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Eugen Ruge

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Beschreibung

Fünf Jahre nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» entwirft Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte und sich doch als überraschende Fortschreibung erweist. Ein Buch über die Zukunft, in der wir schon heute leben. Unter dem künstlichen Himmelsblau von HTUA-China ist ein Mann unterwegs, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten: «true barefoot running» heißt das erstaunliche Produkt. Nio Schulz lebt mit Big Data, in einer Welt der Genderkameras, der technischen Selbstoptimierung. Er schwimmt im Strom unaufhörlicher Information: In Australien wird die Klimabombe gezündet, seine Freundin in Minneapolis verhandelt mit ihm über Leihmutterkosten, und @dpa meldet den Tod des einschlägigen Eigenbrötlers und Fortschrittsfeinds Alexander Umnitzer – seines Großvaters. Nio ist fortschrittlich. Schon neununddreißig, kämpft er darum, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Aber auf dem Weg zum Geschäftstermin verschwindet er vom Radar der Überwachungsbehörden. Voller überraschender Einfälle und Echos, mit sarkastischem Humor und auf distanzierte Weise mitfühlend, erzählt «Follower» die Geschichte der nächsten Generation und zugleich, in einer aberwitzigen Ausholbewegung, die Vorgeschichte – von allem. «Eugen Ruge ist ein Erzähler von einer Virtuosität, von einer sprachlichen Finesse, von einer erzähltechnischen Genauigkeit wie man sie nicht alle Tage antrifft.» (3SAT-Kulturzeit) «Außergewöhnlich mitfühlend und vor allem von scharfem und erhellendem Witz.» (The New York Times) «Überragend.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Eugen Ruge

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Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel

Roman

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Über dieses Buch

Fünf Jahre nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» entwirft Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte und sich doch als überraschende Fortschreibung erweist. Ein Buch über die Zukunft, in der wir schon heute leben.

Unter dem künstlichen Himmelsblau von HTUA-China ist ein Mann unterwegs, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten: «true barefoot running» heißt das erstaunliche Produkt. Nio Schulz lebt mit Big Data, in einer Welt der Genderkameras, der technischen Selbstoptimierung. Er schwimmt im Strom unaufhörlicher Information: In Australien wird die Klimabombe gezündet, seine Freundin in Minneapolis verhandelt mit ihm über Leihmutterkosten, und @dpa meldet den Tod des einschlägigen Eigenbrötlers und Fortschrittsfeinds Alexander Umnitzer – seines Großvaters.

Nio ist fortschrittlich. Schon neununddreißig, kämpft er darum, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Aber auf dem Weg zum Geschäftstermin verschwindet er vom Radar der Überwachungsbehörden.

Voller überraschender Einfälle und Echos, mit sarkastischem Humor und auf distanzierte Weise mitfühlend, erzählt «Follower» die Geschichte der nächsten Generation und zugleich, in einer aberwitzigen Ausholbewegung, die Vorgeschichte – von allem.

 

«Eugen Ruge ist ein Erzähler von einer Virtuosität, von einer sprachlichen Finesse, von einer erzähltechnischen Genauigkeit wie man sie nicht alle Tage antrifft.» (3SAT-Kulturzeit)

 

«Außergewöhnlich mitfühlend und vor allem von scharfem und erhellendem Witz.» (The New York Times)

 

«Überragend.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Über Eugen Ruge

Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa (Ural) geboren. Der diplomierte Mathematiker begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für «In Zeiten des abnehmenden Lichts» bekam er den Deutschen Buchpreis. 2013 erschien der Roman «Cabo de Gata», 2015 folgten die Bände «Theaterstücke» und «Annäherung. Notizen aus 14 Ländern».

1

Als es ihm endlich gelungen war, die Starre des Halbschlafs zu überwinden, die Finger und schließlich den ganzen Arm zu bewegen und den Lichtschalter zu betätigen, den er instinktiv schräg hinter sich gesucht hatte, sah Schulz im Schein einer total veralteten OLED-Lampe:

das Fußende eines riesigen Doppelbetts, unter dessen aufgeworfener Bettdecke seine Füße zu vermuten waren,

dahinter einen Bildschirm, auf dem eine weiße Fliege umherschwirrte,

links eine akkurat gewellte Gardine von undefinierbarer Farbe, die die ganze Wand von der Zimmerdecke bis zum Fußboden bedeckte,

sowie, unmittelbar neben sich, ein Nachttischchen mit einem Wasserglas, einem mattweiß beschirmten Lämpchen und einem vorsintflutlichen Schnurtelefon, das es so nur noch in Hotelzimmern gab,

aber trotz dieser halbwegs gesicherten Anhaltspunkte, trotz der Knitterfalten seines verschwitzten Schlafanzugs im Rücken und der Trockenheit in seiner Mundhöhle wollte sich ein Wirklichkeitsgefühl nicht recht einstellen, das Rauschen der Klimaanlage nivellierte die Sinne, das Flimmern der uralten OLED-Lampe gab dem Raum etwas chimärenhaft Unzuverlässiges, und besonders die unfarbenen Gardinen kamen Schulz auf einmal unecht vor, als gäbe es gar kein Fenster dahinter, schlimmer noch: als wären sie in Wirklichkeit gar nicht zu öffnen, Nachbildungen aus einem unbeweglichen Material, und dieser Eindruck wurde ihm so unangenehm, dass er das Licht gleich wieder ausschaltete,

aber auch die Tatsache, dass sich die ganze Chimäre durch eine winzige Schalterbewegung zum Verschwinden bringen ließ, trug nicht zur Stärkung seines Wirklichkeitsgefühls bei, einzig die Fliege schien echt zu sein, die fette weiße Fliege, die, eine schwach bläulich leuchtende Spur hinterlassend, durch die Dunkelheit glitt, um auf enervierend vorhersehbare Weise gegen die Ränder des Bildschirms zu prallen, und die, wie Schulz wusste, in Wirklichkeit keine Fliege war, sondern die Uhrzeit, vorausgesetzt, man war nicht leicht weitsichtig oder hatte seine Brille auf,

aber Schulz war leicht weitsichtig und hatte keine Brille auf, seine Glass lag auf dem anderen, dem entfernteren Nachttisch, wo er sie, wie er sich schwach erinnerte, abgelegt hatte, aus Angst, er könnte das Wasserglas, das er für die Nacht bereitgestellt hatte, im Halbschlaf darüberkippen, und der Aufwand, sich auf den Bauch zu drehen und auf die andere Seite des riesigen Doppelbetts zu kriechen, um die Glass vom anderen Nachttisch zu holen, erschien Schulz so ungeheuerlich, dass er den Gedanken sofort wieder verwarf und stattdessen darüber nachzudenken begann, wo er eigentlich war, womöglich rührte sein Unwirklichkeitsgefühl einfach daher, dass er keine Orientierung oder, wie er sagen würde, keine Peilung hatte, er war buchstäblich noch nicht ganz da, ein Zustand, der ihm durchaus bekannt vorkam: die sekundenlange Unschärfe nach dem Erwachen, die Bilder, die ineinander übergingen, bis sich endlich ein Name, eine Ortsbezeichnung einstellte,

aber es stellte sich kein Name ein und keine Ortsbezeichnung, er sah lediglich die Zeitfliege, die mit enervierender Stupidität gegen die unsichtbaren Ränder des Bildschirms prallte und keinen Aufschluss über seinen Aufenthaltsort zuließ, denn die Zeitfliege gab es in zahllosen Hotels dieser Welt, nämlich in allen, die ihren Netzanschluss von UNIVERSE hatten, es war die nicht abschaltbare Zeitfliege von UNIVERSE, und je länger Schulz auf die nicht abschaltbare Zeitfliege von UNIVERSE starrte, desto lästiger wurde sie ihm, natürlich könnte er die Augen schließen, aber

als er die Augen schloss, sah er immer noch die Zeitfliege, schlimmer noch, jetzt hatte er die Zeitfliege im Kopf, jetzt prallte sie von innen gegen seine Schädelwände, schwirrte durch das Innere seines Kopfes, als wäre sein Kopf ein leerer Raum, den die nicht abschaltbare Zeitfliege von UNIVERSE ungehindert durchqueren konnte, was selbstverständlich unsinnig war, trotzdem wunderte er sich und war zugleich verwundert darüber, dass er sich mitten in der Nacht plötzlich darüber wunderte, nämlich über die Tatsache, dass man das eigene Gehirn gar nicht wahrnahm, den Ort, wo das Ich sitzen müsste, aber wenn er versuchte, den Ort auszumachen, an dem sein Ich sich befand, wanderte seine Aufmerksamkeit fast automatisch zu Mund und Nase, genauer: zu Rachenhöhle und Nasenschleimhaut, wo er eine enorme, eine geradezu existenzielle Trockenheit feststellte, und bevor er den Gedanken ganz zu Ende gedacht, bevor er etwa die seltsame Kongruenz von Trockenheit und Ich-Gefühl vollständig erfasst und einen Satz wie Ich bin dehydriert gebildet hatte,

öffnete irgendein Neurotransmitter einen Kanal in der Membran irgendeiner Nervenzelle des für Nio Schulz nicht wahrnehmbaren Gehirns und ermöglichte auf diese Weise den Zustrom von ein paar tausend positiv geladenen Kaliumionen, wodurch das Ruhepotenzial der Zelle aufgehoben und ein elektrisches Signal an ein Motoneuron gesendet wurde, welches wiederum ein Signal in das Muskelgewebe sandte und damit die chemische Konfiguration der Myosinmoleküle veränderte mit der Wirkung, dass die Filamentproteine in ungefähr zwölf verschiedenen Muskeln beziehungsweise Muskelgruppen von Nio Schulz unter Abbau von Adenosintriphosphat kontrahierten, kurz gesagt:

Schulz griff zum Wasserglas,

und schon während er zum Wasserglas griff, und nicht nach dem ersten Schluck, wie er sich kurze Zeit später einreden würde, um seine Ortsvergesslichkeit mit temporärer Dehydration zu entschuldigen, schon während des Griffs zum Wasserglas erinnerte sich Schulz:

zuerst an die Beta-Flux, die er gestern Abend eingeworfen hatte, denn in Kenntnis der Nebenwirkungen des Medikaments – Durst – hatte er das Wasserglas vorsorglich bereitgestellt,

und im nächsten Augenblick an den Grund, aus dem er die Beta-Flux genommen hatte, denn obwohl es sich bei dem Präparat um ein Instant-Antidepressivum handelte, benutzte Schulz Beta-Flux als Schlafmittel, allerdings nur ausnahmsweise, in diesem Fall wegen des zu erwartenden Jetlags,

und bei dem Gedanken an den Jetlag fiel ihm, etwa in dem Moment, als er das Glas an die Lippen setzte, sogar ein, wo er war, zumindest hatte er plötzlich Bilder von seiner Ankunft vor Augen: das futuristische Terminal, die rot-weißen Uniformen der HTUA-Polizei, die junge Frau mit der fotoidentischen Atemschutzmaske, der er nachgeschaut hatte wie einer verflossenen Geliebten, und zusammen mit der Erinnerung an die FAMA, wie die fotoidentische Atemschutzmaske firmenintern genannt wurde, kam auch das Bewusstsein darüber, warum er dieses Mal hier war: True Barefoot Running, Termin um zehn Uhr,

und beim Gedanken an den Termin um zehn Uhr öffnete Schulz unwillkürlich die Augen und versuchte, die nicht abschaltbare Zeitfliege von UNIVERSE in eine Ziffernfolge zu zergliedern, aber die Neun, die beim Zusammenkneifen der Lider in der Stundenanzeige aufflackerte, konnte nicht stimmen, denn erstens war es, der Dunkelheit hinter den Gardinen nach zu urteilen, noch mitten in der Nacht, es sei denn, es handelte sich tatsächlich um nachgemachte Gardinen ohne ein Fenster dahinter,

ein Gedanke, den Schulz inzwischen eher unplausibel fand, außerdem war er sich ganz sicher, den Weckimpuls auf halb acht gestellt zu haben, und er konnte sich nicht erinnern, geweckt worden zu sein, schon gar nicht erinnerte er sich an F1, wie er die freundliche Aufwachstimmung, die er seit einigen Wochen mit Vorliebe verwendete, verschämt zu nennen pflegte,

im Gegenteil, er erinnerte sich, wenn er in Richtung Schlaf zurückdachte, an ein Gefühl von Lähmung, an ein unangenehmes, schweres Erwachen: ein Traum, begriff Schulz, und obwohl ihm keine Einzelheiten mehr einfielen, wusste er, dass es ein hässlicher, bösartiger Traum gewesen war, wie er ihn lange nicht mehr gehabt hatte, allerdings träumte er kaum noch in letzter Zeit, genauer gesagt, seit er sich von dem Chip wecken ließ,

oder war etwas schiefgegangen,

hatte jemand seinen Account gehackt und seinen Weckimpuls manipuliert,

idiotischer Gedanke: wer sollte Interesse daran haben, seinen Weckimpuls zu manipulieren, das war paranoid, dachte Schulz, wobei das Wort in seinem Kopf so klang, wie seine aus Bulgarien stammende Chefin es aussprach, paranuid, dachte Schulz, und er wollte auf keinen Fall paranuid sein, sogar wenn seine Chefin gar nicht dabei war, wollte er nicht paranuid sein,

es sei denn, Jeff hätte seine Weckzeit verstellt, dieses Arschloch, und auch wenn er nicht ernsthaft glaubte, dass Jeff seinen Account gehackt und seine Weckzeit verstellt hatte, ja, dass Jeff technisch überhaupt dazu in der Lage wäre, merkte Schulz, wie er langsam über den Oberarm auf die Seite und auf den Bauch rollte und mit sonderbar raupenartigen Bewegungen über die unberührte Doppelbetthälfte zum entfernteren Nachttisch zu kriechen begann, um dort erwartungsgemäß seine Glass zu finden, sie aufzusetzen und festzustellen,

dass die Zeitfliege 6:11 anzeigte,

dass die Glass ebenfalls 6:11 anzeigte,

dass es also in China 6:11 war, genauer gesagt, in HTUA-China (seit der Aufteilung Chinas in kommerzielle Sektoren hatten HSBC, Toyota, UNIVERSE und Alibaba eine eigene Zeitzone eingeführt),

weshalb Schulz die Glass wieder abnahm, die Decke über den Kopf zog, sich in eine embryonale Haltung hineinkrümmte und versuchte, noch einmal einzuschlafen,

nicht an die Zeitfliege von UNIVERSE zu denken,

auch nicht an den Termin um zehn Uhr,

schon gar nicht an Jeff, das Arschloch,

aber auch nicht, jedenfalls im Augenblick nicht, an Sabena, die vermutlich gerade über die Textilmesse in Minneapolis spazierte und irgendwelchen Typen die Farbtrends und Materialzusammensetzung der aktuellen AIMANT-Kollektion präsentierte,

sondern seine Gedanken auf etwas Positives zu richten,

nämlich auf jene freundliche Aufwachstimmung, die ihn am anderen Ende des Schlaftunnels erwartete und die er F1 nannte, was, obwohl er es nie vollständig aussprach, ja, sogar zu denken vermied, so viel heißen sollte wie Ferienstimmung eins, denn obwohl der Hersteller des Chips, wie das Implantat fälschlicherweise genannt wurde – tatsächlich handelte es sich um drei harmlose, jeweils in den Frontlappen, den Schläfenlappen und die Amygdala eingelassene Haarelektroden –, obwohl der Hersteller bloß «allgemeine Stimmungslagen» versprach, die man «auf eigene Gefahr» generieren konnte, hatte Schulz nach einigen Wochen durch Zufall eine Impulskombination gefunden, die ihn beim Erwachen frappierend an seine Kindheit erinnerte – Hochsommer, Ferien, lange schlafen, draußen ist es schon helllichter Tag –, und wenn er sich in die Stimmung hineinversetzte, glaubte er sogar, die Tauben gurren zu hören, und nach einer Weile war sogar dieser Geruch da: der Geruch von frisch gemähtem Gras,

trotzdem war er nicht imstande, die Szene zu lokalisieren, zumal der Geruch von frisch gemähtem Gras sofort eine andere, aktuellere Assoziation hervorrief, nicht Ferien und Kindheit, sondern Baumarkt: Schulz dachte an jene klassische Studie (erstes Semester Marketing & Communication), der zufolge der Geruch von gemähtem Gras die Meinung der Kunden über die Kompetenz eines Baumarkt-Verkäuferteams signifikant positiv beeinflusste,

was ihn zu der Überlegung führte, ob Methoden des Geruchsmarketings nicht auch bei der Vermarktung von True Barefoot Running einsetzbar wären, natürlich nicht am Produkt selbst, das ja in gewisser Weise immateriell war, aber bei den produktbegleitenden Fußbändern, deren Einführungspreis er immer noch für überzogen hielt, was ihn wieder an den bevorstehenden Termin denken ließ: an die Chinesen, denen er gegenübersitzen würde, und die, wie er aus Erfahrung wusste, immer in der Überzahl waren, nie schwitzten und stets undurchschaubare, versteinerte Gesichter zur Schau stellten,

und bei der Vorstellung von den niemals schwitzenden, versteinerten Chinesen, die stets in der Überzahl waren, hatte er auf einmal das Gefühl, dass er nichts in der Hand hatte, absolut nichts, nur Image-Prospekte, Statistiken, Factsheets, die er durchaus überzeugend fand, solange seine Chefin redete, aber wenn er an die niemals schwitzenden, versteinerten Chinesen dachte, erschien ihm das alles auf einmal vollkommen irrelevant, was verkaufen wir eigentlich, dachte Schulz, während er spürte, wie ihm der Schweiß austrat,

und im Moment, da ihm der Schweiß austrat, wusste er, dass ihm auch dort, vor den niemals schwitzenden, versteinerten Chinesen der Schweiß austreten würde,

aber das war schon wieder negativ, dachte Schulz, wobei das Wort negativ in seinem Kopf so klang, wie seine aus Bulgarien stammende Chefin es aussprach, negertief, dachte Schulz und fragte sich, ob seine Chefin vielleicht wirklich glaubte, es heiße negertief, wobei negertief tatsächlich ziemlich negativ klang, viel negativer als negativ,

dachte Schulz, auch wenn er im Augenblick gar nicht genau hätte sagen können, was das eigentlich bedeutete:neger, irgendetwas Dunkles und Verbotenes, stellte er sich vor, irgendein So-etwas-sagt-man-nicht-Wort, glaubte er sich zu erinnern,

aber statt morgens um kurz nach sechs über So-etwas-sagt-man-nicht-Wörter nachzugrübeln (er würde es nachher googeln), war es vernünftiger, noch ein, zwei Stündchen zu schlafen und sich nach dem Frühstück das Compact über DieBedeutung der Marke im postpostmateriellen Zeitalter vorzunehmen, das seine Chefin vorgestern gepostet hatte, dachte Schulz und versuchte abzuschalten, nicht zu denken,

weder an etwas Dunkles, Verbotenes,

noch an Jeff,

nicht an versteinerte Chinesen

und auch nicht an Sabena, die vermutlich gerade irgendwelche Typen über den Stand von AIMANT-Dessous führte,

obwohl es, genau genommen, gar nicht stimmte, es waren keineswegs nur Typen, zumindest waren auf den Fotos, die sie zu posten pflegte, durchaus auch Frauen zu sehen, sogar, wenn man nachzählte, mehr Frauen als Männer, trotzdem stellte Schulz sich immer nur Typen vor, irgendwelche Startupper in Designerklamotten, oder, noch schlimmer, irgendwelche melierten Textilbosse mit Echthornbrillen,

obwohl er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was Sabena gerade tat, wie spät war es in Minneapolis?, womöglich schlief sie noch oder sie frühstückte, und es gab, jedenfalls für den Augenblick, keinen Grund, an irgendwelche Startupper oder Textilbosse zu denken, die sie über den Stand von AIMANT-Dessous führte,

und nachdem Schulz eine schwer bestimmbare Zeit, aber nach den Flugbahnen der nicht abschaltbaren Zeitfliege von UNIVERSE zu urteilen, doch ziemlich lange. versucht hatte, die Zeitverschiebung zu Minneapolis zu ermitteln und, entsprechend der Erddrehung, von der HTUA-Zeit abzuziehen oder, er wusste es nicht, zu addieren, nahm er die Glass vom Nachttisch, setzte sie auf und führte den rechten Zeigefinger zum Brillenbügel, genauer gesagt, zum vorderen Teil des Bügels, wo sich der Fingerprintsensor befand, um festzustellen,

dass der Fingerprintsensor wieder mal nicht funktionierte, vielleicht lag es an seinen schweißigen Händen oder, so stellte Schulz sich vor, an den durch die Schlafwärme gedehnten Poren, jedenfalls erklang als Reaktion auf den gescheiterten Log-in-Versuch jene wohlbekannte, nicht personalisierbare Stimme aus dem Basic-Input/Output-System mit der wohlbekannten Aufforderung:

 

checking identity please repeat the scan,

 

weshalb Schulz, nachdem er die Finger am Laken abgewischt hatte, den Scan wiederholte, was aber lediglich zu einer Wiederholung der Log-in-Aufforderung führte,

und wenn die Stimme bisher ein reines Audiophänomen gewesen war, körperlos und schwebend, passierte es Schulz nun, dass er im Fast-Dunkel des Morgens ein Wesen zu halluzinieren begann, künstlich wie diese Stimme, eher weiblich, aber vielleicht auch neutral, eine Art Barbiepuppe, die mit jedem checking identity deutlicher hervorzutreten schien – wie in dem Traum, an den er sich jetzt gegen seinen Willen erinnerte, wenn auch nur an ein einziges Bild, nämlich an eine ebensolche puppenhafte Gestalt, die ihm mit ausgebreiteten Armen den Zugang versperrt hatte, oder war es ein Ausgang gewesen, jedenfalls rief das Bild ein beklemmendes Gefühl in ihm wach, ein Gefühl vollständigen Eingesperrt-Seins oder Ausgesperrt-Seins oder Abgetrennt-Seins,

aber bevor dieses Gefühl ihn ganz erfasste, nahm Schulz die Glass vom Kopf,

sprang auf,

trat ans Fenster

und riss die unfarbenen Gardinen auseinander.

2

Er liebte es, heiß zu duschen, auch wenn es gewiss nicht hautfreundlich war, wie auch tägliches Shampoonieren gewiss nicht hautfreundlich war, aber er liebte auch Shampoos und besaß verschiedene für verschiedene Gelegenheiten – für die heutigen Verhandlungen hatte er ein Produkt der Marke Go! ausgewählt, einen teuren und komplizierten Mix aus Pheromonen und pflanzlichen Duftstoffen, der dem Gegenüber Kompetenz und Entschlossenheit vermitteln, andererseits aber auch anziehend und stimmungsaufhellend wirken sollte,

und tatsächlich hellte sich Schulz’ Stimmung sofort auf, als sich die Aromen in der Duschkabine verbreiteten, obwohl er wusste, dass die eigentliche Geruchswirkung unterschwellig blieb und nur so funktionierte, während die wahrnehmbaren Bestandteile, in diesem Fall Bitterorange und Ananas, lediglich dazu dienten, den buttersauren Schweißgeruch zu überdecken, oder war es eine chemische Reaktion, er glaubte sich zu erinnern: Buttersäure plus irgendwas ergab irgendwas, das nach Ananas roch, Praktikum Geruchsmarketing, Schulz warf den Kopf nach hinten, schnappte nach Duschwasser und glaubte mit einem Mal das Gewicht seines Gehirns zu spüren,

weshalb er das Gurgelwasser ausspuckte und die Bewegung wiederholte, den Kopf mehrmals nach vorn und nach hinten warf, dann zur Seite, trotzdem fiel ihm die Formel für den Ananasgeruch nicht ein, stattdessen musste er wieder an die Chinesen denken: warum schwitzten die nicht, gab es ein Schweiß-Gen, konnte man es manipulieren, und wenn ja, warum hatte man es noch nicht manipuliert, oder hatte er bloß noch nicht davon gehört,

er schaltete von Handdusche auf Regendusche um und ließ sich eine Zeitlang sinnlos vom heißen Wasser berieseln, obwohl ein großes Schild im Badezimmer daran erinnerte, dass die Region in besonderer Weise unter Wasserknappheit litt, allerdings fand Schulz, dass er vor einem so wichtigen Termin ein gewisses Recht hatte, sinnlos zu duschen, er war sogar bereit zu glauben, dass sein Erfolg irgendwie von der Duschzeit abhinge, Aberglaube, gewiss, trotzdem blieb Schulz lange mit geschlossenen Augen unter der Dusche stehen und ließ seine Gedanken ungehindert durch sein wieder wahrnehmbares Gehirn fließen, ohne sich von ihnen berühren zu lassen, wie es beim Motivationscoaching hieß: Ananas … Buttersäure … Chinesen …

nur die Frage, ob er vor dem Frühstück eine L-Carnetin einwerfen sollte, verhakte sich irgendwie, wollte beantwortet werden, aber Schulz entschied sich gegen den Appetitzügler, weil er eine kräftige Energiezufuhr vor einem so wichtigen Termin als günstig ansah, stattdessen könnte er eine MetaKin nehmen, ausnahmsweise, er war schließlich nicht abhängig, die anderen in der Firma fraßen andauernd irgendwelche Brain-Tuner,

obwohl bei den Coachings immer wieder sanfte Methoden zur Vorbereitung empfohlen wurden, Entspannung, positive Gedanken, Schulz versuchte es mit der Denk-an-deine-Erfolge-Methode, während er das warme Duschwasser an sich herabrieseln ließ, tatsächlich hatte er ja nicht wenige Erfolge aufzuweisen, und das Gefühl, diese Erfolge lägen sehr weit zurück, entsprach nicht der Wahrheit, sein Ranking war immer noch gut, er war, bis auf die Sache mit der FAMA, eigentlich immer erfolgreich gewesen, er hatte immer Top-Umsätze gehabt und gleich mehrere Bestseller in China gelandet: den Nachtfederball mit fluoreszierendem Knicklicht oder das essbare Zimmermädchenkostüm,

und dass die FAMA trotz ihrer massenhaften Verbreitung in Asien (geschätzt: dreißig Millionen) für CETECH ein Flop geworden war, lag schließlich nicht an ihm, sondern an der Rechtsabteilung, genauer gesagt, an jenem Richter, der nicht etwa die Erfindung geschützt wissen wollte, sondern das Recht am eigenen Gesicht: ein Skandal, wie man bei CETECH fand, denn nach dieser Logik besäße ja jeder Porträtierte die Rechte an seinem Porträt, und tatsächlich gab es keine Vorwürfe von Seiten der Firma, niemand lastete ihm den Flop an, und doch hatte er das Gefühl, dass seine Chefin ihn seitdem anders anschaute, aufmerksamer, dass sie ihn öfter ins Leere, genauer gesagt, in ihr Schweigen hineinlaufen ließ, wohingegen ihr Schweigen, wenn Jeff sprach, von ihm stets als Zeichen des Einverständnisses empfunden wurde,

aber das war schon wieder negertief, dachte Schulz und begann seine Haare ein zweites Mal einzuseifen, möglicherweise lag es an ihm, möglicherweise war er überempfindlich, weil er im Grunde selbst das Gefühl nicht loswurde, für den FAMA-Flop verantwortlich zu sein, und sei es nur dadurch, dass er die Entscheidung des Schiedsgerichts nicht ganz so skandalös fand, wie er vorgab, schlimmer noch, dass er den Standpunkt der Gegenseite sogar bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen konnte, und wenn er ganz ehrlich war, plagte ihn bis heute die unsinnige, aber zählebige Vorstellung, der Prozess sei verloren worden, weil er, Nio Schulz, nicht hundertprozentig vom eigenen Standpunkt überzeugt gewesen war,

und auch wenn das niemand bemerkt hatte und auch nicht bemerkt haben konnte, denn selbst wenn sie – paranuid! – seinen Account gehackt hätten, wären keine digitalen Spuren seines Zweifels zu finden gewesen – auch wenn also niemand etwas bemerkt haben konnte, fühlte Schulz sich, egal, ob virtuell oder physisch, in der Firma unwohl, er argwöhnte, dass man ihm nicht glaube, wenn er sich über die skandalöse Entscheidung des Schiedsgerichts erregte, oder hatte den Verdacht, dass seine Chefin, wenn sie ihn bloß eine Sekunde zu lang anschaute, ihn prüfe, seine Festigkeit, seine Loyalität, seine Echtheit, und das genügte, damit er sich tatsächlich unecht zu fühlen begann, tatsächlich wurden seine Gesten und Bewegungen unnatürlich und automatenhaft, tatsächlich klang, was er sagte, aufgesetzt, es war, dachte Schulz, im Grunde das Echo seiner eigenen Gedanken, es war sein eigener Verdacht, der auf ihn zurückfiel und ihn zu dem machte, was er in den Augen der anderen fürchtete zu sein,

und plötzlich glaubte er zu begreifen, wie positives Denken funktionierte, nämlich genau so, dachte Schulz, nur umgekehrt: indem er von sich überzeugt war, war er überzeugend, indem er an seinen Erfolg glaubte, hatte er Erfolg, so einfach war das, dachte Schulz, im Grunde hatte er das schon immer gewusst, und doch war es in diesem Moment eine Erleuchtung, eine Eingebung, ein Gewahren mehr als ein Verstehen: Go!, dachte Schulz,

und wenngleich er den Go!-Spot ein bisschen primitiv fand, überkam ihn auf einmal die Lust zu schreien, was er aus Rücksicht auf mögliche Zimmernachbarn jedoch unterließ, besser gesagt: sich für einen geeigneten Zeitpunkt aufhob, für einen geeigneten Ort, nur wo konnte man eigentlich ungestört schreien: im Frühstücksrestaurant, im Taxi, auf dem Weg zum chinesischen Geschäftspartner, fragte sich Schulz,

und erinnerte sich, wie Jeff kürzlich behauptet hatte, vor jedem wichtigen Geschäftstermin sämtliche Übungen zu absolvieren, von der Meditation bis zum Motivationsschrei, woraufhin Schulz so getan hatte, als ob er dies ebenfalls tue, dabei hatte er noch nie vor einem wichtigen Geschäftstermin geschrien, aber vielleicht sollte er es probieren,

dachte Schulz und versuchte, wenn auch nur andeutungsweise, zu schreien, sozusagen innerlich, dennoch glaubte er nach einigen innerlichen Schreien eine Wirkung zu spüren: tatsächlich hatte er das Gefühl, ein Stück größer zu werden, tatsächlich merkte er, wie seine Brust sich weitete und sein Atem freier wurde, tatsächlich nahm er die Energie wahr, die seinen Körper durchströmte, und im nächsten Augenblick erhob er sich wie Tox Rider, der Mutant in der berühmten dritten Folge von Life or Death, ein Stück in die Luft und spaltete mit konzentrierten Handkantenschlägen versteinerte Chinesen, die einer nach dem anderen zerbröselten wie Kekse,

Killerinstinkt, nannte es sein Motivationscoach, und Schulz fragte sich, ob Jeff ihn hatte, mit seinen eins achtundsechzig Körpergröße und seinen Muskelimplantaten, ob er den Killerinstinkt hatte, ob er die Energie fühlte, aber wie fühlte man Energie, wenn sie Silikon-Implantate durchströmte, Jeff bestand ja hauptsächlich aus Silikon-Implantaten, aus schicken, aber nutzlosen Silikon-Implantaten, sogar sein Gesicht schien aus Silikon-Implantaten zu bestehen, und wenngleich Schulz zugeben musste, dass er selbst schon über eine kleine Nasenkorrektur nachgedacht hatte, dafür hatte er kein Verständnis, er empfand sogar eine gewisse Verachtung für dieses synthetische Bodybuilding, wie es neuerdings unter jungen Menschen in Mode kam, weil es, wie behauptet wurde, gesünder sei, als Gewichte zu stemmen und Eiweißpräparate zu fressen, nein, Schulz war stolz auf seinen in Handarbeit und, zugegeben, mit Unterstützung von ein paar Appetitzüglern und Fatburnern getrimmten Körper, ihm gefiel sein Bizeps, der sich, wenn er ihn anspannte, wie ein kleines Tier unter der Hautdecke bewegte, es machte ihm Spaß, seinen musculus pectoralis zucken zu lassen oder die gekerbte Landschaft zu betrachten, die er auf seinem Bauch hervorzuzaubern imstande war,

oder war das masku, fragte sich Schulz, war das trollig, war das ein Relikt, wie es bei den AKWs hieß, war die Zufriedenheit mit einem kontraktionsfähigen Bizeps schon latente Gewalt, fragte sich Schulz, während er mit seifiger Hand die Beschaffenheit seiner mühsam am Kabelzug trainierten Pobacken prüfte, aber er fand auch seine mühsam am Kabelzug trainierten Pobacken ziemlich in Ordnung, er fand sie wohlgeformt, ja, er fand seine mühsam am Kabelzug trainierten Pobacken insgeheim sogar sexy, was ihn auf den Gedanken brachte, dass das Gefallen am eigenen männlichen Körper, das ja einen eindeutig homoerotischen Aspekt hatte, gar nicht masku sein konnte, infolgedessen wäre auch das Gefallen am eigenen männlichen Körper politisch korrekt, kurz p.c. oder, wie es in Schulz’ Kopf klang: pisi,

und mit diesem Entschluss beendete er den Duschvorgang und begann seinen Körper zu frottieren, systematisch und kraftvoll, aber auch nicht zu kraftvoll: um seine ein bisschen zu heiß und ein bisschen zu lange geduschte Haut zu schonen, frottierte er zuerst den vorderen Bereich, von Nabel bis Kopf, wofür er stets die Mitte des Badehandtuchs benutzte, sozusagen die A-Seite, während die Mitte der B-Seite dem Rücken vorbehalten blieb, den er, das langgezogene Badetuch in den ausgestreckten Armen, nach dem Prinzip einer Zweimannsäge bearbeitete, um zuletzt den oberen, das heißt den zum Aufhänger gerichteten Teil des Handtuchs, und zwar wieder die A-Seite, zum Abrubbeln des rechten und die B-Seite entsprechend zum Abrubbeln des linken Arms zu nutzen,

allerdings fehlte der Aufhänger an dem Hotelbadetuch, was Schulz für einen Moment aus dem Rhythmus brachte, denn auch wenn er ohne weiteres eine beliebige Seite als oben hätte definieren könnten, entstand die Frage, wie er heute Abend oder morgen früh diese obere, also die Arm-Seite im Unterschied zur Bein-Seite wiedererkennen sollte, und im Nachdenken über diese lästige Frage verharrte Schulz einen Augenblick reglos vor dem leicht beschlagenen Badezimmerspiegel im vierzehnten Stock des Home Inn,

betrachtete seinen im Verhältnis zum inneren Empfinden plötzlich weniger imposanten, wenngleich immer noch akzeptablen Körper,

prüfte, da er in der Rechten das Handtuch hielt, mit der linken Hand die Rasur des Intimbereichs

und fragte sich, noch bevor er im Hinblick auf die Rasur zu einem Entschluss gekommen war, ob es möglich sei, dass er schwul war, jedenfalls schwul genug, um die, wie seine Sexualkundelehrerin Frau Doktor Leim es genannt hatte, gleichgeschlechtlichen Anteile seines Selbst zum Zuge kommen zu lassen,

und in den wenigen Sekunden, die es dauerte, bis er nach dem Rasierschaum griff und sich den Intimbereich einzusprühen begann, gingen Schulz die Implikationen einer solchen Entscheidung durch den Sinn, beginnend mit dem am nächsten Dienstag fälligen Bekenntnis, bei dem er, zur Überraschung aller, verkünden würde, schwul zu sein,

womit sich weitere Besuche bei den AKWs erübrigt hätten, genauer: den AKWHs, den Anonymen Kritischen Weißen Heterosexuellen, gerade jetzt kam es auf jenes H an, das von den Teilnehmern gewöhnlich unterschlagen wurde, er sah Stonys verdattertes Gesicht schon vor sich, hörte den Applaus, der bei gelungenen Bekenntnissen fällig war, schritt schon im Geist die geschwungene Steintreppe der Steve-Jobs-Oberschule hinab, wo die regelmäßigen Sitzungen seiner Gruppe stattfanden,

allerdings, fiel ihm ein, wäre damit wohl auch seine Beziehung zu Sabena beendet, ein Gedanke, der ihn für einen Moment irritierte und sogar erschreckte, aber zugleich, und das erschreckte ihn beinahe noch mehr, erleichterte: die Vorstellung von einem Leben ohne den notorischen Wartezustand zwischen ihren Treffen, ohne die latente Schuld, die er Sabena gegenüber empfand, ohne die Sorgen, die Eifersucht, die Minderwertigkeitsgefühle, wenn er wieder, wie gestern (oder war es vorgestern gewesen?) versagt hatte: plötzlich gäbe es eine Erklärung, plötzlich wäre sein Versagen kein Versagen mehr, sondern, im Gegenteil, ein Ausbruch, eine Befreiung,

das einzige Problem dabei war, dass er keine Lust auf Männer hatte, auch wenn es im Hinblick auf die Entwicklung der Weltbevölkerung wünschenswert wäre, wie Doktor Leim mehr als einmal erklärt hatte – und auch wenn sexueller Genuss ohne vaginale Penetration möglich war, blieb er anscheinend unverbesserlich auf vaginale Penetration fixiert, schon die Vorstellung einer vaginalen Penetration erzeugte eine gewisse Erregung, obwohl die Vorstellung beschämenderweise nicht mit Sabena verbunden war, sondern mit einem der Playgirls, mit denen er hin und wieder Sex hatte, genauer gesagt: gehabt hatte, tatsächlich war er seit seinem letzten AKW-Bekenntnis auf keiner Cyberporn-Seite mehr gewesen, und trotzdem musste er, während er reglos vor dem leicht beschlagenen Badezimmerspiegel stand, an die vaginale Penetration irgendeiner Nadine oder Natascha oder Alice denken, mit der Wirkung, dass aus dem weißen Rasierschaum ein fleischfarbenes Wesen herauszuwachsen begann und sich zu voller Größe versteifte,

sodass Schulz einen Augenblick versucht war, sich zu erleichtern, um an diesem wichtigen Tag nicht durch lästige Gedanken abgelenkt zu sein,

andererseits fragte er sich, ob eine solche Erleichterung seine Spannkraft mindern und seinen Killerinstinkt neutralisieren würde, und gerade als er sich wiederum fürs Erleichtern entschieden hatte: er könnte ja, dachte Schulz, dabei an Sabena zu denken versuchen,

klingelte es,

und ihm fiel der Kaffee ein, den er unvorsichtigerweise gleich nach dem Aufstehen aufs Zimmer bestellt hatte,

kurz erwog er, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen und die Bestellung entgegenzunehmen: vielleicht ein Handtuch umbinden,

dachte Schulz, aber die Vorstellung, dass die Tür, weil der Kaffee womöglich auf einem Tablett gebracht würde, mehr als nur einen Spaltbreit geöffnet werden würde und das Zimmermädchen, pardon, die Servicekraft ihn halbnackt in der Tür stehen sähe – oder, noch schlimmer, dass das Handtuch sich, weil er beide Hände zur Übernahme des Tabletts benötigte, lösen und die Servicekraft sein bedauerlicherweise noch nicht wieder auf Normalgröße heruntergeschrumpftes Wesen