Ich schneie - Pavel Kohout - E-Book

Ich schneie E-Book

Pavel Kohout

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Beschreibung

Nach der "sanften Revolution" kehrt der Ökonomieprofessor Viktor Král aus dem Exil im fernen Kanada ins heimatliche Prag zurück, wo Ich-Erzählerin Petra Márová die große Liebe ihres Lebens bereits sehnlich erwartet und nun beide wieder zueinanderfinden. Doch das, womit andere Romane aufhören, ist hier erst der Anfang, denn jetzt scheint Viktor seine Vergangenheit einzuholen: Sein Name taucht in einem Agentenregister des untergegangenen kommunistischen Regimes auf. Als sich herausstellt, dass ein ehemaliger Major der Staatssicherheit, der ebenfalls in Petra verliebt ist, hinter dem Eintrag steckt, wirft das nur neue Fragen auf. Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? In ihrer Suche nach der "wahren" Wahrheit dringt Petra immer tiefer in die Vergangenheit ein – eine Wahrheitssuche, die zugleich eine spannende Aufarbeitung der jüngeren politischen Geschichte Mitteleuropas und ihres beklemmenden Fortwirkens bis in die Gegenwart ist.-

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Pavel Kohout

Ich schneie

Roman

Deutsch von Karl-Heinz Jähn

Saga

1

Mea culpa. Mea maxima culpa!

Aber warum so hochgestochen? Blöd bin ich, blöd hoch zwei!

Allerdings, allerdings: Habe ich das voraussetzen können? Als ich meiner Gábina bei der Torte, die ich zu ihrem Fünfzehnten gebacken hatte, knieschlotternd über zehn Ecken klarmachen wollte, warum sie bald ihre erste Blutung kriegen würde (ich unaufgeklärtes Kind verschämter Katholiken hatte einst verzweifelt geglaubt, ich hätte eine schwere innere Verletzung), teilte sie mir fast beleidigt mit, ohne ihre Schafsmiene zu verändern, sie sei doch keine Jungfrau mehr.

Dieser Junge maß an die zwei Meter und machte den Eindruck eines umschwärmten Beglückers anspruchsvoller Frauen. Ich hatte ihn zuweilen in der Betriebskantine bemerkt (er war nicht zu übersehen) und mit der Zeit jene angenehme Schwingung verspürt, die mir sagte, daß er sehr wohl von mir wußte. Nicht im Traum wäre ich aber auf die Idee gekommen, mich mit einer Person männlichen Geschlechts einzulassen, soviel jünger als ich.

Als ich ihn jetzt an Bord erblickte (die noch unter den Totalitären geplanten Gelder für Transparente beim Maiumzug hatte unser Betrieb in diesem Mai 91 für eine festliche Dampferpartie springen lassen), kam mir aus heiterem Himmel der Gedanke, wie aufregend es wäre, von ihm umarmt zu werden. Ich war sogleich entsetzt (mein erster Hase? verdammt früh!), drehte ihm den Rücken zu und plauderte krampfhaft mit den Kollegen von der Anzeigenabteilung. Nach zwei Vierteln waren sie nicht minder fad, dafür aber um so aufdringlicher, die Zielscheibe ihrer peinlichen Komplimente waren wieder einmal meine Brüste. (Bei der Arbeit schnürte ich mich wie ein Ulanenoffizier, für das Schiff hatte ich natürlich einen recht enganliegenden Pullover angezogen.)

Vorübergehend machte mir das Aufflammen unseres Chefreporters Spaß. Ohne Zweifel hatte auch ihn mein ‹Busensignal› (Zitat: Olin, früher verbotener Bildhauer, jetzt nach dem großen Knall Spektabilis oder so was) angelockt, doch er bemühte sich wenigstens, sein Gelüst kultiviert zu tarnen, indem er von seiner Art Journalismus erzählte, die ihm den Ruf eines Kommunistenfressers einbrachte und dem Blatt die Auflage erhöhte. Doch er spielte sich ungehemmt auf, was mich in Rage brachte.

«Wie lang machen Sie schon diesen Job?» fragte ich unschuldig.

«Fünf Jahre.» (Er tappte mir arglos in die Falle.)

«Schade, daß Sie nicht auch früher so schreiben durften, dann hätten die hier nicht bis voriges Jahr ihren Mist gebaut.»

«Na logisch, das ging nicht!»

«Na logisch, jetzt geht doch alles!»

Er stürzte das halbe Glas auf einmal hinunter, um sich an die Bar begeben zu können. Im Windschatten der Brücke nahm ich danach eine unaufschiebbare Operation vor: Ich erklärte dem sterbenslangweiligen, mir allerdings nicht unsympathischen Redakteur der Persönlichen Nachrichten (als einziger der Staatskatholiken im ganzen Betrieb war er auch vor der Revolution in die Kirche gegangen), daß mich allein die Existenz von Julien daran hindere, auf sein Eheangebot einzugehen. (Mein erdachter französischer Verlobter aus Amiens half mir, mein Privatleben zu bewahren und zu verschleiern; den Nachnamen Sorel verriet ich ausschließlich jenen Anbetern, die mit Sicherheit nicht Stendhal kannten.)

Später, als der Moldaudämpfling hinter der Vranover Schleuse wendete und über uns in der Dämmerung Girlanden aus bunten Glühbirnen aufflammten, kam Wehmut in mir auf. Es war Erster Mai, der Liebe Zeit, doch Viktor hatte sich nach einmonatigem Schweigen auch heute nicht gerührt, so daß ich, einem bewährten Aberglauben zufolge, bis zum nächsten Mai keinen Liebeskuß empfangen würde ...

Ich ging an die Theke zurück, um mir noch ein Viertel Roten zu holen. Das weckte die Lust zum Rauchen in mir. Also mußte ich beim Trinken zulegen, um den Nikotin- und Alkoholspiegel auszupendeln (andernfalls drohten mir Kopfschmerz oder Sodbrennen). Eine Weile ließ ich es zu, daß mein dicklicher Chef mit dem dürren Vertriebsleiter trunken um mich wetteiferte, einer wie der andere bot mir, sobald wir anlegten, einen ‹Schlaftrunk› in seinem Büro an, ein jedes mit einer (Altnomenklatura-) Couch ausgestattet (pfui, nie wieder!), bis ich dieser Groteske scheinheilig mit dem Hinweis Schluß machte, daß sie beide verheiratet und jetzt bereits offiziell Christen seien.

Ich, die ich seit über einem Jahr in der Todsünde lebe!

Bevor unser Maikahn anlegte, postierte ich mich an der richtigen Stelle und stürzte als erste an Land. Erst oben am Kai mäßigte ich das Tempo und schlenderte wehmütig durch die laue Nacht zur Straßenbahn, immer die menschenleere Uferpromenade entlang (als gäbs im nachrevolutionären Prag nicht alle naslang Überfälle), bis ein hinter mir auftauchender Schatten mich erschreckte. Es war aber der lange Jüngling, und er bestätigte mein Urteil: Ohne alle Schüchternheit stellte er sich vor (Václav, Lektor für irgendwas) und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte auf ein letztes Gläschen in einem besseren Lokal.

Die kleine Weinstube war allerdings weit von dieser Vorstellung entfernt. Die Tischtücher fleckig, und selbst der im voraus spendierte Zwanziger versetzte den Ober nicht in bessere Laune. (Ihr wollt hier über Nacht Kapitalisten sein, lebenslang aber sozialistisch faulenzen! Zitat: Viktor. Ach Liebster, warum bist du nicht bei mir? Was suche ich hier mit diesem Zufalls-Don Juan? Ich weiß: die Freiheit von dir. So kann das nicht bleiben!)

Er langweilte mich nicht gerade, bewies ein gewisses Niveau (respektierte den Altersunterschied und kehrte ihn nicht hervor), hatte allerlei gelesen und gesehen, er hatte sogar eine Meinung darüber. Dann glänzte ich, als wir auf die moderne Musik zu sprechen kamen, ohne Scham schnatterte ich daher, was ich mit einem Ohr von Gábinka und ihren Diskoboys aufgeschnappt hatte, hol sie der Teufel! Jetzt kamen mir diese Hohlheiten zupaß, das Jüngelchen staunte, man sah ihm regelrecht an, wie er mir verfiel. Mein Herzeleid reifte unterdessen zu meiner gefährlichsten Stimmung heran: Trotz.

Also gut, du mein allerteuerster Liebling, dein Wille geschehe! Ich gehe dir fremd, und basta.

Trotzdem bezahlte ich ordentlich meinen Teil und ließ mir ein Taxi für die Heimfahrt kommen. Herr mein Gott, du siehst, daß ich den Dingen ihren Lauf lasse, heißt du solch eine Heilkur nicht gut, dann mach, daß er mich nicht einlädt! (Zu allem bin ich ein elender Feigling.) Zwischen Lokal- und Droschkentür hatte er gerade noch Zeit, mich zu fragen, ob er mich zu sich einladen dürfe, auf einen Kaffee und Musik, versteht sich! er habe ein paar Superplatten von Joan Baez, die ich so schätze (haha). Er war dabei ein bißchen zittrig, was mir (in meiner Gehirnverfinsterung) gefiel, er ehrt das Alter! spottete ich für mich, doch dabei wollte ich ihn (zu meinem Erstaunen) wirklich schon. Alles drängte zur historischen Tat ...

Trotz aller Sinnlichkeit (ach, und daß ich mit den Jahren immer sinnlicher werde!) war ich, o Welt, bis auf den heutigen Tag altmodisch treu, ich schlief immer nur mit einem, und entschied ich mich für einen anderen, war es mit dem ersten aus (ob das nun mein schöner junger Gatte war oder, nicht wahr, Viktor, du selbst ... heute werde ich zum erstenmal jemanden echt betrügen, und das wirst wiederum du sein).

Der hochansehnliche Junge hatte von alle dem keine Ahnung, ich war auch auf der Höhe, er sollte glauben, das sei für mich so selbstverständlich wie das tägliche Brot, sonst blieb er mir womöglich noch am Halse hängen. (Wenn er mich nächstens in der Kantine grüßt, schneide ich ihn, soll er doch das Gefühl haben, daß er alles nur geträumt hat, er war der Mohr, der mich unbewußt von einer Folterliebe erlöst hat.)

In meiner Weinseligkeit nahm ich weder die Straße, das Haus, das Stockwerk noch die Wohnung wahr, erst sein Zimmer, dessen Einrichtung und chaotischer Zustand mich an das von Gábina erinnerten (auch das hätte mich warnen sollen). Doch ich war entschlossen, ja, ich bezähmte mich, um nicht den Anfang zu machen (als wollte ich es schnellstens hinter mich gebracht haben). Er stellte den Plattenspieler an (und verkratzte dabei die Platte), knipste das große Licht aus (den Kaffee hatte er vergessen), kniete neben meinem Sessel nieder (so daß es unmöglich war, sich nicht zu küssen) und traf die Nase.

Schon jetzt hätte ich den Fehler erkennen müssen, aber es war zu spät, seine Ungeschicklichkeit rührte mich geradezu, so daß ich ihm vormachte, wie man küßt, wenn man will, und mein erster Eindruck von ihm wurde bestätigt, als er unfehlbar den Schlüssel zu mir fand: Er streichelte mit beiden Händen zart meine Brüste. (Darauf waren nur zwei meiner Geliebten von allein gekommen, die übrigen fingen an, sie besinnungslos zu traktieren.)

Gleich darauf die nächste vergebliche Warnung, als er unangebracht Darf ich? fragte. Ja! sagte ich, vom totalem Verlust an Urteilsvermögen betroffen, und um uns beiden peinliches Herumtasten zu ersparen, entledigte ich mich selbst des schwarzen Body; ich war sogar noch stolz, als er seine Entdeckung bestaunte.

Viktor, mein Liebster, der du diese üppige Landschaft meines Körpers immer so vergöttert hast, bis ans Lebensende hättest du schon ihr ausschließlicher Besitzer sein können, wenn du mir noch einmal vertraut hättest!

Nach einem Jahr wirkungsloser Treue kam jetzt also auf billige Art irgendein Bursche Václav in ihren Besitz, der eine unbehaarte Hühnerbrust hatte und schmale Hüften (wie männliche Schaufensterpuppen), ohne viel Federlesens zog ich ihn einfach an mich, bring mir rasch in Erinnerung, wie mans in diesem Alter macht, befrei mich von den alternden Langweilern und gib mich der Jugend wieder!

Au! zwischen den Brüsten ein schmerzhafter Schnitt, hat er mich gebissen? doch die Sicherungen waren durchgebrannt, die männlichen Hände, jetzt fest zudrückend, beraubten mich des letzten Funkens von Hemmungen. Also dann so, wenn nicht anders! Ich kam dem jugendlichen Draufgänger entgegen, als wäre er mein Liebster, ja ich wünschte mir rasend, er möge mich ebenso beseligen wie Viktor der Sieger, denn dann, so glaubte ich, wäre es mit dessen Macht über mich endgültig aus.

Er war in Trance, murmelte ständig etwas dabei, bis ich verstand, was er mir rhythmisch einhämmerte, Sie werden – mir sowieso – was husten ...! die Naivität der Verzweiflung machte mir das ganze Malheur klar, ich befand mich in den Händen eines Anfängers, doch da bäumte er sich auch schon ohne Vorwarnung auf, ein Krampf schüttelte seine schlanke Taille zwischen meinen Knien. Vor Schreck verließ mich nach dem Verstand nun auch die Kraft, ich kam nicht mehr rechtzeitig von ihm los.

Früher als ich war er wieder bei sich, von kaltem Schweiß überströmt ließ er mich los, nahm seine Last von mir und entschuldigte sich stotternd. Ich war sprachlos. Wie konnte mir das passieren?? Mitten im Zyklus!! Nein, mein Gott, solchen Hokuspokus kannst du doch nicht im Sinn haben, übrigens war das gleiche ein paarmal letztes und dieses Jahr geschehen, und nichts! (Viktor habe ich die günstigen Tage in einer verrückten Hoffnung verheimlicht, doch mit meinen Mutterzeiten war es ganz offensichtlich aus und vorbei.)

Dennoch verlangte ich sofort nach dem Bad, seine Spuren widerten mich an. Ganz verstört wies er mir den Weg, mich zu begleiten, wagte er nicht. Ich griff nach Body und Rock, um nicht nackt zurückzukehren. Ich zitterte vor Wut und Demütigung und verspürte zugleich eine sonderliche Genugtuung, als triumphierte mein besseres über mein mieses Ich. (Recht ist dir geschehn!)

Das Badezimmer verriet das Fehlen einer Frau, doch das Privatleben dieses Idioten interessierte mich zuallerletzt. In der Tür fehlte der Schlüssel, ich glaubte aber nicht, daß er es wagen würde hereinzukommen, suchte mir ein Handtuch aus, das am saubersten aussah (weil es braun war), und stieg in die Wanne. Im Spiegel gegenüber sah ich die Bescherung: Gleich über meinen Brüsten prangte ein prächtiges rotes Siegel.

Seit jenem wilden Sommer mit Josef wußte ich, daß es mich mindestens vierzehn Tage schmücken würde, der Reihe nach karmin, violett, blau und grüngelb. In meinem Elend verspürte ich wenigstens die rebellische Hoffnung, Viktor erschiene noch rechtzeitig, um sich daran zu ergötzen. (Vielleicht gibt dir das einen Stich, Liebster, vielleicht wirst du dir darüber klar, in was du da mich und uns beide hineinjagst!)

Warmes Wasser kam keins, ich geißelte mich mit der kalten Dusche wie ein Flagellant, spülte mir den Schoß aus, bis er zur Fühllosigkeit erstarrte. Als dann doch hinter mir die Tür knarrte, verpaßte ich dem feinen Lektor wütend eine Lektion, die er längst verdient hatte.

«Raus hier, aber sofort!»

Eine heisere Stimme antwortete.

«Ich bin hier zu Hause, Fräulein.»

Beim Umdrehen hätte ich ihn beinah naßgespritzt. Der schwarzbehaarte ältere Typ trug nur eine Turnhose, aus der seine Bierwampe quoll, sein Kopf und sein Hals waren gleich dick, wie bei einem Molch. Ich ließ die Handbrause in die Wanne fallen und bedeckte mit den Händen, was sich bedecken ließ.

«Wer sind Sie??»

Zugleich ging mir auf: Der Junge hat mich auch noch nackt durch die elterliche Wohnung promenieren lassen!

«Das hätte ich gern von Ihnen gewußt!» er starrte mich mit Abscheu an, «und auch, wo Václav die Moneten für Sie hernimmt.»

Mir wurde schwarz vor Augen.

«Daß du dich nicht schämst!» fuhr mein schuldbewußter Liebhaber ihn vom Korridor her an, «mach, daß du schläfst!»

Er zog ihn am Ellbogen aus dem Badezimmer. Eine Prügelei lag in der Luft, und was tue ich dann? Der Absurditäten war kein Ende: Der Alte erschlaffte und verschwand gehorsam in der nächsten Tür. Der junge Mann war zum Glück wieder angezogen und schien sich seiner Vergehen bewußt.

«Ich bitt Sie, seien Sie nicht böse! Sie gefallen mir schon lange so ...»

Er hatte sofort spitz, daß dies das letzte war, was ich hören wollte, und ließ mich in Ruhe, damit ich mich allein wieder anzog, erst danach tauchte er mit den Augen eines geprügelten Hundes aus irgendeiner Ecke auf.

«Darf ich mit runterkommen und Ihnen aufschließen?»

Blödmann! fauchte ich, nach jedem Quatsch fragst du, nur nach dem Wichtigsten hast du nicht gefragt!

«Das müssen Sie wohl», versetzte ich laut.

Ich wartete nicht ab, bis er den Lift holte, auf der Treppe kam er kaum mit. Bevor er öffnete, zögerte er, vielleicht wollte er noch mehr Reue zeigen, doch mein Gesicht riet ihm davon ab. Ohne Gruß stürmte ich in die Nacht hinaus, weg von dieser Schande! Ich hörte die Tür nicht ins Schloß fallen, also blickte er mir bestimmt nach, meinethalben solle er dort verrecken!

Der Himmel schickte mir einen Taximann, der zwar in entgegengesetzter Richtung heim zu seinem Bett strebte, doch sich meiner erbarmte. Verzeih mir, mein Gott, betete ich während der Fahrt, und du, Viktor, Liebster, verstoß mich nicht! wiederholte ich quer durch ganz Prag, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte.

Das Töchterlein war natürlich nicht zu Hause, den Wein hatte ich gestern ausgetrunken, und meine Zigaretten waren in jener Lasterhöhle geblieben. An lindernden Genüssen blieben mir zwei: ein Bad zu nehmen und mich auszuflennen. Ein Bein über der dampfenden Wanne und drauf und dran loszuheulen, hörte ich das Telephon. Barfuß ging ich hin, auf die übliche Mitteilung gefaßt, daß mein dummer Sprößling (warum kümmert sich schon wieder mal ihr Erzeuger nicht um sie? wieso hab ich alles auszubaden?) irgendwo gesund und munter säuft und vögelt (übrigens ganz die Mutter, der Vater hat seit je nur in der Politik gehurt).

«Stör ich ...?»

So fragte allein Viktor (noch nach zwanzig Jahren).

In den zweieinhalb Jahren seit ihrem fünfzehnten Geburtstag hat meine Tochter mehr Liebhaber zu verbrauchen gewußt als in zwanzig Jahren ich, die ich mir fast wie eine Straßendirne vorkomme. Unlängst hab ich daheim beim Wein die meinen gezählt (das allein schon ein Zeichen des Niedergangs).

Die Bilanz: Gleich den ersten hab ich geheiratet, wegen des zweiten mich scheiden lassen, meine schicksalhafte Liebe, vor der ich gerade deswegen mit dem dritten bis siebten fast manisch ausriß, bis mein Liebster samt der Hoffnung die Nerven verlor und (vor mir) übers Meer flüchtete. Den achten hätte ich aus unzähmbarem leiblichem Bedürfnis, das nach dem Verlust der zärtlichen Liebe über mich gekommen war, fast geheiratet; er nannte mich Mein letztes Geläute (er war fünfundfünfzig), einen langen Sommer hindurch wüteten wir wie die Tiger (wortwörtlich: wir jagten uns in seiner Mansarde herum, Josef sprang von der Couch auf mich runter, und ich wehrte ihn im Spiel mit Armen und Beinen auf dem Teppich ab), er war ganz zerkratzt, und ich konnte vor lauter Knutschflecken nicht ins Freibad. Damals aber hatte Gábina (eine überempfindliche Neunjährige) mich offenbar zum letztenmal gebraucht, immerzu verlangte sie nach mir, und ich ließ sie daheim mit dem Fernseher allein; als ich ihr Josef endlich vorstellte, beschloß sie, ihn dafür zu hassen. Ich nahm das als Strafe Gottes und verließ ihn schweren Herzens. (Doch auch aus Vernunft: Ich hatte bereits erfahren, was er war, und wer weiß, wie ich damit fertig geworden wäre.) Ich bemühte mich, das Familienporzellan in der Büßergestalt einer aufopfernden Mutter zu kitten, ich war in den besten Jahren, und die Männer (in diesem Alter lange genug verheiratet und reif für die erste Scheidung) balzten und röhrten, doch ich hatte mich so auf meine Mission (sogar eine christliche, denn ich begann mit der belagerten Kirche zu leben und nahm die Tochter mit) versteift, daß ich alles in allem nur drei erhörte (mehr aus Furcht, schnell dahinzuwelken). Mit einem war ich ein paarmal in seinem Wochenendhaus, mit dem anderen einmal (leider nicht keinmal!) im Hotel (im sozialistischen Prag mit dem Risiko verbunden, als Nutte zur geheimen Mitarbeit gezwungen zu werden) und mit dem dritten, einem Kollegen, (ich erröte vor Scham noch heute) gerade im Büro meines Chefs, beschwipst nach einer Fete, mit der er zum Glück seinen Abschied vor der Versetzung ins heimatliche Ostrau feierte. Auf dem Höhepunkt meiner ‹Askese› entdeckte ich, daß Gábina seit einem Monat nicht mehr in die Schule ging.

Ein letztes Mal war das durch ein paar klassische Ohrfeigen in Ordnung gebracht worden, mit der Androhung, daß man sie als arbeitsscheue Person in eine Besserungsanstalt stecken würde, sie wußte, daß ‹die› dazu fähig waren. Rasch rechnete sie sich aus, die kleine Bestie (gerieben wie der Papa), daß ihr nichts drohte, solange ich die Entschuldigungszettel unterschrieb, und das tat ich natürlich, was blieb mir übrig? Als sie das erste Mal morgens heimkam, verdrosch ich sie blindlings. Daraufhin verschwand sie glatt ein ganzes Wochenende, und als sie gnädig erschien, küßte ich sie vor Glück wie von Sinnen ab. (Ich mußte, vom Heulen entstellt, einen erschütternden Anblick geboten haben, denn in Zukunft kam sie zwar immer seltener nach Hause, weckte mich aber wenigstens meistens per Telephon auf, um mir beim Gedröhn von Baßgitarren und Drums mitzuteilen, daß sie bis dato am Leben war.)

Allein und leer sagte ich nicht Nein zu dem Bademeister im Stadion Podolí, wo ich in jenem Sommer gleich von der Arbeit hinwanderte. Er war auf natürliche Art männlich, nicht dumm, genauso alt wie ich und auch geschieden. Da er im Schwimmbad nur eine primitive Kabine hatte und daheim seine Mutter hinter der Tür gelauscht haben soll, nahm ich ihn bald zu mir mit; Gábina ließ sich dort zu jener Zeit überhaupt nicht sehen, war verliebt in irgendeinen Drummer aus dem Underground. (Ganz Prag schien ein einziger Underground zu sein, der trotzdem die Kommunisten am Ruder beließ!)

Jarek hat mich wieder zu einem normalen Dasein gebracht und konnte es gut mit mir; eines Nachts mußte ich aufschreien, plötzlich Licht, und auf der Zimmerschwelle meine Tochter, wider Erwarten zu Hause aufgetaucht, Mami, was hast du?? mit großen Augen starrte sie dabei Jareks bloßen Hintern an, und dieser Kerl ohne Abitur und Kinderstube wandte den Kopf zu ihr um, Sie lebt gerade, Mädchen, schlaf ruhig weiter! Sie hat mir seinetwegen nie Vorhaltungen gemacht, hatte sogar Respekt vor ihm, doch zu spät: Im Herbst stürzte auch bei uns die bolschewistische Bruchbude endgültig ein, und im Frühling kehrte Viktor wieder, mein teurer Herrscher, der Zweite, Echte und Letzte.

Seit jenem Novembertag, an dem der Alptraum aus und vorbei war, hatte ich auf seinen Anruf gewartet. Plötzlich wußte ich, daß er diesmal seine Lebenssicherheit in mir finden würde. Ich bin Petra! wiederholte ich für mich vor dem Einschlafen wie närrisch, und das heißt Felsin ...! Jarek schrieb mir traurige Briefe (er erwies sich damit keinen Dienst: sie klangen kitschig), und die ahnungslose Gábina erklärte überraschend, ich sei ein Scheusal, das keine Liebe zu schätzen wisse. Dann (erst im Mai!) rief Viktor an und kam.

Zum erstenmal forderte ich meine Tochter auf, zur Nacht nicht heimzukommen, und ließ sie im Glauben, es gehe um die Versöhnung mit Jarek. An Viktor hatte ich während der Zeit der Trennung so gut wie nie gedacht, nach dem ersten Schock habe ich ihn verdrängt, aus Selbsterhaltungstrieb! Und jetzt gab es da auf einmal eine Beziehung, die über ein halbes Leben andauerte, beinahe zwanzig Jahre! (Die zehn Nulljahre verwandelten sich in den Gesang von Odysseus und Penelope ...)

Ich hatte seine geliebten gefüllten Eier zubereitet, zwei Flaschen Würztraminer gekauft, den wir beide früher so mochten, doch kaum benetzten wir unsere Lippen, da riefen wir besessen die Vergangenheit zurück, die uns wie ein fortwährender Feiertag erschien. (Erinnerst du dich? Weißt du noch? Hast du nicht vergessen?) In einer Stunde gingen wir den gleichen Weg wie einst in den ersten Jahren und verfielen einander von neuem. Alles Trübe war vergessen, wir befanden uns wieder, genauso unbewußt, begierig, erregt und staunend, am Beginn und wanderten wie damals von Scham zu Zärtlichkeit, von Zärtlichkeit zu Verlangen und weiter bis zu einer Leidenschaft, wie ich sie nur mit Josef erlebt hatte.

Diesmal liebte ich jedoch, und die begeisterten Sinne trugen mich über die Grenze des bislang Unentdeckten.

Bald sollte ich begreifen, daß dies auch die Grenze war, an welcher der Glückstaumel endete und eine endlose Qual begann.

Viktor, mein ewig Geliebter, verhehlte nicht, daß ihn dieser schwerelose Nachtflug zerrüttet hatte. Nicht ich, sondern er, der nur dem Taufschein nach Katholik war, wirkte beim Morgenkaffee als Gefangener einer Todsünde. Er war bleich und sprach heiser, als er mir schilderte (ohne Vorwurf, eher so, als legte er Studenten die Grundsätze der monetären Politik dar), um wieviel verzweifelter er nach jedem meiner Seitensprünge gewesen war (und ich weiß bis auf Olin längst nicht mehr, wie sie hießen), bis er sein Heil nur noch in der Republikflucht sah; daß ihn in der ersten Zeit drüben am meisten der Gedanke zermürbt habe, mich im Leben nie mehr wiederzusehen; wie er ein paar Jahre lang außerstande gewesen sei, mit jemandem zu schlafen (und ich habe mich hier wenig später mit seinem Kameraden getröstet, der sich alsdann schön entpuppte – lieber nicht dran denken!), bis sich in seinem ersten Dozentenjahr eine junge Slowakin für seine Vorlesungen eingeschrieben habe (ach! eine leidenschaftliche Nation!), der Sproß einer jüdischen Arztfamilie aus Bratislava, die nach achtundsechzig geflohen war, und wie er sie nach kurzer Bekanntschaft geheiratet habe (ist sie so schön, so klug und so leidenschaftlich? nein, nicht fragen: Besser in trügerischer Hoffnung leben, als vor furchtbarer Wahrheit beben ... Zitat: Karel Jaromír Erben, unser Märchendichter), wie sie dann beide aber gewartet hätten, bis auch sie mit der Uni fertig war (ich hab mein Studieren geschmissen), so daß ihr Kind, eine Tochter, erst ein Jahr alt sei (und ich hab dir keinen Sohn geschenkt).

Freilich hätte ich ihn gleich wegschicken müssen, doch mir fiel aus Kummer nichts Besseres ein, als den Kaffee kalt werden zu lassen, vor ihm niederzuknien, mir aus dem Nachtgewand (ich hatte es zum Frühstück angezogen) meine beiden Ballaste zu nehmen, die er letzte Nacht so wie früher nicht hatte sattküssen können (seine Jüdin hatte vielleicht so was nicht zu bieten ...?), und sie auf den Händen gleichsam aufzutragen wie damals, wie damals. Augenblicklich wurde er rot (ich hatte vergessen, wie sehr das Licht ihn immer störte, und das Zimmer war von Morgensonne erfüllt), doch das Angebot war stärker als die Scham, er kniete vor mir nieder und legte sein Gesicht auf mein Herz und saugte sich an mir fest wie ein kleines Kind, so wie einst, so wie einst, ich weiß nicht, ob für eine Minute oder eine Stunde. Irgendwann begannen wir uns erneut zu lieben und weinten am Schluß beide vor Lust, vor Liebe, vor vollkommenem Glück.

Wie im Traum schieden wir voneinander, er vergaß, mir seine Telephonnummer zu geben, wir machten nichts aus, doch es war klar, daß er sich noch heute, spätestens morgen melden würde. Nach drei Tagen zerschmetterte mich die Erkenntnis, daß er, seinem Wesen getreu, Kanadier, Professor, Ehemann und Vater bleiben und nie wieder der Meine sein würde.

Etwa einen Monat später, als ich schon fest glaubte, er sei übers Meer zurück, rief er an, erkundigte sich wie immer, ob er nicht störe oder mich aufhalte und wie es mir gehe. Ich wollte wie vor Jahren schreien, Ich vereise! (den Zustand unserer Seelen teilten wir uns früher in Bildern mit, die ihnen näher kamen als banale Wendungen), doch leider Gottes schrieb man Heute, mein Liebster gehörte einer (gewiß) jugendlichen, (offenbar) feurigen schönen Frau, die er obendrein (bestimmt) anbetete, weil sie ihm eine kleine Königin der Juden und Christen geboren hatte, und ich sagte klopfenden Herzens, Gut, danke der Nachfrage. Er sei ausnahmsweise abends allein, teilte er mir erregt mit, ob er mich besuchen dürfe? (Bei einem anderen hätte ich den Hörer hingeschmissen.) Aber natürlich! erfuhr er von mir (Gábina hatte mir einen hingeschmierten Bescheid hinterlassen, sie sei mit irgendwem irgendwohin gefahren und komme irgendwann wieder), und ich machte mich in lauter Aufregung daran, die gestern noch frische Bettwäsche zu wechseln.

Als er wie immer zweimal kurz klingelte, knickten mir vor Angst die Beine ein, ich hielt ihm die Wange zum Kuß hin (wie einst meinem Vater) und schnitt die drei mitgebrachten Rosen in der Küche an, damit er nicht sah, wie mir die Hände vibrierten. Ob er einen Türkischen wolle? rief ich (meine Stimme versagte), er wollte gern, ich konnte inzwischen wieder zu mir kommen, und nach einer Weile klingelten die Löffel in den vertrauten Kaffeehaferln. (Was eigentlich? Wandlung oder Totengeläut?)

Mein Herzallerliebster saß mir wie vor zwei Jahrzehnten im selben Sesselchen gegenüber, lockenköpfig, glattrasiert und duftend, von dem Studenten kaum zu unterscheiden, den mir mein hübscher junger Ehemann vorgestellt hatte (Das ist Vít’a, mein Astralzwilling, nur im Unterschied zu mir die Seriosität selbst! ach nein, er hatte nicht gelogen, unglücklicherweise, deshalb bin ich Viktor ewig beleidigt davongelaufen und liebe ihn jetzt gerade deswegen wie eine Verrückte). Ich schwatzte Kraut und Rüben durcheinander, um die entsetzliche Mitteilung hinauszuzögern, die aus seinen seit je zu Verstellung unfähigen Augen schaute: daß er seine Frau und deren Frucht vergöttere und es zutiefst bedauere, falls er mir letztens vielleicht falsche Hoffnungen gemacht habe, als könne wiederbelebt werden, was gestorben sei.

«Petra», hörte ich, als mir endgültig der Faden ausgegangen war, «ich liebe dich. Unentwegt denke ich an dich. Ich habe ein solches Verlangen nach dir, daß ich Urteil und Beherrschung verliere. Sogar wenn ich mit ihr bin!»

In vier Sätzen öffnete er mir Himmel und Hölle. Schon wieder sachlich, wie es seiner Natur und Profession zukam, steckte er den Raum ab, der mir verblieb: Seine Frau habe mühevolle Jahre mit ihm verbracht, es sei undenkbar, daß er sie zum Dank verräterisch verlasse oder sie auch nur öffentlich durch eine Parallelbeziehung demütige; außerdem, und das teile er mir als erstem Menschen mit, denn Vanessa (ach, ach, ach! auch einen schöneren Namen hat sie und die gleiche Initiale wie er) sei noch in der Wohnung in Bratislava, wo es kein Telephon gebe (so erfuhr ich die Ursache für das lange Warten und kurze Glück), außerdem sei er heute zum Wirtschaftsberater des Vizepremiers berufen worden, falls seine kanadische Universität ihn freistelle.

«Allerdings tue ich das nur dann, wenn du mir allem zum Trotz bleibst, Petra, sonst kehre ich zurück!»

So tat mir mein Liebster eigentlich nichts anderes kund, als daß er nicht aufhören werde, mit seiner gesetzmäßigen Gattin zu verkehren, und dazu werde er für mich alle Jubeljahre einmal etwas Zeit haben, doch ich war im siebten Himmel. Er liebt mich! Er bleibt mir! Ich bin der Fels, der den Berg bewegt hat, und es lohnt sich, die Unbill des verborgenen Verhältnisses geduldig zu ertragen, denn mit jedem Ausruhen an meinem Herzen wird er ein bißchen mehr mein, bis er vielleicht ... Wieder kniete ich vor ihm nieder, doch er hielt mir die Hände fest.

Wenn er sich anmaßen dürfe, mich zu begehren, wo er mir so wenig bieten könne, dann müsse ich ihm helfen. Ja, liebend gern, wie ich nur kann. Ich müsse so frei bleiben, wie ich es alle Zeit mit ihm war. Bin ich das etwa nicht? Nein, er ertrage den Gedanken nicht, daß ich hier allein hockte und auf ihn wartete, während er, ich wisse schon! Die Vorstellung mache ihn krank, ein anderer könnte mich liebkosen, doch meine Freiheit sei für ihn trotzdem die einzige Lösung. Versteh, Petra (ich versteh dich, Liebster, sprich meinethalben auch portugiesisch!), ich möchte wenigstens das Leben von uns dreien im Gleichgewicht halten (dein Wunsch ist mir Befehl und Buße).

Nach diesem indirekten Versprechen der Untreue liebten wir uns bis zum Morgen ohnegleichen, noch drei Tage lang klang und leuchtete er in mir nach, bis mir der Gedanke durch den Kopf schoß, er habe gewiß wieder mit ihr zusammen sein müssen. (Mein Trost: Denkt er bei ihr an mich, wie er mir sagte, dann kann er keine wirkliche Lust empfinden, die gebe nur ich ihm! Mein Zweifel: Funktioniert das wirklich so?) So begann der schmerzvolle Kreislauf Himmel – Hölle – Paradies. Nach jeder Erfüllung eine neue Leere, ein quälendes Sehnen, das zwei, drei und auch endlose vier Wochen lang anwuchs, während derer er sich überhaupt nicht meldete. Nie fragte er, wie ich mein Versprechen einhielt, aus der Erfahrung mit mir setzte er das offenbar voraus, denn bei jeder Wiederkehr liebte er mich um so rasender, als bestrafe er mich wie gewohnt fürs Fremdgehen (und ich stöhnte vor Wonne, weil er sich sicherlich so nicht auf seine Jüdin stürzte).

Nicht nur mein Liebeskampf, auch das allgemeine politische Ringen eskalierte. Im Lande schwärmten fünfzehn Millionen wackerer Kämpfer gegen den Kommunismus aus (die ihn noch kurz zuvor aus Feigheit am Leben gehalten hatten), und da er bereits geschlagen war, führten sie Scheinkriege, um es nachzuholen (die meisten dafür, weiterhin wenig geben und viel nehmen zu dürfen). Gábina ließ die Schule einfach sausen, indem sie den Schulstreik nicht wie ihre Mitschüler beendete (mit anarchistischen Sprüchen verschleierte sie, daß sie längst faul war wie die Sünde), jetzt war das jedem egal, außer mir, die sie zu ernähren hatte. Aber es war die einzige Möglichkeit, sie in Sichtweite zu behalten, Liebhaber (konnte man die so nennen?) hatte sie inzwischen die Menge, doch Verstand nach wie vor für einen Kreuzer (wie ein Spürhund paßte ich auf, daß sie wenigstens keine Drogen nahm).

Viktors Name stand immer öfter in den Zeitungen, man pries und verfluchte ihn als einen der Apostel der Privatisierung. Mit dem Auto durchquerte er die Republik und mit dem Flugzeug ganz Europa (dabei hatte er wenigstens ein Ritual entwickelt: auf dem Weg vom Flugplatz rief er an und kam vorbei, stets mit einem schönen Geschenk, meist auch für eine Umarmung), ich tröstete mich (und schämte mich dafür), daß er auch bei seiner Familie nicht warm zu werden vermochte. Von der stupiden Arbeit in der Anzeigenabteilung, die ich nach der Revolution hatte loswerden wollen und um deren Erhalt ich jetzt betete (die Reform mähte überall die überflüssigen Kräfte weg, was finge ich dann an?), eilte ich nach Hause, falls er anriefe (ich durfte nicht), um an mindestens dreizehn von vierzehn Abenden Staub zu wischen, zu waschen und zu bügeln (hauptsächlich Gábis schmutziges Zeug) oder mir was im Fernsehen anzuschauen, nur anders schwachsinnig wie unter dem Bolschewik. Immer seltener machte ich mein dichterisches Tagebuch auf und immer öfter allein eine Flasche.

Da sein letzter Besuch Ende März unglaubliche sechzig Stunden lang gedauert hatte (von Freitag abend bis Montag früh, nach der Ursache für dieses Wunder hatte ich ihn aus Stolz nicht gefragt), wobei er so locker und glücklich gewesen war, wie ich ihn nicht einmal in unseren besten Zeiten erlebt hatte, erwachte die Hoffnung in mir, er habe endlich begriffen, worum wir uns bestehlen, wann immer wir nicht beisammen sind. Als er gleich von mir ins Büro ging (ein Schock, wie sich der nackte Liebling plötzlich in einen strengen Herrn im Zweireiher und mit Fliege verwandelte), schob er mir im Korridor (als ich durch den Spion das Treppenhaus kontrollierte) von hinten die Hände in die Ärmel meines Nachthemds, preßte mich fast verzweifelt an sich und flüsterte, Bald!

Meine Enttäuschung war danach um so grausamer. Sie betäuben und diese nicht mehr zu ertragende Abhängigkeit abstreifen, das sollte der Maihase namens Václav. Und von dem wiederum wollte ich mich gerade säubern (obwohl es auf zwei zuging und das Wasserrauschen durch den Lichtschacht donnerte), als (zum erstenmal in der Nacht!) Viktor anrief.

«Und halte ich dich nicht auf?» (Seine zweite ständige Frage.)

«Nein», vor Überraschung sprach ich völlig ruhig, «ich bade grade.»

«Seit gestern abend rufe ich jede Viertelstunde an. (Bitterkeit schnürte mir die Kehle zu: Du kommst mit dem Kranz nach dem Begräbnis, mein scheußlicher Abend hätte unser Fest sein können!) Petra, bist du da ...?»

«Ja ...»

«Ich habe dich nicht gehört.»

«Ich hab nichts gesagt.»

Nackt wie ich war, überblickte ich vom Telephon im Korridor aus das Bild eines verpfuschten Lebens: Aus dem Bad grinste mich samt Waschmaschine das Bügelbrett an, aus der Küche der Herd, aus meinem Zimmer das einsame Lager. Irgendwie spürte er das, er klang bedrückt.

«Ist dir was?»

Ich brachte nicht die Kraft auf, die Heldin zu spielen, Wut und Zorn wichen dem Selbstmitleid, seine Stimme berührte mich körperlich.

«Ich regne ein bißchen ...»

Trotz des Abgrunds der Jahre wußte er, was das hieß.

«Ach, bitte nicht! Ich komm zu dir, ja?» (Das verwirrte mich.)

«Jetzt ...? Bist du allein?»

«Nein, aber das spielt keine Rolle. (Was ist los??) Mein Auto steht hier vorm Haus, kannst du in zwanzig Minuten unten aufmachen?»

«Aber ...»

«Ich muß mit dir sprechen. Jetzt aber regne nicht mehr, ja? Ahoj!»

Ich hielt den Hörer immer noch und erblickte im Garderobenspiegel ein busiges Weib mit blutigem Fleck und dümmlicher Miene. Soll ich etwa binnen einer Stunde einen Hurenbeischlaf und einen Heiratsantrag erfahren? Was sonst kann es bedeuten, wenn er mich in tiefster Nacht von daheim anruft? Hat er ihr von uns erzählt? Hat er gestanden, was er mir verraten hat? Hat sie erkannt, daß ihr keine Chance bleibt, und ihn freigegeben? Oder hat sie ihm vielmehr (Slowakinnen verstehen zu toben und Jüdinnen zu strafen) den Koffer vor die Tür gesetzt?

Ich mußte blitzschnell baden, das Gefühl abwaschen, daß fremder Schweiß an mir klebte, und frische Wäsche anziehen (die alte werfe ich am besten gleich in den Müll). Als ich zum zweitenmal in die Wanne steigen wollte, klingelte das Telephon wieder. Ich erschrak. Hat sie ihn nicht gehen lassen? Hat sie ihm gedroht, mitsamt dem Kindlein aus dem Fenster zu springen? (Slowakische Jüdinnen müssen hysterisch sein.) Abnehmen oder nicht abnehmen? das war hier die Frage. Lieber nicht, er wird mich doch nicht auf der Straße warten lassen, wenigstens kommt er her, und sei es mit ihr! (Aber: Werde ich einem Vergleich standhalten? Werde ich die Szene meistern? Und: Was ist, wenn er mir dringend was sagen will?) Ich nahm ab und hörte in der Membrane ein Poch! Poch! Poch! (das Hämmern meines Herzens), ehe ein kläglicher Laut herauskam.

«Mamhiii ... Mamhiii ...!»

Erst nach ein paar Sekunden erkannte ich in dem Geheul die Stimme meiner Tochter.

«Gábi! Gábina! Bist dus?»

«Mamhiii!» (Sie wimmerte herzzerreißend, wie ich sie seit ihrer letzten Tracht Prügel als Kind nicht mehr gehört hatte, später hatte sie verachtend die Zähne zusammengebissen.)

«Ja, Gábilein, was ist los? Was ist dir passiert?»

Die Antwort war Wimmern. Ich sah sie vor mir (der Fernsehfilm neulich!) zusammengekrümmt neben dem heruntergerissenen Telephon, in der Brust das Messer.

«Wo bist du? Was ist mit dir?? Um Gottes willen, red doch!!»

«Ich bin ver – ää – all – ig ...»

«Was bist du? Ich versteh nicht! Beruhig dich, du mußt mir sagen, wo ich hinkommen soll und was du brauchst. Die Rettung? Bist du verletzt?»

«Neiiin ... ich bin vergewaltiiigt ...»

«Jesus Christus! Wer ... wo ...»

Urplötzlich, anscheinend hatte sie meine totale Ohnmacht erkannt, begann sie zusammenhängender zu sprechen als ich, beschrieb auch für mich verständlich, wo sie war, und lehnte einen Arzt resolut ab.

«Fehlt noch, daß sich das rumspriiicht ...»

Das Weinen endete mit einem Schnauben und das ganze Gespräch mit der verworrenen Versicherung, daß irgendein Taxler weggefahren und sie zur Hauptstraße gelaufen sei, ich verstand nicht die Bohne, ließ Wanne Wanne sein, sprang in die nach Unzucht riechende Wäsche (Herr, Du mein Gott, so sehr habe ich Dich erzürnt?) und stürzte auf die Straße (danke, daß du mir in deiner Güte ihn geschickt hast, ein Zeichen, daß Du mich nicht ganz und gar verdammt hast!), wo allerdings niemand war. Ich gab ihm fünf Minuten, bevor ich ohne ihn losliefe (vielleicht winke ich irgendwen zu Hilfe). Er kam pünktlich.

«Schnell», ich drängte mich zu ihm, «Gábina ist vergewaltigt worden, hat sich in einer Telephonzelle versteckt!»

Er stellte keine Fragen und fuhr los, bot mir aus dem Handschuhfach ungewöhnlich dünne Zigaretten an (bestimmt von seiner Frau, er rauchte nicht, doch das war mir egal), ließ den Anzünder aufglühen und wiederholte (wie einst mein seliger Papa), Alles wird gut, du wirst sehen! dabei raste er, systematisch die Verkehrsregeln mißachtend (er!), wie ein Rennfahrer durch die zum Glück leere Stadt. Mein Liebster, mein Liebster! sagte ich hin und wieder, wenn die Angst sich legte, zu mir, jetzt war er, wie ich es ersehnte, Gábis Vater und mein Mann.

Die lange und breite, von Plattenhäusern gesäumte Straße wirkte unter den Neonpeitschen wie die postzivilisatorische Szenerie aus Bradburys ‹Mars-Chroniken›. Vor dem Kaufhaus standen tatsächlich drei Telephonzellen, aber leer. Ich schlotterte und war zu nichts mehr fähig, doch Viktor stieg aus und fand sie sofort, sie hockte zusammengekauert auf dem Boden der mittleren Zelle, ihr Kopf lag kraftlos auf der Schulter. Ich sprang aus dem Auto.

«Ruhe ...» er hielt mich zurück, ehe ich selbst wie eine verwundete Wölfin aufheulen konnte, «sie schläft.»

Sie war weder zerrauft noch zerfetzt, wie ich es erwartet hatte (auch die Wirkung von Film und Literatur), in ihrem Gesicht stand sogar ein kindlicher Ausdruck, mit dem sie mich im Schlaf jedesmal entwaffnete, sie zwang mir damit die trügerische Vorstellung auf, sie sei immer noch mein kleines Schäfchen. Viktor weckte sie sehr behutsam, erntete aber trotzdem ihr übliches Morgengeknurre.

«Noch niiicht ...»

Dann erschrak sie vor ihm und klammerte sich an mich ... wie zum letztenmal wann? vorletztes Jahr, als ihr Vater zum erstenmal nicht erschienen war, um das Weihnachtsfest mit ihr zu feiern (sowieso stets am frühen Nachmittag, damit er den ganzen Heiligabend mit seinen neuen Kindern verbringen konnte, jetzt hatte deren Mutter selbst diese zwei vorgeschobenen Stunden gestört, und er wollte seine geheiligte Ruhe haben, mein einst so furchtloser Gatte), hatte sie mich genauso unterm Weihnachtsbaum umarmt. Ich schmelze! sang ich damals im Geiste, doch schon eröffnete sie mir, sie springe also zu ihrer Freundin, bestimmt würde ich lieber allein Rybas’ Christmette vom Plattenspieler hören.

«Das ist doch Viktor!» warb ich um ihr Vertrauen zu ihm (beinahe hätte ich ‹mein› gesagt) – «Viktor Král, Vít’a, erinnerst du dich?»

Erinnern konnte sie sich an mancherlei: Wie er mich samt dem Kinderwagen so lange durch den Baumgarten begleitet hatte anstelle ihres Vaters (der fleißig für seine künftige Karriere Marxismus büffelte), bis wir uns unter der Kastanie dort während eines Aprilschauers zu küssen getrauten (sie guckte streng mit ihren noch nicht einjährigen Augen zu, als verstoße das gegen ihren Geschmack). Sie war sogar dabei, als ich meinen Liebsten daheim (gottlose Buhlerin ich, deren immer noch rechtmäßig angetrauter Ehegatte bei seinen Eltern in Pardubice weilte) verführte, ja verführte! er selbst (bis auf den heutigen Tag ein lascherer Katholik als damals ich) hätte nie seines Freundes Frau begehrt, und ich ihn höchstwahrscheinlich auch nicht, doch sein geradezu selbstmörderischer Einsatz für einen krepierenden Straßenköter verwandelte meine warme Sympathie binnen einiger Minuten in glühende Liebe. Danach schlief mein (soeben vergewaltigtes) Mädelchen noch gute sechs Jahre zum Glück fest in Hör- und Reichweite unserer Umarmungen, unserer Szenen (ich war es, die wie eine Marktschreierin tobte, wenn ich seine berechtigten Vorwürfe nicht zurückweisen konnte) und auch unserer Versöhnungen, die unerbittlich meine nächsten Verrätereien einleiteten, welche bewirken sollten, daß er von Eifersucht gequält wurde und mich wieder mehr als seine Wissenschaft liebte. Als er mich ohne Vorwarnung mit seiner Flucht bestrafte (ich war mir in meinem Übermut sicher, daß ich sein Magnetberg war ...), holte ich mir die Erotik (die Zeit der wahren Liebe war abgeläutet) auswärts, um meine erwachende Jungfer nicht zu verderben (wodurch ich sie verlor).

Eigenartig! dachte ich auf der marsähnlichen Straße, als Viktor sie in der schmutzigen Telephonzelle weckte, daß sein Name bei uns zehn Jahre lang nicht gefallen ist; die unerwartete Niederlage hatte mich so umgeworfen, daß ich ihn aus meinem Bewußtsein verdrängt hatte ... und vor der Tochter selbst seine Rückkehr zu mir geheimhielt, die unter den gegebenen Umständen nicht einmal eine war.

«Müssen Sie behandelt werden?» wandte er sich zu ihr (warum siezt er sie?), als wir hinter seinem Rücken Platz nahmen, «ein guter Bekannter von mir ist Arzt.»

«Nee», entschied sie mit angeborener Sachlichkeit, die mich immer aus der Fassung brachte, «sonst hat er mir nix getan.»

Keine Spur mehr davon, daß sie vor einer halben Stunde wie ein Balg gegreint hatte. In mir erwachte das Muttertier, das die Höchststrafe für den Schänder seiner Tochter verlangt.

«Weißt du, wer es war?»

«Joo, ein Zigo.»

«Wer ...?»

«Na, ein Zigeuner halt.»

«Und wo hat er dir ... wo hat er dich ...»

«Im Taxi.»

«Um Christi willen, hat dich denn der Fahrer nicht beschützt?»

«Das war doch er. Der Zigo.»

«Gábinka, ich bitte dich, sprich so, daß wir es verstehen!»

Sie drehte die Augen zu Viktor und sagte ohne Umschweife.

«Erst zu Hause, joo?»

«Ich hab dir gesagt, Viktor ist mein ... (Achtung!) unser alter Freund, deshalb hab ich ihn gebeten, mich zu fahren!»

Sie machte Augen, als wollte sie ihn röntgen, er schien sie mehr zu interessieren als der flüchtige Gewalttäter. Ich kannte allzugut ihre Blicke, mit denen sie ein für allemal ihre Noten vergab, ein Ungenügend hatte mich Josef gekostet, ich wollte ähnlichem vorbeugen.

«Er war lange Jahre in Kanada, ist dort Professor für Ökonomie geworden und arbeitet hier als Regierungsberater.»

Eindruck machte auf sie erst seine Frage.

«Sie möchten wohl nicht Anzeige erstatten, wie?»

«Ich denk nicht dran.»

Ich verstand die beiden nicht.

«Einen Taxler, der Zigeuner ist, finden sie doch sofort!»

«Beim hiesigen Zustand von Polizei und Presse ist es nicht ausgeschlossen, daß ihr Name veröffentlicht wird, obwohl sie nicht volljährig ist. Und wenn sie gegen diesen Lumpen vor Gericht aussagt, kann ihr das der ganze Clan heimzahlen. Sie sollte ausschlafen und sich morgen normal untersuchen lassen, als wäre sie bei einem Jungen gewesen, den sie nicht gut kennt.»

Alles in mir sträubte sich, doch das Opfer sagte anerkennend.

«Super.»

Es mußte mir genügen, daß sie immer noch meinen Arm um sich duldete (sonst entwand sie sich mir längst wie eine Schlange, wenn mich mütterliche Zärtlichkeit übermannte). Auf dem Rückweg schwiegen wir alle drei, und mir fiel ein, daß uns beide, Mutter wie Tochter, das männliche Geschlecht zur gleichen Zeit gezeichnet hat. Und da ich davon in meinem Alter so mitgenommen war, würde sie da nicht für alle Tage geschädigt sein? In meinen Armen schlummerte der Fratz, den ich (wenn auch schlecht, doch von den nassen Windeln über die komplette Garnitur der Kinderkrankheiten bis hin zu den Menses) selbst aufgepäppelt habe, und die Vorstellung, daß ein Zigeuner sie roh nimmt, war mir ungeheuerlich. (Bin ich deswegen eine Rassistin?)

Nach ein paar Minuten waren wir bei uns, ich mußte Gábi erneut wecken, doch sie verabschiedete sich von Viktor ohne eine Spur von Ruppigkeit.

«Danke!» sagte sie sogar, was ich von ihr höchst selten zu hören bekam.

«Ahoj ...» konnte ich noch zu ihm sagen, «und verzeih!»

Das Wasser in der Wanne war immer noch fast heiß (vorhin müssen meine Sinne total abgestumpft gewesen sein, die beiden Anrufe hatten mich vor dem Verbrühen gerettet), ich hievte mein teures Gabrielchen hinein und seifte es mit dem Waschlappen wie vor Urzeiten ab. Auch das ließ sie sich gefallen. Natürlich suchte ich dabei nach Spuren von Gewalt an ihrem Körper, doch nirgendwo auch nur ein blaues Fleckchen (geschweige denn ein Knutschfleck). Sie hielt die Augen geschlossen, so hatte sie von klein auf gebadet (wie ihr junger Vater, der schlief in der Wanne, frühstückte, las, lernte für das Staatsexamen, zog mich manchmal auch im Morgenrock herein, um mich im klatschnassen Frottee zu lieben).

Lange hatte ich keine Gelegenheit gehabt, sie mir so gründlich anzuschauen. Mein Mädel war dabei, sich in ein reifes Weib zu verwandeln, ihre Brüste hatten schon fast meine Kurve (der Rodin-Konus, Zitat: Olin), die zuletzt diesem langen Lulatsch heut nacht den Kopf verdreht hatte, ach, Mädchen, daß du nur nicht so endest wie deine Mutter ... nein! wie könnte sie? aus dem Wasser ragte das junge Gesicht ihres Vaters heraus, der auch unter dem neuen Regime weiterhin erfolgreich war, indem er schlaumeierisch vorgab, ein ebenfalls vergewaltigtes Opfer des alten zu sein. (Nur, nur: Wo ist diese erbliche Gerissenheit heute nacht geblieben??)

«Gábina, schläfst du?»

«Nee.»

«Dann sag mir um Gottes willen, was passiert ist!»

«Ich habs dir doch gesagt.»

«Ich bitt dich, ist für dich eine Vergewaltigung ein ganz normales Ding?» (Das berührte sie erstaunlicherweise.)

«Nee, aber ... es ist peinlich.»

«Ich bin doch deine Mama!»

«Was soll ich dazu sagen? Wir sind mit Mikan in der Droschke gefahren, und er ist halt früher ausgestiegen, na.»

Mikan, ursprünglich vielleicht Milan oder Michael, war ihr letzter ‹Fund›, wie sie es nannte, ein Architektensohn, vor der ‹samtenen› Revolution Architekturstudent, momentan Geldwechsler (billige Ausrede: Ich räche mich, weil sie uns die Revolution geklaut haben!), doch ich vertraute auf die Langzeitwirkung eines guten Stalles.

«Hat er dich allein fahren lassen?»

«Na, er wohnt unterwegs, hats näher gehabt.»

«Für den Umweg reichts bei ihm wohl noch!»

«Warum sollte er Geld rausschmeißen?»

«Fragst du? Vielleicht, daß dich keiner vergewaltigt, mein Gott!»

«Im Taxi wird normalerweise nicht vergewaltigt.»

«Jesus Christus (sie hatte mich wieder soweit, daß ich den Namen Gottes fast in jedem Satz eitel nannte), hast dus nicht gerade erst erlebt?»

«Bis jetzt ist das keiner passiert, die ich kenn.»

«Es hat doch wohl gereicht, daß ein Zigeuner am Lenker saß. Den Umfragen nach überfallen einen in Prag heutzutage hauptsächlich die Zigeuner.»

«Aber nicht die Taxler.»

«Du weißt ganz genau, daß es so etwas wie ein erhöhtes Risiko gibt. Ein Mädchen kann doch heute nicht in der Nacht allein mit einem Zigeuner fahren, selbst wenn er ein Taxler ist, ist dir das auch jetzt noch nicht klar?»

«Ich weiß doch gar nicht, ob er ein Zigeuner war.»

«Jungfrau Maria, das hast du doch gesagt!»

«Na, ausgesehen hat er so, aber er kann auch n Jugo sein.»

«Egal, was er gewesen ist, wie ist es also passiert?»

«Na, er hat den Weg über Strahov-Hügel genommen, das macht n Fünfziger weniger, Mikan hat mir vor ihm n Hunderter gegeben, stimmts? Und wir haben uns ganz prima unterhalten.»

«Über was?» (Ich suchte einen Schlüssel zu dieser Ungeheuerlichkeit.)

«Über neue Diskos. Er hat mir gesagt, da gibts ne Superdisko in nem Zelt auf m Weißen Berg, ob wir dort nicht mal reinschauen wollten.»

«Und du?»

«Joo.»

«Bist du noch bei Trost gewesen?»

«Aber Mami, das war doch n normaler Junge! Und Mikan war wieder mal irre eifersüchtig auf einen da, wo wir waren, bestellte aus m nichts ne Droschke nach Hause, so hab ich null Bock auf ihn gehabt, stimmts?»

«Weiter! Was war mit der Diskothek?»

«Zu war sie. Und er hat gesagt, egal, fahren wir eben anderswohin! ist wieder n Stück runtergefahren, und auf einmal waren wir auf irgendnem unbebauten Weg, der war auf m Hang zwischen Gebüsch zu Ende, und ich sagte, du bist mir n schöner Kutscher, wenn du nicht mal Bescheid weißt.»

«Du hast ihn geduzt?»

«Sag ich doch, er war jung, keine fünfundzwanzig. (Wie mein Beißer ...!) Und hat mich auch geduzt.»

«Weiter, weiter!»

«Na, und da hat er gesagt, Wer hat dir gesagt, daß ich nicht Bescheid weiß? das hier ist meine Disko, da ist immer auf, dann schmiß er eine Kassette rein und sagte, Komm mit nach hinten aufs Parkett.»

«Da war ein Parkett?»

«Nee. Er meinte doch den Rücksitz. Und packte mich mit den Fingern am Ellbogen, kräftig waren die wie ne Kneifzange, aber ich hab trotzdem gesagt, Hör zu, zick nicht rum, da steh ich nicht drauf! und er, Komm schon, wirst sehn, ich hab lauter gute Beurteilungen, zick du lieber nicht rum, das tut dir sonst bloß weh. Na, da bin ich rübergestiegen und er mir nach.»

«Warum bist du nicht weggelaufen?»

«So schlau war er auch. Du bist garantiert nicht volljährig, hat er gegrinst, die Tür hat ne Kindersicherung. Na, und dann hat er mich, na ja.»

«Wie hat er ... (die Frage wollte erst nicht aus mir heraus, dann drängte sie sich aber doch aus Mund und Seele) wie hat er dich ausgezogen ...?»

«Na, er hat mich nur oben aufgemacht, den Slip hab ich mir lieber selber ausgezogen, ich hatte doch den neuen an (sie zeigte auf die Wäsche neben der Wanne), er hätte ihn kaputtgerissen, stimmts?»

«Hast du Schmerzen gehabt?»

«Nee, nur bißchen Angst, daß er vielleicht so n Kaputter ist, drum hab ich nicht rumgezickt, na, und er hat vor mir eigentlich nur angegeben, hat Eindruck machen wollen, war gleich fertig.»

Ich stieß die Frage hervor, die mich die ganze Zeit quälte.

«Hat er wenigstens aufgepaßt?»

«Wie?»

«Ich meine ... (Gott, wie sagt man das?) er ist doch hoffentlich am Schluß nicht bei dir geblieben ...»

Die Augen meines jungen Gatten blickten mich an, spöttisch, mitleidig.

«Mami, er hat mich doch vergewaltigt.»

«Ja, aber ... hatte er wenigstens einen Schutz?»

«Was für n Schu ... ach so! Du bist noch nie vergewaltigt worden, stimmts? (Ich muß blaß geworden sein, ich spürte, wie mir die Hände eisig wurden, und entdeckte plötzlich in ihren Augen eine ungewöhnliche Sorge.) Was ist dir, Mami?»

«Wenn aber nun was passiert ist, Gábi ...?»

«Was denn?»

Es rächte sich an mir, daß ich die Sexualerziehung meiner einzigen Tochter feige allen Winden überlassen habe, mir fehlte nicht nur das Elementarvokabular, sondern vor allem ihr Vertrauen. (Vor der Wanne kniend, begriff ich endlich, daß ich kein Kind mehr hatte. Ich faselte.)

«Du weißt doch, daß so was nicht ohne Folgen bleiben muß!»

«Joo. Drum nehm ich doch die Pille.»

Da fiel mir ein: Ich nicht!

2

Mich weckte das Telephon.

Seit zwei, als ich Gábi zu Bett gebracht hatte (sie fiel sogleich in Schlaf, der den Gerechten zugeschrieben wird, doch sie war es auch, sie konnte für mich das Vorbild einer unverlogenen Moral und gesunden Vernunft sein), versuchte ich vergebens meinem Bewußtsein zu entrinnen. So wach, als wäre es Mittag, schrieb ich ein paar verzweifelte Verse ins Tagebuch (‹Drei Paukenschläge / auf meine Seele / oh, Herr / laß Deine Schlegel nicht mehr fallen / denn vierter Schlag ist der / mit Schicksalskrallen›) und zog dann wieder einmal die Bilanz meines Lebens.

Ich fand keinen lichten Punkt darin. Die Jugend entschwunden, die Ehe begraben (das einzige, was mich nicht verdrießt), die Tochter ein unbekanntes Mädchen, das Talent vernachlässigt, der Fleiß faul geworden, der Job zum Vergessen (ein mieses Gehalt und geistige Onanie), und mein Liebster überläßt mich (am Ersten Mai, wenn Liebeszeit!) pollutionierenden Bürschlein, um Zeit für seine heilige Familie zu haben ... Moment, was wollte er eigentlich heut nacht von mir? Ich hatte ihn in den Wirbel unseres Mißgeschicks hineingezogen und ihn mit einem bloßen Ahoj! weggeschickt.

Bis zur Morgendämmerung dachte ich mir ein halbes Dutzend Gründe für seinen Besuch aus, vom herrlichsten, der mir gleich nach dem Anruf eingefallen war (Sie weiß alles, ich komme für immer zu dir zurück), bis zum katastrophalen (Sie weiß alles, wir müssen uns für immer trennen). Den Schlaf hatte ich abgeschrieben, und nach zwei Türkischen stieg ich vor Erregung wie Erschöpfung allmählich in einen Zustand der Schwerelosigkeit auf. Alles purzelte mir durcheinander, mit Sicherheit wußte ich nur, daß ich heute nicht zur Arbeit gehen würde.

Ich konnte Gábi nicht allein lassen, vielleicht finden wir gerade nach diesem Erlebnis eine gemeinsame Sprache und schieben die Trennung hinaus (mein Alter lauert nur darauf). Auch wollte ich nicht riskieren, so schnell mit meinem unmündigen Liebhaber zusammenzuprallen, noch hatte ich keine Idee, wie ich mich dann verhalten würde; soll ich den Blick über ihn wie über eine Landschaft gleiten lassen (damit ihm die Lust vergeht, sich mir zu nähern) oder ganz unpersönlich auf seinen Gruß antworten (damit er den Eindruck bekommt, er hätte mich gestern nur geträumt)? Vor allem aber wollte ich hier am Telephon warten, bei den Anzeigen rief mich der vorsichtige Viktor nie an, und bestimmt wird ihm der Gedanke kommen, daß ich bei der Tochter bleiben würde.

Mein Chef hatte am Telephon keinen Muckser getan, daß ich mir den heutigen Tag vom Urlaub abziehen müßte, offenbar glaubte er, ich strafte ihn für seine zudringliche Anmache auf dem Dampfer, und wollte keine weitere Lektion in katholischer Sittsamkeit provozieren; schließlich und endlich, erklärte er großzügig, sei ich stets vor ihm am Platz und ginge erst nach ihm heim (er ahnte nicht, daß ich die allgemeine Teuerung ausglich, indem ich während Gábinas Touren dort bei Berufswärme und Betriebslicht las und dichtete). Schließlich (seit Mitternacht der dritte Versuch) stieg ich in die Badewanne und schlief im Nu darin ein.

Diesmal rettete mich das Klingeln möglicherweise vor dem Ertrinken.

Gábinas Bekannte schliefen am Vormittag aus, meine wußten, daß ich auf Arbeit war, der Anrufer konnte also nur er sein. Ich dachte nicht ans Badetuch, hinterließ eine Wasserspur und machte auch den Hörer naß.

«Ja!»

«Hallo», sagte eine Frauenstimme, «könnte ich mit Frau Tarantová sprechen?»

«Sie meinen Fräulein Tarantová», sagte ich (den prächtigen Namen meines Ehegatten hatte ich längst meiner Nachfolgerin überlassen, die den einstigen Kraftmeier erpreßte, bis er mir leidtat, Gábina hingegen hatte ihn aus Rachsucht behalten, Soll die feine Stiefmutter sich doch grün und blau ärgern!) und dachte ängstlich, man sei meinem Faultier wegen Schmarotzertums auf den Fersen (ein Reflex aus der Zeit der Totalitären).

«Nein, ich meine ihre Mutter.»

«Das bin ich. Aber ich heiße anders.»

«Sind Sie Petra ...?» (Was redet die so seltsam?)

«Ja, wer ist da?» (Halt! Das war doch slowakisch!)

«Ich heiße Králová. (Nein! Sie! Vanessa die Seine!) Ich bin die Frau von Professor Král, Viktor Král, wissen Sie? (Ich weiß, nur weiß ich nicht, was du weißt, und schon gar nicht, was du wissen willst, so daß ich absolut keine Ahnung hab, was ich dir sagen soll! Sie wartete aber meine Antwort nicht erst ab.) Mein Mann hat gestern dringend mit Ihnen sprechen wollen, doch Sie hatten wohl andere Sorgen. Heute früh ist mir klargeworden, daß er sich ein zweites Mal nicht trauen wird, und da habe ich mich selbst dazu entschlossen.»

Stumpf sah ich zu, wie sich zu meinen Füßen ein Wasserfleck auf dem Läufer ausbreitete, ich fand mich im Spiegel genauso wie gestern, als er anrief, und auch die Wanne, die Waschmaschine, das unberührte Bett – falls das immer noch derselbe Traum ist, ist es nicht genug damit?

«Sind Sie da?» fragte sie gleich ihm.

«Ja.»

«Ich habe Sie nicht gehört.»

«Ich habe nichts ... (ich riß mich von diesen Refrains los) ich höre Sie ...»

«Es ist für Sie gewiß ungewöhnlich, so früh von einem unbekannten Menschen gestört zu werden, aber ich habe einen so gewichtigen Grund, daß Sie bestimmt Verständnis dafür hätten. Ich rufe ohne Viktors Wissen an und bitte Sie dringend um ein Treffen.»

Da haben wirs! Sie wird mich auffordern, ihr nicht den Gatten und ihrem Kunigundchen (nie hab ich den Namen wissen wollen) nicht das Papilein zu stehlen. Sie wissen selber, wird sie mir sagen (falls er ihr von der Nacht berichtet hat), wohin das führt ...

«Ich halte Sie nicht länger als eine halbe Stunde auf», fuhr sie eindringlich fort, als drehte sie mir eine Lebensversicherung an, «glauben Sie mir, es hängt ungemein viel davon ab, ich weiß, daß Sie ihm sehr nahegestanden haben ...»

Dieses betonte Perfekt brach den Zauber, mit dem sie mir per Draht Saft und Kraft genommen hatte, meine Starre wich dem Entschluß, den angebotenen Waffengang anzunehmen, gut, wenn du willst, dann führ ich dir nicht nur vor, warum ich ihm nahegestanden habe, sondern warum ich ihm weiter nahestehe und immer nahestehen werde, falls ich es mir nicht freiwillig anders überlege! Es ging auf neun, Gábina wacht nicht vor Mittag auf, ich brauche eine Stunde, um wie ein Phönix aus der eigenen Asche zu steigen.

«Ich kann um halb elf im Slavia sein.»

Ich gedachte, das Café mit gebührender Verspätung zu betreten, damit sie gewahr werde, wie sich die Hälfte der Männer nach mir umdreht (ein weiteres Zeichen meines Abstiegs).

«Ginge es nicht irgendwo im Park ...? (Ehe ich mich widersetzen konnte, stimmte sie zu.) Gut! Wo ist das? (Dann kennt sie Prag überhaupt nicht? Meine Erklärung unterbrach sie jedoch.) Ach, ich weiß schon ungefähr. Und wie erkennen wir uns?»

Du erkennst mich daran, hatte ich Lust zu sagen, daß ich seinen Skalp am Gürtel trage!

«Ich werde einen dunkelroten Pullover anhaben», sagte ich und fragte mit Absicht nicht, wie ich sie erkennen sollte.

Im Winter hatte er ihn mir aus London mitgebracht, so mächtig und grobgestrickt, daß er fast auch ohne mich Form hielt. Ja! hatte mein Liebster mir dazu erklärt, er hat mich an eine Rüstung erinnert, ich wollte, daß er deine Schätze für mich schützt! so romantisch sprach er und drückte mich herrlich an sich, während draußen das Taxameter für die Fahrt zu seiner Jüdin tickte. Ich blieb allein mit dem Pullover, und es fiel mir nichts Besseres ein, als das kratzige Ding wie ein Büßerhemd über den bloßen Leib zu ziehen und dem Mann, der in diesem Augenblick bestimmt auch seine Angetraute beschenkte (und umarmte), die ewige Treue zu schwören, die ihn mir schließlich für immer zurückbringen würde.

Ja nun: Versprechen – Verbrechen, Wahrheit – Narrheit, ich stand nicht einmal diese lächerliche Prüfung auf die kurze Dauer durch, und nun begebe ich mich in dieser nutzlosen Brünne auch noch zu einem Rendezvous mit der Frau des gerade frisch betrogenen Spenders, um ...

Um was eigentlich??

Aber natürlich: um ihn dem Schoß der Familie zurückzugeben, der ich ihn ums Haar entführt habe. Meine Pein wird barmherzig gelindert durch das selige Gefühl, daß ich die Kraft gefunden habe, einer Todsünde zu widerstehen und damit dem Teufel selbst. Endlich wird mir dann die Pforte aufgetan, die zu durchschreiten ich begehrt habe, seit ich mich erinnern kann, doch zu allem hat eine verkommene weltliche Macht sie mir verrammelt. (Geh in ein Kloster, Ophelia! Ja, ich werde gehen und nicht den Verstand verlieren, im Gegenteil, ich werde das Heil erlangen.)

Das darf es schon wieder geben, die gottesfürchtigen und nützlichen Orden, die man so sehr zur Ader gelassen hat, warten auf neues Blut, und meines ist immer noch frisch genug. Christus habe ich von Kindesbeinen an geliebt, noch weit vor Viktor und sogar vor meinem schönen jungen Ehegatten (für Ihn habe ich mein erstes Gedicht geschrieben: ‹Lieber Gott, ich flehe Dich auf Erden/laß mich Deine Schwiegertochter werden ...›), höchste Zeit, daß ich Seine Braut werde. Ihm werde ich jetzt treu sein bis zum Tode, und Er wird mich vor dieser idiotischen Welt bewahren, wird seinem verlassenen und verwirrten Schaf Petra Márová den Frieden bringen.

Ich legte ruhig und hochbefriedigt den Hörer auf, badete ohne Panik zu Ende, zog mich an (es blieb auch so bei dem herausfordernden Pullover, sie sollte nicht den Eindruck gewinnen, daß ein armseliges Wesen vor ihr kapitulierte), kämmte und schminkte mich (puderte auch den rubinroten Knutschfleck, obwohl er verborgen blieb), so daß ich besser aussah als kaum je zuvor. In andauernder Hochstimmung betrat ich pünktlich um halb elf das Lokal, ohne Nervosität und ohne jegliche Ansprüche. (Nach dem befreienden Entschluß war mir kein Mensch mehr eine Show wert.)