Heimkehr nach Fukushima - Adolf Muschg - E-Book

Heimkehr nach Fukushima E-Book

Adolf Muschg

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Beschreibung

Der Architekt Paul Neuhaus, frisch verlassen, erhält eine Einladung von seinen alten Freunden Ken-Ichi und Mitsuko. Der Bürgermeister eines Dorfes nahe beim Unglücksmeiler von Fukushima, Mitsukos Onkel, bittet Neuhaus, ihn zu besuchen. Die Gegend ist verstrahlt, die Dörfer sind verlassen, die kontaminierte Erde ist abgetragen. Die Regierung wünscht die Rückbesiedlung, aber die Menschen haben Angst. Der Bürgermeister will Neuhaus für eine Künstlerkolonie gewinnen – in der verstrahlten Zone –, um neue Hoffnung zu wecken. Neuhaus reist mit Mitsuko an und sie geraten in eine unentrinnbar intensive Nähe zueinander. Ist in der schönen, verseuchten Landschaft Fukushimas eine Zukunft möglich wie auch in der Liebe zwischen Paul und Mitsuko? Sie beide begleitet die Lektüre Adalbert Stifters. So wie dort die geheimnisvolle Kette von Ursache und Wirkung die Bereiche des Lebens gleichermaßen verknüpft, so stellt die unheilvolle Kettenreaktion im Atommeiler in Fukushima nicht nur die Japaner vor die Frage, was diese Katastrophe über uns alle sagt. Sind wir im Zentrum der Gefahr nicht näher an unserer Wahrheit und an der unserer Gegenwart?

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Adolf Muschg

Heimkehr nach Fukushima

Roman

C.H.Beck

Zum Buch

Der Architekt Paul Neuhaus, frisch verlassen, erhält eine Einladung von seinen alten Freunden Ken-Ichi und Mitsuko. Der Bürgermeister eines Dorfes nahe beim Unglücksmeiler von Fukushima, Mitsukos Onkel, bittet Neuhaus, ihn zu besuchen. Die Gegend ist verstrahlt, die Dörfer sind verlassen, die kontaminierte Erde ist abgetragen. Die Regierung wünscht die Rückbesiedlung, aber die Menschen haben Angst. Der Bürgermeister will Neuhaus für eine Künstlerkolonie gewinnen – in der verstrahlten Zone –, um neue Hoffnung zu wecken. Neuhaus reist mit Mitsuko an und sie geraten in eine unentrinnbar intensive Nähe zueinander. Ist in der schönen, verseuchten Landschaft Fukushimas eine Zukunft möglich wie auch in der Liebe zwischen Paul und Mitsuko?

Sie beide begleitet die Lektüre Adalbert Stifters. So wie dort die geheimnisvolle Kette von Ursache und Wirkung die Bereiche des Lebens gleichermaßen verknüpft, so stellt die unheilvolle Kettenreaktion im Atommeiler in Fukushima nicht nur die Japaner vor die Frage, was diese Katastrophe über uns alle sagt. Sind wir im Zentrum der Gefahr nicht näher an unserer Wahrheit und an der unserer Gegenwart?

Über den Autor

Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u.a. Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane «Im Sommer des Hasen» (1965), «Albissers Grund» (1977), «Das Licht und der Schlüssel» (1984), «Der Rote Ritter» (1993), «Sutters Glück» (2004), «Eikan, du bist spät» (2005) und «Kinderhochzeit» (2008), wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg- Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis, der Grand Prix de Littérature der Schweiz und zuletzt der Preis der internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft. Im Verlag C.H.Beck erschienen Muschgs Reden «Was ist europäisch?» (2005), die Romane «Sax» (2010), «Löwenstern» (2012), «Die Japanische Tasche» (2015) und «Der weiße Freitag» (2017) sowie die Essays und Reden «Im Erlebensfall» (2014). Außerdem erschien ein biographisches Porträt Adolf Muschgs von Manfred Dierks «Lebensrettende Phantasie» (2014).

Inhalt

0 PROLOG

1 Im Flugzeug

2 Anything is just fine

3 Imperial Hotel

4 Sushi-Bar

5 Shinkansen

6 Eisvogel

7 Seizō

8 Testfahrt

9 Die Umeharas

10 Das Ōkura-Haus

11 Zur Höhe

12 Yoshimura

13 Ozean

14 Letzte Runde

15 Der Visitator

16 Spielmann

17 Gespenster

18 Rest House

Für Irmela und Shuji Hijiya-Kirschnereit

Nemlich zu Hauß ist der GeistNicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath.Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.

Friedrich Hölderlin, «Brod und Wein»

0 PROLOG

Trotz aufgeklebter Warnung war der Briefkasten, den Paul Neuhaus eine Woche nicht mehr geleert hatte, mit Reklame verstopft – er war keine Anlaufstelle freudiger Erwartung mehr. Unter vielen Rechnungen fand sich aber auch ein großer Brief mit japanischer Frankierung: An «Herrn Professor Paul Neuhaus» und «Frau Professorin Suzanne Schawalder». Er fing gerade an, sich über die unverdienten Titel zu ärgern, da las er den Absender Ken-ich Tenma und glaubte ihn lachen zu sehen.

Ein blauer, doch kühler Märztag leuchtete durch die Fensterflucht des «Doppeldeckers», wie das auf Stelzen gebaute Glashaus im Zähringer Volksmund hieß. Er bestand aus zwei selbständigen, gegeneinander leicht verkanteten Kuben, die eine freie Aussicht über das Oberrheinbecken erlaubten. Jetzt, wie so oft, bewohnte Paul das doppelte Gebäude allein, das Suzanne sein «Luftschloß der Sachlichkeit» nannte.

Der Brief enthielt eine farbige Broschüre «Yoneuchi – The most beautiful village of Japan», und einen Brief Kens, handgeschrieben.

Liebe Suzanne, lieber Paul,

vielleicht erinnern Sie sich noch an den Stipendiaten Ken Tenma und seine Ehefrau Mitsuko? Unsere Bekanntschaft begann mit einem Gespräch nach dem Gastspiel eines japanischen Nō-Theaters und verlief so angeregt, daß Sie uns danach zweimal in Ihre Wohnung eingeladen haben. Sie hatten uns auch das Du angeboten, das wir leider viele Jahre nicht mehr zu üben Gelegenheit hatten. Vielleicht eröffnet sie dieser Brief, wenn er Sie nach Japan locken kann – diese Hoffnung erfüllt uns jetzt schon mit großer Vorfreude.

Wir dürfen Ihnen nämlich eine Einladung nach Fukushima überbringen – und bevor Sie erschrecken, erlauben Sie mir, Ihnen die Person Ihres Gastgebers vorzustellen. Seizō Irie ist Bürgermeister der vom bekannten Störfall betroffenen Gemeinde Yoneuchi, deren 6000 Bewohner im März 2011 evakuiert werden mußten und auf Notunterkünfte verteilt leben. Seither wurde ein Teil des Gebiets dekontaminiert. Die Regierung hat es für April zur Wiederansiedlung freigegeben, muß aber feststellen, daß die Mehrheit der Evakuierten die Rückkehr verweigert, namentlich Familien mit Kindern. Die meisten Bürgermeister haben sich dem Widerstand angeschlossen und verlangen, daß die Entschädigung der Betroffenen unter allen Umständen fortgesetzt werde. Irie ist die Ausnahme, und das hat ihn in Japan zur bekannten, aber auch umstrittenen Persönlichkeit gemacht. Er hält den Zerfall seiner Dorfgemeinschaft für das größere Übel, dem er um jeden Preis entgegenwirken will, wofür ihm die «Washington Post» den Titel «Moses without a People» verliehen hat. Immerhin bleiben ihm einige treue Jünger, wie meine Frau Mitsuko. Sie ist selbst in der Gegend aufgewachsen.

Onkel Seizō Irie hat sich kundig gemacht, wie andere betroffene Bevölkerungen mit radioaktiver Strahlung umgehen. Jetzt schwebt ihm die Ansiedlung einer internationalen Künstler-Kolonie in Yoneuchi vor, nach dem Vorbild Worpswedes oder des Monte Verità, und er hofft, sie mithilfe einer Stiftung zu realisieren. Die Einheimischen sollen erleben, daß interessante Ausländer sein gesegnetes Land nicht fürchten.

Über dieses Projekt möchte er mit Euch reden, und wenn es nach seinem Wunsch geht, so bald wie möglich. Er hat auch Pauls Arbeit «Hier und Jetzt» studiert, und wir sind traurig, daß der japanische Übersetzer den Tsunami nicht überlebt hat.

Das hörte Paul Neuhaus zum ersten Mal, und in seine Bestürzung mischte sich Scham. Er hatte im Fernsehen zugesehen, wie die Küste weggespült wurde, und vergessen, daß der Übersetzer von «Hier und Jetzt» dort gewohnt hatte – wußte auch seinen Namen nicht mehr, obwohl er ihm – mit dem damals noch neuen Fax – zehn Seiten Fragen beantwortet hatte.

Ich lege eine Drucksache bei, der Sie entnehmen können, daß sich Yoneuchi immer noch zu den «schönsten Dörfern» Japans zählen darf, und sein Bürgermeister bittet, wenn die Kirschen blühen, Euch selbst ein Bild von seiner Heimat und ihren Menschen zu machen. Er erwartet auch fachmännische Beratung, was Organisation und Standort der Kolonie betrifft, und hat dafür ein Budget der Provinzregierung.

Seizō Irie kämpft als Ehrenmann gegen den Blick der Verzweiflung. Das ist eine schon im Krieg bewährte japanische Tugend. Mein Vater, der als Offizier in Hiroshima Dienst leistete, ist dreißig Jahre nach der Bombe an Leukämie gestorben; einen Zusammenhang bestritt er bis zum letzten Atemzug. Damit hätte er nur meine (inzwischen verstorbene) Schwester und mich ungebührlich belastet. Viel lieber starb er an der Scham, der einzige Überlebende seiner Uni-Fußballmannschaft zu sein.

Vielleicht sind die Roboter, die wir heute auf die Suche nach der geschmolzenen Kernmasse loslassen, der nächste Schritt der menschlichen Evolution. Jedenfalls sind sie ein Geschäft mit Zukunft, wenn die Welt denn noch eine hat. Sie, verehrter Herr Paul Neuhaus, wetteten schon vor zwanzig Jahren nicht darauf. Also bitte: besuchen Sie uns in Japan, so lange es noch steht.

Von anderer Hand war dem Brief noch eine zartblaue Nachschrift beigefügt:

Der Roman, den Sie mir damals geschenkt haben, gehört immer noch zu meinen Lieblingsbüchern! Ihre Mitsuko

Paul starrte über den Kaiserstuhl in die Vogesen hinüber; das Rheinbecken lag im Frühlingsdunst. Auch damals war Frühling gewesen, als Suzanne und er nach Japan gereist waren, beide zum ersten Mal. Er hatte ihr die Reise zu Weihnachten 2010 geschenkt, und schließlich hatte sie ihrem Terminkalender drei freie Wochen im kommenden März/April abgerungen, nicht ahnend, daß sie für eine dreifache Katastrophe im Nordosten gebucht hatten – Erdbeben, Tsunami, und dann: der nukleare GAU. Suzanne hatte sich gewünscht, die Land Art des verehrten Tadao Ando zu erleben, der die Insel Naoshima mit seiner Architektur besetzt und bis in kleine Fischerdörfer hinaus mit Kunst unterwandert hatte. Nach dem fatalen 11. März 2011 hatten sie den Flug nicht, wie die meisten Touristen, abgesagt, denn der ihre führte direkt in das weniger exponierte Osaka. Aber Tokyo, wo die Tenmas wohnten, hatten sie gemieden, nachdem die Regierung sogar die Evakuierung der Metropole erwogen hatte.

Dabei blieb Paul jeden Tag vom Gefühl verfolgt, daß ein Weltuntergang am Laufen war, während Suzanne sich ihre Reise nicht nehmen ließ. Sie war entzückt, daß ihnen Meister Ando zufällig im Zug begegnete – beim Verlassen der Toilette, wo er für Suzannes ehrfürchtigen Gruß nur ein Murren übrig hatte. Paul aber war der Geschmack an seinem Werk verdorben, einem kraterförmig in den Berggipfel eingelassenen Hotel namens Benesse, sogar an der privaten Drahtseilbahn, die eine atemberaubende Aussicht auf die Inland Sea eröffnete. Er hatte sie taktlos genannt und Suzanne ihre Wallfahrt in die Postmoderne so lange vermiest, bis sie ihn anschrie und selbst eine Katastrophe nannte. Sie habe Fukushima nicht verursacht, und mit ihrem schlechten Gewissen sei niemandem gedient.

Auf dem Tisch lag das Mail, das er unten an ihrem Computer ausgedruckt hatte:

Erwarte mich bitte Donnerstagabend, damit dus nicht am Bahnhof tust, sage nicht wann. DB kommt sowieso nie zur Zeit. Berlin war viel Stress. Danke für wenig Urlaub im Doppeldecker. Love. Deine. S.

Es war Suzanne, punktgenau. Love, Punkt. Deine, Punkt. S., Punkt. Früher hätte man, was sie mailte, Telegrammstil genannt, mit schweizerdeutschen Einschlüssen. Hatte sie wirklich «wenig» Urlaub gemeint, oder ein wenig? Suzannes ganz eigener Mix von Funkenflug und Nebelschleier. Wozu hat man Tinte? Zum Verdunkeln seiner Flucht, sagt der Tintenfisch. Aber angesichts eines schönen Abendhimmels konnte Suzanne immer noch sagen: Guck mal, diese Tinten!

Natürlich war Paul am nächsten Abend zum Bahnhof gefahren, natürlich hatte er den richtigen Zug erraten. Suzanne lief auf ihn zu, und sie umarmten sich lange.

Geht es dir gut? war ihre erste Frage.

Ihm war schon klar, was sie meinte. An der Feier zu seinem 60. Geburtstag im «Lämmle» hatte er plötzlich zu lallen angefangen. In seinen Augen hüpften Phantombilder, ein schlichtes Wort wie «Mantel» blieb im Kopf stecken, auf die Zunge wollte es nicht mehr. Zum Glück wußte der Mediziner Lenz sogleich Bescheid. Paul, obwohl schon wieder ganz bei Sinnen, kam mit Blaulicht ins Klinikum, sein Gehirn wurde allen verfügbaren neurologischen Darstellungen unterzogen und er schließlich an der linken Halsschlagader operiert. An sein Krankenbett kam auch Suzanne geflogen, aus Dubai, wo sie eine Bauaufsicht hatte, gebührend alarmiert – aber, angesichts seines guten Zustandes, keineswegs zerknirscht, sondern mit einer Art Ungeduld. Sie behandelte seine «Streifung» ein wenig wie einen Wortbruch – schließlich war sie zwei Jahre älter und hatte sich von ihm das nötige Stehvermögen versprochen. Nun, er sorgte dafür, daß sie bald an ihre Baustelle zurückkehren konnte und zu ihren eigenen Terminen. Der seine war ja noch keineswegs angesagt, und er gelobte, das Rauchen aufzugeben.

Auch diesmal hatte sie der Ärger über die Berliner «Baustelle» – neuerdings der Euphemismus für eine verfahrene Situation – noch fest im Griff, und nach der Heimfahrt hinauf zum «Doppeldecker» versuchte Paul sie mit ihrem Lieblings-Champagner zu entkrampfen, «bei ihm» auf der Terrasse, nachdem sie «bei ihr» abgelegt hatte. Aber diesmal hatte sie nicht einmal ihre Arme zu den Vogesen hin ausgebreitet und schon nach ein paar Häppchen bekannt, heute «für alles» zu müde zu sein. Sie müsse schlafen, wollte aber nicht vergessen haben, sich zu bedanken, für das gemachte Bett und den Rosenstrauß, in ihrer Farbe Gelb, mit rot behauchten Blütenblättern. Zum Frühstück verabredeten sie sich wieder bei ihm, natürlich zu einer menschlich genannten Zeit. Da durfte es auch ein Brunch werden, dafür hatte er alles Nötige besorgt, auch an ihr Trockenfleisch gedacht, aus Graubünden.

Die Sonne stand schon hoch über dem Schwarzwald, und die Rheinebene lag im Schönwetterdunst, als Suzanne auf der Terrasse erschien. Der gedeckte Tisch stand im Schatten des vorgezogenen Flachdachs, und Paul hatte an einer freien Stelle die Post aus Japan ausgebreitet. Als hätten sie sich verabredet, trugen beide den ockerfarbenen Yukata, die Morgenmäntel aus gerippter Baumwolle, die sie 2011 auf der Reise nach Naoshima angeschafft hatten. Suzanne wirkte darin anmutiger als gestern, und die Morgenumarmung war aufmerksamer und ausgedehnter. Er ging in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen, und wartete, bis die Kapseln ihren Espresso und seinen American Coffee lärmend hergegeben hatten. Als er zurückkam, sah er sie in der Einladung aus Japan blättern.

Erinnerst du dich an Ken? fragte er, er war bei uns in Güldenau.

Und ob, sagte sie. – Mit seinem Deutsch hätte er in einem Salon um 1800 Furore gemacht. Welchen Roman hast du der Frau denn mitgegeben?

Mitsu, von Colette. Weil sie selbst so hieß.

Das war doch ziemlich intim, sagte sie, während sie einen Melonenschnitz in mundgerechte Stücke schnitt, hast du ihr Bild gesehen?

Sie schob ihm den farbigen Prospekt Yoneuchis hinüber, des «schönsten Dorfes Japans.» Auf der letzten Seite, mit den Fotoporträts, war eine einzige Frau abgebildet, mit einer handschriftlichen Legende: «That is me.»

An sie erinnere ich mich nicht.

Dabei hängt sie über deinem Arbeitstisch.

Was meinst du?

Den Farbholzschnitt.

Das Paar?

Du hast nie gewußt, welches die Frau ist.

Und du hast gesagt, vielleicht wissen sie es selbst nicht und müssen es ausprobieren, wie die Krähen.

Das Bild war Suzannes Geschenk gewesen, am Ende ihrer Reise, als es Wogen zu glätten galt. Er hatte sich, einen Tag vor ihrem Rückflug, in Kobe beim Antiquar durch eine Serie sogenannter «Frühlingsbilder» geblättert. Darin belauschte ein durch Feenzauber zum Liliputaner verkleinertes Männchen Paare mit plastisch dargestellten Geschlechtsteilen. Selbstvergessen, wie Paul war, hatte er nicht bemerkt, daß er selbst belauscht wurde, von Suzanne. Und bevor sie den Laden verließen, überreichte ihm der Händler den Harunobu, den sie für ihn ausgesucht hatte. Es war ein Original, das ebenfalls ein Paar zeigte, aber in züchtiger Verkleidung unter einem Schirm, auf welchen der Schnee in eine bereits weiße Landschaft fiel.

Sie kamen drei Mal zu uns in die Güldenau, sagte Suzanne, das erste Mal trug sie einen Kimono ganz in Weiß, der war mit dem weißen Gürtel so festgeschnürt, daß ich glaubte, sie müsse ersticken, und zwischen den gespaltenen Zehlein lief ein blutroter Riemen. Beim zweiten Mal kam sie im kleinen Schwarzen, einem sehr kleinen, und wenn sie sich bückte, bekamst du große Augen. Damit wollte sie in Eliots «Cocktail Party» gespielt haben. In der Küche redete sie ganz gut deutsch. Sie hatte es faustdick hinter den Öhrchen.

Du schienst Ken eher gewogen.

Weil er Manga zeichnete, und die waren auch witzig. Erinnerst du dich an Amazing Grace?

Das war der Millenium Bug, der Jux über Computer, die nicht bis hundert zählen können.

Ja, 99 waren sie bei uns, frisch verheiratet. Die Frau muß gerade 20 gewesen sein. Er schrieb eine Doktorarbeit über Manga. Seine eigenen Manga!

So was ging bei Ritter. Als Kommunikations-Theoretiker ein Star, aber ein schräger Vogel. Die Uni war nicht untröstlich, als er sich mit dem Gleitschirm zutode flog. Ken hatte es mit dem Nichts. Erinnerst du dich, was er nach dem Nō-Spiel erklärt hat? `Was haben Sie gesehen?`, imitierte ihn Paul mit Kopfstimme, `hoffentlich nichts. Das Nō ist ein Spiel um nichts und wieder nichts. Die Auflösung einer gespannten Erwartung in nichts. Das ist Kants Definition des Witzes.`

Ja, mit den Philosophen hatte er es auch. Er könne nicht denken, darum müsse er zeichnen. Und hat jedem Denker den Umgang mit einem tückischen Objekt angedichtet.

Mit Frauen, damals war man noch nicht korrekt. Xanthippes Haushalt mit Sokrates. Die Geschichte von Phyllis, der Hetäre, die auf Aristoteles reitet. Oder Kants Spazierstock, der am Ofen gewärmt werden will, bevor er ihn durch Königsberg begleitet.

Ich glaube, er war schwul. Sie müssen längst geschieden sein.

Mir sagte er: ich lebe von meiner Frau. Ein Dandy. Er ist dir über den Mund gefahren, als du Manga «Comics» nanntest. Da gebe es einen Unterschied, aber er würde einen Abend brauchen, ihn zu erklären. Sie sind ja auch zweimal wiedergekommen. Zum Genie fehle ihm leider die Einfalt, sagte er. Dafür müsse man ein grundgütiger Kerl sein, wie Osamu Tesuka, der Groß-Vater der Manga. Er werde eine Arbeit schreiben, betitelt: Der gute Mensch als Künstler.

Nach dem Frühstück schenkte Paul immer noch Champagner nach. Inzwischen war es im Yukata doch etwas kühl geworden, und Suzanne hatte ihre fröstelnden Beine in die Sonne gestreckt. In einem plötzlichen Impuls stand er auf, hob die überraschend Leichte zu seinem Stuhl hinüber und setzte sie auf seinen Schoß, der sogleich lebendig wurde. So schlüpfte bald zusammen, was zusammengehörte, und er hörte aus der Brust, gegen die er seinen Kopf preßte, tiefe Seufzer steigen, während er in Erinnerung versank. Der Cathedral Peak in Yosemite Park erschien vor seinen geschlossenen Augen, wo sie sich, vor der Cabin im Zedernwald, in der kühlen Sonne ineinandergehockt hatten. An jedem Schritt ihres Liebeslebens war zugleich eine amerikanische Landschaft so plastisch haften geblieben, daß der Körperkontakt sie wieder auslöste und ein bestimmtes Bild abrief, als wäre nicht nur die Kulisse fixiert, sondern auch die Zeit angehalten worden. Damals hatten die Körper gelernt, keinem Ziel mehr nachzujagen, sondern in der Anwesenheit des andern die eigene zu genießen. Sie verharrten in Achtsamkeit, bis der Gipfel, der nicht hatte gestürmt werden wollen, von selbst erlosch. Erst in Bolinas am Ozean kamen sie regelmäßig auf den Punkt, den Suzanne: «O-Ton» nannte.

Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, hatte sie ihm geschrieben, als man einander noch Briefe schrieb. Es war auch sonst eine verkehrte Welt. Nach dem Liebeszauber in Amerika, als sie mit getrennten Flügen nach Europa zurückkehrten, jeder in seine Stadt, war diese für Suzanne Zähringen gewesen, seine Vaterstadt, aus der er geflohen war. Sie aber wohnte jetzt dort und arbeitete am Aufbau des neuen Stadtteils Güldenau, während Paul, der gescheiterte Städtebauer, in Westberlin festsaß, um Schriftsteller zu werden. Und wenn sie sich leibhaft wieder begegnen wollten (und das wollten sie sehr), hätte der eine oder die andere 700 Kilometer zurücklegen müssen, nur um das Wochenende in einem Haushalt zu verbringen, an dem entweder er oder sie keinen Anteil hatte und der für die Freiheit, die sie suchten, nicht geschaffen war.

So einigten sie sich auf einen Treffpunkt, der ungefähr in der Mitte lag – von Zähringen etwas weiter entfernt, dafür mit dem Zug bequemer zu erreichen, während die Anfahrt von Berlin in Pauls blauer Ente über zwei Grenzkontrollen führte – für viele hieß die DDR damals immer noch «Zone». So waren sie, ungefähr alle vier Wochen, an einem Autobahnzubringer bei Göttingen zusammengekommen, in einem Motel, das auch noch «Sweet Rest» hieß, vielleicht nach einem benachbarten Friedhof, um sich diese Ruhe durch wiederholte Tätigkeit immer neu zu verdienen. In diesem Sinn war die romantische Absteige ein reiner Zweckbau, auch noch mit einem Pool und einer Sauna ausgestattet und ganz und gar anonym, eine scharf begrenzte Insel der Körperlichkeit, das perfekte Exterritorium. Für geistige Bedürfnisse kamen die Briefe auf, die sie fast täglich wechselten; und während Suzanne die Zeit dafür ihrem Arbeitsalltag abstahl, waren sie für Paul zugleich Laboratorium und Spielplatz für sein Thema, aus dem wieder ein Buch werden sollte: «Körper und Sprache».

Von den regelmäßigen Schecks seines mütterlichen Großvaters konnte er mühelos leben und fand, er habe nach der Qual seiner Lehrjahre etwas wie Muße verdient. Daß diese gelernt sein will, daß sie mit Freizeit nichts zu tun hat und nicht einmal das Gegenteil ist von Müßiggang, hatte er schon in seinem Erstling «Hier und Jetzt» der Welt mitgeteilt. Muße sei Arbeit an sich selbst und wolle auch noch mühelos getan sein, denn wer sie bloß der Mühe wert finde, habe sie schon verdorben. Sie gelinge nur, wenn man tun könne, als täte man nicht. Ein Rezensent hatte vermerkt, daß sich diese Einsicht mit fernöstlicher Weisheit berühre.

Einmal machte er den Versuch, Suzanne buchstäblich heimzuführen. Die Erbschaft seines Großvaters machte es möglich: der «Doppeldecker» auf dem Kreuzkopf war sein Denkmal gewagter Zweihäusigkeit. Paul hatte nicht ganz umsonst Architektur studiert – einmal war er doch sein eigener Bauherr geworden! Aber da hatte Suzanne ein ganz anderes Haus zu bestellen: nach dem unverhofften Tod ihres Ex-Mannes bedurfte das Büro Knäbig & Vaterlaus, inzwischen über hundert Mitarbeiter stark, ihrer kundigen Nachhilfe, um unter der Leitung seiner Söhne zur weltweit bekannten Marke aufzusteigen, mit Hauptsitz in Zürich.

Wir haben damals das Tezuka-Museum in Takarazuka besucht, erinnerst du dich noch?

Ja, ich habe mich darüber gewundert. Und über dich auch.

Vielleicht wollte ich auch einmal ein guter Mensch werden.

Mußt du dafür den Opfern von Fukushima die Hand halten?

Eine Künstlersiedlung gründen, meint der Bürgermeister.

Du? Du hast es doch nicht einmal in Naoshima ausgehalten.

Wenn er Streit gesucht hätte, hätte er geantwortet: So wenig wie du in Hiroshima. Aber er sagte: Das war Kunst für reiche Nichtkünstler.

Wie mich, sagte sie, nur reich geworden bin ich immer noch nicht.

Suzanne arbeitete, während er mit über sechzig immer noch der «reiche Jüngling» blieb – der bekanntlich noch weniger ins Reich Gottes geht als ein Kamel durch ein Nadelöhr. Aber sein Großvater wußte, daß es in der Stadtmauer Jerusalems eine Pforte namens «Nadelöhr» gegeben hatte, durch die ein Kamel gerade noch durchging. Dieses Kamel zu werden, war gewissermaßen die Quintessenz der Lebenskunst, die Paul in seinem Erstling proklamiert hatte.

Danke für dein – Spätstück, lächelte Suzanne, jetzt gehe ich noch ein wenig zu mir. Ich muß die Bredouille in Berlin begutachten, so lange ich noch heiß bin, und nach Zürich mailen. Wir haben ja noch das Wochenende für uns.

Dann mache ich den Abwasch und lese ein bißchen. Stifter.

Adalbert? Den Langweiler?

Seine Prosa macht süchtig. Genau, was ich jetzt brauche.

Aber heute gönnen wir uns ein schönes Nachtessen. «Chez Lucien»? Oder fahren wir ins Elsaß, Fessenheim, Colmar? Ich fahre, dann kannst du trinken.

Heute brauchte sie französische Küche. Da erwähnte er nicht mehr, daß er gestern etwas vorgekocht hatte.

Seit die (oder das?) «Heimat» hinter dem Münster, eine Handwerkerkneipe, die Paul als Gymnasiast noch besucht hatte, «Chez Lucien» geworden war, speiste man in einer andern Dimension. Der Patron hatte in Paris gekocht, und für Suzanne war seine kulinarische Poesie, die halblaute Rezitation der französischen Speisekarte, schon das halbe Diner, und Teil jener Finesse, die sie in Deutschland entbehrte. Versalzen würde nur die Rechnung sein, welche die Karte unterschlug. Aber das war heute Sache ihres reichen Jünglings. Ihr Vater hatte ihr den Unterschied von gourmand und gourmet früh beigebracht. Genußfähigkeit blieb Ehrensache. «Die habe ich bei Tisch früher gelernt als im Bett.»

Sie trug keinen Schmuck an der schmalen, doch sehnigen Hand, die sie ihm jetzt in einvernehmlicher Vorfreude über den damastgedeckten Tisch reichte, und ihre braunen, immer etwas geweiteten Augen blickten ungemein lebendig. Du fährst wieder mit Scheinwerfer, sagte er ihr ins frische Gesicht, wo sich nur beim Lachen kleine Fältchen in den Augenwinkeln zeigten. In ihrem vollen dunkelblonden Haar gab es keine Spur Grau. Sie trug im «Ausgang», wie das in ihrer Sprache hieß, einen blauen Hosenanzug, der von ferne an denjenigen der Hamburger Zimmerleute erinnerte, bis auf das weiße Spitzengfoulard im Ausschnitt.

Die Vorspeise – für Madame: Velouté d’artichaud, für Monsieur: Carpacccio de Jacques – war genossen, gelobt und abgeräumt; der Bordeaux wurde von Lucien, einem Maestro mit grauer Dirigenten-Mähne und auffallend fliehendem Kinn, persönlich kredenzt, und er schauderte bei Suzannes Erzählung, den ersten gemeinsamen Bordeaux hätten sie als Claret aus einem Hotelkühlschrank in Chicago getrunken. Gleich drei Sünden, von denen keine vergeben werden konnte! Aber die Dame wurde alsbald begnadigt: Frankophone im Exil müssen zusammenhalten.

Dann kam der Caneton in der Silberschüssel, von welcher der Deckel mit Eklat gelüftet wurde. Und so lange das rötliche Fleisch mit seinem Elfenbeinrand, den nur Barbaren «Fett» nennen, in sauce rouennaise wiedergeboren, andächtig aufgegabelt zwischen ihren Lippen verschwand, verbot sich jedes weitere Wort. Paul verbarg, daß ihm das kulinarische Himmelreich verschlossen blieb. Als er noch auf Manieren dressiert wurde, war Fressen zu oft das einzig Süße in seinem Kinderleben gewesen.

Das Dessert, eine Crêpe Suzette genannte explosion de saveurs, war süß genug, um im Mund auch einen Kontrast zu vertragen.

Hast du dir Japan überlegt?

Um mich verstrahlen zu lassen, brauche ich keine Künstlerkolonie. Übrigens: Ken ist jetzt Editor-in-Chief eines großen Manga-Verlags, und deine Mitsu heißt immer noch Tenma, arbeitet im Goethe-Institut und in einigen NGOs.

Woher weißt du das?

Gegoogelt. Hast du ihr wirklich Colettes Buch gegeben? Das war ein Geschenk von mir.

Entschuldige – aber das weiß ich einfach nicht mehr.

Neuerdings vergißt du ziemlich viel.

Hast du über Yoneuchi auch etwas gefunden? Es soll jetzt sicher sein.

Sicher wie der Tod. Möchtest du wissen, wie es dort steht? Beschissen.

Das Dorf lag fast vierzig Kilometer vom havarierten Werk entfernt, also außerhalb der gröbsten Gefahr. Das dachten seine Bewohner jedenfalls, darum nahmen sie viele Geflüchtete auf und erfuhren erst nach vier Tagen, daß sie selbst betroffen waren und doppelt betrogen. Um keine Panik auszulösen, hatten Regierung und die Tokyo Electric Power Company wichtige Daten zurückgehalten. Ein ungünstiger Südost hatte eine massive Ladung radioaktiven Staubs gerade über Yoneuchi abgeregnet, das jetzt sogleich geräumt werden mußte, und schon zu spät. Der älteste Mann des Dorfs hatte sich lieber gleich umgebracht. Waren die Häuser heute sicherer? Die Messungen von Green Peace sagten etwas anderes. Yoneuchi blieb unbewohnbar.

Sein Bürgermeister gehört zu den wenigen, die sich für eine Rückkehr stark machen. Die Regierung verlangt sie unbedingt. An der Olympiade in drei Jahren will sie Japan sauber präsentieren, sonst bliebe das Publikum aus, und die sensiblen Athleten gingen gar nicht erst hin.

Und jetzt soll eine Künstlerkolonie als Lockvogel herhalten? Liebster, ich bin kein Versuchskaninchen und auch keine Krebsmaus.

Viele Opfer Hiroshimas und Nagasakis leben bis heute, und das waren Bomben, kein Leck an einem Atomkraftwerk.

Das Leck wird weiterlecken, so lange die Welt steht, und du hältst hoffentlich noch ein wenig vor. Soll dein Leben noch kürzer werden? Da darfst du nicht hin, Paul. Fukushima ist eine Bombe. Und du bist zweiundsechzig.

Er sah Wasser in ihren Augen.

Ich habe auch gegoogelt, Suzanne. Eine Umfrage der Japan Times listet die Sorgen der betroffenen Bevölkerung auf. An erster Stelle wünscht sie sich, daß die Geschäfte wieder öffnen, für den täglichen Bedarf. Zweitens sollen Wildschweine und Waschbären verschwinden, die die leeren Häuser besetzt haben. Drittens muß medizinische Versorgung wieder her, und erst an vierter Stelle kommt die Angst vor der Strahlung.

So sind die Menschen, wenn das Haus brennt, denken sie zuerst an Bettzeug. Man geht nicht an ein Erdbeben, Paul, dafür sind wir nicht mehr jung genug.

Du bleibst dir treu, sagte er.

Wem sonst? fragte sie. – Wie du auch.

Dafür kenne ich mich selbst nicht gut genug.

Darum wollte ich dich ja kennenlernen. Dabei sprach eigentlich nichts für dich, am wenigsten du selbst, und gerade so hast du mich erwischt.

Ich glaube, Eifersucht habe ich mir abgewöhnt, sagte er lächelnd, aber ich bin neidisch auf deine Familie. Wo du hinspuckst – pardon – bildest du eine Familie, auch in Abu Dhabi oder Shanghai.

Ich habe kein Kind, sagte sie, und wir haben nie verhütet.

Aber du gehörst, sagte er. – Ich habe nie irgendwohin gehört.

Du gehörst zu mir.

Ja, wie das fünfte Rad zum Wagen. Er fährt auch ohne.

Wenn schon, bist du das dritte Rad an meinem Zweirad. Es macht mich sicher.

Wie ein Kinderrad.

Dafür liebe ich dich wie ein Kind. Ist das nichts?

Es ist verboten. Oder ein Wunder.

Darauf stoßen wir an, sagte sie. Sie taten es, Auge in Auge, und als sie getrunken hatte, fuhr sie fort: Aber wenn du nach Japan mußt, gehst du allein.

Du hast zu tun, sagt er nach einer Pause.

Ja, ich bekomme zu tun. – Lucien, rief sie. – L´addition, s’il vous plaît.

Er war schon zur Stelle. – Encore un café? Un armagnac? Vous étiez tellement ravi l’un de l’autre – les jeunes amants! Ich wollte nicht stören –

Die Rechnung ist für mich, sagte Paul. – Sie waren die letzten Gäste.

Schweigend brachten sie, Paul am Steuer, die Strecke zur Höhe des Kreuzkopfs hinter sich. Der ehemalige Aberhof war vollständig mit Einfamilienhäusern überbaut, und die grelle Straßenbeleuchtung tauchte den Nachthimmel in trübes Grau, in dem ein schwach leuchtender Halbmond über die Kulisse des Schwarzwalds stieg. Rechterhand war ein Stück flacheres Gelände offen geblieben, das sich Paul damals selbst vorbehalten hatte, und lief zwischen Waldrändern trichterförmig auf den vorderen Rand der Geländestufe zu. Am Ende der Schneise stand, vom asphaltierten Feldweg, den sie einschlugen, zuerst nicht sichtbar, der zweistöckige Block, der «Doppeldecker» wie der wohlerhaltene Rest einer Talsperre, und die beiden Glashäuser übereinander waren, wie immer nach Eintritt der Dämmerung, von schwachem Licht erhellt, das sie eher verzaubert als bewohnt erscheinen ließ. Zugleich schwebten sie in der Luft, dahinter waren nur noch die entfernte Ebene und der offene Himmel.

Paul steuerte ihr wackliges Gefährt in den freien Raum zwischen die Stützen des Gebäudes. Sie blieben in der Blechlaube sitzen, die sich dürftig aufgewärmt hatte, blickten, vor dem nächtlichen Bildausschnitt, wie im Freilichtkino, auf das von Lichtern punktierte Panorama vor ihnen oder ins Leere.

Dies alles ist dir untertänig, sagte sie.

Diesen Garagenplatz verdanke ich dir. 

Warum?

Du hast dir immer ein Haus auf Stelzen gewünscht, frei nach Le Corbusier. Er habe sich von den Pfahlbauten inspirieren lassen, die er als Kind im Neuenburger See gesehen hatte. Du wolltest darüber arbeiten.

Kinderträume, sagte sie. – Und ich kann nicht schreiben. Mit diesem Haus hast du dir auch einen Jugendtraum erfüllt. Wohl dir! Schastel Marveile, das Schloß der gefangenen Frauen, ein Haus aus Glas, durch das man nur hinaussieht, aber nicht hinein. Und es schimmert in der Nacht.

Wie gut, daß ich ein reicher Jüngling geworden bin.

Ja, sagte sie, wie gut. – Sie hatte sich in ihren Mantel verkrochen und fröstelte deutlich. – Dreißig Jahre, sagte sie leise, dann wandte sie sich halb zu ihm.

Lieber, sagte sie, ich hätte noch zwei Bitten. Du fliegst schlecht, das weißt du, besonders wenn es nach Osten geht. Wenn du Ken schreibst, bitte ihn doch, dir erst ein Zimmer zu reservieren, in einem ruhigen Hotel. Und kein Programm schon am ersten Tag. Gesellschaft und Jetlag, das geht nicht mehr zusammen bei dir.

Er soll mich auch nicht abholen, sagte Paul.

Und wenn ihr in Fukushima seid, schau gut, was du ißt. Geh nicht vom Weg ab. Und übernachtet nicht im verstrahlten Gebiet, auf keinen Fall. Und wenn alles vorbei ist … sieh zu, daß du noch ein paar Tage für dich allein hast. Leute strengen dich an, auch wenn du sie magst, dann ganz besonders.

Das sind schon mehr als zwei Bitten, sagte er.

Hast du auch an Geschenke gedacht?

Für den Bürgermeister hätte ich diesen Goldtaler mit, 900 Jahre Zähringen.

Und für Ken und Mitsuko?

Überleg ich mir noch. Aber mach du dir keine Sorgen, Unkraut verdirbt nicht, und Ken ist vernünftiger, als er redet.

Ja, halte dich an ihn, er ist ein Bourgeois. Das Leben ist ihm immer noch teuer.

Mitsuko sieht aus, als könne sie kein Wässerchen trüben.