Überleben im Alltag - Rolf W. Meyer - E-Book

Überleben im Alltag E-Book

Rolf W. Meyer

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Wir leben in einem Zeitalter der Ratlosigkeit. Schnelllebigkeit und Reizüberflutung im Alltag, der Zerfall von sozialen Strukturen und das geradezu leichtgläubige Vertrauen auf die Allmacht moderner Technik in unserer hochkomplexen Zivilisation stellen die heutigen Menschen vor immer neue Probleme. Dies erklärt die weltweit zu beobachtende Zunahme physischer und psychischer Erkrankungen bei den Mitmenschen. Dabei spielt nicht nur die schnelle kulturgeschichtliche Entwicklung in der Epoche einer profitorientierten Globalisierung eine häufig nachteilige Rolle. Es fehlen außerdem kompetente Instanzen, die auf sozial-globale Probleme nachhaltig Einfluss nehmen könnten. Das Zusammenleben in den heutigen "Mega-Sozialverbänden" macht ständige Strategiewechsel erforderlich. Es betrifft jeden von uns als Stadt- und Landbewohner, da immer mehr Herausforderungen im Alltag bewältigt werden müssen. Welche Strategien für das Natur- und Kulturwesen Mensch wichtig sind, um im Alltag überleben zu können, wird in diesem Buch beschrieben. Diese Anpassungsfähigkeiten beruhen auf der Grundlage angeborener und erworbener Verhaltensweisen.

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Rolf W. Meyer

Überleben im Alltag

oder

Welche Strategien für dasSozialwesen Mensch wichtig sind

Impressum

Rolf W. Meyer

Überleben im Alltag

Copyright: © 2019 Rolf W. Meyer

Konvertierung: sabine abels | e-book-erstellung.de

published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de

Für Ingrid, Imke und Jan Christian sowie für jene Mitmenschen, die durch ihr positives soziales Verhalten mit dazu beitragen, das Zusammenleben auf der Erde friedlich zu gestalten.

„Es ist nicht die stärkste Spezies die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“

Charles Darwin (1809–1882), britischer Naturforscher

Vorwort

Wir leben in einem Zeitalter der Ratlosigkeit. Die sozialen Probleme, die im hohen Maße Störungen des gesellschaftlichen Lebens mit sich bringen, verstärken sich weltweit immer mehr. Das hat mehrere Gründe. Die schnelle kulturgeschichtliche Entwicklung, besonders im Zeitalter der profitorientierten Globalisierung, stellt die Weltbevölkerung vor gewaltige Probleme. Denn der menschliche „Steinzeitkörper“ hat sich an die Herausforderungen der modernen „Zivilisation“ kaum anpassen können. Dazu muss man wissen, dass im weitaus größten Zeitraum seiner Stammes- und Kulturgeschichte der Mensch ausschließlich als Jäger und Sammler in überschaubaren Sozialverbänden gelebt hat. Seit der Sesshaftigkeit in der Jungsteinzeit hat er seine natürliche Umwelt tiefgreifend umgestaltet. Unser Alltagsleben wird heutzutage von hochentwickelter Technik und in immer stärkerem Maße von „megaurbanen“ Regionen geprägt. Hinzu kommt, dass es an kompetenten Instanzen mangelt, die auf die sozial-globalen Probleme nachhaltig Einfluss nehmen könnten. Die politisch Verantwortlichen sind kaum in der Lage, wirklich wirksame Lösungen zu entwickeln, die den stammesgeschichtlichen Wurzeln der Menschen gerecht werden. Der Grund dafür liegt in deren politischen Denkmustern, die ideologisch ausgerichtet sind, und in deren kurzzeitstrategischen Handlungsweisen.

Die Veränderungen im Hinblick auf Gesellschaftsstrukturen lässt sich an folgenden Beispielen aufzeigen: Die „offene Gesellschaft“ ist ein Gesellschaftsmodell des Philosophen Karl R. Popper (1902–1994), das in der Tradition des Liberalismus steht und die „kritischen Fähigkeiten des Menschen“ zum Ziel hat. Der Begriff „Wissensgesellschaft“ bezeichnet ein Gesellschaftssystem in hochentwickelten Ländern, in dem „individuelles und kollektives Wissen und seine Organisation vermehrt zur Grundlage des sozialen und ökonomischen sowie des medialen Zusammenlebens werden.“ [Zitiert nach Wikipedia] Der Ökonom und Soziologe Oliver Nachtwey deutet eine Gesellschaft, in der das Normalarbeitsverhältnis erodiert, der Rückbau sozialstaatlicher Sicherungen stattfindet, das Anwachsen des Prekariats und das Schrumpfen der Mittelschicht sich abspielt, als „Abstiegsgesellschaft“. Es gibt allerdings auch abschätzige Bezeichnungen für Gesellschaftsformen wie „Darstellungsgesellschaft“ und „Palavergesellschaft“.

Unsere frühzeitlichen Vorfahren, die sich vor 300.000 Jahren in Afrika als Homo sapiens sapiens (auch anatomisch moderner Mensch genannt) entwickelt hatten, lebten in kleinen, gut aufeinander abgestimmten Sozialverbänden auf der Grundlage von Kooperation. An sie wurden hohe Anforderungen gestellt. Die frühzeitlichen Menschen, die über Sozialstrukturen und Intelligenz verfügten, hatten Verhaltensweisen entwickelt, die wir als steinzeitliches Erbe heutzutage auch noch anwenden müssen. Dies lässt sich auch von den Neanderthalern sagen. Daher wird auch ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet.

Das Zusammenleben in den heutigen „Megasozialverbänden“ erfordert ständige Strategiewechsel. Es betrifft jeden von uns als Stadt- oder Landbewohner, da immer mehr Herausforderungen im Alltag bewältigt werden müssen. Welche Strategien für das Natur- und Kulturwesen Mensch wichtig sind, um im Alltag überleben zu können, wird in diesem Buch beschrieben. Diese Anpassungsfähigkeiten beruhen auf der Grundlage angeborener und erworbener Verhaltensweisen. Von einigen Idealvorstellungen bezüglich des Menschen und menschlicher Gesellschaftsformen sollte man sich allerdings trennen:

Nach Aussage des Primatologen Jürgen Lethmate „ist der Mensch körperlich, sozial-emotional und geistig nur als Produkt der Primatenevolution zu begreifen.“

Eine selbstlose Gesellschaft nach sozialistischem bzw. kommunistischem Muster lässt sich nicht verwirklichen. Aus evolutionärer Sicht betrachtet kann Sozialismus nicht funktionieren, „weil seine ökonomische Belohnungsstruktur der menschlichen Natur zuwiderläuft.“ (Zitiert nach Frans de Waal) Daher gibt es auch keine soziale Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft („Dem einen wird etwas weggenommen, damit es anderen gegeben werden kann.“)

Gesellschaften sind heterogen. So gibt es beispielsweise Mitmenschen mit „dissozialen Persönlichkeitsstörungen“, urbane Einzelkämpfer, Modernisierungsverlierer, Mitmenschen aus bildungsfernen Schichten und Vertreter der „Generation Beziehungsunfähig“ (Michael Nast). Diese Mitmenschen machen im Grunde nur eins: Sie wenden betriebswirtschaftliche Prinzipien auf ihr Privatleben an.

Das Zusammenleben in „multikulturellen Gesellschaften“ kann nur dann gelingen, wenn die kulturellen und intellektuellen Ressourcen ihrer Mitglieder in gegenseitigem Verständnis und zum Nutzen aller eingebracht werden.

Dass in modernen Gesellschaftsformen immer mehr physische und psychische Erkrankungen bei Mitmenschen zu beobachten sind, hängt damit zusammen, dass unsere biologische Evolution mit unserer kulturellen Evolution einfach nicht mehr Schritt halten kann. Daniel E. Lieberman spricht von einer „Missevolution“.

Nach Ansicht des Ethnologen („Völkerkundler“) Paul Roscoe hat die Entwicklung des menschlichen Gehirns „nicht nur unsere kognitiven Kapazitäten allgemein erweitert, sondern auch unsere Fähigkeit, Gewalt zu organisieren, sie als strategisch-politisches Mittel einzusetzen und die Emotionen anderer Menschen zu manipulieren.“

Um in einer menschlichen Gesellschaft überleben zu können, ist es sinnvoll alle Verhaltensweisen anzuwenden, die dem Abbau von Aggressionen dienen. Neben der Ausübung von Begrüßungs- und Beschwichtigungsgesten sollte man auch stets bemüht sein, durch Aktivierung anderer Funktionskreise eine Verminderung von Spannungen zu erreichen. Dies wird beispielsweise bewirkt bei der Ausübung der Gastfreundschaft bei gemeinsamen Essen und Trinken, bei gemeinsamen Spielen und bei der Durchführung verschiedener Sportarten.

Als Homo sapiens sapiens („Der besonders kluge Mensch“) besitzen wir die Fähigkeit, unser Handeln auf Einsicht aufzubauen und über unsere Umwelt und über uns selbst nachzudenken. Durch das Vermögen sich zu erinnern, sich die Zukunft vorzustellen, zu planen und sich mitzuteilen, kann jeder von uns sein Schicksal in starkem Maße selbst steuern.

Nebenbei bemerkt: In diesem Buch wird nur stellenweise ein geschlechterbewusster Sprachgebrauch angewandt. Aus rationalen Gründen wurde bei der Erstellung des Manuskripts auf ein durchgehendes Gendering („Vergeschlechtlichung“) durch Verwendung des Binnen-I und dem sogenannten Gendergap sowie dem Gender-Star verzichtet. Als Autor möchte ich aber betonen, dass sich Personenbezeichnungen im Maskulinum nicht nur auf Männer, sondern auf beide Geschlechter gleichermaßen beziehen. Ermutigt wurde ich durch die Aussage der Feministin Alice Schwarzer: „Es muss Sprache bleiben und darf sich nicht in abstrakten Zeichen wie Sternchen und Unterstrichen verirren.“

Liebe Leserinnen und liebe Leser, es lohnt sich nun, das Buch konsequent bis zum Ende zu lesen. Aufgrund der Plastizität Ihres Gehirns werden Sie nach der Lektüre eine neue Persönlichkeit sein.

Ihr Rolf W. Meyer

1. Ein kurzer Abriss zur Entwicklungsgeschichte des Menschen

Die moderne Identität des Menschen von heute, die ein genetisches und anatomisches Mosaik aufweist, ist das Ergebnis von zwei Millionen Jahren Migration. Daher beschäftigen wir uns in diesem Kapitel zunächst mit der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Natur- und Kulturwesens Mensch.

Die Entwicklungsgeschichte der Vormenschen- und Menschenformen (Hominini) begann in Afrika. Dafür waren Veränderungen der natürlichen Umwelt mit ausschlaggebend. Klimaveränderungen, die sich vor neun bis sieben Millionen Jahren ereigneten, führten dazu, dass der tropische Regenwald auf dem afrikanischen Kontinent immer mehr schrumpfte. Es bildeten sich offenere Seen- und Flusslandschaften, die bereits Hominine auf zwei Beinen durchstreiften. Die Entwicklung des aufrechten Ganges (Bipedie) erwies sich als sehr vorteilhaft. Vor dreieinhalb bis zwei Millionen Jahren wurde das Klima in Afrika allmählich kühler und trockener, allerdings unterbrochen von wärmeren Phasen. Verschiedene Hominine entwickelten unterschiedliche Anpassungen (Adaptionen) an die jeweiligen Lebensbedingungen. Ihre Lebensräume (Habitate) waren Savannen, Wälder, Waldränder oder Uferzonen. Die Nahrung bestand aus Gräsern, Früchten, Knollen oder Insekten. Die unterschiedlichen Anpassungen der Homininen an die jeweiligen Umweltbedingungen zeigten sich in ihren unterschiedlichen körperlichen Erscheinungsformen.

Je besser ein Individuum körperlich und im Hinblick auf seine Verhaltensweisen an seine Umwelt angepasst war, desto größer waren seine Überlebenschancen. Das Nahrungsangebot wurde effektiver genutzt, so dass sich das Individuum besser ernähren konnte. Gegenüber Feinden und Fortpflanzungskonkurrenten konnte man sich wirksamer behaupten, so dass die Erfolgreichsten meist auch besonders viel Nachwuchs hatten (Fitness-Maximierung). Dadurch konnten sich ihre Erbanlagen (Gene) allmählich durchsetzen.

Die Entwicklungslinie der Gattung Mensch (Homo) begann nach gegenwärtiger Erkenntnis vor 2,5 Millionen Jahren mit der Artenvertretung Homo rudolfensis („Mensch vom Rudolfsee“). Dieser war offensichtlich in der Lage, mit scharfkantigen Abschlägen Kadaver zu zerlegen. Vor 2,3 Millionen Jahren entwickelte sich Homo habilis („fähiger Mensch“). Er besaß nicht nur handwerkliches Geschick sondern auch das erforderliche Erinnerungsvermögen, um aus zerschlagenen Geröllen scharfkantige „Steinmesser“ (Chopper) herzustellen.

Als vermutlich direkter Nachfahr von Homo habilis erschien vor fast 2 Millionen Jahren Homo ergaster („Handwerker-Mensch“) in Afrika. Sein handwerkliches Geschick machte es ihm möglich, den Faustkeil als neuartiges „Universalwerkzeug“ zu entwickeln.

Homo erectus („aufrechter Mensch“) hatte sich vor etwa 1,6 Millionen Jahren aus Gruppen des Homo ergaster entwickelt, die damals von Afrika aus nach Europa und in den Fernen Osten eingewandert waren. Vor mehr als 600.000 Jahren ging in Afrika aus dem Homo ergaster eine neue Art hervor, der Homo heidelbergensis. Diese frühzeitliche Menschenform wanderte von Afrika aus bis nach Europa. Aus ihm hat sich vor 200.000 Jahren der klassische Neanderthaler (Homo sapiens neanderthalensis) entwickelt. Die in Afrika verbliebene Population des Homo heidelbergensis verbreitete sich über den ganzen afrikanischen Kontinent. Aus ihm hat sich vor 300.000 Jahren der Homo sapiens sapiens („besonders verständiger Mensch“, auch „anatomisch moderner Mensch“ genannt) entwickelt. Dieser Menschenform gelang es als Einzige in der Entwicklungsgeschichte der Homininen alle Kontinente der Erde zu besiedeln – allerdings mit zunehmend verheerenden Auswirkungen für den blauen Planeten Erde. Kein anderes Lebewesen auf der Erde greift so zerstörerisch in den Naturhaushalt dieses Planeten ein, der für den Menschen aber seine Lebensgrundlage darstellt. Der moderne Mensch entwickelt sich immer mehr zum Homo rapiens („verwüstender Mensch“).

Die Evolution des Gehirns war ausschlaggebend

Die Vergrößerung des Gehirns erwies sich in der menschlichen Evolution als ein entscheidender Impuls. Allerdings benötigte dieses universell nützliche Organ auch große Mengen an Nahrungsenergie und eine besondere Durchblutung. Je intelligenter die ursprünglichen Savannenbewohner wurden, desto wirksamer nutzten sie auch weit verstreute Nahrungsressourcen. Durch die Sprachfähigkeit entstanden neue Formen des Sozialverhaltens. Biologische Voraussetzungen der Sprachfähigkeit sind eine ausreichende Gehirngröße sowie besondere Ausbildungen von Rachenraum und Kehlkopf. Durch Sprache wurde es möglich, das ständig anwachsende Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Mit dem Gehirnwachstum nahmen auch weitere Fähigkeiten der Frühzeitmenschen zu: die Wahrnehmung des Lebensraumes und die Informationsspeicherung. Der Austausch von Informationen erwies sich als sehr vorteilhaft für das Zusammenleben in den Sozialverbänden. Mit Hilfe des Gehirns entstand ein kulturelles System der Informationsspeicherung mit einer ungeahnten Ausbaufähigkeit.

Für menschliche Gemeinschaften sind Verwandtengruppen, die über die Kleinfamilie hinausgehen, charakteristisch. Die Gruppengröße dieser kleinsten sozialen Einheiten umfasste bei frühzeitlichen Jägern und Sammlern weltweit durchschnittlich etwa 25 Individuen. Kleingruppen bildeten den Grundstein der kulturellen Entwicklung des Menschen.

Durch die Sesshaftwerdung änderte sich das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt

Nach dem Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren setzten Klimaveränderungen ein, die unseren heutigen Bedingungen weitgehend ähnlich sind. Das Klima der Erde erfuhr eine Phase außergewöhnlicher Stabilität. Jagen und Sammeln, die bis dahin über 2 Millionen Jahre hinweg erfolgreiche Lebensform, verlor rasch an Bedeutung. In Verbindung mit der Sesshaftigkeit wurde, unter Veränderung natürlicher Lebensbereiche, durch die Domestikation von Pflanzen und Tieren Vorratswirtschaft durch Ackerbau und Viehzucht ermöglicht („Neolithische Evolution“). Regionen, in denen dies stattfand, war der Vordere Orient, Südostasien, Nordchina (Gebiet des Gelben Flusses, Huang He) sowie Mittel- und Südamerika.

Die erwirtschafteten Nahrungsüberschüsse ließen die Bevölkerung schnell anwachsen – ein Prozess, der sich immer mehr beschleunigte. Aus der Jagdgemeinschaft von weitgehend gleich berechtigten Sozialpartnerinnen und Sozialpartnern entwickelte sich eine hierarchische Gesellschaft, die Macht nach innen und außen ausübte. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte nahmen auch kriegerische Auseinandersetzungen zu.

Im Laufe seiner Kulturgeschichte hat der Mensch fünf Grundtypen von sozialen Systemen entwickelt, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein noch nebeneinander bestanden: gleichberechtigte Jäger- und Sammler-Gruppen, einfache ackerbautreibende Kleingruppen ohne formelle Führerschaft, Häuptlingstümer, Königstümer und Staaten. In den Jäger- und Sammler – Gruppen wechselte die Führerschaft, wobei sie durch persönliche Autorität sowie soziales Geschick entstand. Diese flexible Hierarchie ermöglichte schneller auf Veränderungen des Umfeldes zu Gunsten des Sozialverbandes reagieren zu können. Mit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht wurde Führerschaft immer genauer geregelt. Dies hatte zur Folge, dass die Zunahme politischer Macht schließlich in der Herrschaft von Wenigen über die Gemeinschaft mündete. In demokratischen Staaten der Gegenwart unterliegt Führerschaft, wie zu Beginn der Menschwerdung, wieder der Kontrolle durch alle Mitglieder der Gesellschaft.

2. Überlebensstrategien der Neanderthaler

Dieses Kapitel befasst sich mit dem Alltagsleben des Frühzeitmenschen Neanderthaler (Homo sapiens neanderthalensis), der das Ergebnis einer langen Evolution war und dessen Gene sich im Genom (Gesamtheit der Gene) heutiger Europäer und Ostasiaten befinden. Viele Verhaltensweisen der Neanderthaler sind ohne weiteres vergleichbar mit denen der heutigen Menschen. Als Mensch der Eiszeit und Zwischeneiszeit musste der Neanderthaler enorme Leistungen für sein Überleben vollbringen. Um den vielseitigen Anforderungen ihrer Umwelt gegenüber gewachsen zu sein, war für die Neanderthaler ein größerer Sozialverband zwingend erforderlich. Dies setzte jedoch eine soziale Rangordnung und damit in Verbindung eine Arbeitsteilung voraus. Die Neanderthaler waren in der Lage verbal miteinander zu kommunizieren. Schon die Jagd auf Großwild erforderte eine gemeinsame Abstimmung zwischen den Jägern, die nur durch Sprache denkbar ist.

Wie können wir uns das Erscheinungsbild der Neanderthaler vorstellen? Sie besaßen ein Gehirn, dessen Volumen mit etwa 1700 ccm deutlich über dem Durchschnitt der modernen Menschen lag. Der große Gehirnschädel mit seinen starken Überaugenwülsten war lang und abgeflacht, das Hinterhauptsbein nach hinten ausgezogen, die Nase nach vorne verlängert. Sowohl die Augenhöhlen als auch die Nase waren relativ groß. Auffällig war das fliehende Kinn. Im Gegensatz zu den großen Schneidezähnen waren die Backenzähne relativ klein. Die Neanderthaler, die im eiszeitlichen Europa etwa 1,65 m groß waren, wiesen einen starken und kompakten Körperbau auf. Zudem besaßen sie besonders dickwandige Knochen. Mit ihren Muskelpaketen waren sie um die Hälfte stärker als moderne Menschen. Die geringe Körpergröße der Neanderthaler deutet darauf hin, dass sie in kalten Klimabereichen gelebt haben. Begründung: Durch die Verkleinerung der Körperoberfläche im Verhältnis zum Körpervolumen geht weniger Körperwärme verloren.

Das Leben der Neanderthaler war hart. Die Lebenserwartung lag bei höchstens 40 Jahren. Es herrschte eine sehr hohe Kindersterblichkeit. Dass die Neanderthaler sprechen konnten, belegt (neben dem genetischen Nachweis des Sprachgens FOXP2) der Fund eines fossilen Zungenbeins eines Neanderthalers in der Höhle von Kebara in Israel im Jahre 1983. Der altdeutsche Ausdruck „Bein“ ist gleichbedeutend mit Knochen. Dieser hufeisenförmige Knochen, der sich zwischen Unterkiefer und Kehlkopf befindet, gibt Aufschluss über den Bau des Stimmtraktes. Das Zungenbein stellt den Ansatzpunkt für die Zungenmuskulatur dar.

In Shanidar (Irak) fand man das Skelett eines Neanderthaler-Mannes, der besonders unter Krankheiten und Verletzungen schwer zu leiden hatte. Dass er trotz schwerer Behinderungen lange Zeit überleben konnte, lässt sich nur mit der Fürsorge durch Mitglieder seines Sozialverbandes erklären. Rituale spielten bei den Neanderthalern nicht nur bei der Jagd eine Rolle. Sie entwickelten auch so etwas wie religiöse Vorstellungen: Sie bestatteten ihre Toten und gaben ihnen Grabbeigaben mit.

Die Größe eines Sozialverbandes bei den Neanderthalern wird sicherlich von einer Reihe von Faktoren abhängig gewesen sein. Die Sozialgruppe musste überschaubar sein und eine gut organisierte innere Struktur besitzen. An den Ranghöchsten werden Anforderungen gestellt worden sein, die auch in der heutigen Zeit noch immer ihre Bedeutung haben: Informieren, Instruieren, Ziele vereinbaren, Planen, Koordinieren und Motivieren. Mitentscheidend für die Überlebensfähigkeit der Gruppe wird auch der Anteil von Frauen als wertvolle biologische Ressourcen und damit Trägerinnen des Lebens gewesen sein. Außerdem hing es von den Jagd- und Sammelerträgen ab, ob alle Mitglieder des Clans ausreichend ernährt werden konnten. Man kann davon ausgehen, dass sich bei bestimmten Umweltbedingungen Familien zusammenschlossen, um bessere Überlebenschancen zu haben.

Sozialpartner und Sozialpartnerinnen, die verletzungsbedingt nicht mehr an Jagd- und Sammelaktivitäten teilnehmen konnten, waren im Hinblick auf die Arbeitsteilung für die Sozialgruppe trotzdem unentbehrlich. So zerschlugen sie Knochen, um an das wertvolle Knochenmark zu gelangen. Es war als Nährstoff besonders begehrt. Sie konnten auch Fleisch und Sehnen von Tierkörpern entfernen, wobei sie ihre Zähne zum Festhalten des Materials einsetzten. Die Zähne ersetzten dabei eine Hand. Die Sehnen wurden bevorzugt dazu verwendet, um etwas zu umwickeln oder zusammenzuhalten.

Wie Verhaltensstudien bei Naturvölkern gezeigt haben, werden Säuglinge und Kleinkinder bis zu einem Alter von etwa 3 Jahren überwiegend gestillt. Sie sind ständig in einem engeren körperlichen Kontakt zu ihrer Mutter oder zu anderen betreuenden Personen. Die erwachsenen Gruppenmitglieder beteiligen sich auf ihre Art und Weise an der Betreuung von Kleinkindern. Durch den Umgang mit Erwachsenen erlernen die Kinder die Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben in einem Sozialverband wichtig sind. Das soziale Netz, in dem sie eingebunden sind, stellt für sie einen guten Schutz dar. Dieses Szenario lässt sich durchaus auch auf einen Sozialverband von Neanderthalern übertragen.

Wie in jedem größeren Sozialverband werden sich auch bei Neanderthalern unterschiedliche Persönlichkeiten gezeigt haben. So wird es Individuen gegeben haben, die sehr ausgeglichen wirkten, im Gegensatz zu leicht erregbaren Sozialpartnern. Wenn es zu aggressiven Handlungen und Spannungen innerhalb des Sozialverbandes kam, werden sicherlich Individuen aufgetreten sein, die es verstanden haben, zu beruhigen und zu vermitteln. Mitglieder des Sozialverbandes, die bei der Jagd sehr umsichtig handelten und sich kooperativ verhielten, waren für diese Nahrungserwerbstrategie besonders wichtig. Jähzornige und aufbrausende Jagdteilnehmer waren für die Jagdgruppe ein Risiko. Dies traf auch auf ungeduldige Jagdmitglieder zu, die immer wieder ihre Fähigkeiten und körperlichen Kräfte überschätzten. Andererseits war es wichtig, dass ängstliche Individuen durch Sozialpartner aufgemuntert wurden.

Gut vorstellbar ist folgendes Szenario: Während des Tages waren die Mitglieder eines Familienverbandes zwar sehr aktiv, sie wendeten aber nur einige Stunden tagsüber zur Nahrungsbeschaffung auf. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachten sie damit, am Lagerfeuer zu sitzen. Denn für die Neanderthaler hatte die Feuerstelle große Bedeutung gehabt. Sie war ein wichtiger Versammlungsplatz für die Gruppenmitglieder. Diese Zusammentreffen nutzten die Neanderthaler, um Werkzeuge oder Kleidung zu reparieren oder neue herzustellen. Im Feuer wurde nicht nur Nahrung aufbereitet und das Holzmaterial der Speere und Lanzen gehärtet, sondern in der Nähe des Feuers wurden auch Rituale gefeiert. Selbst wenn die Dunkelheit kam, gab den Familienmitgliedern das Feuer ein Gefühl der Sicherheit. Wenn sie alle zusammensaßen, tauschten sie Informationen aus und die älteren Sozialmitglieder gaben ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiter. Die Männer sprachen bei dieser Gelegenheit sicherlich auch über eine bevorstehende Jagd. Viele Absprachen mussten dafür getroffen werden. Es kam auf den Ranghöchsten an, vorausschauend zu planen und jedem, seien es die Männer oder die Frauen als Jagdteilnehmer, eine Aufgabe zu übertragen.

Jedes Mitglied des Sozialverbandes musste bereit sein, sich für die Gruppe einzusetzen. Nur so hatte man eine Chance, in der Umgebung, in der man lebte, sich zu behaupten und damit zu überleben. Meist hielten sich die Frauen in der Nähe des Lagerplatzes auf, während die Männer, aber auch kräftigere Frauen (soweit sie nicht schwanger oder unmittelbar mit der Betreuung der Kinder beschäftigt waren), auf die Jagd gingen. Frauen und auch ältere Kinder suchten in der näheren Umgebung nach Essbarem und nach Brennmaterial. Oft mussten sie sich aber auch weit von dem Lagerplatz entfernen, um mehr sammeln zu können. Manchmal brachten die Frauen auch spezielle Kräuter mit, die sie zur Heilung von kranken und verletzten Mitgliedern des Sozialverbandes verwenden konnten.

Nur durch eine mobile Lebensweise konnte der Familienverband seine Nahrungsgrundlagen sichern. Dabei mussten die Sozialpartner als Jäger und Sammler immer wieder an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gehen. Wenn die Männer erschöpft und verletzt von der Jagd zurückkamen, dann kümmerten sich die Frauen um sie. Hatten die Männer sehr erfolgreich gejagt, dann gaben ihnen die Frauen körperliche Zuwendungen. Die Männer liebten dies verständlicherweise, zumal die Frauen sehr einfallsreich waren. Das war sicherlich ein Ansporn für die Jäger, möglichst viel Beute in das Lager zu bringen.

Für eine bevorstehende Jagd war es immer wichtig, Jagdwaffen zusammenzustellen und diese zu überprüfen. Zwischen den Beteiligten der Jagdgemeinschaft waren Absprachen zu treffen, an die sich jeder zu halten hatte. Man musste sich gegenseitig vertrauen können. An den Ranghöchsten wurden besondere Anforderungen gestellt. Solange er das leistete, wurde er auch als Ranghöchster anerkannt. Auf ihn kam es an, seine Jagdpartner gut auf die Jagd einzustimmen und seine Erfahrungen einzubringen. Die Jagenden werden sich der gefährlichen Situation bewusst gewesen sein, der sie ausgesetzt waren, wenn sie Großwild wie zum Beispiel ein Mammut jagten. Da die Neanderthaler keine ausdauernden Dauerläufer waren, mussten sie versuchen, möglichst schnell und dicht an das Beutetier heranzukommen. Das war allerdings immer sehr risikoreich. Denn die Jägerinnen und Jäger konnten sich schwere Verletzungen im Kopf- und Nackenbereich und an den Armen und Beinen zuziehen.