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Du hast durch deine Magie 1.000 Mal den Tod überlistet. 779 n. Chr. beginnt die Prophezeiung, nach der ein Kind 1.000 Mal sterben muss, um den Glauben an die nordischen Götter zu retten. Roland wird zum Gejagten über Jahrhunderte. Er muss ein Artefakt von einem schon lange toten Zauberer finden. André erwacht vom Hals abwärts gelähmt im Krankenhaus. Keine will ihm die Geschichte von 1.000 Mal sterben glauben. Er soll seit seinem vierten Lebensjahr im Koma gelegen haben. Durch Daniel wird das Mumienteam auf André aufmerksam, da er eine Substanz im Blut hat, die auch Okparas Blut ist. Sie gehen Andrés Geschichte auf den Grund. Roland erfährt vom Mumienteam und erscheint im Gästehaus. Nachdem er dem Mumienteam seine Geschichte und von der Prophezeiung erzählt hat, fragt Larissa, ob Okpara lang genug tot war, um dieser Zauberer zu sein.
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Anfang einer Prophezeiung
Andrés Erwachen
Ein normaler Wintermorgen
Daniels Neuigkeiten
Telepathie mit vielen, bringt auch Probleme mit sich
Roland erfährt von der Suche nach dem Duell
Ein unangemeldeter Besuch
Eine verzweifelte Mutter
Wut im Bauch
Andrés Geschichte
Schutzzauber vorbereiten
André kommt zu Besuch
Der falsche Doktor Hesse
Die magische OP
Probleme mit der Atmung
André lernt seinen Vater kennen
Gaffarel und Theogalf sind auf dem Anwesen
Gaffarel und Theogalf arbeiten zusammen
Selket hilft Thor
Mit vereinten Kräften
Hilfe für Echnaton
Geburtstagsfeier im Garten
Das Who is Who der Götter
Charakterliste
Über Autorin
Die Reihe: „Der Traum von einem Leben nach dem Tod“
Band 1: Okpara
Band 2: Die Kristallmumien von Lüneburg
Band 3: Die Tutanchamun Falle
Eine Ägyptologin meinte die Namen, die die Autorin ausgesucht hatte, sind nicht ägyptisch. Leider sind altägyptische Namen schwierig zu merken oder auszusprechen. Die Autorin fand die Namen auf der Online-Seite namen-namensbedeutung.de zwischen den Namen von Pharaonen und ägyptische Götter. Sie hofft, dass sie dem Leser trotzdem gefallen.
In einem sächsischen Dorf an der Grenze vom heutigen Thüringen im Jahre 779 n. Chr.
Das Licht der Morgensonne fiel durch die Ritzen eines kleinen Fensters, das mit Ölpapier verdeckt war. Roland blinzelte verschlafen und gähnte herzhaft. Es roch noch nach dem Regen der letzten Nacht. Das laute Prasseln hatte ihn nicht einschlafen lassen.
Gut, dass ich in den letzten Tagen das Dach repariert habe, dachte der junge Zauberer erleichtert. Der Boden wäre jetzt überall nass und aufgeweicht.
Er strich über die Felldecke und streckte sich vorsichtig. Seine Muskeln schmerzten. Er hatte für die älteren Nachbarn und seine Mutter Holz gehackt.
Gestern habe ich mich doch übernommen, bemerkte er stöhnend. Wie gerne würde ich liegen bleiben, aber ich muss aufstehen. Heute ist es soweit. Hoffentlich werde ich der nächste Dorfzauberer.
Ronja erwartet ihn in ihrer Hütte, die abseits des Dorfes stand.
Seufzend griff er nach seiner Hose, zog sie über die schweren Beine. Er schnallte sich seinen breiten Gürtel mit verschiedenen Beuteln um und schlurfte verschlafen aus seiner kleinen Kammer in den Hauptraum.
Die Feuchtigkeit war wie so oft in die Hütte gezogen. Im spärlichen Licht erkannte er die gemauerte Feuerstelle, die kalt war.
Mutter ist bestimmt schon lange auf dem Feld, ging ihm betrübt durch den Kopf. Sie arbeitet einfach viel zu viel. Wenn ich ihr doch ein besseres Leben bieten könnte. Als angesehener Zauberer könnte ich das, aber dafür müsste ich noch einige Jahre lernen.
Er stieß erneut einen Seufzer aus. Mit den Fingern kämmte er sich durch seine schwarzen, halblangen Haare und den kurzen Bart. Er wusch sein Gesicht mit Wasser aus dem hölzernen Eimer, den seine Mutter wie jeden Morgen an den Eingang gestellt hatte. Den letzten Schlaf rieb er sich aus den Augen. Die Müdigkeit ließ sich trotzdem nicht vertreiben.
Schnell schlüpfte er in seine gefütterten Stiefel, die an der Haustür standen und schnürte die Riemen fest zu.
Heute ist ein wichtiger Tag für mich, erinnerte er sich lächelnd und ging zum Tisch.
Ein nervöses Zucken durchlief seine Hände, während er den Gürtel fester zog.
Unter einem groben Leinentuch lag ein Stück Dörrfleisch, sowie ein Kanten Brot. Auch ein Krug Wasser stand bereit.
Mutter bereitet immer alles für mich vor.
Roland hatte immer Hunger und aß mit großem Appetit. Er liebte das selbstgebackene Brot seiner Mutter sehr und fühlte sich mal wieder schuldig. Sie tat zu viel für ihn und dachte nie an sich.
Wenn ich erst ein bekannter Zauberer bin, mache ich alles wieder gut, versprach er sich und kaute. Die Leute werden mich für meine Künste fürstlich entlohnen.
Er blickte sich um. Ja, dann könnte er sich ein besseres Haus leisten.
Vielleicht sollte ich meine Runensteine befragen, überlegte er und strich über den Lederbeutel mit den aufgestickten Verbindungsrunen und Runenformeln für Glück und Schicksal.
Du hast so geschickte Finger, Mutter.
Er löste den Beutel von seinem Gürtel, öffnete ihn leicht und umfasste ihn locker mit beiden Händen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich und hoffte durch die Runen einen Blick in die nahe Zukunft werfen zu können. Mehr wollte er vom Schicksal nicht erfahren.
Sei günstig für mich, betete er.
Die Steine im Innern bewegten sich und glühten auf. Er spürte ihr leichtes Vibrieren.
Zeigt mir mein Schicksal, dachte er fordernd.
Der Stein mit der Rune, die einem N ähnlich sah, schwebte aus der Öffnung und landete mit einem leisen Klackern auf der Tischplatte.
Roland sah sie verwundert an. Er rieb sich über das Kinn.
„Hagal, hm, bedeutet eine elementare Veränderung“, murmelte er vor sich hin. Das ist etwas zu heftig.
Er seufzte laut und konzentrierte sich weiter. Eine Rune allein nutzte nicht viel.
Ein weiterer Stein erschien aus der Öffnung und gesellte sich zu Hagal. Diese Rune sah wie ein eckiges R mit einem verkürzten Bein aus.
„Rad? Muss ich mich etwa auf eine Reise begeben?“ fragte er gegen die Decke. „Wotan, du kannst doch nicht so grausam sein.“
Er griff sich verzweifelt in die Haare.
Ich kann meine Mutter doch nicht alleine lassen, dachte er besorgt. Das geht nicht. Sie hat doch nur noch mich.
Er schüttelte den Kopf. Bitte Wotan, lass eine bessere Rune erscheinen. Alle guten Dinge sind drei.
Noch eine Rune kam zum Vorschein, die aussah wie ein t mit einem schrägen Querbalken.
„Nein! Ausgerechnet Nyd! Das gefällt mir gar nicht“, rief er entsetzt und schlug frustriert auf den Tisch.
Die Rune Nyd stand für Not oder widrige Umstände.
Was soll denn das?, fragte er sich und stand auf. Das ist überhaupt nicht gut. Ich muss Ronja fragen. Vielleicht hat sie eine bessere Deutung der Runen.
Rolands Herz schlug hart in seiner Brust. „Donar, beschütze bitte meine Mutter.“
Donner rollte draußen über den Himmel.
„Danke, Gott des Donners“, sagte Roland.
Aus einem Korb nahm er sich noch einen Apfel und verließ kauend die Hütte. Er wohnte am Rand des kleinen Ortes, aber die Felder, auf denen seine Mutter arbeitete, konnte er nicht sehen. Sie waren weiter draußen.
Am Himmel hingen schwere, graue Wolken. Ein weiteres Donnergrollen schien ihn zu warnen.
Es wird bald wieder regnen. Donar scheint wütend zu sein, dachte er stirnrunzelnd und seufzte wieder. Kein gutes Omen, wenn der Gott des Donners sich auch noch meldet.
Er machte sich auf den Weg. Der Boden war rutschig.
Hoffentlich muss ich nicht ausgerechnet heute in die weite Welt ziehen. Ich habe nichts vorbereitet. Überstürzt auf eine Reise zu gehen, ist nicht gerade das Beste.
Er wäre zwar bereit bei anderen Magiekundigen seine Ausbildung zu beenden und zu verbessern, aber was würde aus seiner Mutter werden, wenn er das Dorf für eine Weile verlassen musste?
Die Wege zwischen den Gebäuden waren breit genug um mit einem Pferdekarren hin durch fahren zu können. Die meisten Häuser waren aus Stein und Holz gebaut und mit Stroh bedeckt. Aus der Schmiede hörte er die rhythmischen Schläge eines Hammers auf einen Amboss. Ein Huhn huschte vor ihm über den Weg. Nichts schien sich verändert zu haben – dieselben vertrauten Geräusche, derselbe Geruch nach feuchter Erde. Alles war wie immer – und genau das machte ihn nervös.
Roland spürte den Muskelkater bei jedem Schritt.
Der Regen hat den Boden ganz schön aufgeweicht, dachte er, als er beinahe ausgerutscht wäre. Alles verwandelte sich hier in Matsch.
Seine Stiefel waren schon nach wenigen Schritten mit Schlamm bespritzt.
Er grüßte eine rundliche Nachbarin, die vor ihrem Haus eine Ziege melkte.
Eine andere sammelte Eier ein, die sie aus einem Verschlag holte. Irgendwo hinter den Häusern krähte ein Hahn.
Roland wurde im Dorf geachtet, weil er zaubern konnte. Ab und zu bekam er ein paar Münzen oder andere Dinge für seine Dienste zu gesteckt. Schließlich war Ronja schon alt und gebrechlich. Jemand musste sie ersetzen.
Warum ist es heute nicht mystischer als sonst?, fragte er sich verwundert. Ich möchte gern der nächste Zauberer unseres Dorfes werden, aber die Runen sagen etwas anderes.
Er hatte das Dorf durchquert und begab sich auf einen ausgetretenen Pfad, dem er einige Minuten folgen musste, um zu Ronjas Behausung zu gelangen.
Die alte Zauberin schätzte die Abgeschiedenheit und war seit Jahren Rolands Lehrmeisterin.
Im Dorf ist es immer so laut, sagte sie immer. Irgendwann wirst du das auch machen. Magische Energien machen einen empfindlicher für das normale Leben.
Hat sie recht?, fragte er sich.
Aber nicht nur Roland wurde von ihr unterrichtet, sondern auch zwei weitere junge Männer. Theogalf und Erik. Sie stammten aus alt ansässigen Familien und angesehener Leute aus dem Dorf und etwas älter als Roland. Sie waren neidisch und taten alles um ihn bei Ronja schlecht zu machen. Das alte Zauberweib erkannte immer die Wahrheit.
Roland war begabter als die beiden.
Die Magie liebt dich, mein Junge. Die Nornen haben einiges mit dir vor, das spüre ich in meinen alten Knochen, pflegte die alte Frau immer mit einem verschmitzten Lächeln zu sagen.
Haben die Nornen die Rune für mich ausgesucht?
Langsam trat er an die baufällige Hütte heran, in der er in den letzten Jahren so viele Stunden verbracht hatte und der brüchigen Stimme der alten Ronja gelauscht hatte. Die Wände waren mit magischen Symbolen bemalt. An den Fenstern hingen einige Knochen. Im Wind klapperten sie gegeneinander. Nicht alle stammten von Tieren. Ein menschlicher Schädel schwang im Wind wie ein unheilvolles Pendel. Er sollte das Heim der Zauberin beschützen.
Roland hatte dieses Mal das Gefühl aus den Augenlöchern angestarrt zu werden. Er zog die Schultern hoch und ging schnell an ihm vorbei.
Ronja kann bestimmt in die Anderswelt sehen, vermutete er. Ob ich das eines Tages auch kann?
„Ehrenwerte Ronja.“ Er klopfte an und öffnete die windschiefe Tür, die laut quietschte.
Ich hatte mir doch schon vor längerem Reparaturarbeiten an Ronjas Hütte vorgenommen, erinnerte er sich mit einem schlechten Gewissen. Diese Tür schließt seit einer Weile nicht mehr richtig, aber ich habe nichts für sie getan.
Die alte Frau hatte ihn aber ständig mit anderen Aufgaben betraut und meinte, das könnten die jungen Burschen aus dem Dorf machen. Nur bis jetzt war niemand gekommen und hatte etwas in Ordnung gebracht.
„Guten Morgen, ehrenwürdige Ronja“, rief er laut und trat ein.
Die Luft roch stark nach Rauch, der dicht durch die Stube, die Küche und Schlafkammer in einem war, waberte.
Ronja saß in einer Ecke bei einem alten Eisenofen. Die Wärme konnte die Feuchtigkeit nicht ganz aus dem Raum vertreiben.
„Setz dich zu mir, mein Junge!“ Die Stimme der alten Frau war brüchig.
„Wie geht es dir, ehrwürdige Ronja?“, fragte er besorgt.
„Gut“, sagte die alte Frau heiser.
Sie wartete, bis er es sich auf dem Fellbündel bequem gemachthatte. „Du weißt, warum du heute hierher gekommen bist, nicht wahr?“
„Ja, ehrwürdige Ronja“, antwortete Roland aufgeregt und nahm vorsichtig ihre faltigen Hände in seine.
Sie wirkt heute noch zerbrechlicher als sonst, bemerkte er besorgt und wärmte sie.
„Heute entscheidet sich, wer von uns dreien der nächste Zauberer unseres Dorfes wird“, sagte er stolz.
„Wer hat dir denn das gesagt?“ Ronja lachte rau, stand stöhnend auf und humpelte auf ihrem Stock gestützt durch den Raum. „Nein, nein! So ein Unsinn! Alles Unsinn! Die Leute hier sind Unwissende. Dumm! Reden den lieben langen Tag nur Unsinn.“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie wünschen sich einen jungen Mann, der für sie da ist.“ Sie kicherte in sich hinein.
„Aber hast du nicht selbst mal gesagt, dass du einen Nachfolger suchst?“, wollte Roland verwirrt wissen.
„Ja, ja, das habe ich, aber ich weiß, dass es keiner von euch drei sein wird.“ Sie wedelte wegwerfend mit den Armen und stöhnte.
„Ich habe die Runen befragt“, begann Roland. „Hagal, Rad und Nyd!“
Ronja sah ihn stirnrunzelnd an und nickte langsam. „Ja, ich habe die bösen Omen auch gesehen. Am heutigen Tag beginnt die alte Prophezeiung. Zu früh finde ich, zu früh!“
„Was für eine Prophezeiung, ehrwürdige Ronja?“ Roland wurde wachsam.
Er beobachtete jede ihrer Bewegungen. Von einer Prophezeiung hatte er noch nie etwas gehört.
Ronja stöhnte wieder. Trotz der Schmerzen wanderte sie weiter durch den dunklen Raum.
Ihr geht es jeden Tag schlechter, schoss es Roland besorgt durch den Kopf. Wie lange wird sie noch leben?
„Sie besagt, dass in einem Dorf, wo die Leute noch an die alten Götter glauben, innerhalb weniger Jahre drei Magier geboren werden“, begann sie zu erzählen. „Sie sind der Anfang vom Ende unserer Religion.“
Laut atmete sie aus.
„Was? Das werden unsere Götter doch niemals zu lassen, oder doch?“, rief Roland erschrocken und sprang auf. „Warum hast du uns nie etwas davon erzählt.“
„Weil es zu früh war, zu früh“, erwiderte Ronja mürrisch. „Ihr wart zu unwissend, wie die anderen aus dem Dorf. Dumm! Sehr dumm!“
Sie schüttelte wieder den Kopf.
„Aber …“ Roland wollte auf sie zu eilen.
„Setz dich wieder hin und beruhige dich, mein Junge“, sagte sie und seufzte tief. „Einer von ihnen, von euch, wird der Gejagte sein. Von ihm wird man nie etwas hören, weil er im Schatten leben muss, um unseren Glauben über die Jahrhunderte zu retten. Eine schwere Aufgabe. Ja, eine sehr schwere Aufgabe.“
Sie nickte vor sich hin.
„Über Jahrhunderte?“, fragte Roland. „Niemand wird so alt! Wie soll das denn gehen?“
„Oh, wirklich?“ Ronja lachte heiser. „Vielleicht bekommt er die Äpfel der Idun, wie unsere Götter auch. Wer weiß das schon! Es tut mir sehr leid für dich, Junge. Du bist so talentiert.“
Sie sah ihn kurz an und seufzte wieder tief.
„Nur von den Qualen und dem Sterben seiner armen Kinder werden die Leute erfahren“, fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. „Die armen Kleinen. Werden geboren um für unseren Glauben sterben zu müssen. Nicht schön! Gar nicht schön!“
„Wer ist so hinterhältig und tötet unschuldige Kinder?“, rief Roland entsetzt. „Sie sind doch unsere Erben!“
„Ich weiß, ich weiß, aber bald wird ein großer, mächtiger Mann kommen“, sagte Ronja. „Ein Kaiser Karl. Ha! Er wird irgendwann als Karl, der Große, bekannt sein. Pah! Auch er wird unsere Kinder töten. Wegen ihm werden die Köpfe von vielen Unschuldigen rollen. Nur weil sie nicht an diesen Christengott glauben wollen.“ Sie spuckte die Worte regelrecht aus. Ruhelos humpelte sie durch die verrauchte Hütte.
„Das ist ja entsetzlich!“, rief Roland. „Was kann ich tun um das zu verhindern, ehrwürdige Ronja? Soll ich ihn für unser Volk töten?“
„Nein! Bloß nicht!!!“, rief sie erschrocken. „Du kannst gar nichts machen! So ist’s bestimmt – und das Rad der Zeit kennt kein Erbarmen. Leider. Leider!“
Sie hustete heftig. „Er wird unseren Glauben vernichten wollen, weil diese verfluchte, christliche Kirche hinter ihm steht. Dieser scheinheilige Papst will es so. Pah!“
Sie winkte ab.
„Ich weiß, deren Priester wirken oft als würden sie aus Utgard oder Niflheim stammen, so wie sie reden“, sagte Roland. „Sie sind sehr fanatisch, wie besessen. Sie sagen es gäbe nur noch einen Gott. Wie können sie so etwas behaupten?“
Ronja lachte heiser. „Hoho, hüte deine Zunge, mein Junge. Lass dies bloß niemals diese Verblendeten hören!“
Roland nickte traurig und ballte die Fäuste.
Warum lassen sie uns nicht einfach so leben wie wir wollen?, fragte er sich. Wir tun niemanden was.
„Zurück zu unserer Prophezeiung.“ Ronja seufzte. „Ach ja, die armen Kleinen. Sie werden von den beiden Jägern gefunden und getötet werden.“
„Ich werde niemals Kinder töten“, rief Roland aufgebracht. „Keine Prophezeiung kann das von mir verlangen. Niemals!“
Er stand wieder auf und ging auf Ronja zu. Sachte nahm er wieder ihre Hände in seine. „Warum sieht unsere Zukunft so düster aus?“
„In der Finsternis leuchtet der Funke der Hoffnung besonders hell“, erklärte sie leise. „Man kann ihn dann besser sehen.“
Ihre mühen Augen wurden größer.
„Wie meinst du das denn?“, forderte Roland laut.
„Beruhige dich und bitte sei leise!“, flüsterte Ronja. „Diese Kinder werden durch Magie gefoltert bis sie sterben. Eines aber, ja, eines muss 1.000 Mal durch Magie sterben und überleben.“
Sie hob den Arm. „Ja, überleben wird es. Was für Qualen dieses arme Kind ertragen wird, ist unvorstellbar. Ja, unvorstellbar!“
Sie sah ihn traurig an. Tränen standen in ihren Augen. „So etwas wünsche ich keinem. Es wird stark sein. Ja, ja, sehr stark und mutig. Mutiges, kleines Herz!“
„Kinder zu töten ist für einen Magiekundigen unwürdig“, meinte Roland aufgewühlt. „Sie sind hilflos und unschuldig. Wir müssen sie doch beschützen.“
„Ich weiß! Ich weiß.“ Ronja winkte ab.
„Die da …“ Sie zeigte auf Thorgalf und Erik. „… werden es aber anders sehen.“
Der Rauch verzog sich wie ein Vorhang und gab den Blick auf die beiden anderen jungen Zauberer frei.
Roland erschrak. Er hatte die jungen Magier gar nicht bemerkt.
Ronja hat sie vor mir verborgen, dachte er.
„Was ist mit ihnen?“, wollte er wissen und beugte sich über seine Konkurrenten.
„Sie schlafen tief und fest, diese Dummköpfe“, beruhigte Ronja ihn und kicherte irre. „Ich habe sie mit einem Schlaftrunk außer Gefecht gesetzt.“
„Warum?“, fragte Roland. Ein kalter Schauer des Entsetzens rann über seinen Rücken.
„Kannst du es dir nicht denken?“, hakte Ronja nach und berührte ihn am Arm. „Du bist der Gejagte, mein Junge.“
„Die Kinder, die sterben werden, werden die meinen sein“, entfuhr es Roland geschockt und blickte sie flehend an. „Nein, bitte, Ronja, mach doch was oder zeig mir wie es geht, dann tue ich es.“ Er fasste Ronja an den dürren Schultern. „Wie kann ich meine Kinder beschützen?“
„Du wirst sterben, wenn du es versuchst!“, zischte Ronja leise. Sie streichelte liebevoll über seine Hand. „Leider! Leider! Das Kind, das stark sein wird, bekommt Hilfe von einem Zauberer, der schon vor langer Zeit gestorben ist.“
„Wie soll das denn gehen?“, wollte Roland wissen. „Ist es ein Artefakt oder ein Pulver aus seinen Knochen? Ein Stein, den er zu Lebzeiten präpariert hat, oder so was?“
„Das, ja das, weiß ich leider nicht. Mir wird nicht alles offenbart. Leider, leider“, gestand Ronja traurig. „Tote können auf diese Weise keine Lehrmeister sein. Das weißt du genauso gut wie ich.“
Roland nickte betrübt. „Was soll ich denn nur tun?“ Er sah sie verzweifelt an.
„Diesen Zauberer finden, natürlich“, schlug Ronja trocken vor. „Schwierige Aufgabe, ja, ja!“
„Ich muss, ich werde also das Grab dieses Zauberers finden, um meine Kinder beschützen zu können.“ Panik stieg in ihm auf. „Ich töte die beiden hier und jetzt!“
„Nein, nein, mein Junge! Auf keinen Fall!“ Ronja griff nach seinem Arm und zog ihn von den Schlafenden weg. „Denk an unseren Glauben. Er wird mit ihnen sterben und mit dir. In einem Thing würdest du gerichtet.“
Roland sah Ronja hilfesuchend an.
„Meine Kinder würden aber niemals sterben“, erwiderte er.
„Du würdest niemals Kinder haben, Dummkopf“, sagte Ronja eindringlich.
„Mein Leben für viele unschuldige Leben!“, rief Roland.
„Leben, das niemals existieren wird.“ Ronja nahm seine Hand. „Unsere Religion würde für immer aussterben, weil du niemals Kinder haben würdest. Wie du siehst, geht es um so viel mehr. Mögen unsere Götter über dich wachen, mein Junge.“
Ein heftiger Donner hallte über das Dorf.
„Ah, Donar, wird dir beistehen.“ Ronja lächelte erfreut. „Er ist der zweitmächtigste Ase, wie du weißt.“
„Wotan wäre mir lieber“, rief Roland. „Er kennt alle Zauberlieder.“
„Oh, er würde zeitweise ein tückisches Spiel mit dir treiben. Vertraue ihm nicht!“ Tränen rannen nun doch aus ihren alten Augen und liefen über die unzähligen Falten ihrer Wangen. „Mich schmerzt der Abschied.“
Roland blickte betroffen auf den Boden und schüttelte stumm den Kopf.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte er. Ich träume noch!
„Nein, tust du nicht! Verlass sofort unser Dorf, für immer“, forderte Ronja, „und beeil dich! Wenn die beiden dich je erwischen, werden sie dich töten und unser Glaube stirbt mit dir! Geh jetzt! Schnell! Meine guten Wünsche und Gebete werden dich begleiten. Hoffentlich halten sich dann Wotan und Loki die Ohren zu. Nicht, dass sie dir üble Streiche spielen.“
„Ich danke dir für alles, ehrwürdige Ronja“, sagte Roland gepresst und umarmte die alte, gebrechlich wirkende Frau herzlich. Er schluchzte kurz auf.
„Auf deinen Schultern liegt eine große Verantwortung, mein Junge“, meinte Ronja und schluchzte. „Doch dieses Kind, das 1.000 Mal sterben muss, wird mächtig sein. Du wirst es unseren Glauben und unsere Magie lehren.“
„Das werde ich machen, ehrwürdige Ronja“, versprach Roland traurig. „Auf Wiedersehen.“
„Es wird kein Wiedersehen geben“, sagte Ronja mit erstickter Stimme. „Lebewohl, mein Junge.“
Sie strich über seine Wange. „Hier, das ist für dich.“
Sie zog einen silbrigen Anhänger aus dem Ausschnitt ihrer Tunika.
„Das ist doch dein Amulett, Mjölnir, Donars Hammer“, wunderte sich Roland. „Das kann ich nicht annehmen. In ihm steckt viel Magie.“
„Ja, so ist es.“ Ronja legte es in seine Hand und drückte die Finger zu. „Geh endlich, du Dummkopf. Beeile dich! Donar wird dich schützen, wenn es nötig ist. Geh! Sonst muss ich dich aus meiner Hütte prügeln.“
Sie hob drohend ihren Stock. „Ich wünsche dir eine sichere Reise und ein langes Leben, mein Junge.“
„Danke für alles, ehrwürdige Ronja.“ Roland rannte aus der Hütte.
Diese furchtbare Prophezeiung, dachte er verzweifelt. Wie lange werden die beiden noch schlafen? Ich habe kaum Zeit zu packen. Was soll oder muss ich mitnehmen?
Er eilte mit riesigen Schritten durch das Dorf. Viele Dorfbewohner blickten ihm verwundert hinterher.
Roland betrat mit schwerem Herzen sein Zuhause. Ein letztes Mal.
Meine Kinder werden fast alle sterben, ging es ihm traurig durch den Kopf, nur eines, das 1.000 Mal sterben muss, kann erwachsen werden. Es wird allein gegen diese beiden Trottel stehen. Das ist doch Wahnsinn! Ein unschuldiges Kind gegen zwei Zauberer. Kein gerechter Kampf.
Seine Faust krachte auf das grobe Holz – ein dumpfer Knall, gefolgt von Stille. Ich darf und kann ihm noch nicht einmal helfen, dachte er verzweifelt und gurtete sich sein Schwert um. Sehnsüchtig blickte er sich in seiner kleinen Kammer um.
Ich verliere mein Zuhause und werde meine Freunde, meine Mutter niemals wiedersehen, bemerkte er betrübt. Ein trockener Schluchzer drang aus seiner Kehle. Was soll ich alles mitnehmen?
Er sah sich hektisch um und nahm die Felldecke von seinem Bett.
Damit ich nachts nicht frieren muss, überlegte er und rollte es fest zusammen. Hastig sicherte er es mit einem Strick. Essen und Kleidung brauche ich auch. Es darf aber nicht zu viel sein. Nur leichtes Gepäck.
Er packte einen Beutel mit Brot, Käse und Dörrfleisch. Proviant für die ersten Tage seiner unfreiwilligen Reise.
Wie viele Jahrhunderte werde ich auf der Flucht sein?, fragte er sich. Unsere Götter können doch nicht so grausam sein!
Er blickte an die Decke. „Warum tut ihr mir das an?“
Mit schwerem Herzen nahm er den Köcher und Jagdbogen in die Hand und verließ die Hütte.
Nicht umdrehen!, mahnte er sich. Geh einfach! Für immer!
Er verließ das Dorf in Eile und lief zu den Feldern, auf denen seine Mutter arbeitete.
Ich möchte sie ein letztes Mal sehen und umarmen. Bei dem Gedanken wurde ihm schwer ums Herz. Es ist schließlich ein Abschied für immer.
Die Tränen brannten in seinen Augen, aber er zwang sich, stark zu bleiben.
Weinen, mein Sohn, ist Schwäche – das hatte Vater immer gesagt. Etwas für Weiber. Nichts für Männer.
„Roland!“, rief seine Mutter überrascht und erfreut zugleich. Sie rannte auf ihn zu. „Mein lieber Junge. Bist du jetzt unser Zauberer?“
Sie umarmte ihn herzlich. „Ich bin so stolz auf dich.“
„Ich muss fort, Mutter … für immer“, murmelte Roland und senkte den Blick.
„Was?“, rief seine Mutter entsetzt. „Aber warum denn? Du bist doch so viel besser als Theogalf und Erik.“
„Wegen einer alten Prophezeiung“, erklärte er knapp. „Ronja kann sie dir erzählen. Ich bin der Gejagte.“
„Mein armer Junge.“ Seine Mutter strich ihm zärtlich über die Wange. „Ich werde immer stolz auf dich sein.“
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie schluchzte leise – und hielt ihn noch fester.
„Das weiß ich doch. Aber ohne mich bist du ganz allein“, klagte Roland.
„Ja, leider.“ Sie öffnete die Nadel ihrer silbernen Brosche. „Hier nimm sie mit dir und gib sie deinem zukünftigen Kind und grüße es von mir.“
„Aber Mutter, das kann ich nicht annehmen“, wies er das Geschenk zurück. „Sie ist doch dein wertvollster Besitz.“
„Ja, aber du bist mein einziger Erbe, den ich nie wiedersehen werde, stimmt's?“ Entschlossen legte sie ihm die Brosche in die Hand und schloss seine Finger darum. „Lebewohl, mein Sohn! Mach mich stolz, hörst du?“
Wieder hallte Donner über den Himmel.
Als würde Donar mich daran erinnern jetzt aufzubrechen, dachte Roland bitter und blickte zu den Wolken hinauf. Ich habe einfach keine Zeit mehr.
„Ja, Mutter“, sagte er tonlos. „Lebewohl!“
Er drückte sie ein letztes Mal lange an sich, ehe er davoneilte. Er drehte sich mehrmals um, winkte – ein letztes Mal – und sah, wie sie kleiner wurde in der Ferne.
Vielleicht sollte ich durch den Wald fliehen, überlegte er, während seine Füße über den Boden flogen. Die gewaltigen Baumstämme würden ihm bestimmt Deckung bieten – zumindest hoffte er das.
Die gewaltigen Laubkronen verdeckten den grauen Himmel und verschlangen gierig das fahle Licht des Tages.
„Ihr Geister des Waldes – bitte! Helft mir, beschützt mich, segnet meinen Weg!“ Er blickte sich um und verließ den sicheren Pfad. Äste brachen unter seinen Füßen. Er stolperte über den unebenen Boden und verlangsamte seine Schritte. Er wollte sich nicht gleich am ersten Tag das Genick brechen. Dann wäre alles vorbei.
Aus dem Schatten eines mächtigen, alten Baumstamms glitt lautlos eine schlanke Gestalt mit blassgrüner Haut hervor. Auf ihrem Kopf trug sie einen Kranz aus Zweigen. Ihr Kleid schien aus lebendigen Blättern gefertigt. Sie trug keine Schuhe.
„Du bist es … der Gejagte“, flüsterte sie, als hätte sie lange auf ihn gewartet. „Wir, die Baumgeister, werden dir helfen.“
Die kupfernen Reifen an ihren Armen und an ihren Knöchel klirrten aneinander.
Ein großes Irrlicht erschien hinter ihrem Rücken.
„Folge dem Licht – es kennt deinen Weg“, riet sie ihm. „Es wird dich sicher durch unser Reich führen und dir auch einen sicheren Platz für die Nacht zeigen!“
Unter seinen Füßen regten sich Wurzeln, als lebten sie. Starke Äste knarrten.
Die Bäume … sie leben!, schoss es ihm durch den Kopf.
„Keine Angst! Sie werden dir nichts tun“, versprach sie.
„Ich danke dir, Herrin des Waldes“, sagte er.
Sie kicherte. „Ich bin nur eine kleine Dryade, mein Lieber. Ich verdecke deine magische Spur“, erklärte sie. „Los, lauf! Beeile dich!“ Roland lief weiter. Das alte Laub wirbelte hinter ihm auf.
So also wirkte ihr Zauber … das Laub verteilte sich, als wäre er überall zugleich gewesen. Theogalf und Erik würden keine Spur finden – nicht in diesem lebendigen, atmenden Wald.
„Ich danke dir, gute Dryade!“, rief er.
„Gute Reise!“ Ein helles Lachen begleitete ihn eine Weile.
Theogalf stöhnte und rieb sich benommen über die Stirn.
„Ronja, warum hast du mich …“, sagte er mit schwerer Zunge und blickte zu Erik. „… uns betäubt?“
Er hatte einige Schwierigkeiten sich aufzurichten.
„Damit Roland die Gelegenheit zur Flucht bekommt“, erklärte die alte Frau ruhig, aber bestimmt.
Sie wirkte nun viel stärker.
„Er ist schon weg!“, rief Theogalf aufgebracht. „Ugh … mir ist hundeelend. Was war das für ein Zeug, Ronja?“
Er würgte. Mit einem Stöhnen rüttelte er Erik. „He, wach endlich auf, Vetter!“
„Mh? Was ist denn?“ Erik drehte sich auf die andere Seite. „Lass mich weiter schlafen. Es ist noch viel zu früh.“
„Vergiss es, los jetzt – raus aus den Federn, du - Faulpelz!“, rief Theogalf wütend.
„Wie lange ist Roland schon weg?“, wollte er von Ronja wissen. „In welche Richtung ist er gegangen?“
„Ich werde euch nichts verraten“, entschied Ronja mit fester Stimme. Stolz hob sie ihren Kopf. „Findet ihn doch durch eure Magie! Wotan wird euch führen, wenn ihr es wert seid.“
Sie lächelte zufrieden. „Roland konnte euch immer ohne Probleme aufspüren.“
„Roland! Immer wieder Roland.“ Theogalf fasste die alte Frau an beide Schultern und schüttelte sie heftig.
„Ja, verdammt! Das weiß ich alles!“, rief er genervt. „Er war schon immer dein Lieblingsschüler gewesen. Er ist keiner von uns! Erik, reiß dich zusammen!“
Er trat nach seinem Vetter und Freund. „Los, wach endlich auf!“
„Er wurde hier geboren“, erwiderte Ronja ruhig.
„Aber seine Eltern nicht“, schrie Theogalf wütend. „Sie waren Fremde! Somit ist auch er ein Fremder!“
„Die Götter selbst haben sie hierher geführt“, erwiderte Ronja und hob mahnend den Finger. „Du solltest den Willen unserer Götter nicht in Zweifel ziehen, Junge!“
„Ach was. Sie spielen mit uns“, rief Theogalf.
„He, Theogalf, was brüllst du denn so herum?“ Erik richtete sich benommen auf und wischte sich über das Gesicht. „Was ist los? Ist es schon Zeit fürs Essen? Nanu, das ist aber nicht meine Schlafkammer.“
Er blickte sich verwirrt um. „Oh Mann, mein Kopf.“
„Roland ist schon weg!“, rief Theogalf aufgebracht.
„Was?“ Erik stand schwerfällig auf. „Ach, den kriegen wir schon! Das wird nicht lange dauern, Vetter! Wir sind doch gute Jäger.“
Ein gequältes Grinsen zuckte über sein Gesicht. „Mir brummt der Schädel. Ronja, hast du ein Mittel gegen mein Leiden?“
„Nein, übrigens Roland ist in südliche Richtung gelaufen“, log Ronja und lächelte breit.
„Komm Erik! Spätestens morgen früh ist Roland tot“, rief Theogalf triumphierend und rannte aus der Hütte.
Erik taumelte hinter ihm her. „Warte doch, Theogalf. Ich habe das Gefühl, dass der Boden unter meinen Füßen schwankt. Boah, ist mir schlecht.“
Ronja kicherte.
Erik übergab sich hinter der Hütte.
„Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, rief Theogalf über die Schulter.
„Wir müssen hinter Roland her! Und zwar schnell!“
Erik stöhnte und folgte ihm widerwillig.
Einige Dorfbewohner hielten in der Arbeit inne oder traten aus ihren Häusern. Verwundert blickten sie den beiden Zauberern nach.
Ronja stand vor ihrer windschiefen Hütte, das Gesicht dem Himmel zugewandt, und lächelte geheimnisvoll.
„Möge der Wille der Götter eure Sinne trüben“, murmelte sie.
„Großer Donnerer – behüte mir den jungen Roland, unseren letzten Funken Hoffnung.“
Ein grollender Donner fuhr über den wolkenverhangenen Himmel. Regen setzte ein.
Ronja blickte glücklich in die dunklen Wolken. „Du wirst also auf
Roland achten.“
Wieder donnerte es.
„Ich danke dir, großer Donnerer“, rief sie. „Du verwischt seine Spuren.“
Schwere Regentropfen klatschten auf sie herab, doch Ronja rührte sich nicht. Sie begann zu beten, obwohl ihre Kleidung schnell durchnässt war.
Ein Blitz zuckte über den dunklen Himmel und zerschnitt die Dunkelheit mit grellem Licht.
Vor drei Wochen
Etwas Nasses und Warmes berührte sein Gesicht. Mühsam öffnete André die Augen. Das Licht, das durch das große Fenster fiel, blendete ihn. Er blinzelte und bemerkte, dass er nur mit dem rechten Auge sehen konnte.
„Gullveig?“, fragte er verwirrt und heiser.
Er wollte sich bewegen, doch er konnte es nicht.
Was ist los mit mir?, fragte er sich panisch. Was hat Theogalf mit mir gemacht?
„Hallo André“, begrüßte ihn eine Krankenschwester, die ihn gerade wusch. „Schön, dass du endlich aufgewacht bist.“
Sie lächelte ihn freundlich an. „Deine Mama wird sich riesig freuen. Sie besucht dich jeden Tag und liest dir etwas vor.“
„Wo bin ich hier?“, wollte André wissen.
„Im Krankenhaus natürlich“, antwortete die Schwester sanft, fast beiläufig. „Du hast fast sechs Jahre im Koma gelegen. Kannst du dich noch an den schlimmen Unfall erinnern?“
„An was für einen Unfall denn?“ André runzelte die Stirn.
Ich bin doch ständig auf diese blöden Idioten gestoßen, dachte er. Es gab an die 1.000 Unfälle oder eher Morde!
„Du wurdest von einem Auto überfahren“, erzählte die Krankenschwester ruhig. „Niemand kann sich erklären, wie du aus dem Kindergarten herausgekommen bist.“
Theogalf und Erik hatten mich damals mit Magie aus dem Gebäude geholt, erinnerte André sich wütend, aber das war doch nur der Anfang von Grausamkeiten.
„Ich habe nicht im Koma gelegen“, rief André. Er konnte nur leicht den Kopf heben. „Ich wurde immer wieder von zwei verrückten Zauberern umgebracht!“
Er ließ seinen Kopf wieder zurücksinken. Es war einfach zu anstrengend.
„Oh, das musst du geträumt haben.“ Die Krankenschwester lächelte und strich ihm sanft über den Kopf. „Ich wasche dich fertig und ruf gleich deine Mama an, sie wird sich freuen.“
„Warum kann ich mich nicht bewegen?“, wollte er wissen.
„Du wurdest schwer verletzt“, sagte die Krankenschwester. „Du solltest froh sein noch am Leben zu sein.“
„So bin ich Theogalf doch hilflos ausgeliefert, wenn er mich hier findet … dann bringt er mich wieder um!“, rief André panisch. „Bitte … helfen sie mir! Sie dürfen ihn nicht zu mir lassen.“
„Sch! Beruhige dich!“, meinte die Krankenschwester sanft seine Aufregung zu mildern und wusch ihn weiter. „Du bist hier in Sicherheit. Niemand kann dir hier etwas antun.“
André versuchte, sich wieder zu bewegen und stöhnte auf. Schmerzen wanderten seine Wirbelsäule hinauf.
Es fühlt sich an als würde etwas meine Knochen zerquetschen wollen, dachte er besorgt. Wie hat Theogalf das gemacht?
Zwecklos, kleiner Balg. Die Stimme lachte spöttisch in seinem Kopf. Du wirst dich nie wieder bewegen können. Du hättest das nicht tun dürfen.
Wer bist du?, fragte André sich. Ich kenne diese Stimme.
Du bist in meiner Gewalt, für immer, meinte die Stimme amüsiert.
André wurde blass.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein harter Schlag ins Gesicht – das war Theogalf. Seine Stimme. Im Kopf. Nein, das darf nicht sein!
Er wollte schreien, aber er ließ es bleiben.
„André … mein Junge!“ Sabines Stimme überschlug sich vor Freude. Sie eilte an sein Bett und streichelte ihn über die Wange.
„Endlich bist du wieder wach. Ich habe dich so sehr vermisst.“
Tränen liefen über ihr Gesicht. „Ich bin so unendlich froh, mein Schatz.“
Sie küsste ihn auf die Stirn.
Ihre Hände zittern … Was ist los mit ihr?, dachte André beunruhigt und versuchte, sich wieder zu bewegen.
Die Schmerzen um seine Wirbelsäule wurden stärker.
Lass das, André!, zischte die Stimme. „Du willst doch nicht schreien … oder sterben? Deine arme Mami … sie ist ganz nah bei mir.“
„Ich muss hier raus!“, flüsterte er seiner Mutter zu.
„Sie suchen für dich einen Platz in einem Pflegeheim“, erklärte Sabine und begann wieder zu weinen. „Ich … ich kann mich nicht um dich kümmern, weißt du?“
Ihre Lippen bebten. Sie drückte eine Hand auf ihren Mund.
„Wer sagt das?“, wollte André wissen.
„Oh, das hat mir Doktor Hesse gesagt“, erzählte Sabine. „Er ist ein Experte auf dem Gebiet der Psychiatrie. Er wird auch dich behandeln. Er ist wirklich gut.“
„Ich brauche keinen Psychodoc“, rief André wütend. „Ich darf nicht hier bleiben. Mama … bitte, ich flehe dich an!“
„Das kann ich nicht“, sagte Sabine leise. „Ich … ich muss gehen.“
Es fühlt sich an, als würde sie vor mir fliehen, dachte André.
„Geh nicht … bitte!“ Seine Stimme brach. „Ich brauche dich. Lass mich nicht alleine.“
Die Tür fiel hinter ihr zu.
Warum ist sie gegangen?, fragte sich André. Wieso lässt sie mich im Stich?
„Mama!“, rief er verzweifelt. „Bitte! Komm zurück!“
Stunden später öffnete sich leise die Tür. Theogalf trat ein – das triumphierende Lächeln auf seinen Lippen ließ Andrés Blut gefrieren.
„Du?“, rief André. „Hilfe! Ich brauche ganz dringend Hilfe. Er wird mich umbringen. Bitte helft mir!“
„Na, na“, machte Theogalf ruhig und lächelte amüsiert. „Niemand wird dir glauben.“
Er setzte sich neben das Bett und schlug die Beine übereinander. „Ich bin Doktor Hesse.“
„Du bist kein Arzt – du bist ein verdammter Lügner!“, rief André und versuchte, seinen Arm zu bewegen.
Wieder jagten Schmerzen seine Wirbelsäule entlang.
„Lass es lieber bleiben!“, flüsterte Theogalf bedrohlich. „Spar dir die Mühe. Dein erbärmliches Leben wird sich fortan im Bett abspielen.“
„Was hast du mit mir gemacht?“, wollte André wissen.
Eine Krankenschwester eilte ins Zimmer.
„Es ist alles in Ordnung.“ Theogalf stand auf und ging auf die Frau zu. „Er bildet sich nur etwas ein. Lassen Sie uns, bitte, alleine.“
„Wie Sie wünschen, Doktor Hesse“, stimmte die Krankenschwester unsicher zu.
„Nein, gehen Sie bitte nicht. Er hat mich zusammen mit seinem Freund 1.000 Mal umgebracht“, rief André. „Helfen Sie mir!“
Sanft berührte Theogalf die Krankenschwester an der Schulter. Fast beiläufig glitt sein Finger über ihren Hals – absichtlich beiläufig. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen – langsam wich jeder freie Wille daraus.
„Es ist alles in Ordnung“, meinte er ruhig. „Geh und kümmere dich um deine anderen Patienten. Der Junge hat einfach eine blühende Fantasie.“
„Ja, das stimmt. Bis später, Doktor Hesse.“ Sie blickte verträumt an ihm vorbei und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
„Was hast du mit ihr gemacht?“, wollte André wissen.
„Tja, Hypnose ist so ein simpler Trick – aber bei den meisten reicht’s völlig aus. Es ist so einfach Leute zu manipulieren. Ein tiefer Blick und schwups.“ Theogalf schnipste mit den Fingern und lachte. „Sie tun was ich will. Es ist herrlich.“
Er setzte sich wieder hin und lächelte ihn hart an.
„Mich hast du nie hypnotisiert“, erwiderte André stur.
„Bei dir funktioniert es leider nicht“, entgegnete Theogalf mit Bedauern. „Es gibt Leute bei denen es einfach nicht klappt.“
„Gut zu wissen“, stieß André hervor.
„Du wirst dich nie wieder bewegen können“, erklärte Theogalf kalt.
„Das sagtest du schon“, rief André zornig.
„Du hast Erik umgebracht“, warf Theogalf ihm vor. „Dafür habe ich dich bestraft. Vielleicht kommt dein Vater endlich aus seinem Versteck gekrochen um nach dir zu sehen.“
„Ich will ihn überhaupt nicht sehen“, rief André aufgebracht. „Er hat Mama und mich im Stich gelassen. Er ist ein verdammtes Arschloch, genauso wie du.“
„Immer die gleiche Leier. Es wird langsam langweilig.“ Theogalf seufzte laut. „Aber ich werde deinen Vater qualvoll sterben lassen.“
„Das ist mir so was von Scheiß egal!“, schrie André. „Ich kenne ihn nicht.“
„Ich glaube, ich muss die Schwester rufen, damit sie dir eine Beruhigungsspritze gibt“, meinte Theogalf mit gespieltem Bedauern und griff nach einer Fernbedienung. „Du bist viel zu aufgewühlt – das mag ich einfach nicht.“
Er beugte sich lächelnd über André und drückte den Knopf. „Ich zeige dir, wer hier am längeren Hebel sitzt.“
Die Krankenschwester betrat wieder den Raum. „Ja? Was wünschen Sie, Doktor Hesse?“
„Er regt sich viel zu sehr auf“, erklärte Theogalf sachlich. „Geben Sie ihm etwas, damit er sich beruhigt und etwas schlafen kann.“
„Nein, ich will nichts“, rief André. „Schlafen ist bei diesem Idioten zu gefährlich.“
„Sie sehen es ja.“ Theogalf zeigte auf den Jungen. „Beeilen Sie sich, bitte.“
„Natürlich, Doktor Hesse.“ Die Krankenschwester verließ schnell das Zimmer.
André sah seinen Todfeind erschrocken an.
„Ich bestimmte hier die Spielregeln, André. Du musst tun, was ich will“, flüsterte Theogalf. „Wenn du nicht artig bist, dann bekommst du eine Spritze. So läuft das jetzt, klar? Du hättest Erik nicht töten dürfen.“
„Ihr habt mich andauernd umgebracht“, schrie André. „Ich konnte nicht mehr. Er ist selbst schuld. Du hast nur Glück gehabt, dass du zu dem Zeitpunkt nicht in meiner Nähe warst, sonst wärst du jetzt tot, nicht er.“
Theogalf lachte hartherzig. „Und trotzdem wachtest du immer wieder auf, auch als du am Ende schon nicht mehr gerade stehen oder gehen konntest.“
„Ich hasse dich! Du mieses, verdammtes Arschloch!“, schrie André.
Er bekam einen roten Kopf.
Die Krankenschwester kam mit einer Spritze zurück.
„Nein, nicht!“, rief André und wollte seinen Arm wegziehen.
Wieder schlangen sich Schmerzen um seine Wirbelsäule. „Bitte, nicht.“
„So! Nun wird er sich bald beruhigen, brauchen Sie sonst noch etwas, Doktor Hesse?“, sagte die Schwester.
„Nein, nein! Sehr schön, vielen Dank.“ Theogalf blickte dabei André an.
Die Schwester verließ wieder das Zimmer.
Andrés Gedanken verwischen langsam. Er kämpfte darum wach zu bleiben, doch das Mittel war stärker.
„Wir sehen uns bald wieder“, versprach Theogalf ihm. „Ich bin jetzt dein Arzt. Vergiss das nie!“
Andrés Sicht verschwamm. Er schloss die Augen und schlief ein.
Ich befand mich in einem fremden Haus. Eine schlanke Frau mit braunen Haaren schlief in einem Bett. Ihr Gesicht war halb von einer Decke verborgen. Das Gesicht war halb von einer Decke verdeckt. Neben ihr lag etwas Großes unter der Decke und schnurrte laut. War das … eine riesige Katze?
Ich trat neugierig näher.
Eine sanfte Frauenstimme flüsterte in meinem Kopf: Diese Frau wird dir helfen. Und das neben ihr ist keine Katze.
Wer … bist … du?, fragte ich.
Ich bin Gullveig, antwortete die Stimme amüsiert. Entspann dich und schlaf. Bald bekommst du Hilfe! Hilfe von diesen beiden und dem toten Zauberer.
Ich hasse Zauberer, erwiderte ich. Lieber ihn nicht sehen.
Sieh sie dir gut an, riet Gullveig ihn.
Ich kann ihr Gesicht kaum sehen, erwiderte ich. Wer ist sie?
Sie ist ein Seelenengel, antwortete Gullveig. Sie kann Seelen in deren tote Körper zurückholen.
Dann ist sie doch eher eine Hexe!, stieß ich angewidert aus. Ich hasse Magie und Typen, die sie benutzen.
Gullveig lachte.
Du bist ein Dummkopf, André, sagte sie tadelnd. Du hast durch deine Magie 1.000 Mal den Tod überlistet. Du bist auch ein Zauberer.
Nein, das habe ich nicht gemacht, rief ich aufgebracht. Ich bin kein Zauberer. Ich will auch auf keinen Fall einer werden.
Eine riesige Tatze schob sich unter der Decke hervor.
Sie schläft neben einem Löwen, dachte ich entsetzt.
Nein, das ist kein Tier und sie schläft normalerweise bei dem toten Zauberer. Gullveig lachte wieder. Aber im Augenblick meidet sie sein Bett – es ist bei ihm zu warm.
Ich betrachtete die Tatze eine Weile. Was könnte das sein, wenn es kein Tier ist?
Komm, ich zeige dir den toten Zauberer. Gullveig erschien neben mir.
