Five Nights at Freddy's - Fazbear Frights 3 - 1 Uhr 35 - Scott Cawthon - E-Book

Five Nights at Freddy's - Fazbear Frights 3 - 1 Uhr 35 E-Book

Scott Cawthon

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Beschreibung

VOM AUTOR UND SCHÖPFER DER SURVIVAL-HORROR-GAMEREIHE FIVE NIGHTS AT FREDDY'S Delilah, Stanley und Devon haben etwas gemeinsam: Niemand kümmert sich um sie. Delilah verliert sich immer mehr in ihren Träumen und braucht dringend einen Weckruf, Stanley lässt sich auf einen dubiosen einsamen Job ein und der von seinen Eltern verlassene Devon fragt sich, warum sich niemand um ihn schert. Gerade im düsteren Universum der Five Nights at Freddy's-Saga lauert das Böse vor allem in den Tiefen der Einsamkeit ...

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FIVE NIGHTS AT FREDDY’S von Scott Cawthon

Romane

Band 1: Die silbernen Augen

ISBN 978-3-8332-3519-1

Band 2: Durchgeknallt

ISBN 978-3-8332-3616-7

Band 3: Der vierte Schrank

ISBN 978-3-8332-3781-2

Band 4: Fazbear Frights 1 – In die Grube

ISBN 978-3-8332-3948-9

Band 5: Fazbear Frights 2 – Fass!

ISBN 978-3-8332-4020-1

Band 6: Fazbear Frights 3 – 1 Uhr 35

ISBN 978-3-8332-4021-8

Comics

Graphic Novel 1: Die silbernen Augen

ISBN 978-3-7416-2001-0

Nähere Infos und weitere spannende Romane unter www.paninibooks.de

Von Scott Cawthon, Elley Cooper und Andrea Waggener

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „Five Nights at Freddy’s: Fazbear Frights #3–3:15 AM“ by Scott Cawthon, Elley Cooper and Andrea Waggener published in the US by Scholastic Inc., New York, 2020.

Copyright © 2021 Scott Cawthon. All rights reserved.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (email: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Anke Bondy

Lektorat: Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDFIVE006E

ISBN 978-3-7367-9867-0

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4021-8

1. Auflage, Juli 2021

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

PaniniComicsDE

INHALT

1 Uhr 35

Eine geht noch

Der Neue

Über die Autoren

Dritte Folge der titellosen Geschichte am Schluss

1 UHR 35

„Oh, hurra! Summ, summ, summ“, sang eine laute, trällernde Frauenstimme. Wie ein langer Stielhaken bohrte sich das alberne Lied in Delilahs schönen Traum, bekam sie zu fassen und riss sie aus dem Schlaf.

„Was zum …?“, murmelte Delilah, während sie sich in ihrem zerwühlten Bett aufsetzte und in die Sonne blinzelte, die zwischen den Lamellen der Jalousie hindurchschien.

„Du machst mich wirklich munter“, sang die Stimme weiter.

Delilah warf ihr Kissen gegen die dünne Wand, die sie von der Nachbarwohnung trennte. Mit einem dumpfen, aber befriedigenden Puff traf es auf ein gerahmtes Poster, auf dem eine entspannende Strandszene abgebildet war. Voller Sehnsucht betrachtete Delilah das Poster. Es zeigte genau die Aussicht, die sie jetzt gerne gehabt hätte.

Aber ihr Ausblick ging nicht hinaus aufs Meer. Vor ihrem Fenster befanden sich Müllcontainer und die verdreckte Rückseite des rund um die Uhr geöffneten Restaurants, in dem sie arbeitete. Und entspannt war sie auch nicht.

Das lag allein schon an ihrer nervtötenden Nachbarin Mary, die jetzt aus voller Kehle trompetete: „Danke, danke, danke für diesen Morgen.“

„Wer singt schon von Weckern?“, stöhnte Delilah und rieb sich die Augen. Es war schlimm genug, eine singende Nachbarin zu haben, doch tausendmal schlimmer war es, dass diese singende Nachbarin auch noch ihre eigenen dämlichen Lieder erfand und jeden Tag mit einem über ihren dämlichen Wecker begann. Waren Wecker nicht auch so schon eine blöde Erfindung?

Unwillkürlich warf Delilah einen Blick auf ihren eigenen Wecker.

„Wie jetzt?“

Sie sprang aus dem Bett.

Sie schnappte sich das kleine Ding und starrte auf die Digitalanzeige.

6:25 Uhr.

„Wozu bist du eigentlich nütze?“, schimpfte Delilah und warf den Wecker auf ihre hellblaue Bettdecke.

Delilah hatte eine geradezu pathologische Abneigung gegen jede Art von Wecker. Das war ein Überbleibsel aus den zehn Monaten, die sie vor fast fünf Jahren in ihrer letzten Pflegefamilie verbracht hatte, aber in der realen Welt musste man sie nun einmal benutzen, und Delilah hatte immer noch ihre Schwierigkeiten, sich damit abzufinden. Allerdings hatte sie jetzt etwas entdeckt, was sie noch mehr hasste als den gewöhnlichen Wecker: Wecker, die nicht funktionierten.

Delilahs Telefon klingelte. Als sie sich meldete, wartete sie nicht, bis der Anrufer etwas sagte. Gegen das Geräusch von klappernden Tellern und einem Stimmengewirr im Hintergrund rief sie: „Ich weiß, Nate! Ich habe verschlafen! Ich kann in einer halben Stunde da sein!“

„Ich habe schon Rianne als Vertretung geholt. Du kannst ihre Schicht um 14 Uhr übernehmen.“

Delilah seufzte. Sie hasste diese Schicht. Es waren die Stunden, in denen am meisten los war.

Eigentlich hasste sie alle Schichten. Jede einzelne verdammte Schicht. Punkt.

Als Schichtführerin im Diner wurde von ihr erwartet, dass sie in der Schicht arbeitete, die am besten in den Gesamtablauf passte. Daher musste sie mal von 6 bis 14, dann von 14 bis 22 oder auch von 22 bis 6 antreten. Ihr Biorhythmus war so durcheinander, dass sie praktisch schlief, während sie wach war, und wach war, während sie schlief. Sie lebte in einem Zustand ständiger Erschöpfung. Ihr Verstand war ständig eingetrübt, als ob Nebel durch ihre Ohren in ihr Hirn gedrungen wäre. Dieser Nebel dämpfte nicht nur ihre Fähigkeit, klar zu denken, er machte es ihrem Hirn auch schwer, mit ihren Sinnen in Kontakt zu treten. Es schien, als ob ihr Sehvermögen, ihr Gehör und auch ihre Geschmacksnerven immer ein wenig neben der Spur liefen.

„Delilah? Kann ich damit rechnen, dass du um 14 Uhr hier bist?“, bellte Nate in Delilahs Ohr.

„Ja, ja. Ich bin da.“

Nate gab ein Knurren von sich und legte auf.

„Ich liebe dich auch“, sagte Delilah in ihr Telefon, ehe sie ebenfalls die Verbindung beendete.

Delilah blickte zu ihrem großen Bett. Die dicke Matratze und ihr spezielles Kissen aus Memory-Schaumstoff lockten sie wie ein schmachtender Liebhaber. So gerne hätte Delilah nachgegeben. Sie liebte es zu schlafen. Sie liebte es, einfach nur in ihrem Bett zu liegen. Es war wie ein Kokon – wie eine Höhle aus Decken, die sie sich als Kind so gerne gebaut hatte, nur für Erwachsene. Sie wünschte, sie könnte einen der Jobs finden, bei denen sie im Schlafanzug im Bett arbeiten konnte. Das wäre zwar nicht ideal für ihren Arbeitgeber, weil sie am liebsten nur faulenzte und schlief, aber für ihre Gesundheit wäre es eindeutig besser. Und würde sie sich selbstständig machen, könnte sie ihre eigenen Schichten festlegen.

Aber bei ihrer ausgedehnten Suche nach einem solchen Job war sie nur auf betrügerische Angebote für Heimarbeit gestoßen. Und der einzige Laden, der sie nach ihrer Trennung von Richard eingestellt hatte, war der Diner. Und all das nur, weil in ihren Unterlagen eine Jugendstrafe eingetragen war und sie die Highschool aus Gründen abgebrochen hatte, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Das Leben war einfach scheiße.

Delilah warf noch einen Blick auf ihren nutzlosen Wecker. Nein. Das durfte sie nicht riskieren. Sie musste jetzt wach bleiben.

Aber wie?

Nebenan wiederholte Mary mindestens zum dritten Mal ihr dämliches Aufwachlied. Delilah wusste, dass es nichts nützen würde, an die Wand zu hämmern oder nach nebenan zu gehen, um Mary zu bitten, leiser zu sein. Mary war nicht ganz sauber verdrahtet. Delilah wusste zwar nicht, was genau mit der Frau los war. Sie wusste nur, dass alle ihre früheren Beschwerden irgendwo in dem Nirvana verschwunden waren, das sich unter Marys dichten grauen Haaren zu befinden schien.

Delilah hatte keine Lust, in ihrer Wohnung zu bleiben, um Mary zuzuhören. Genauso gut konnte sie etwas Sinnvolles tun. Sie schlurfte in ihr winziges, rosa gekacheltes Badezimmer, putzte sich die Zähne und zog sich eine graue Jogginghose und ein rotes T-Shirt über. Sie fand, sie könne genauso gut joggen gehen. Ihre letzte Sportsession war mindestens drei Tage her. Vielleicht kam daher der Nebel in ihrem Kopf.

Nein. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie hatte mit Sport versucht, ihre ständige Erschöpfung zu besiegen. Doch es schien keine Rolle zu spielen, wie viel sie trainierte. Anscheinend gefiel es ihrem Körper einfach nicht, wie ein nervöser Kolibri von einem Termin zum anderen zu flattern.

„Es kommt nur daher, dass Winter ist“, hatte Delilahs beste Freundin Harper gemeint. „Wenn der Frühling kommt, wirst du aufblühen, genau wie die Blumen.“

Delilah hatte das bezweifelt – und zu Recht. Der Frühling war da. Alles blühte und gedieh, außer Delilahs Energielevel.

Aber ob es nun ihrem Kopf helfen würde oder nicht, Delilah schlüpfte in ihre Laufschuhe, steckte ihre Schlüssel, ihr Telefon, etwas Geld, ihren Ausweis und eine Kreditkarte in ihre Gürteltasche und band sie sich um.

Sie verließ ihre laute Wohnung – Mary sang immer noch – und trat hinaus in einen mit Teppich ausgelegten Flur, wo es nach gebratenem Speck, Kaffee und Klebstoff roch. Woher kam der Kleber?

Schnaubend trabte sie über enge, unebene Stufen drei Stockwerke nach unten. Der Hausmeister war wahrscheinlich dabei, irgendeine Wand zu reparieren. Sie wohnte nicht unbedingt in einem Haus der gehobenen Klasse.

Als Delilah die Lobby des Mietshauses erreichte, schlenderten gerade zwei mürrische und schlampig gekleidete Teenager an ihr vorbei. Neugierige Blicke trafen sie. Doch Delilah beachtete die beiden gar nicht und trat durch die zerkratzte graue Metalltür hinaus auf die Straße und sah gerade noch, wie sich die Sonne hinter einer flauschigen weißen Wolke verbarg.

Es war einer dieser hellen, luftigen Frühlingstage, die Harper so liebte und Delilah einfach nur hasste. Wenn sie vielleicht an der Küste oder in einem Wald leben würde, könnte sie der strahlenden Sonne und den lebhaften Winden etwas abgewinnen. Umgeben von Natur und ein paar blühenden Blumen wäre das wahrscheinlich ein gutes Gefühl. Aber hier?

Hier, in dieser Ansammlung von Einkaufszentren, Werkstätten, Autohäusern, brachliegenden Grundstücken und Sozialwohnungen war hell und luftig überhaupt nicht angenehm. Da würde eine Tiara einem Schwein besser stehen.

Delilah versuchte, den Geruch von verrottetem Salat, von Abgasen und ranzigem Frittieröl zu ignorieren, und stützte sich mit dem Fuß auf dem Rand eines leeren Blumenkübels vor ihrem grauverputzten Kasten von einem Haus ab. Vielleicht würde sich alles mehr nach Frühling anfühlen, wenn in den Pflanzkübeln Blumen statt Steine stecken würden. Delilah dehnte sich und schüttelte den Kopf über ihre pessimistische Einstellung.

„Du weißt es doch besser“, schimpfte sie mit sich selbst.

Dann joggte Delilah in mittlerem Tempo los und wandte sich gen Norden, wo sie das angrenzende Wohngebiet durchqueren würde und an Häusern und Bäumen vorbeilaufen konnte, anstatt an Autos und Läden, die um ihre Existenz kämpften.

Sie musste unbedingt aus dieser düsteren Abwärtsspirale herauskommen, in der sie sich gerade befand. Als Teenager hatte sie ausreichend Therapien genossen, um inzwischen zu wissen, dass sie eine „zwangsneurotische Persönlichkeitsstruktur“ besaß. Hatte sie sich einmal an einer Vorstellung festgebissen, konnte sie davon nur noch schwer wieder ablassen. Im Moment hing sie an dem Gedanken fest, dass ihr Leben beschissen war. Und es würde auch beschissen bleiben, falls es ihr nicht gelang, sich einer neuen Perspektive zuzuwenden.

Während sie über den unebenen Bürgersteig lief, versuchte Delilah den Nebel aus ihrem Hirn zu vertreiben, indem sie sich um positive Gedanken bemühte. „Jeden Tag geht es mir besser und besser“, wiederholte sie mantramäßig. Nach etwa zehn Durchgängen dieser Affirmation, wurde sie immer mürrischer. Also tauschte sie die Affirmation gegen ein Bild von jenem Leben aus, das sie eigentlich führen wollte. Und dadurch musste sie an das Leben denken, das sie mit Richard geführt hatte, wodurch sie nur noch tiefer in ihren düsteren Seelenzustand abrutschte.

Als Richard beschlossen hatte, seine dunkelhaarige und dunkelhäutige Frau durch eine blonde, blauäugige Freundin zu ersetzen, hatte Delilah nicht viele Auswege gesehen. Sie hatte einen Ehevertrag unterschrieben, bevor sie ihn heiratete. Sie hatte nichts mit in die Ehe gebracht und bekam auch nichts bei der Scheidung. Nun ja, nicht nichts. Die Abfindung reichte für eine Wohnung und ein paar gebrauchte Möbel und ihr 15 Jahre altes braunes Auto. Das Geld hatte sie bekommen, nachdem sie einen Arbeitgeber gefunden hatte, der nicht nur bereit war, sie einzustellen, sondern sie auch auszubilden. Angesichts ihres atemberaubenden Lebenslaufs mit einem „halben Abschluss der zwölften Klasse“, „Babysitten“, und „Arbeit in einem Fastfood-Restaurant“ konnte sie froh sein, überhaupt eine Stelle zu bekommen. Und abgesehen von den furchtbaren Arbeitszeiten war der Job ihr Glück gewesen. Nate hatte sie zum Managementtraining geschickt und in nur wenigen Monaten war sie von einer normalen Bedienung aufgestiegen. Mit dreiundzwanzig war sie nun die jüngste Schichtleiterin im Restaurant.

„Siehst du?“, keuchte Delilah. „Es geht aufwärts.“

Sie klammerte sich an diesen vorsichtig positiven Gedanken, während sie durch das heruntergekommene Viertel joggte, das an ein Industriegebiet grenzte. Die Gegend war zu schäbig, um sie als schön zu bezeichnen, doch es gab dort viele wundervolle alte Ahornbäume und hohe Pappeln, die sich sanft im Wind wiegten. Alle Bäume waren voller hellgrüner neuer Triebe. Die zarten Blätter ermutigten sie zu hoffnungsvolleren Gedanken, wenn auch nur für ein oder zwei Minuten.

Sie fragte sich, ob die Menschen, die in diesem Teil der Stadt lebten, sich jemals von den Bäumen inspirieren ließen. Als sie sich umsah, zweifelte sie sofort daran. Ein paar gelangweilte Kinder warteten auf die gelben Schulbusse, die herantuckerten und stinkende Dieselwolken hinter sich herzogen. Ein alter Mann mit glänzender Glatze, einem Garten voller Unkraut und einer Frau, die sich noch tiefer als Delilah ins Jammertal verirrt zu haben schien, stand auf seiner Veranda und starrte in seine Kaffeetasse.

Delilah beschloss, dass sie genug von diesem Umfeld hatte und auch genug von ihrem Lauf. Sie zog einen Bogen um ein stillgelegtes Geschäft für Autoteile und nahm wieder Kurs auf ihr Zuhause.

Zuhause.

Wenn es nur wirklich ein Zuhause wäre. Doch damit hatte ihre Wohnung nichts gemein. Sie hatte in ihrem Leben zweimal ein Zuhause gehabt. Das eine hatte sie mit ihren Eltern geteilt, bis sie gestorben waren, als sie elf war. Die „Pflegestellen“, wo sie danach gelebt hatte, waren nichts weiter als Orte, an denen sie die Zeit totschlug. Ihr anderes Zuhause war Richard gewesen. Und jetzt hatte sie nur einen Platz, an dem sie schlief, und sie konnte nie genug schlafen.

In letzter Zeit fühlte es sich an, als sei das Leben nur eine lästige Unterbrechung ihres Schlafs, als sei die Welt ein Wecker, der ständig losging und sie aus ihren Träumen riss, dem einzigen Ort, an dem sie wirklich einmal einen glücklichen Moment erleben konnte.

* * *

Wieder in der Wohnung, tat Delilah ihr Bestes, um die kahlen blassgrünen Wände zu ignorieren – seit ihrem Einzug hatte sie nicht den Elan aufgebracht, sie neu zu streichen. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sie ordentlich neben die Eingangstür. Dann ging sie zu ihrem abgewetzten beigefarbenen Ledersofa hinüber und zupfte die gelbgrüne Häkeldecke zurecht, die sie über die Lehne drapiert hatte. Delilah mochte die Decke nicht, aber Harper hatte sie extra für sie gehäkelt. Eines Tages war Harper vorbeigekommen und ziemlich niedergeschlagen gewesen, als sie die Decke nirgends entdecken konnte. Danach hatte Delilah sie auf dem Sofa liegen gelassen.

„Du musst nur darauf achten, dass du die misslungenen Bereiche umschlägst“, hatte Harper ihr erklärt, als sie das Geschenk überreichte. Da es davon allerdings viele Bereiche zu geben schien, war es gar nicht so einfach, die Decke passend zusammenzufalten.

Nebenan trällerte Mary weiter vor sich hin, während Delilah ihr verschwitztes T-Shirt auszog und den Schrank öffnete, wo sie ihre Süßigkeiten aufbewahrte. Der Schrank war leer. Na klar.

Seufzend zog Delilah die Tür des Kühlschranks auf. Sie wusste, auch das war eine sinnlose Aktion, denn sie kochte nicht und hatte daher auch nichts anderes im Kühlschrank als eine Flasche Wasser, etwas Apfelsaft und Essensreste aus dem Diner. Einer der Vorteile ihres Jobs dort bestand darin, dass sie pro Schicht zwei kostenlose Mahlzeiten bekam. Davon wurde sie ziemlich gut satt. Alles, was sie also wirklich brauchte, waren ihre Haferkekse, Milch, ein paar Proteinriegel und Tiefkühlgerichte für die Abende, an denen sie nicht arbeitete. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte ihr nun, dass sie nicht nur Kekse brauchte, sondern auch Milch.

Marias Stimme drang durch die Wand. „Der Frühling ist da und die Würmer auch …“

„Ja, genau das befürchte ich, Mary“, murmelte Delilah.

Hier konnte sie einfach nicht bleiben.

Delilah ging in ihr kleines Badezimmer, duschte lauwarm und zog sich dann braune Leggings und eine gold-schwarz karierte Jacke an. Sie vermied es, in den Spiegel zu schauen, während sie ihr gewelltes schulterlanges Haar trocken föhnte. Delilah schminkte sich nicht mehr. Anstatt Geld für Kosmetika auszugeben, die ihr lediglich unerwünschte männliche Aufmerksamkeit einbrachten, steckte sie das gesparte Geld lieber in ihr Sparbuch. Aber auch ohne Make-up war Delilah hübsch genug, um viele Blicke auf sich zu ziehen. Eine Modelagentur, bei der sie sich beworben hatte, war der Meinung gewesen, dass sie nur ein großes Kinn davon entfernt sei, klassisch schöne Gesichtszüge zu haben. Zwei andere Agenturen hatten ihr die Namen von plastischen Chirurgen gegeben und ihr geraten, sie solle wiederkommen, nachdem sie sich Kinn und Kiefer ein wenig habe zurechtmeißeln lassen.

Delilah dachte, wenn sie sich ohnehin nicht schminkte, warum sollte sie dann in den Spiegel schauen? Sie wusste ja, wie sie aussah, und in letzter Zeit war sie nicht besonders scharf darauf, ihrem eigenen Blick zu begegnen. Sie sah dort etwas, das ihr Angst machte, etwas, das ihr Unbehagen darüber bereitete, was ihre Zukunft wohl für sie bereithielt.

Nebenan sang Mary aus voller Kehle davon, dass man zum Mars fliegen sollte. „Flieg du, Mary“, murmelte Delilah und wünschte sich, Mary würde es tun … und nie zurückkommen.

Delilah schnappte sich ihre Handtasche und ging zu ihrem Auto. Sie dachte sich, sie könnte eben zu dem kleinen Laden fahren, ein paar Haferkekse und etwas Milch besorgen und dann immer noch rechtzeitig zurück sein, um vor der Arbeit ein kleines Nickerchen zu machen.

Nachdem sie ihren Vorrat an Keksen und Milch aufgefüllt hatte, verließ Delilah den Laden über den Parkplatz dahinter. Sie fuhr gern durch ruhige Nebenstraßen zurück zu ihrer Wohnung, anstatt sich über die meistens verstopften vierspurigen Hauptstraßen zu quälen, die durch das Herz des Viertels führten, in dem sie lebte.

In dieser Gegend war es ein wenig schöner als in der, durch die sie joggte. Es gab größere Häuser, grüne Rasenflächen und neuere Autos. Der Nachteil war, dass es dort keine großen Ahornbäume und Pappeln gab, sondern wild wachsende Kirschbäume. Sie musste aber auch gestehen, dass die pinkfarbenen Blüten sehr schön waren.

Als Delilah direkt neben einem besonders stark blühenden Baum um die Ecke bog, entdeckte sie ein Schild, das auf einen privaten Flohmarkt hinwies. Der Pfeil zeigte geradeaus, also fuhr sie spontan in diese Richtung. Weitere Schilder wiesen ihr den Weg nach rechts, und schließlich fand sie sich vor einem zweistöckigen Haus im spanischen Stil wieder, das hinter mehreren Tapeziertischen voller Haushaltswaren aufragte.

Delilah konnte nicht anders, sie musste anhalten.

Genauso wie Delilah dazu neigte, in irgendwelchen Gedankenschleifen stecken zu bleiben, hatte sie auch ein Faible für Flohmärkte. Seit ihrer Teenagerzeit war sie geradezu süchtig danach. Einer ihrer Therapeuten, Ali, hatte auch eine Theorie dazu. Ali war überzeugt, dass Delilah Flohmärkte deshalb liebte, weil sie ihr Einblicke in ein richtiges Familienleben gewährten. Sie erinnerten sie daran, was eigentlich „normal“ war.

Zwanghaft verhielt Delilah sich nicht bei ihren Flohmarktbesuchen. Klar, gelegentlich kaufte sie etwas – sie hatte alle ihre derzeitigen Möbel von Flohmärkten. Meistens allerdings sah sie sich nur um, freute sich daran, irgendwelche Haushaltsgegenstände zu entdecken. Sie wollte wissen, was die Leute benutzten, was sie sammelten, was ihnen gefiel und was sie nicht mehr behalten wollten. Das machte ihr einfach Spaß.

Delilah ging davon aus, dass ihre Milch eine Viertelstunde im Auto warten konnte, also stellte sie den Wagen hinter einem dreckigen roten Pick-up ab. Der Pick-up und ein blauer Cadillac waren die einzigen Autos, die vor dem Haus parkten. Nur zwei Besucher schlenderten zwischen den Tischen umher. Eine korpulente Frau, die sich für Küchengeräte zu interessieren schien, und ein schmächtiger junger Mann, der in Stapeln von Büchern und Zeitschriften stöberte. Delilah nickte den beiden zu und auch der Frau mittleren Alters, die neben einem Picknicktisch saß, auf dem eine Geldkassette aus Metall stand. Daneben lagen ein Schreibblock und ein Taschenrechner.

„Herzlich willkommen“, rief die Frau. Sie hatte kurzes, hochstehendes braunes Haar und ihre Augen waren mit dickem Eyeliner umrandet. Sie trug einen gelben Jogginganzug und hatte einen hellbraunen Chihuahua bei sich, der so ruhig und gehorsam war, dass Delilah sich fragte, ob er überhaupt echt war. Doch als sie auf ihn zuging, um ihn zu streicheln, wedelte der winzige Hund mit dem Schwanz.

„Das ist Mumford“, erklärte die Frau.

„Hallo Mumford.“ Delilah kraulte Mumford hinter den Ohren und wurde dadurch schlagartig zu seiner neuen besten Freundin.

Dann ging Delilah von einem Tisch zum anderen und durchforstete das Angebot. Sie stöberte in den kleinen Elektrogeräten, im Werkzeug, sah sich Spiele, Puzzles, Elektronik und Kleidung an. Und schließlich fand sie eine schwarze Lederjacke, die sie faszinierte, bis sie daran schnupperte und ihr der stechende Geruch von alten Mottenkugeln in die Nase stieg. Als sie zum nächsten Tisch ging, fand sie sich in der Spielzeugabteilung wieder. Ein Haufen Modepüppchen verdunkelte ihre ohnehin schon düstere Stimmung weiter, denn die Puppen erinnerten sie daran, wie es ihr früher immer misslungen war, andere Pflegekinder davon abzuhalten, mit ihren Sachen zu spielen. Bauklötze erinnerten sie an einen kleineren Jungen, mit dem sie sich in der dritten Pflegefamilie angefreundet hatte, nur um ihn eine Woche vor ihrem Umzug zu einer weiteren Pflegestelle durch Adoption zu verlieren. Sie wollte den Tisch gerade verlassen, als ihr Blick an einer Puppe hängen blieb.

Mit ihren braunen, luftigen Haaren, den großen dunklen Augen und den prallen rosa Wangen sah die Puppe fast genauso aus wie das Baby, dass Delilah gern eines Tages mit Richard gehabt hätte. Am Anfang ihrer Ehe hatte sie sich dieses Baby so real vorgestellt wie alles andere in der haptischen Welt. Sie war überzeugt gewesen, Mutter zu werden, und hatte dem Baby bereits einen Namen gegeben, noch bevor es gezeugt war. Sie hatte es immer Emma nennen wollen.

Fasziniert umrundete Delilah den Tisch, um näher an die Puppe heranzukommen. Sie steckte in einer großen hölzernen Kiste voller Plüschtiere und kleiner Geräte, und das hübsche Babygesicht lag teilweise im Schatten eines blauen Huts. Die breite Krempe mit den rosa Rüschen wirkte ganz unpassend zwischen einer Spielekonsole und einem Ding, das wie ein ferngesteuertes Flugzeug wirkte. Delilah hatte Mühe, die Puppe, die knapp fünfzig Zentimeter groß war, dazwischen hervorzuziehen.

Sie trug ein hellblaues Kleid mit Puffärmeln aus den 1980er-Jahren, mit rosa Rüschenbesatz und einer großen Schleife um die Taille, und sie war viel schwerer, als Delilah erwartet hatte. Als sie sich die Puppe näher besah, merkte Delilah, dass sie so schwer war, weil sie voller Elektronik steckte.

Delilah griff nach dem leuchtend pinkfarbenen Schild und der kleinen Bedienungsanleitung, die vom Handgelenk der Puppe herabhingen. „Mein Name ist Ella“, stand auf dem Schild.

Ella. Das klingt fast wie Emma. Delilah verspürte ein seltsames Kribbeln, das ihren ganzen Körper durchlief. Wie seltsam war das denn? Eine Puppe, die aussah wie ihr lang ersehntes Baby, und ein Name, der viel zu ähnlich klang, als dass es hätte Zufall sein könnte. Obwohl es doch Zufall sein musste, oder nicht?

Delilah öffnete das kleine Büchlein. Sie riss die Augen auf. Wow! Sie hatte es hier mit einer wahren Hightechpuppe zu tun.

Laut der Broschüre war Ella eine „Helferpuppe“, die von Fazbear Entertainment hergestellt wurde. „Fazbear Entertainment“, flüsterte Delilah. Sie hatte noch nie von der Firma gehört.

In der Broschüre war aufgelistet, wofür Ella entwickelt worden war, und die Liste war ziemlich beeindruckend. Ella konnte alle möglichen Dinge tun. Sie konnte die Zeit stoppen und als Wecker dienen, Termine verwalten, Listen führen, Fotos machen, Geschichten vorlesen, Lieder singen und sogar Getränke servieren.

Getränke servieren? Delilah schüttelte den Kopf.

Etwas nervös sah Delilah sich um und war erleichtert, dass niemand ihr Interesse an der Puppe beachtete. Mumfords Frauchen zeigte dem jungen Mann ein paar Schallplatten und die korpulente Frau stapelte Porzellanteller neben der Geldkassette auf. Bisher war sonst niemand gekommen.

Delilah las weiter.

Ella, so stand es in der Broschüre, konnte den pH-Wert im Wasser bestimmen, und sie konnte Persönlichkeitsanalysen durchführen, wenn man ihre vorprogrammierte Liste von zweihundert Fragen beantwortete. Wie konnte eine alte Spielzeugpuppe so hoch entwickelt sein?

Sowohl Ellas Kleidung als auch das Design der kleinen Broschüre passten zu ihrem Baujahr. Sie war nicht neu, nicht einmal annähernd. Konnte sie all das wirklich?

Delilah drehte Ella um und entdeckte einen Zettel, der an Ellas Kleid geheftet war. Auf dem Zettel stand, dass die einzige von Ellas Funktionen, die auch funktionierte, der Wecker sei. Delilah drehte Ella wieder herum und sah, dass in Ellas Brust eine kleine Digitaluhr eingebettet war. Konzentriert versuchte Delilah, die Weckfunktion zu aktivieren, indem sie eine Reihe kleiner Knöpfe drückte, die sich auf Ellas rundem Bauch befanden.

Als sie auf den letzten Knopf drückte, riss Ella mit einem klackenden Geräusch die Augen auf, und Delilah ließ die Puppe vor Schreck fast fallen. Mit plötzlich hämmerndem Herzen sog sie scharf die Luft ein, als Ella, die eben noch offensichtlich geschlafen hatte, ruckartig zum Leben erwachte.

Delilah hielt Ella auf Armeslänge von sich und betrachtete sie. Sie brauchte ohnehin einen Wecker. In Ellas Nacken klebte ein Preisschild. Die Summe war nicht allzu hoch, das Geld würde Delilah verschmerzen können. Und vielleicht konnte sie den Preis ja noch drücken. Bei ihren Hunderten von Flohmarktbesuchen hatte sie sich im Feilschen geübt.

Delilah nahm Ella auf den Arm und ging zu Mumford und seinem Frauchen zurück. Der junge Mann lud gerade eine Kiste mit Schallplatten in seinen Pick-up.

„Würden Sie mir von diesem Preis 15 Dollar nachlassen?“, fragte Delilah. „Sie hat ja nur eine der beschriebenen Funktionen.“

Die Frau streckte eine Hand mit leuchtend roten Fingernägeln aus. Dann drehte sie Ella herum, warf einen Blick auf den Preis und sah wieder Delilah an, die versuchte, zugleich höchst interessiert und sehr arm zu wirken. „Okay. Sicher, das kann ich machen.“

Delilah strahlte. „Toll.“

Während sie bezahlte, machte sie sich klar, dass der Tag immer besser wurde. Es war überhaupt nicht scheiße, Kekse gekauft zu haben und auf einem privaten Flohmarkt eine Hightechpuppe für einen guten Preis zu finden. Sie würde Ella auf ihren alten Couchtisch aus Eiche setzen, wo sie immer ein Gesprächsthema sein würde. Harper würde Ella lieben.

Außerdem besaß Delilah jetzt einen funktionierenden Wecker! Sie konnte nach Hause gehen, ein Nickerchen machen und trotzdem sicher sein, dass sie rechtzeitig zu Schichtbeginn aufstand. Ja, es sah gar nicht so schlecht aus. Vielleicht konnte sie doch noch ihrer Gedankenschleife entkommen, die ihr einreden wollte, dass das Leben einfach scheiße war.

* * *

Zurück in ihrer Wohnung setzte Delilah Ella auf ihren Nachttisch. Ella, mit ihrem Kleid, das sich um sie bauschte, sah dort gut aus, zufrieden geradezu. Selbstzufrieden irgendwie, was natürlich eine Projektion war, denn Ella war sich ihrer selbst ja nicht einmal bewusst. Delilah war es, die mit sich zufrieden war. Sie war stolz darauf, dass sie einen Weg gefunden hatte, diesen Tag zu überstehen. Sie hatte ihre schlechte Laune überwunden. Und das beeindruckte sie irgendwie.

Delilah stellte Ellas Uhr auf die aktuelle Zeit ein. Es war gerade einmal 11:30 Uhr, also konnte Delilah noch ein paar Stunden schlafen. Sie stellte den Wecker auf 1:35 Uhr, zupfte ihr Laken glatt, legte sich hin und zog sich die Decke bis unters Kinn. Nicht, weil es in ihrer Wohnung kalt war, sondern weil sie sich dann sicher fühlte. Dankbar dafür, dass Mary entweder selbst schlief, einkaufen war oder sich ihre Stimmbänder durch zu viel Gesang ruiniert hatte, schloss Delilah die Augen und ließ sich von ihrer Müdigkeit davontragen.

* * *

Das Klingeln des Telefons durchbrach Delilahs friedvolle Ruhe wie eine Rakete, die dicke Klostermauern zerschmetterte. Sie schoss in die Höhe und griff nach dem Telefon, während sie sich schalt, dass sie es nicht abgestellt hatte, damit sie in Ruhe schlafen konnte.

„Was?“, knurrte sie hinein.

„Wo zum Teufel bist du?“, knurrte Nate zurück.

„Wie? Es ist …“ Delilah blickte zu Ella. Auf Ellas Uhr stand 14:25. „Ach du Scheiße.“

„Entweder bist du in 15 Minuten hier oder du brauchst überhaupt nicht mehr zu kommen.“

Delilah riss gerade noch rechtzeitig das Telefon vom Ohr, um dem lauten Knall zu entgehen, mit dem sie schon gerechnet hatte. Nate benutzte ein altmodisches Festnetztelefon, dessen Hörer sogar noch an einem Metallhaken hing. Seine Stimmung konnte man an der Wucht erkennen, mit der er den Hörer auf den Haken knallte. Er war sauer.

Delilah eilte ins Badezimmer und riss sich unterwegs die Sachen vom Leib. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar, dann lief sie zurück ins Schlafzimmer, schlüpfte in ihre dunkelblaue Uniform und griff sich ihre Arbeitsschuhe, hässliche schwarze rutschfeste Teile, die alle Angestellten bei Nate tragen mussten. Während sie sie zuband, fiel ihr Blick auf Ella.

„Na, du bist ja vielleicht eine Enttäuschung“, sagte sie zu der Puppe.

Unter dicken Wimpern hervor blickte Ella sie an. Eine ihrer Locken war ihr übers Auge gefallen. Sie wirkte fast schelmisch.

Kein Wunder, dass die Puppe so billig gewesen war. Das Einzige, was funktionierte, war die Uhr mitten in Ellas Brust. Aber ohne die Weckfunktion war die Uhr auch nichts wert. Ella war immer noch eine hübsche Puppe und sie sah auch weiterhin wie Delilahs lang ersehntes Baby aus, doch nun wirkte sie eher wie ein Denkmal, das Delilah an all ihren Frust erinnerte.

Nachdem sie ihre Schuhe zugebunden hatte, griff sich Delilah Ella vom Nachttisch. Einen Moment lang staunte sie über die samtweiche „Haut“ der Puppe. Doch dann ging sie ins Wohnzimmer, schnappte sich ihre Handtasche und verließ die Wohnung. Sie joggte den Flur entlang zur Treppe und schüttelte den Kopf, als sie hörte, wie Mary „Ich liebe die große, weite Welt“ sang.

Draußen hatte sich die Sonne hinter einen Vorhang aus tief hängenden Wolken verzogen, aus denen dicke Regentropfen fielen. Delilah blieb stehen, um zwei älteren Damen die Tür aufzuhalten, die unerträglich lange brauchten, um ins Haus zu kommen. Dann rannte sie um das Gebäude herum in Richtung der Müllcontainer.

Wie ein Trio aus Trollen hockten die drei grünen Container am Rande des Parkplatzes hinter dem Mietshaus. Zwei standen offen, einer war geschlossen. Delilah fasste die beiden offenen Müllcontainer ins Auge und schwang Ella in hohem Bogen über den Kopf. Am Scheitelpunkt der Kurve ließ sie Ella los.

Die Puppe flog durch den Regen und landete mit einem metallisch klingenden Knall in einem der Container. Ein wenig zuckte Delilah bei dem Geräusch zusammen und fühlte sich irgendwie schuldig, weil sie eine Puppe weggeworfen hatte, die genauso aussah wie ihr Baby. Eine Puppe mit überraschend echt wirkenden Händen.

Delilah sah nicht mehr, in welchem Müllcontainer Ella gelandet war, weil Nate in der Hintertür des Diners erschien. Delilah winkte ihm zu.

„Kommst du zu spät, weil du mit deinen Puppen gespielt hast?“, rief er.

„Sehr witzig.“ Delilah lief auf das Diner zu und erreichte die Tür in dem Moment, als sich die Schleusen des Himmels endgültig öffneten.

Nate trat zurück, um sie hereinzulassen, dann schloss er die Tür und sperrte damit den Wolkenbruch aus. Delilah stieg Nates Rasierwasser in die Nase, das nach einem Hauch von Whisky roch und auf das Nate unglaublich stolz war. „Männlich, findest du nicht?“, hatte er gefragt, als er es zum ersten Mal benutzte. Delilah hatte zugeben müssen, dass es das war.

Nate war groß, durchtrainiert, gut aussehend und gepflegt und widersprach damit dem Stereotyp eines Diner-Besitzers. Er war um die 50, hatte kurzes schwarzes Haar, das langsam grau wurde, und einen sauber gestutzten Bart. Dazu besaß er graue Augen, die einen durchbohren konnten. Und genau diese Augen richtete er jetzt auf Delilah.

„Du hast Glück, dass du gut bist und die Kunden dich lieben“, sagte er. „Aber du musst deine Unpünktlichkeit in den Griff bekommen. Ich kann das nicht ewig durchgehen lassen.“

„Ich weiß. Ich weiß. Ich gebe mir Mühe.“

„Das tust du.“

* * *

Delilahs Schicht flog dahin. Das war der Vorteil, wenn man von 14 bis 22 Uhr arbeitete. Die Hektik konnte einen fertigmachen, aber zumindest verging die Zeit schnell.

Gegen halb elf war Delilah wieder in ihrer Wohnung und verpasste zum Glück eins der Gutenachtlieder von Mary. Im Haus war es ziemlich ruhig. Nur aus einer Wohnung am Ende des Flures ertönte Rapmusik und aus einem Fernseher ein Stockwerk höher Gelächter.

Draußen im Flur roch es nach angebranntem Rosenkohl, und Delilah hoffte, dass der üble Geruch ihr nicht in die Wohnung folgen würde, als sie die Tür hinter sich schloss. Doch dort duftete es nach Fichtennadelbad und Orangen. Selbst Delilah roch da schlechter, nämlich nach Fett, wie immer am Ende einer Schicht.