Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper - Christian Springer - E-Book

Humbug & Mumpitz – 'Regietheater' in der Oper E-Book

Christian Springer

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Beschreibung

Der vorliegende Text zum Thema 'Regietheater' in der Oper beruht auf einschlägigen Beobachtungen und Gedanken von jemandem, der seit den 1950er Jahren Opernvorstellungen besucht und seit 1981 in musikhistorischen Publikationen versucht, detaillierte Informationen über die Arbeit von Librettisten, Komponisten und ihren Interpreten – vorwiegend Sängern und Dirigenten – des 19. Jahrhunderts darzustellen und zu vermitteln. Das Thema "Regie" kam dabei bis dato nicht zur Sprache, aus einem einfachen Grund: Es rückte erst im 20. Jahrhundert in das Blickfeld des Publikums. Zuvor war Regie nichts anderes als die handwerkliche Umsetzung der Vorgaben der Librettisten und Komponisten der aufgeführten Werke, die im Einklang und in Zusammenarbeit mit diesen erfolgte. Wie beim Regieführen heute vielfach vorgegangen wird, zeigen zahlreiche Beispiele aus der Opernpraxis seit Aufkommen des 'Regietheaters', die für ein intelligentes und gebildetes Publikum weder verständlich noch begründbar sind. Dass keineswegs alles 'verstaubt', 'überholt' oder 'reaktionär' ist, was sinnvoll und gut ist, beweisen unzählige gegen das Regietheaterunwesen gerichtete Stellungnahmen von Könnern unter Regisseuren (Peter Stein, Franco Zeffirelli, Jonathan Miller), Interpreten (Dietrich-Fischer-Dieskau, Piotr Beczala) und Autoren (Daniel Kehlmann, Ephraim Kishon, Botho Strauß), die sich aus Gründen der beruflichen Kompetenz, der Bildung und nicht zuletzt des gesunden Hausverstandes von der Regietheatermode weder täuschen noch infizieren lassen. Sie alle kommen hier zu Wort. Der Kritiker Eduard Hanslick war der erste, der die Leserschaft im deutschen Sprachraum lehrte, dass man mit musikalischen Meisterwerken nach Belieben verfahren kann: Man darf sie und ihre Schöpfer verhöhnen, beschimpfen und in den Schmutz zerren. Er war auch der Meinung, es gäbe "Musikstücke [...], die man stinken hört". Wir haben heute die betrübliche Gewissheit, dass es Inszenierungen gibt, die man stinken sieht.

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Impressum:

Humbug & Mumpitz – ‚Regietheater‘ in der Oper

Christian Springer

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © Christian Springer 2016

ISBN 978-3-7418-5673-0

In memoriam

Gottfried Cervenka

INHALT

Vorwort

Die Rezeption italienischer Opern im deutschen Sprachraum

Musikkritik im Italien des 19. Jahrhunderts

Internationale Kritiker im 19. Jahrhundert

Der Verdi-Hasser Eduard Hanslick

Die italienische Oper

Erste Spielleiter

Der erste bedeutende Regisseur: Ein Bühnenautor

Das deutsche ‚Regietheater‘

Prima la regía, poi l’opera?

Musikalische Details, so manchem Noten-Analphabeten unbekannt

Ansätze des Regietheaters in der Oper

Ein neuer Schlussakt für La traviata

Le nozze di Figaroà la Strindberg

Tannhäuserim Puff und im Irrenhaus

Fideliovom Regisseur verstümmelt

Manon Lescautmehrfach verunglückt

Falstaffin der städtischen Kanalisation

Der tauchende Müllabfuhrarbeiter Amonasro

Münchener Affentheater

Oneginam Brokeback-Mountain

Hintersinn in München

Gildas Opa

Exkremente, Schlamm und Kotze

Macbeth-Desaster in Wien

La Forza Del Destino– unbewältigt und verunstaltet

Macbethim Kongo

Stuhlgang als Kunst – Kunstverständnis und Dummheit

Clownerien der Kunst-Mafia

Die Oper ein Traum

Ahnungslose Intendanten

Ein brünstiger Prolet namens Scarpia

Schlechte Übersetzungen

Il trovatore„Von kaum zu überbietender Unsinnigkeit“

Parasiten im Theater

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben

Ideologie und Publikum

Bilderübermaler

Es gibt nur eine einzige Interpretation eines Kunstwerks

Klassenkampf

Die Realität abseits der Ideologie

Kritik im 20. und 21. Jahrhundert

Des Kaisers neue Kleider

O tempora, o Zores!

Ein renommierter Gegner des Regietheater-Problems und ein Lösungsansatz

Historisch akkurat

Oper im Wachkoma

Verlachtes Regietheater und nutzlose Experimente

Quellennachweis

Der Autor

Anmerkungen

VORWORT

Der vorliegende Text zum Thema ‚Regietheater‘ in der Oper ist weder eine musik- oder theaterwissenschaftliche Untersuchung noch eine musiksoziologische Betrachtung. Es handelt sich vielmehr um die einschlägigen Beobachtungen und Gedanken von jemandem, der seit den 1950er Jahren Opernvorstellungen besucht und seit 1981 in musikhistorischen Publikationen versucht, Details über die Arbeit von Librettisten, Komponisten und ihren Interpreten – vorwiegend Sängern und Dirigenten[1] – des 19. Jahrhunderts darzustellen und zu vermitteln. Das Thema „Regie“ kam dabei bis dato nicht zur Sprache, aus einem einfachen Grund: Es rückte erst im 20. Jahrhundert in das Blickfeld des Publikums. Zuvor war Regie nichts anderes als die handwerkliche Umsetzung der Vorgaben der Librettisten und Komponisten der aufgeführten Werke, die im Einklang und in Zusammenarbeit mit diesen erfolgte. Für die Beobachtungen des Autors war dabei wesentlich, dass er im Laufe seiner Karriere als Opernbesucher viele Werke szenisch noch so aufgeführt erlebte, wie es dem dokumentierten Willen ihrer jeweiligen Schöpfer entsprach.

Es stimmt zufrieden, dass man beispielsweise 2016 an der Wiener Staatsoper seit 1964 eine den Wünschen ihrer Autoren entsprechende Produktion von Puccinis La bohème und seit 1958 eine Inszenierung von Puccinis Tosca sehen kann, die weder die Interpretationswillkür noch die „Einfälle“ und Fehler unqualifizierter, inkompetenter oder wichtigtuerischer Regisseure (worauf diese – auf den ersten Blick möglicherweise rüde wirkenden – Epitheta basieren, wird im Text ersichtlich) aufweist, noch das Werk aktualisiert, dekonstruiert, zertrümmert, ironisiert oder verfremdet, sondern bei der Realisierung der Bühnenbilder, Dekorationen, Einrichtungen, Versatzstücke, Requisiten und Kostüme ebenso wie bei der Personenregie all das berücksichtigt, was von den Autoren vorgegeben und für das Verständnis des mit einem historischen Ereignis untrennbar verknüpften Stücks erforderlich ist.

Toscaist nur ein Beispiel für zahllose andere bedeutende Werke der Opernliteratur aller Epochen, die keiner ideologisch motivierten Intellektualisierung oder hintergründigen soziologischen Neudeutung bedürfen, um verstanden zu werden, und die auch nicht ohne Substanzverlust in die Gegenwart transferiert werden können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass nicht alles, was ‚Regietheater‘-Regisseure nicht verstehen, auch vom Publikum nicht verstanden wird. Das Gegenteil ist der Fall.

Wie beim Regieführen heute vielfach vorgegangen wird, zeigen zahlreiche Beispiele aus der Opernpraxis seit Aufkommen des ‚Regietheaters‘, die für ein intelligentes und gebildetes Publikum weder verständlich noch begründbar sind. Die Banalität der behaupteten Gründe für das Zustandekommen solcher Inszenierungen und das Fehlen eines echten Anspruchs solcher zwar kurzlebiger, jedoch trotzdem ärgerlicher Interpretationen wird nur allzu rasch evident, auch wenn das Feuilleton eilfertig vermeintlichen Tiefsinn dahinter ortet. Dass keineswegs alles ‚verstaubt‘, ‚überholt‘ oder ‚reaktionär‘ ist, was sinnvoll und gut ist, beweisen unzählige gegen das Regietheaterunwesen gerichtete Stellungnahmen von Könnern unter Regisseuren (Jonathan Miller, Peter Stein, Franco Zeffirelli), Interpreten (Piotr Beczala, Dietrich Fischer-Dieskau, Riccardo Muti) und Autoren (Daniel Kehlmann, Ephraim Kishon, Georg Kreisler, Botho Strauß,), die sich aus Gründen der beruflichen Kompetenz, der Bildung und nicht zuletzt des gesunden Menschenverstandes von der Regietheatermode weder täuschen noch infizieren lassen. Sie alle kommen hier zu Wort.

Bevor dies geschieht, empfiehlt sich ein Exkurs zum Wesen der italienischen Oper und zu ihrer Rezeption innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein meinungsbildender Kritiker des 19. Jahrhunderts wie Eduard Hanslick am Entstehen des Phänomens des deutschen ‚Regietheaters‘ und seiner Methoden entscheidend beteiligt war.

Die pauschale Verachtung, die Hanslick auf dem Gebiet der Musik ganzen Nationen („Das französische Volk besitzt von Haus aus wenig musikalische Anlage, es hat ein schlechtes Gehör und wenig Empfänglichkeit für sinnliche Schönheit des Tones.“[2]oder: „Die singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes.“[3]) oder gleich der halben Menschheit in Person der Frauen („[...] warum die Frauen, welche doch von Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der Komposition nichts leisten? Der Grund liegt – außer den allgemeinen Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten – eben in dem plastischen Moment des Komponierens [...]“[4]) entgegenbrachte, ähnelt fatal dem selbstherrlichen, respektlosen Umgang der ‚Regietheater‘-Regisseure mit den von ihnen inszenierten Werken.

Dass Hanslick mit Äusserungen wie diesen und mit seinen berüchtigten Kritikexzessen die historische Basis für die mit der üblichen Verzögerung aufgetretenen Regieexzesse der letzten Jahrzehnte geschaffen hat, ist zu naheliegend, um nur eine These zu sein. Er war der erste, der die Leserschaft im deutschen Sprachraum lehrte, dass man mit musikalischen Meisterwerken nach Belieben verfahren kann: Man darf sie und ihre Schöpfer verhöhnen, beschimpfen und in den Schmutz zerren. Er war auch der Meinung, es gäbe „Musikstücke, die man stinken hört“. Wir haben heute die betrübliche Gewissheit, dass es Inszenierungen gibt, die man stinken sieht.

... ein einfacher Regisseur, ein Subalterner ...

Cosima Wagner über den Schriftsteller und Regisseur Hermann Schmidt

Das Publikum ist ein Vieh, das alles schluckt.

Arrigo Boito an Giuseppe Verdi, 16. Jänner 1881

Modernes Regietheater ist das aus der richtigen Erkenntnis einer fehlenden Notwendigkeit erschaffene Überflüssige.

Karl Kraus

DIE REZEPTION ITALIENISCHER OPERN IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM

Das in der Überschrift enthaltene Spannungsfeld zwischen ‚italienischer Oper‘ und ‚deutscher Sprachraum‘ ist deshalb von besonderem Interesse, weil im deutschen Sprachraum seit jeher eine besonders ausgeprägte Verbundenheit mit symphonischer Musik vorherrschte[5], während in Italien, wo die Kunstform Oper erfunden und zur Hochblüte gebracht wurde, das Hauptinteresse von Komponisten wie Publikum schon immer den Stimmen und dem Gesang galt. Dementsprechend stark unterscheiden sich Rezeption und Kritik von italienischer Opernmusik im deutschsprachigen und im italienischen Raum. Die stilistische Unvereinbarkeit dieser beiden Welten – die vorwiegend von Musikern und Kritikern im deutschen Sprachraum sowie auf akademischer Ebene als solche wahrgenommen wurde, während das Publikum italienische Spielzeiten mit italienischen Interpreten bejubelte (man denke nur an das in Wien ab 1822 grassierende Rossini-Fieber) – schlug sich nicht nur in Diskussionen über die ästhetischen Unterschiede zwischen italienischer Oper und deutscher Instrumentalmusik nieder, wie sie beispielsweise zwischen Pauline Viardot und Clara Schumann geführt wurden, sondern auch immer wieder in Urteilen, die – bewusst oder unbewusst – das Unverständnis ausdrücken, das viele Nicht-Italiener italienischem Gesang gegenüber zum Ausdruck brachten: „Man gab auch viele Vokalstücke, die auf lächerliche Weise gesungen wurden. Wir bekamen Lachkrämpfe.“[6]

Obwohl dieses weit verbreitete Unverständnis, dessen berühmtester und wirkungsmächtigster Vertreter im 19. Jahrhundert, als es sich bei klassischer Musik noch um zeitgenössische Musik handelte, der Kritiker Eduard Hanslick war, sich zu seiner Zeit nur auf die Musik und ihre Rezeption bezog, findet es heute seine Fortsetzung in der szenischen Darstellung italienischer Opern in einer Art und Weise, die nichts mehr mit den Werken zu tun hat.

Bevor darauf näher eingegangen wird, soll kurz die Haltung Eduard Hanslicks erläutert werden. Zuvor mag es aber aufschlussreich sein, die Musikkritik in Italien zu betrachten.

MUSIKKRITIK IM ITALIEN DES 19. JAHRHUNDERTS

Die Musikkritik im Italien des 19. Jahrhunderts war vorwiegend „Dilettanten, Stümpern, Chronisten und ignoranten Pseudojournalisten“[7] anvertraut. Musikanalysen der Arbeiten von Rossini, Mercadante, Pacini, Bellini, Donizetti oder Verdi gab es zu deren Lebzeiten in Italien fast überhaupt nicht. Verdi, dem dies schmerzhaft bewusst war, beklagte das fast völlige Fehlen einer seiner künstlerischen Statur und Entwicklung entsprechenden zeitgenössischen Musikkritik:

Dumme Kritiken und noch dümmere Lobhudeleien: kein erhabener, künstlerischer Gedanke; nicht einer, der meine Absichten begriffen hat; immerzu albernes Geschwätz und Unsinn, und hinter allem eine gewisse Missgunst mir gegenüber, als hätte ich ein Verbrechen begangen, dass ich die Aida geschrieben habe und sie gut aufführen habe lassen. Keiner, der wenigstens die ungewöhnliche Aufführung und mise en scène hervorgehoben hätte! Nicht einer, der zu mir gesagt hätte: Hund, ich danke dir![8]

Zwar gab es den Kritiker Filippo Filippi (1830-1887), einen Juristen, der auch eine musikalische Ausbildung genossen hatte und ab 1858 als Musikkritiker bei Ricordis Gazzetta Musicale tätig war, diese von 1860 bis 1862 leitete und von 1859 bis zu seinem Tod Kritiker bei der in diesem Jahr gegründeten Tageszeitung La Perseveranza sowie bei weiteren Fachpublikationen wie der Gazzetta Musicale di Napoli war, doch verstellte ihm seine Wagner-Bewunderung die ungehinderte objektive Sicht auf Verdis Schaffen (obwohl er zwiespältig aufgenommene Opern Verdis wie den Simon Boccanegra durchaus verteidigte). So befand Filippi beispielsweise – von der Atmosphäre der musikalischen Zwietracht des neuen Italien infiziert, wo futuristische Musik und von jenseits der Alpen importierter Modernismus die Oberhand zu gewinnen schienen, obwohl man all das nicht wirklich verstand und vorwiegend nur aus Kunst-Snobismus zu goutieren vorgab –, dass in der Aida die Verschmelzung von Altem und Neuem nicht so gut gelungen sei wie im Don Carlos. Und er fügte die polemische Bemerkung hinzu, dass den Einfluss von Gounod, Meyerbeer und Wagner auf Verdi zu leugnen der Behauptung gleichkomme, die Sonne sei dunkel. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass derlei Äusserungen weniger durch profunde Musikanalysen denn durch beleidigte Eitelkeit begründet waren: Verdi hatte Filippis Angebot, nach Kairo zu reisen[9] und von den dortigen Aida-Proben zu berichten, trocken abgelehnt. Zu La forza del destino war Filippi nichts Klügeres eingefallen, als Verdi öffentlich eines Plagiats zu bezichtigen: Er meinte, in Leonoras Arie „Pace, pace mio Dio“ Anklänge an Schuberts „Ave Maria“ vernommen zu haben.[10] Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit reagierte Verdi nach Rücksprache mit Ricordi auf diese absurde Anschuldigung und wies sie brieflich, nicht ohne Ironie, zurück.[11]

Filippis Verdi-Kritiken, immerhin die Arbeiten eines professionellen Musikkritikers, gingen in keinem Moment so in die Tiefe wie die 1859 in Florenz erschienene Arbeit Studio sulle opere di Giuseppe Verdi[12]von Abramo Basevi (1818-1885), einem Arzt aus Livorno, der neben seinem Brotberuf eingehende musikalische, philosophische und psychoakustische Studien betrieben hatte. Dieses Werk bewies Einsichten in die Kompositionen Verdis, wie sie der Musikkritik der Zeit verschlossen waren. Nicht umsonst wird Basevis Werk in Italien bis heute immer wieder neu aufgelegt.[13]

Viele Rezensionen gaben oft nur geschwätzig und schwülstig subjektive Hörerlebnisse oder Beschreibungen des Verlaufs von Opernabenden oder Konzerten sowie der Publikumsreaktionen wieder, ohne auf die Musik oder deren Interpretation einzugehen. Dieser Musik-Boulevardjournalismus beschränkte sich vielfach auf die Wiedergabe von Theaterklatsch und Berichte über lächerliche Banalitäten im Umfeld der Oper wie die Toiletten der Damen oder ihr glitzernder Schmuck. Man mag über den Stellenwert von Musikkritik – sowohl der Werkkritik als auch der Interpretationskritik – als Mittel der Weiterentwicklung eines Künstlers durchaus geteilter Meinung sein, doch dass sie über das Niveau von Hagiographien, Operntratsch, Ablaufberichten von Premieren und geistlosen Betrachtungen des bei diesen Gelegenheiten stattfindenden Gesellschaftslebens hinausreichen sollte, ist wohl unbestritten.

Zwar konnte man den Opernkritiken entnehmen, welches Werk aufgeführt wurde, doch wie es gesungen und gespielt wurde, blieb zumeist im Dunkeln. Anders verhielt sich dies bei Konzerten, bei denen sogar oft unklar blieb, welche Werke gespielt wurden. Dies ist bei der in Italien damals üblichen Form der Konzerte – mit Opern-Ouverturen oder kurzen Symphonien, Instrumentalkonzerten oder einzelnen Sätzen aus solchen, beliebten Opernarien, bei denen beispielsweise ein berühmter Geiger wie Paganini den Vortrag einer berühmten Sängerin wie Giuditta Pasta begleitete und paraphrasierte usw. – gravierend, da ihre Programme nur in wenigen Fällen komplett rekonstruiert werden können.

Das Programm eines solchen Konzertes – es fand in Triest am 15. November 1824 statt – sah beispielsweise wie folgt aus:

Erster Teil

Vorspiel für großes Orchester.

Kavatine aus La gazza ladra des Maestro Rossini, gesungen von Signora [Antonia] Bianchi.

Konzert in einem Satz in E, ausgeführt von Paganini.

Zweiter Teil

Ouverture für volles Orchester.

Kavatine aus Il barbiere di Siviglia des Maestro Rossini, gesungen von Signora Bianchi.

Rezitativ und drei bekannte Arien mit Variationen einzig auf der vierten Saite der Violine, ausgeführt von Paganini.

Dritter Teil

Lebhafte Symphonie für volles Orchester.

Kavatine mit Echo aus La pietra del paragone des Maestro Rossini, gesungen von Signora Bianchi und ausgeführt von Paganini.

Sonate für großes Orchester.

Larghetto und kleine Polonaise mit Variationen, ausgeführt von Paganini.

Zwar kann man rekonstruieren, dass es sich beim Programmpunkt 3 um Paganinis Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 handelte, von dem er oft nur den ersten Satz spielte, doch sind Autoren und Werke der Programmpunkte 1, 4, 6, 7, 9 und 10 nicht eruierbar. Da von der Presse schon den Programminformationen so geringe Bedeutung zugemessen wurde, kann man sich unschwer vorstellen, dass sich Zeitungsleser wohl oder übel mit Berichten wie dem folgenden zufriedengaben:

Die Violine Paganinis, die über die Menschen solch eine magische Macht ausübt, hat keine Gewalt über das Wetter, das den ganzen Tag und besonders gestern sehr schlecht war. Aber was macht das schon! Das Verlangen, ihn zu hören, war so stark, dass trotz des strömenden Regens der Zulauf gewaltig war; wunderschöne Damen schmückten alle Logen; und bereits lange bevor es beginnen sollte, blieb im Parkett kein Platz mehr frei. Paganini erschien. Seine ersten Töne erregten Bewunderung und Erstaunen, auf diese folgte Begeisterung, und der Saal hallte wider vom Beifall.[14]

Was hätte man über Paganini Spielweise, seine Phrasierungen, seine Griff- und Bogentechnik sowie seine Scordatura-Tricks nicht alles berichten können, wären kompetente Kritiker am Werk gewesen!

Wie sehr sich das Kritikerwesen im Italien des 19. Jahrhunderts im großen und ganzen durch Inkompetenz disqualifizierte, wurde auch von italienischer Seite beklagt:

Es ist wenig bekannt, dass trotz all diesem Elend auf dem Gebiet der Kritik [in Italien] die Musik Verdis im vergangenen Jahrhundert doch auch von einem bedeutenden Kritiker – allerdings nicht in Italien – beurteilt wurde, nämlich Eduard Hanslick, dem Autor jener kleinen Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen, die der bekannteste Beitrag ist, den die Musik[kritik] zur Ästhetik geleistet hat, jenem unversöhnlichen Gegner der Kunst Wagners, dem Paladin der Brahms’schen Klassik [...].[15]

Diesem Text des Musikwissenschafters, Kritikers und Verdi-Kenners Massimo Mila (Turin 1910-1988), den er 1951 anlässlich der Gedenkfeiern zu Verdis 50. Todestag verfasste und der zu Eduard Hanslick überleitet, ist zu entnehmen, dass selbst anerkannte Experten zu Mitte des 20. Jahrhunderts über die Inhalte von Hanslicks Beurteilungen von Verdis Opern nicht informiert waren. Mila dürfte nur Hanslicks erwähntes Büchlein gekannt haben, nicht aber all das, was im folgenden an Äusserungen Hanslicks über Verdi wiedergegeben wird, sonst hätte er sich ganz anders geäussert.

INTERNATIONALE KRITIKER IM 19. JAHRHUNDERT

Im 19. Jahrhundert – als die Werk- und noch nicht die Interpretationskritik im Zentrum des Interesses der Kritik stand – verfassten musikalisch hochqualifizierte Kritiker wie Robert Schumann, E.T.A. Hoffmann oder Hugo Wolf im deutschsprachigen Raum, Hector Berlioz, François-Joseph Fétis oder Claude Debussy in Frankreich, Pjotr Iljitsch Tschaikowski oder Alexander Nikolajewitsch Serow in Russland, Filippo Filippi oder Abramo Basevi in Italien, aber auch brillante Nicht-Musiker wie Friedrich Nietzsche oder George Bernard Shaw kluge Musikanalysen und -kritiken, die vorwiegend in der einschlägigen Fachliteratur erschienen. Es entstanden auf Musik spezialisierte Publikationen wie die Allgemeine musikalische Zeitung und die Neue Zeitschrift für Musik sowie zahllose musiktheoretische Schriften, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben.

Da es im 19. Jahrhundert noch keine Tonaufnahmen gab, die Rezensenten zu Hörvergleichen heranziehen hätten können, war es unerlässlich, dass die Vertreter der Kritikerzunft sowohl etwas von Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre verstehen als auch das Partiturlesen sowie ein Instrument so weit beherrschen mussten, dass sie sich ein eigenes Bild von den zu rezensierenden Kompositionen machen konnten. Daneben war eine sehr gute Allgemeinbildung abseits des Musikwesens Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit.

Da so mancher Kritiker beim Verfassen von Kritiken dennoch mehr von seinen persönlichen Vorlieben als von objektiven Beurteilungskriterien ausging, brachte der bedeutende amerikanische Musikkritiker William James Henderson (1855-1937), ein Absolvent der Princeton University, wo er nicht nur Musiktheorie, sondern auch Gesang studiert hatte, die Anforderungen an einen professionellen Kritiker, der über Interpretation und Gesang schreibt, unmissverständlich auf den Punkt:

If it is out of tune, it makes no difference who ‚thinks‘ that he thinks it is not. The only question is, ‚Can you hear it or can’t you?‘ Whether an orchestra is out of tune, whether it is out of balance, whether its tone is coarse and vulgar, whether the men are playing with precision and accuracy, whether the strings are poor or the brass blatant are not matters of opinion at all. These are matters of fact and due to be reported upon by persons trained to hear them. Whether a singer has a voice equalized throughout, whether the lower tones are white and sombre, whether her coloratura is broken, spasmodic and labored; whether her cantilena is marred by inartistic phrasing, whether she sings out of tune or not, whether she sings the music according to the score or according to her own caprices – these are not matters of opinion; they are matters of fact. In short, nothing is more clearly known than the results which technic in performance can attain, and the only question that can ever be raised about a critical report is, ‚Did the man hear correctly?‘ If it can be shown that he is in the habit of hearing incorrectly, then he is as unfit for his business as a color blind man would be for the calling of art critic.[16]

Bald fand für manchen bekannten Vertreter des Metiers im deutschen Sprachraum die Bezeichnung „Kritikerpapst“ Anwendung. Dieser dubiose Begriff ist allerdings weniger ehrenvoll als vielmehr verräterisch, zeigt er doch, dass seine Anhängerschaft dem Kritiker Unfehlbarkeit zuschreibt und sich selbst als seine ihm blind ergebene Glaubensgemeinde definiert. Genau das ist das Problem bei jeder Form von Kritik, die per definitionem eine prüfende Beurteilung nach begründetem Maßstab sein sollte. Letzterer fußt auf musikalischen und technischen Parametern, mit deren Hilfe objektive Kritik möglich wäre, doch war und ist Musikkritik leider zumeist etwas Subjektives, weit entfernt davon, unfehlbar zu sein. Der Regisseur Sven-Eric Bechtolf bestätigt: „Sie [die Kritik] folgt nicht mehr halbwegs objektiven Kriterien, sondern sie verkommt zu apodiktischer Geschmacksveräusserung. Mich ärgert das.“[17]

Im 20. Jahrhundert änderten sich die für den Kritikerberuf erforderlichen Voraussetzungen radikal. Die fundierte Sachkenntnis erfordernde Werkkritik wandelte sich zur Aufführungskritik und spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Metier, abgesehen von wenigen rühmlichen Ausnahmen, in der Tagespresse oft von musikalischen Laien ausgeübt, deren einzige Qualifikation entweder die parteipolitisch motivierte Anstellung in der Kulturredaktion einer Tageszeitung, das persönliche Naheverhältnis zu einem Herausgeber oder Chefredakteur, das rudimentäre Erlernen des Blockflötenspiels im Kindergarten oder das allgemeine Talent zum Karrieremachen war. Das führte in einigen Fällen dazu, dass manche der neu gekürten Kritikerpäpste nicht einmal Noten lesen konnten. Falls dieser Umstand jemandem harmlos erscheinen sollte, möge er bedenken, dass es genau dasselbe bedeutete, wenn ein Literaturkritiker nicht lesen könnte. Es kam deshalb vielfach zu unqualifizierten Urteilen, die aber trotzdem gedruckt, gelesen und geglaubt wurden.

Dazu gesellt sich ein weiterer unerfreulicher Umstand, der vom Chefredakteur einer großen österreichischen Tageszeitung so zusammengefasst wurde: „In keinem anderen Land Europas ist der gekaufte Journalismus so ausgeprägt wie in Österreich.“[18] Was auf die unheilige Allianz zwischen Politikern und Journalisten abzielt, gilt für Kunst, Kultur und Journalismus in gleicher Weise, wie jeder Kenner der Szene weiß, und wie man – sollte man es nicht wissen – so mancher Rezension unschwer entnehmen kann. Das gilt für den gesamten deutschen Sprachraum: „Mit Wahrheit, Objektivität und Unabhängigkeit hat das, was die meisten Medien da im deutschsprachigen Raum beständig produzieren, heute absolut nichts mehr gemein. Eher schon mit einer Art der Gleichschaltung.“[19]

Das Phänomen der unqualifizierten Kritiker war in Wien schon in den Jahren nach 1848 bei vielen Musikkritikern zu beobachten, die sich von nationalen Ressentiments zu absonderlichen xenophoben Urteilen hinreissen ließen.[20]

DER VERDI-HASSER EDUARD HANSLICK

Einer dieser tendenziösen Kritikerpäpste des 19. Jahrhunderts war Dr. Eduard Hanslick (Prag 1825 – Baden bei Wien 1904). Der promovierte Jurist hatte auch Klavier, Komposition und Gesang studiert und sich mit Ästhetik beschäftigt, verfügte also über ein Instrumentarium, das ihn zum Kritikerberuf qualifizierte, den er ab 1846 ausübte. 1861 erhielt er eine Universitätsprofessur für Ästhetik und später den ersten Lehrstuhl für Geschichte der Musik an der Universität Wien.

Hanslick erblickte in Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms die Höhepunkte der musikalischen Entwicklung, die Arbeiten „neudeutscher“ Komponisten wie Liszt, Bruckner und Wagner lehnte er vehement ab. Auf Hanslicks allseits bekannte polemische Gegnerschaften zu den Genannten oder zu Komponisten wie z.B. Tschaikowski[21]bzw. auf seine historischen Fehlurteile und Verunglimpfungen des letzteren soll hier nicht eingegangen werden.

Das Objekt, an welchem Hanslick seine Ablehnung italienischer Musik auslebte, war zwangsläufig sein Zeitgenosse Giuseppe Verdi (1813-1901). Zu der Zeit, als Hanslick als Kritiker zu arbeiten begann, war Rossini seit siebzehn Jahren nicht mehr als Opernkomponist aktiv, Bellini seit elf Jahren tot und Donizetti bereits unheilbar krank[22]. Dass es in Italien neben diesen drei Großen noch zahlreiche weitere Komponisten gab, die sich neben den Genannten behaupten konnten und sich vergleichbar großer Beliebtheit erfreuten, war Hanslick bekannt. Ihre Werke erwähnte er aber zumeist nur in höhnischem Tonfall, um auf die Inferiorität der italienischen Opernmusik hinzuweisen. Zu ihnen gehörten Giovanni Pacini (1796-1867) und Saverio Mercadante (1795-1870). Weitere Komponisten wie Vincenzo Gabussi, Nicola Vaccaj, Errico Petrella, Carlo Pedrotti, Vincenzo Moscuzza, Alessandro Nini und andere, die heute nur mehr Musikhistorikern geläufig sind und kaum aufgeführt werden, ergänzten das Bild einer florierenden italienischen Musikszene, die insgesamt auf hohem Niveau agierte und das italienische Melodramma zu immer neuen Höhenflügen führte, auch wenn Hanslick dies negierte.

Es war Verdi, der das halbe Jahrhundert von Hanslicks Kritikertätigkeit mit immer neuen Opern ausfüllte, die großteils auch in Wien aufgeführt wurden, und der deshalb zum Hassobjekt des Kritikers wurde, der fünfzig Jahre lang mit unschöner Regelmäßigkeit nicht nur fast alle Opern dieses Komponisten bei ihren Wiener Erstaufführungen niedermachte, beinahe möchte man sagen: tobend und mit Schaum vor dem Mund, sondern seine Voreingenommenheit italienischer Opernmusik gegenüber ganz ungeniert mit seiner reaktionären, anti-italienischen Haltung erklärte. Er verwendete in seinen Kritiken ein äusserst beleidigendes, unsachliches Vokabular, über das er sich allerdings beschwerte, wenn es ihm selbst gegenüber angewandt wurde. So bezeichnete er Verdi als „geistlosen Charlatan“, warf ihm „ästhetischen bösen Willen“ vor und nannte dessen Opern „abstoßend, plump, roh, trivial, mühsam, dürftig, langweilig, kindisch, grell, banal, gekünstelt, geschmacklos, gemein, fremdartig, unsympathisch“.

Die Antwort auf die Frage, wie der gebildete Kritiker zu seinen abstrusen Standpunkten in Sachen italienische Oper gelangte, ist rasch gegeben: Er war zwar als Musikhistoriker über die italienische Oper akademisch-theoretisch informiert, er wusste aber aus eigener Anschauung nichts von gelebter italienischer Musikkultur, von italienischem Lebensgefühl und von der typisch italienischen Rezeption der für ein italienisches, dem Gesang zutiefst verbundenes Publikum komponierten Musik. Zu allem Überfluss war er der italienischen Sprache nicht mächtig, ein Mangel, den er mit vielen deutschsprachigen Musikkritikern gemein hat und der ihm den Zugang zu eigenen Einsichten in die zur Sprache und in Form von Libretti zur Musik gehörige Kulturwelt versperrte, was ihm aber, wie seine Texte zeigen, überhaupt nicht bewusst war. Und dass er als gewiefter Opportunist dem herrschenden Zeitgeist folgte, muss nicht eigens hervorgehoben werden.

Ob er seiner beteuerten Gewohnheit: „Ich urteilte über keine Komposition, ohne sie vor der Aufführung und nochmals nach derselben zu lesen oder durchzuspielen – eine Gewohnheit, der ich bis auf den heutigen Tag, also nahezu ein halbes Jahrhundert, gewissenhaft treu geblieben bin“ nur „für symphonische und Kammermusik“ treu blieb, oder sie auch bei Opern, insbesondere jenen Verdis, anwandte, darf ernsthaft bezweifelt werden. Das ihm verschiedentlich zugesprochene ausgezeichnete pianistische Können samt kompositionstheoretischem Hintergrund war jedenfalls eine Stärke, die er vielen – damaligen und heutigen – Vertretern seiner Zunft voraus hatte.

Jedenfalls hielt er die Italiener, die die Kunstform Oper immerhin erfunden haben, pauschal für geistig minderbemittelt, wie er 1854 in seiner Habilitationsschrift Vom Musikalisch-Schönen schrieb:

Die singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes, welchem das ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen Gewebe von harmonischen und kontrapunktischen Verschlingungen zu folgen liebt. Dafür wird Hörern, deren geistige Tätigkeit gering ist, der Genuss leichter, und solche Musikbolde können Massen von Musik verzehren, vor welchen der künstlerische Geist zurückbebt.

So liest es sich, wenn sich ein angehender „nordländischer“ Universitätsprofessor über den geistig minderbemittelten Italiener erhebt. Dass die Kunstform Oper in Italien erfunden und zur Hochblüte gebracht wurde, bedenkt der überlegene „Nordländer“ allerdings ebensowenig wie den Umstand, dass hochmütige und deshalb dumme Pauschalurteile ernsthafte Zweifel an seiner Qualifikation aufkommen lassen. Während seine Geisteshaltung und Wortwahl unselige Assoziationen wecken, die ihn an und für sich zum Sympathisanten des von ihm zuerst bewunderten, später ihm verhassten Richard Wagner und seiner Ideologie prädestiniert hätten, urteilte er mit jener gewissen Überheblichkeit der von ihm selbst so genannten „teutonischen Musikkritik“, die als Kriterien bei der Einschätzung italienischer Opern unvernünftigerweise die kompositorischen Errungenschaften der symphonischen Musik deutscher Komponisten wie J.S. Bach, W.A. Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn oder Brahms heranzieht. So meinte er:

Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouvertüre zur ‚Leonore‘ so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouvertüre zur ‚Fingalshöhe‘ so anfängt, da wird jeder Musiker, ohne von der weiteren Durchführung noch eine Note zu wissen, ahnen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns aber ein Thema entgegen, wie das zur Fausta-Ouvertüre von Donizetti oder Louise Miller von Verdi, so bedarf es ebenfalls keines weiteren Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, dass wir in der Kneipe sind.[23]

Was herausragende deutsche Symphoniker wie Beethoven oder Mendelssohn mit herausragenden italienischen Opernkomponisten wie Donizetti oder Verdi verbindet, bleibt allerdings unklar. Was hätte Herr Hanslick wohl zu der folgenden Äusserung des Verdi-Forschers Julian Budden gesagt?

Schließlich beschert es [das Orchester der Luisa Miller] uns eine Ouverture, die viele für die schönste halten, die Verdi je geschrieben hat. Gewiss ist es die „klassischste“: mit zwei Themen und einer dicht gearbeiteten Durchführung, die auf einem einzigen Motiv basiert. Hier verbindet sich der Geist Webers mit der Technik Haydns.[24]

Hanslicks Sichtweise sollte über die Zeiten hinweg Bestand haben. In einer sonderbaren, längst überwunden geglaubten Parallelität der Geisteshaltung fragte ein für seine Originalklanginterpretationen bekannter österreichischer Dirigent, der allem Anschein nach in ständigem Kontakt mit Bach, Händel, Mozart & Co. stand und sich auch der Lehre verschrieben hat, einen seinen ehemaligen Schüler, der eine erfolgreiche internationale Karriere, u.a. im sogenannten Belcanto-Repertoire, hingelegt hatte, mit unverblümter Herablassung: „Warum dirigieren Sie diesen Dreck?“ Er bezog sich im konkreten Fall auf Donizetti. Die Beziehung zwischen den beiden Maestri war in der Folge gestört.

Hanslicks Entwicklungskurve in Sachen Verdi ist merkwürdig. Er beginnt seine Einschätzungen 1848 mit opportunistisch geifernder Wut, nimmt sich dann im Laufe der Jahrzehnte zuerst zu spöttischer Verachtung, dann zu herablassender Geringschätzung zurück, scheint sich in den 1870er Jahren ruckartig zu besinnen und in aufatmendes Erstaunen und tiefes Verständnis überzugehen, das fast in einen Widerruf seiner früheren Kritiken mündet, endet dann aber mit spektakulärem Unverstand:

Während der Aufführung wurde mir eines immer klarer: In Deutschland stehen zur Einbürgerung von Verdis „Falstaff“ „Die lustigen Weiber von Windsor“ von Otto Nicolai als ein Hindernis gegenüber, das schwer zu nehmen sein wird. [...] Gegenüber der moderneren, einheitlicheren Form der Verdischen Oper hat die Nicolaische jedenfalls mehr musikalische Substanz. Nach meiner Empfindung sind die besten Nummern aus den „Lustigen Weibern“ den analogen Szenen in Verdis „Falstaff“ musikalisch entschieden überlegen.[25]

Hanslick ist an dem immensen Verdi nicht gewachsen, er ist an dem „geistlosen Charlatan“ kläglich gescheitert. Johannes Brahms hatte 1874 über Verdis Messa da requiem gesagt: „So etwas kann nur ein Genie schreiben.“[26] Er hätte seinen Duzfreund Hanslick rechtzeitig vor der Veröffentlichung von dessen Die moderne Oper (1875) von dieser seiner Erkenntnis überzeugen und vor historischer Selbstbeschädigung warnen können. Vielleicht hat er es versucht. Hanslick hat die Chance nicht genutzt. Er war als unentrinnbar Gefangener seines „teutonischen“, theorielastigen Zuganges zu Musik dazu außerstande. Er hat weder Verdi noch den großen Themenkreis der Oper und der Kultur Italiens verstanden.

DIE ITALIENISCHE OPER

Wer je in einer Gerichtsverhandlung das Plädoyer eines neapolitanischen Rechtsanwaltes erlebt hat, begreift, weshalb die Kunstform Oper nur in Italien entstehen konnte. Ein solcher Vortrag mit seinem dramaturgisch klug gegliederten Aufbau, seiner steigenden und fallenden Sprachmelodie, seinen dynamischen Abstufungen, seinen wechselnden Tonarten und Tempi, seinen expressiven Stimmfarben, seiner vehementen Dramatik, seinen melodramatischen Übertreibungen und seiner sprachlichen Virtuosität beinhaltet all das, was eine Arie zu einer Arie und eine Oper zu einer Oper macht.

     Nikolaus Harnoncourt hat daraus den Schluss gezogen: „Oper kann man nur in italienischer Sprache komponieren, alle anderen Lösungen sind interessante Entgleisungen.“ Das inkludiert nicht nur alle italienischen Opern von Monteverdi bis Puccini, sondern selbstverständlich auch jene von W.A. Mozart und all die Werke, die von nicht-italienischen, beispielsweise deutschen Komponisten wie Georg Friedrich Händel, Johann Adolph Hasse oder Johann Simon Mayr usw. in italienischer Sprache komponiert wurden. Dass sich der Bayer Mayr in Italien niederließ, dort als Giovanni Simone Mayr zu einem italienischen Komponisten wurde, mehr als 60 erfolgreiche italienische Opern verfasste und darüber hinaus der Lehrer von Gaetano Donizetti war, ist ein schöner Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage.

     Was reale, gelebte Popularität italienischer Opern bedeutet, haben Regietheater-Regisseure ebenso wie ihr Stammvater Eduard Hanslick nicht begriffen. Es geht dabei nicht primär um außerordentliches kompositorisches Können, philosophischen Tiefsinn, Bekanntheit oder Ruhm, sondern um das gesellschaftliche Phänomen der Identifizierung einfacher Menschen mit einer dem Gesang verpflichteten Musikgattung.

Hanslick ist, wie zu sehen war, dem Missverständnis erlegen, eine Oper – auch eine italienische – müsse nach den Methoden und Maßstäben der von ihm geliebten Symphoniker von J.S. Bach bis Brahms komponiert werden, um vor seinem selbstherrlichen Urteil bestehen zu können. In gleicher Weise glauben Regietheater-Regisseure, italienische Opern müssten unbedingt ihrer Gedankenwelt angepasst werden. Hätten sie je verstanden, worum es bei der italienischen Oper in Wahrheit geht, würden sie nicht beständig versuchen, etwas, das sie selbst nicht verstehen, das Publikum aber sehr wohl versteht, in penetranter Art und Weise mit ihren Arbeiten „verständlich“ zu machen.

Es war überraschenderweise ein Deutscher, nämlich der Schriftsteller Frank Thiess, der das Wesen der italienischen Oper nicht nur verstanden, sondern auch pointiert definiert hat: „[...] ein Donizetti, ein Rossini, ein Ponchielli, ein Verdi, ein Puccini [sind] unter allen Umständen, selbst auf dieser Höhe der Kunst, italienisches Volksgut. Ich habe noch nie eine deutsche Köchin die große Leonoren-Arie singen hören, aber sehr oft einfache Italienerinnen ariose Stellen aus Verdis oder Puccinis Opern.“[27]

     Was damit zum Ausdruck gebracht wird, ist das altbekannte, dennoch seltsame Verhältnis zwischen Nord und Süd, das in der Operngeschichte immer wieder Gegensatzpaare hervorgebracht hat: Gluck und Piccinni, Mozart und Cimarosa, Weber und Rossini, Wagner und Verdi, Strauss und Puccini.

Die Musikfreunde nördlich der Alpen sind an Ideendramen in Opern interessiert, an Hintergründigkeit, Intellektualität, Tiefsinn, Metaphysik; sie lieben es, auf der Bühne tiefschürfende philosophische und weltanschauliche Abhandlungen zu verfolgen und musikalisch untermalt zu hören, was eigentlich die ideale – und einzige – Spielwiese für das Regietheater wäre.