ihn sah. Er steckte sein Buch weg, grinste breit und lief ihr entgegen.

„Hey Charlie“, sagte er. Verlegen standen sie einander gegenüber, dann streckte Charlie ihre Arme aus, um ihn zu begrüßen. Einen Moment lang hielt er sie ganz fest, dann ließ er sie abrupt los.

„Du bist größer geworden“, meinte sie vorwurfsvoll, und er lachte.

„Das bin ich“, gestand er. Er musterte sie. „Du allerdings hast dich kein Stück verändert“, erklärte er mit einem verwirrten Lächeln.

„Ich habe mir die Haare abgeschnitten!“, kokettierte sie und fuhr mit den Fingern hindurch, um es ihm zu zeigen.

„Tatsächlich!“, sagte er. „Es gefällt mir. Ich meine, du bist immer noch das Mädchen, das ich kenne.“

„Ich habe Sit-ups gemacht“, fuhr Charlie fort, während plötzlich Panik in ihr aufstieg.

„Wie?“ John blickte sie verwirrt an.

„Schon gut. Hast du Hunger?“, fragte Charlie. „Ich habe noch eine Stunde Zeit bis zu meiner nächsten Vorlesung. Wir können uns einen Burger besorgen. Die Mensa ist nicht weit von hier.“

„Ja, das wäre toll“, meinte John. Charlie deutete quer über den Platz.

„Da entlang. Komm mit!“

„Also, was machst du hier?“, erkundigte sich Charlie, als sie sich mit ihren Tabletts an einen Tisch gesetzt hatten. „Tut mir leid“, fügte sie hinzu. „War das jetzt unhöflich?“

„Absolut nicht unhöflich, obwohl ich es auch akzeptiert hätte, wenn du gesagt hättest: ‚John, welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen dieses höchst erfreulichen Wiedersehens?‘“

„Ja, das klingt ganz nach mir“, meinte Charlie trocken. „Aber im Ernst, was machst du hier?“

„Ich habe einen Job.“

„In St. George?“, fragte sie. „Wie kommt das?“

„Eigentlich in Hurricane“, antwortete er betont zwanglos.

„Gehst du nicht irgendwo auf eine Schule?“, wollte Charlie wissen.

John wurde rot und blickte einen Moment auf seinen Teller. „Das wollte ich, aber … man kann eine Menge Bücher lesen, wenn der Bibliotheksausweis umsonst ist, weißt du. Mein Cousin hat mir einen Job auf dem Bau besorgt, und ich nutze jede freie Minute zum Schreiben. Ich habe mir gedacht, selbst wenn ich mal Künstler werde, muss ich ja nicht unbedingt brotlos bleiben.“ Er biss herzhaft in seinen Hamburger, und Charlie grinste.

„Und warum hier?“, hakte sie nach, und er hob einen Finger, während er zu Ende kaute.

„Der Sturm“, sagte er. Charlie nickte. Der Sturm hatte Hurricane getroffen, bevor Charlie nach St. George gekommen war, und die Leute redeten ständig davon: der Sturm. Es war nicht das schlimmste Unwetter gewesen, das in dem Gebiet je gewütet hatte, doch es hatte nicht viel dazu gefehlt. Der Tornado war aus dem Nichts aufgetaucht und hatte eine Schneise durch mehrere Städte gezogen, wobei er manches Haus mit tödlicher Präzision dem Erdboden gleichgemacht und andere völlig verschont hatte. In St. George hatte er keine großen Schäden angerichtet, aber in Hurricane hatte es schwere Verwüstungen gegeben.

„Wie schlimm ist es?“, fragte Charlie so unbeteiligt wie möglich.

„Du bist noch nicht dort gewesen?“, entgegnete John ungläubig, und nun war Charlie an der Reihe, verlegen den Blick zu senken. Sie schüttelte den Kopf. „An manchen Stellen ist es sehr schlimm“, sagte er. „Hauptsächlich in den Außenbezirken. Charlie … ich war davon ausgegangen, dass du dort gewesen bist.“ Er biss sich auf die Lippe.

„Was denn?“ Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck beunruhigte sie.

„Das Haus deines Vaters, es gehört zu denen, die betroffen sind“, erklärte er.

„Oh.“ Charlies Brust zog sich zusammen. „Das wusste ich nicht.“

„Du bist wirklich nicht hingefahren, um wenigstens einmal nachzusehen?“

„Ich habe nicht daran gedacht“, sagte Charlie. Das stimmt nicht. Sie hatte tausend Mal darüber nachgedacht, zum Haus ihres Vaters zu fahren. Aber es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass der Sturm das Haus beschädigt haben könnte. In ihrer Vorstellung war es unbezwingbar, unveränderbar. Es würde immer dort stehen, genauso, wie ihr Vater es zurückgelassen hatte. Sie schloss die Augen und stellte es sich vor. Die Vordertreppe war zwar abgesackt, aber das Haus selbst wirkte wie eine Festung, die alles schützte, was sich darin befand. „Ist es … zerstört?“, fragte Charlie, und ihre Stimme versagte.

„Nein“, versicherte John schnell. „Nein, es steht immer noch dort, es ist nur beschädigt. Ich weiß nicht, wie stark. Ich bin nur daran vorbeigefahren. Ich dachte, ohne dich sollte ich nicht hingehen.“

Charlie nickte gedankenverloren. Sie hatte das Gefühl, ganz weit weg zu sein. Zwar konnte sie John sehen, ihn hören, aber irgendetwas war zwischen ihnen, zwischen ihr und allem anderen, außer dem Haus.

„Ich dachte … Hat dir deine Tante denn nicht gesagt, was passiert ist?“, fragte John.

„Ich muss in die Vorlesung“, erklärte Charlie unverwandt. „In die Richtung da.“ Sie machte eine vage Geste, indem sie ihren Kopf leicht zur Seite reckte.

„Charlie, ist bei dir denn alles in Ordnung?“ Sie sah ihn nicht an, und er legte seine Hand auf die ihre. Sie konnte immer noch nicht aufblicken. Sie wollte nicht, dass er ihr Gesicht sah.

„Okay“, wiederholte sie, zog ihre Hand zurück und zuckte mehrfach mit den Achseln, als wolle sie etwas abschütteln. „Ich hatte Geburtstag“, meinte sie und sah ihm schließlich wieder in die Augen.

„Tut mir leid, dass ich den verpasst habe“, sagte John.

„Nein, darum geht es nicht …“ Sie legte ihren Kopf von einer Seite auf die andere, als könne sie dadurch ihre Gedanken ordnen. „Erinnerst du dich daran, dass ich einen Zwillingsbruder hatte?“

„Wie?“ John klang verwirrt. „Natürlich erinnere ich mich daran. Es tut mir leid, Charlie, wolltest du darauf hinaus, als du deinen Geburtstag erwähnt hast?“ Sie nickte kaum merklich. John streckte erneut seine Hand aus, und sie griff danach. Sie spürte den Puls an seinem Daumen.

„Seit wir Hurricane verlassen haben … Du weißt, welche besondere Verbindung Zwillinge haben?“

„Natürlich“, erwiderte er.

„Seit wir fortgegangen sind – seit ich herausgefunden habe, dass es ihn tatsächlich gegeben hat –, habe ich das Gefühl, dass er bei mir ist. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Er ist tot, aber das ganze Jahr hindurch habe ich mich nicht mehr allein gefühlt.“

„Charlie.“ John ergriff ihre Hand fester. „Du weißt, dass du nicht allein bist.“

„Nein, ich meine, wirklich nicht allein. So als besäße ich ein zweites Ich, dass er ein Teil von mir ist und immer bei mir. Ich hatte auch schon früher dieses Gefühl, aber es kam und ging, und ich habe ihm nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich wusste nicht, dass es etwas zu bedeuten hatte. Als ich dann die Wahrheit erfuhr und die Erinnerungen zurückkamen … John, da habe ich mich plötzlich in einer Weise, die ich nicht beschreiben kann, wieder vollständig gefühlt. Ganz.“ Ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen, und sie zog ihre Hand zurück, um sie fortzuwischen.

„Hey“, sagte er sanft. „Es ist okay. Das ist toll, Charlie. Ich freue mich darüber.“

„Nein. Nein, genau das ist es ja. Ich freue mich nicht!“ Verzweifelt sah sie ihn an. Sie wollte, dass er verstand, was sie ihm so unbeholfen zu sagen versuchte. „Er ist verschwunden. Dieses Gefühl, wieder vollständig zu sein, ist weg.“

„Was?“

„Es ist an meinem Geburtstag passiert. Ich bin aufgewacht und habe mich gefühlt …“ Sie seufzte und suchte nach Worten. Aber sie fand sie nicht.

„Einsam?“, schlug John vor.

„Unvollständig.“ Sie holte tief Luft und riss sich zusammen. „Aber es ist nicht nur ein Verlust. Es fühlt sich an, als … als sei er irgendwo gefangen. Ich habe immer diese Träume, in denen ich ihn auf der anderen Seite von irgendetwas spüren kann, als wäre er mir ganz nah, würde aber doch irgendwo feststecken. Als befände er sich in einer Kiste. Oder als wäre ich in der Kiste. Ich weiß es nicht.“

John starrte sie an und war einen Moment sprachlos. Bevor er wusste, was er sagen sollte, stand Charlie abrupt auf. „Ich muss los.“

„Bist du sicher? Du hast nicht einmal etwas gegessen“, gab er zu bedenken.

„Tut mir leid …“ Sie unterbrach sich. „John, es ist so schön, dich zu sehen.“ Sie zögerte kurz, dann wandte sie sich ab, um endgültig davonzugehen. Sie wusste, sie hatte ihn enttäuscht.

„Charlie, hättest du Lust, heute Abend mit mir auszugehen?“ Johns Stimme klang steif, aber sein Blick war warm.

„Sicher, das wäre toll“, erwiderte sie und schenkte ihm ein halbes Lächeln. „Aber musst du nicht morgen wieder arbeiten?“

„Es ist nur eine halbe Stunde von hier“, entgegnete John. Er räusperte sich. „Ich meinte eigentlich, hast du Lust, mit mirauszugehen?“

„Ich habe doch gerade ja gesagt“, erwiderte Charlie etwas irritiert.

John seufzte. „Ich meine eine Verabredung, Charlie.“

„Oh.“ Charlie blickte ihn einen Moment an. „Klar.“ Du brauchst nichts zu tun, was du nicht willst. Jessicas Stimme hallte in ihrem Hinterkopf wider. Und doch … Sie merkte, dass sie lächelte.

„Äh, ja. Ja, eine Verabredung. Okay, ja. Es gibt ein Kino in der Stadt“, schlug sie mutig vor, denn sie erinnerte sich vage daran, dass man bei einer Verabredung oft ins Kino ging.

John nickte heftig, denn er befand sich offensichtlich genauso wie sie auf blankem Eis, nachdem die Frage nun ausgesprochen war. „Wollen wir zuerst etwas essen? Ein Stück die Straße runter ist ein Thailänder. Wir könnten uns dort gegen acht Uhr treffen.“

„Ja, das klingt gut. Tschüss!“ Charlie griff nach ihrem Rucksack und eilte aus der Kantine. Als sie hinaus in die Sonne trat, fiel ihr auf, dass sie es ihm überlassen hatte, ihren Tisch abzuräumen. Tut mir leid.

Während Charlie quer über den Campus lief, wurde ihr Schritt immer entschlossener. In der Vorlesung ging es um Grundlagen der Informatik. Einen Code zu schreiben, war nicht so aufregend wie das, was Dr. Treadwell unterrichtete, aber Charlie machte es trotzdem Spaß. Man musste sich konzentrieren und sehr genau sein. Ein einzelner Fehler konnte alles zunichtemachen. Alles? Sie dachte an ihre bevorstehende Verabredung. Der Gedanke, dass ein einziger Fehler alles zunichtemachen konnte, bekam plötzlich eine sehr schwerwiegende Bedeutung.

Charlie lief die Stufen des Gebäudes hinauf und blieb abrupt stehen, als ein Mann ihr den Weg versperrte.

Es war Clay Burke.

„Hey Charlie.“ Er lächelte, aber sein Blick war ernst. Charlie hatte den Polizeichef von Hurricane – den Vater ihres Freundes Carlton – nicht mehr gesehen, nachdem sie alle zusammen aus dem Freddy’s entkommen waren. Nun in sein wettergegerbtes Gesicht zu sehen, führte dazu, dass Angst in ihr aufstieg.

„Mr. Burke … äh … Clay. Was machst du hier?“

„Charlie, hast du eine Sekunde Zeit?“, fragte er. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

„Ist mit Carlton alles in Ordnung?“, fragte sie hastig.

„Ja, ihm geht es gut“, versicherte Burke. „Gehen wir ein Stück. Mach dir keine Sorgen, dass du zu spät kommst. Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Ich denke, als Polizeibeamter darf ich das.“ Er zwinkerte ihr zu, aber Charlie lächelte nicht. Irgendetwas stimmte nicht.

Charlie folgte ihm die Stufen hinunter. Als sie sich ein paar Meter von dem Gebäude entfernt hatten, blieb er jedoch stehen und sah sie an, als würde er nach irgendetwas suchen.

„Charlie, wir haben eine Leiche gefunden“, sagte er. „Ich möchte, dass du sie dir ansiehst.“

„Du willst, dass ich sie mir ansehe?“

„Es ist sehr wichtig.“

Ich. Sie sagte das Einzige, wozu sie imstande war.

„Warum? Hat es irgendetwas mit dem Freddy’s zu tun?“