100 Jahre Otto Koenig -  - E-Book

100 Jahre Otto Koenig E-Book

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Beschreibung

Die Matreier Gespräche des Jahres 2014 waren an zwei Gedenken geknüpft, an den 100. Geburtstag Otto Koenigs und an den Rückblick auf 40 Jahre Matreier Gespräche. Die in Teilband 1 vorliegenden Texte setzen sich mit der von Koenig begründeten Kulturethologie im Allgemeinen, mit seinem Werk „Urmotiv Auge“ im Speziellen und schließlich mit seinem Engagement und seinen fachlichen Beiträgen für den Naturschutz („Lebensraum aus zweiter Hand“) auseinander. Sie eröffnen eine offene, kritische und interdisziplinäre Sichtweise auf das Lebenswerk Otto Koenigs, das bis heute in unsere Gesellschaft hineinwirkt.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

Vorwort

Max Liedtke

Otto Koenig 100 Jahre ‒ Einschätzungen eines Freundes und eines Wegbegleiters in Ökologie und Kulturethologie

Helmwart Hierdeis

Ein Psychoanalytiker liest Otto Koenigs „Urmotiv Auge“

Gustav Reingrabner

Theologie und Ethologie – Persönliche Bemerkungen zu ihrem Verhältnis

Alexander Gratzer

Lebensraum aus zweiter Hand – Dialog zwischen Ökonomie und Ökologie

Hans Peter Kollar

Otto Koenigs Naturschutzgedanke: Wie hat sich der Zugang zum Naturschutz und zu dessen Umsetzung im Lauf der Zeit verändert?

Christa Sütterlin und Irenäus Eibl-Eibesfeldt

Otto Koenigs „Urmotiv Auge“ revisited

Hans-Christoph Winkler

Die Ideenwelt Otto Koenigs aus heutiger Sicht

Helmwart Hierdeis

Otto Koenig begegnet Sigmund Freud (zum 100. Geburtstag von Otto Koenig)

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Vorwort

Für eine ganze Generation umweltinteressierter Österreicher war der Verhaltensforscher und Naturschützer Otto Koenig eine zentrale und polarisierende Persönlichkeit. Präsent durch Bücher, Radio und Fernsehen und zugleich ein publikumsnaher Forscher zum „Angreifen“. Es ist jedoch erstaunlich, wie kurzlebig das Gedächtnis der Medien ist: Schülern, Studenten und auch jüngeren Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik ist der Name Otto Koenig kein Begriff mehr.

Im Jahr 2014 fanden die 40. Matreier Gespräche statt und der Geburtstag Otto Koenigs jährte sich zum 100. Mal. Es war also naheliegend, das Werk Otto Koenigs im Rahmen der alljährlich stattfindenden Tagung aus wissenschaftlicher Sicht hinsichtlich seiner Nachhaltigkeit zu hinterfragen und in einen aktuellen Kontext zu stellen. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes lassen sich in zwei Bereiche gliedern: Erstens die Auseinandersetzung mit der Kulturethologie im Allgemeinen und dem „Urmotiv Auge“ im Speziellen und zweitens Otto Koenigs Engagement für den Naturschutz. Das „Urmotiv Auge“, das im Jahr 1975 im Piper Verlag erschienen ist, wird aus Sicht eines Psychoanalytikers evaluiert, der den Wert der Arbeit hervorhebt und sich mit den Methoden und Otto Koenigs Verhältnis zur Psychologie kritisch auseinandersetzt (Ein Psychoanalytiker liest Otto Koenigs „Urmotiv Auge“). Auch ein kunsthistorischer Beitrag befasst sich mit dem „Urmotiv Auge“ und stellt Bezüge zu aktuellen Forschungsergebnissen her (Otto Koenigs „Urmotiv Auge“ revisited). Drei Beiträge beschäftigen sich mit dem Lebenswerk Otto Koenigs als Gesamtheit, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Sichtweisen, die sich aus den fachlichen Kompetenzen der Autoren, Pädagogik, Theologie und Ethologie ergeben (Otto Koenig 100 Jahre ‒ Einschätzungen eines Freundes und eines Wegbegleiters in Ökologie und Kulturethologie; Theologie und Ethologie – Persönliche Bemerkungen zu ihrem Verhältnis; Die Ideenwelt Otto Koenigs aus heutiger Sicht). Mit Otto Koenigs Wirkung auf den Naturschutz befassen sich die Beiträge von langjährigen Weggefährten, die sowohl die Kontroversen aus den 1980er Jahren aus heutiger Sicht Revue passieren lassen, als auch die Entstehung der aktuellen Werkzeuge des Naturschutzes aus Otto Koenigs Ideen herleiten (Lebensraum aus zweiter Hand – Dialog zwischen Ökonomie und Ökologie; Otto Koenigs Naturschutzgedanke: Wie hat sich der Zugang zum Naturschutz und zu dessen Umsetzung im Lauf der Zeit verändert?).

Der vorliegende Band eröffnet eine offene, kritische und interdisziplinäre Sichtweise auf das Lebenswerk eines Mannes, das bis heute in unsere Gesellschaft hineinwirkt.

Bernhart Ruso

Zum Schluss bleibt wieder herzlich zu danken: der Gemeinde Matrei in Osttirol und der Familie Hradecky im Gasthof Hinteregger für die Gastfreundschaft, der Otto-Koenig-Gesellschaft und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern für die Ausrichtung der Tagung, dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Lektorat des Bandes und vor allem den bei der Tagung referierenden Kolleginnen und Kollegen, die wiederum pünktlich ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.

Innsbruck, im Oktober 2015

Für das Herausgeberteam

Oliver Bender und Sigrun Kanitscheider

Max Liedtke

Otto Koenig 100 Jahre ‒ Einschätzungen eines Freundes und eines Wegbegleiters in Ökologie und Kulturethologie1

Zusammenfassung

Es werden zunächst die nach Meinung des Autors besonderen Lebensleistungen Koenigs dargestellt. Dazu zählen Koenigs Leistungen als langjähriger Fernsehmoderator und als Naturschützer, der den Weg vom allein konservierenden Naturschutz („Panoramaschutz“) zu einem auch Eingriffe des Menschen duldenden, ökologisch durchdachten „Systemschutz“ gegangen ist. Die größte wissenschaftliche Leistung Koenigs wird in der Entwicklung der Kulturethologie gesehen, nach der sich auch alle kulturellen, das heißt alle lernabhängig entwickelten Phänomene vergleichbar den aus der biologischen Evolution bekannten Verlaufsformen verhalten. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Autor und Koenig werden auf dem Hintergrund eines Briefes, den Koenig kurz vor seinem Tod an den Autor geschrieben hat, umrissen. Schließlich wird Koenigs Biografie in einigen Beispielen in „kulturethologischen Blick“ genommen, wobei mit besonderer Ausführlichkeit die ambivalente Entwicklung der Kulturethologie betrachtet wird.

1 Otto Koenig: Spuren in der Geschichte?

Professor Otto Koenig wäre am 23. Oktober 2014 einhundert Jahre geworden. Er ist aber am 5. Dezember 1992 in Klosterneuburg gestorben, als in Matrei/Osttirol gerade die 18. Tagung der von ihm begründeten Matreier Gespräche lief. Seine zum Tode führende ernste Erkrankung hatte es ihm schon nicht mehr erlaubt, nach Matrei anzureisen. Er hatte mich deswegen gebeten, ihn zu vertreten und die anstehende Tagung zu leiten. Um den Ablauf der Tagung nicht zu stören, hat Lilli Koenig den Tod ihres Mannes erst am 7.12.1992 bekannt geben lassen. So haben wir erst auf der Heimreise aus Radio und Fernsehen von seinem Tod erfahren. Otto Koenigs Bekanntheitsgrad in Österreich und in den angrenzenden – besonders deutschsprachigen – Gebieten war durch seine fast vier Jahrzehnte währende Medienpräsenz außerordentlich groß. Ob man ihn nun schätzte, verehrte, beneidete oder bekämpfte, unberührt blieb in diesem Raum kaum jemand von der Todesnachricht.

Aber Otto Koenigs Publizität war keineswegs nur das Produkt seiner medialen Ausstrahlung oder seiner Fähigkeit, Inhalte mit großer journalistischer und schauspielerischer Gewandtheit zu vermitteln. Die Inhalte waren seine Inhalte, aus eigener Kompetenz entsprungen, und sein Engagement war nicht gespielt, es war sein Engagement. Mindestens denen, die ihn aufmerksamer beobachtet, die ihn näher gekannt hatten, war bewusst, dass mit Otto Koenig ein großartiger Mensch gestorben war, ein Mensch, der tiefe Spuren in Österreich hinterlassen hat, ein Wissenschaftler, der Anstöße gegeben hat, Anstöße, deren wissenschaftliche Bedeutung immer noch nicht hinreichend erkannt und gewürdigt worden ist.

Zu den Spuren, die zunächst Österreich betreffen, zählen nach meiner Ansicht:

Otto Koenig gehört zu den großen Gestalten der Fernsehgeschichte Österreichs. Koenig war mit seiner Sendung, die zuletzt den Titel „Rendezvous mit Tier und Mensch“ trug und die von den frühen Anfängen des österreichischen Fernsehens im Jahre 1956 bis 1992 regelmäßig ausgestrahlt wurde, mindestens monatlich durch Jahrzehnte „fernsehpräsent“. Seine Sendung galt 1992 als „die älteste gleichbleibende Fernsehreihe im deutschsprachigen Raum“ (Lukschanderl 2013, 177). Er hat Fernsehgeschichte gemacht.

Otto Koenig hat tiefe Spuren in der Geschichte des österreichischen Naturschutzes hinterlassen. Zu den zentralen Themen der Fernsehsendungen Koenigs zählte der Naturschutz. Aber Naturschutz war bereits Koenigs Thema und Anliegen, als ihn ab etwa 1930 Fauna und Flora des Neusiedlersees gepackt hatten und er dann durch Publikationen und konkrete Arbeit für den Naturschutz warb und wirkte. Schon 1937 ist er mit der „Goldmedaille des Österreichischen Tierschutzvereines“ ausgezeichnet worden. Aber durch seine spätere Fernsehpräsenz hat Otto Koenig wie kaum ein zweiter die Idee des Naturschutzes in Österreich verbreiten können. Man wird auch keine Geschichte des Naturschutzes in Österreich schreiben können, ohne Otto Koenig zu nennen.

Eine weitere tiefe Spur hat Otto Koenig durch seine energische Mitwirkung bei dem langjährigen und höchst mühevollen Kampf gegen die Einrichtung von Atomkraftwerken in Österreich hinterlassen. Dieser Kampf ist mit dem Namen der Marktgemeinde Zwentendorf verbunden. Die Gegenwehr gegen den Bau des Atomkraftwerkes Zwentendorf lief schon seit den ersten Planungen. Erfolgreich war sie erst 1978, als die Inbetriebnahme durch eine Volksabstimmung gestoppt wurde. Angesichts der schweren Atomunfälle von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) und angesichts der wachsenden internationalen Probleme bei der Suche nach Endlagerstätten für den Atommüll war der Widerstand gegen den Bau von Atomkraftwerken in Österreich wohl sehr weitsichtig, und Österreich hat allen Anlass, den „Widerständlern“ von 1978, darunter in führender Position Otto Koenig, dankbar zu sein. So bleibt Koenigs Name auch mit dem österreichischen Atomsperrgesetz von 1978, dessen Inhalt 1999 Verfassungsrang erhielt, verknüpft.

Schon Otto Koenigs Einsatz für den Naturschutz und gegen den Bau von Atomkraftwerken war keine auf Österreich begrenzte Angelegenheit. Bereits 1982 hat er den „Bundes-Naturschutzpreis“ des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland erhalten (Weinzierl 1990, 9). Aber es gibt auch Spuren, die von Anfang an nicht auf Österreich beschränkt waren und einen hohen internationalen, in gewisser Weise geschichtlichen Rang in Anspruch nehmen durften. Dies zu belegen, darf ich persönlich werden.

Ich habe Otto Koenig weder als Fernsehstar, noch als Naturschützer, noch als Atomkraftgegner kennen gelernt. Davon wusste ich – in West- und Norddeutschland lebend – bis Anfang der 1970er Jahre überhaupt nichts. Ich habe ihn literarisch über seine wissenschaftlichen Leistungen kennen gelernt. Zentralpunkt war sein 1970 erschienenes Buch „Kultur und Verhaltensforschung – Einführung in die Kulturethologie“. Mir war längst geläufig, dass es viel zu eng ist, den Evolutionsbegriff nur auf biologische Phänomene anzuwenden und habe das in meiner 1970 abgeschlossenen Habilitationsarbeit „Evolution und Erziehung“ breiter dargelegt (Liedtke 1972, 32–101). Allein schon wegen der Unumkehrbarkeit der Zeit war zu erwarten, dass es bereits vor der Entwicklung der Lebewesen auch eine Evolution der anorganischen Natur gab und auf der Basis der biologischen Evolution nachfolgend eine kulturelle Evolution, die auf Lern- und Lehrprozessen beruht. Aber was Koenig 1970 literarisch vorgelegt hat, war eine grandiose Analyse der Zusammenhänge zwischen „Kultur“ und „Evolution“. Sein „Paradebeispiel“ war die Uniform. An deren Geschichte hat er musterhaft gezeigt, in welcher Weise biologische und kulturelle Evolution verflochten sind, inwieweit sich Verlaufsformen der biologischen Evolution in der kulturellen Evolution wiederfinden und inwieweit sie als Fragestellungen zur Erläuterung kultureller Prozesse dienen können. Nur auf diesem Weg ließ sich auch präziser die Frage stellen, wo die spezifischen, die neuartigen Verlaufsformen der kulturellen Evolution liegen mögen. Obwohl die Fragestellung schon vor Koenig bekannt war (Herrmann 1878) und es auch Vorarbeiten gibt (Hinweise dazu in Liedtke 1994 und 2003, 10–12), gilt Koenig wegen des Umfangs seiner empirischen und seiner systematisierenden Arbeit in diesem Feld zu Recht als Begründer und zugleich als Namensgeber der „Kulturethologie“. Es gehört zu den größten Ehrungen, die Otto Koenig je erhalten hat, dass Konrad Lorenz 1974 die von Koenig begründete Kulturethologie zum Mittelpunkt seiner Nobelpreisrede gemacht hat (Lorenz 1974). Und selbst wenn man sich mit den Antworten, die Otto Koenig gegeben hat, nicht anfreunden kann, weil sie gelegentlich, wie das bei Gründern aber kaum anders erwartet werden kann, noch zu einfach klingen, noch zu wenig belegt erscheinen, es sind die richtigen Fragen gestellt, Fragen, durch die eine neue, erweiterte, einheitlichere, widerspruchsfreiere Weltsicht möglich wird, durch die auch die verhängnisvolle, dümmliche Trennung der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften überwunden werden kann.

Zu den von vornherein die österreichischen Landesgrenzen überschreitenden Leistungen Koenigs gehört auch seine spezielle Deutung des „Naturschutzes“.

Ohne Zweifel war Koenigs lebenslanges Engagement für den Naturschutz hoch verdienstvoll. Aber aus wissenschaftlicher Sicht war nicht so sehr seine konkrete Naturschutzarbeit zukunftsweisend, sondern seine Abwendung von dem traditionellen Verständnis von „Naturschutz“, dem es in fast statischer Weise um Erhaltung der „natürlichen“ Natur ging. Liest man Koenigs frühe Schriften, lässt sich kaum bezweifeln, dass er persönlich auch in dieser Tradition von Naturschutz aufgewachsen war und sich genau dafür einsetzte. Zu welchem Zeitpunkt er sich von dieser Position abwandte, ist schwer zu sagen. Es war wohl ein schleichender Prozess, der sich bis in die Diskussion um die Atomkraft hinzog. Seine Position blieb ohne Zweifel weiter eine „naturkonservierende“ Position. Aber es ist primär nicht mehr das jeweils aktuelle „Panorama“, das konserviert und geschützt werden soll, sondern das „System“. Seine Forderung hieß nunmehr: „Systemschutz, nicht Panoramaschutz“. Auch diese Positionierung ist keineswegs die Lösung aller ökologischen „Welträtsel“. Aber sie hat deutliche Vorteile gegenüber dem traditionellen, bloß konservatorischen Verständnis von Naturschutz. So nimmt sie „Evolution“, die nur den Wandel kennt, ernst, sie kalkuliert ein, dass alle Lebensräume des Menschen durchweg nur eine schon lange durch den Menschen umgestaltete „Natur“ sind und erlaubt Eingriffe, sofern sie „systemverträglich“ sind. Seine eingängige und fast schon sprichwörtliche Formulierung vom „Lebensraum aus zweiter Hand“ gehört hier hin. Hier zeichnen sich auch gemeinsame Wege zwischen Natur und Technik ab. Koenig hat sich auch persönlich auf diesen Weg gemacht und 1984 gemeinsam mit der Österreichischen Elektrizitätswirtschaft den „Verein für Ökologie und Umweltforschung“ gegründet. Zu den Anliegen des weiterhin bestehenden Vereins zählt insbesondere, schon bei der Planung technischwirtschaftlicher Projekte ökologischen Sachverstand mit einzubringen. Noch einmal, es sind nicht alle Fragen gelöst, Interessensgegensätze bleiben. Man muss scharf auf mögliche Abhängigkeiten achten. Aber es ist in der Geschichte des Naturschutzes ein vielversprechender, ausbaufähiger Ansatz.

2 Freundschaft mit einigen Besonderheiten

Intensivere Kontakte zu Otto Koenig hatte ich seit Mitte der 1970er Jahre. Wir haben uns sehr gut verstanden. Zwar kamen wir aus sehr unterschiedlichen Welten und haben auch häufig miteinander hart gefochten. Meist ging es um Fragen des Verhältnisses von Anlage und Umwelt. Er setzte mehr auf die Anlage, mir ging es mehr darum, die Chancen der Umwelt zu nutzen. Ein Dauerstreit war die Unsicherheit, wie viel Induktion erforderlich ist, um eine Beobachtung als verallgemeinerbar ansehen zu können. Ich war auch ein beständiger Widerpart zu seinem Hang, dramatisierende Untergangsszenarien zu entwerfen und zu beschwören (vgl. Liedtke 2003, 23ff.). Hier mögen unsere unterschiedlichen Einstellungen auch durch die unterschiedlichen biografischen und beruflichen Erfahrungen (Familie, Schule) gesteuert gewesen sein. Eine Missstimmung hat es zwischen uns aber niemals gegeben. Otto Koenig war mehrfach Gastreferent an meinem Lehrstuhl an der Universität Erlangen-Nürnberg und an dem von mir wissenschaftlich betreuten Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen. Ich war seit 1977 regelmäßiger Teilnehmer der von ihm gegründeten Matreier Gespräche und bin es auch nach seinem Tod geblieben. Von 1992 bis 2003 habe ich die Gespräche geleitet. Außerdem war ich häufiger auch in Koenigs umweltschützerische Unternehmungen eingebunden, seit 1986 bin ich Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Vereins für Ökologie und Umweltforschung in Wien (von 1988–2001 Vorsitzender). Otto Koenig und ich waren freundschaftlich miteinander verbunden, aber haben uns nie geduzt. Das alles ist eher trivial.

Eine gewisse, allerdings nur dem Todesdatum Koenigs und meinem 60. Geburtstag geschuldete Besonderheit dieser freundschaftlichen Beziehung ist es aber wohl schon, dass das letzte von Otto Koenig herausgegebene Buch mir gewidmet ist (Koenig 1992). Es ist eine bloße Zufälligkeit, aber dieser Zufall lässt mich nicht unberührt.

Aber besonders berührt es mich, dass ich auch Adressat eines seiner letzten Briefe, vielleicht seines letzten Briefes war. Er hat mir noch am 11. November 1992 geschrieben, als er längst vom Tode, der ihn am 5. Dezember 1992 ereilte, gezeichnet war. Es ist nach Datum und Inhalt ein sehr persönlicher Brief, über den eben deshalb eher zu schweigen wäre. Ich habe schon einige Male daraus zitiert – auch zum Troste und zum Lobe von Lilli Koenig – und zitiere jetzt erneut. Otto Koenig zeigt sich hier in einer Weise, wie ich ihn bis dahin nicht kannte und wie er wohl auch seinem großen Publikum nicht bekannt war. Er hat mir auf knapp vier maschinenschriftlichen Seiten skizzenhaft, die Hauptthemen etwas assoziativ wiederholend, „[s]eine bescheidene Lebensbeschreibung“ geschickt. Es geht um seine aktuelle Krankheit, breiter um seine Pfadfinderschaft, um Ökologie und Kulturethologie, intensiv um seine Frau Lilli, um seine Zukunftsplanungen und um eine Bitte an mich.

Die Krankheit:

„Sehr verehrter Herr Professor Liedtke!

Es ist trotz hervorragender Behandlung und wirklich herzlich rücksichtsvoller Pflege kein Vergnügen in einem Lazarett zu liegen. […] Meine Schrift ist schlecht und zittrig. Das Leben schlug, ohne Vorwarnung nach 78 Jahren voller Gesundheit, mit aller Kraft zu. Es hätte den alten Waldläufer und Pfadfinderhelden nicht härter treffen können wie mich. Vorwarnung? Nein, der ich immer alles geflissentlich übersah, was mich persönlich betraf. Mein Körper hatte zu funktionieren. Er folgte brave 78 Jahre. Auf 90 hatte ich gehofft. […] Ich hoffe, das Leben noch etwa 8 Jahre zu bewältigen [weil ihm die Zahl 87 (siehe unten) häufiger in seinem Leben begegnet war; Anm. d. Verf.]. Hoffentlich glückt es. Derzeit sieht es nicht ganz so günstig aus. Ich liege mit Krebs im Klosterneuburger Spital, aber die Ärzte sind guter Dinge und voll Hoffnung.“

Pfadfinderschaft:

Das Thema taucht häufiger auf. Koenig hat sich wohl während seines gesamten Lebens in der Tradition der Pfadfinder gesehen, obgleich er zunächst, Ende der 1920er Jahre, zu den „Roten Falken“ gehörte. Sein Lebensstil ist ohne den Pfadfinderbezug kaum zu verstehen.

„Als ich von den Roten Falken fortgehen mußte, weil die Politiker es so wollten, und mit meiner ganzen Gruppe zu den Pfadfindern übertrat, wollte ich meinen Buben ihr fröhlich ernstes Jugendbewegungsleben retten. Es ist mir gelungen. Ich erhielt nichts denkend die Nummer F 87 (Flußpfadfindergruppe 87). Es wurde ein zauberhaft romantisches Leben.“

Einschub Thema Lilli Koenig:

Ohne Übergang und ohne Absatz wechselt Otto Koenig zu seiner Frau Lilli und findet Worte von geradezu klassischer Innigkeit. Ich habe genau diese Textstelle sowohl 1992 in meiner Trauerrede für Otto Koenig (Liedtke 1993) wie auch 1994 in der Trauerrede für Lilli Koenig (Liedtke 1996c) zitiert: „Und als Hitler kam und alles zerschlug, fand ich Lilli. Es wurde eine Liebe allein für zwei. Schöner als alles was vorher war. Ein Leben ohne Trennung. Ein Leben für einen, der aus zweien bestand. Es ist alles geblieben, wie es am ersten Tag gewesen ist, nur fester, inniger, herzlicher, unlösbar verschweißt.

Von uns beiden gibt keiner auf.

Wir kapitulieren niemals.“

Er entschuldigt sich, dass er mich „mit solchen ureigensten unteilbaren Intimproblemen“ belaste und fragt rhetorisch, wem er das denn sonst erzählen solle, wenn nicht mir, „den wir [Lilli und er; Anm. d. Verf.] beide für wohl einen unserer besten Freunde, menschlich und wissenschaftlich, halten.“ Es fällt mir sehr schwer, dies zu zitieren. Aber auch hier zeigt sich eine empfindsame Seite Koenigs, die man bei dem „Macher“ kaum erwarten würde.

Unmittelbarer Rückgriff auf das Thema „Pfadfinder“:

„Meine Pfadfindergruppe erhielt die Nummer F 87, dazu gaben wir den Namen Florian Geyer. Immer ritterlich, immer im Kampf, niemals verzagen. Regen, Kälte, Sturm, Hitze, Kampf, am Verdursten in der Wüste, zwei Stunden am Neusiedlersee im Jänner durch brusttief eisbedecktes Wasser gewatet.“

Wieder unmittelbarer Wechsel zu Lilli Koenig:

„Ich will leben! Mit Lilli – für Lilli – die Vorstellung eines Lebens ohne Lilli bringt mich zum heulen. Zwei Vorhaben, zwei Salutschüsse stehen fest: Wir zwei wollen das Jahr 2000 erreichen. Und: Ich möchte mit Lilli zusammen 87 Jahre alt werden.“

Wieder unmittelbar zurück zu den Pfadfindern:

„Pfadfindergruppe F 87. Im Krieg: Stabsstaffel Stucka F 887. Nach dem Kriege arbeitete ich noch als Führerschulungskommissär in der Bundesleitung und beendete meine Tätigkeit wieder als kleiner Gruppenführer einer kleinen Rovergruppe, die eigentlich aus dem Institut entstanden war und hier sehr gute Hilfsarbeiten ausführte. […] Sie sehen, daß ich selbst noch im Ausklang Revoluzzer blieb. Dies ist abgesehen vom direkten Institutsaufbau mein wissenschaftlich pfadfinderischer Lebensweg.“

Zukunftspläne:

„Die Pfadfinderei habe ich mit etwa 60 Jahren an den Nagel gehängt, obwohl ich eines Tages sicher darüber schreiben werde. Jetzt ist die Öko-Ethologie an der Reihe – und selbstverständlich die Kulturethologie. Ehe nicht alles fixiert ist, gebe ich keine Ruhe. […] Matrei ist für mich und alle Wilhelminenberger ein ,Muß‘ – Höhepunkt des Jahres und es soll auch so bleiben.“

Die Bitte an mich:

„Und nun meine bescheidene oder zu große Bitte. Ich hoffe sehr, daß sie von Ihnen nicht als unverschämt oder zu vermessen gewertet wird. Wir kennen uns seit einem Vortrag in Nürnberg. Das liegt Jahre zurück. Seither galt zwischen uns ein sachliches ,Sie‘. Mir läge viel daran, wenn wir zu einem persönlicheren ,Du‘ überwechseln könnten.“

Mit großer Freude und Rührung habe ich dieser Bitte in einem Antwortbrief sogleich entsprochen. Es gehört zu den Besonderheiten unserer Freundschaft, dass ich Otto erstmals am 18.12.1992 an seinem Sarg bei meiner Trauerrede mit dem „Du“ ansprechen konnte.

3 Kulturethologische Blicke auf Otto Koenigs Biografie

Natürlich könnte man Koenigs kulturethologische Sichtweise auch auf ihn selbst, auf seine Biografie, seine Institutsgründung und auf die Geschichte der Kulturethologie anwenden. Was immer „Kultur“ ist, kann Gegenstand der Kulturethologie sein. Es gäbe viele Themen aus Koenigs Biografie. Da er die Kulturethologie auf dem Hintergrund der Uniformgeschichte „entdeckt“ hat, wäre es sicher auch eine reizvolle und unterhaltsame kulturethologische Petitesse, seiner mit einer Untersuchung zu gedenken, die sich mit seiner nicht unstrittigen Vorliebe für Uniformen befasste, und zwar am Beispiel der unterschiedlichen Versuche, seine Institutsmitglieder mit einer eigenen Tracht zu versehen. A. Schmied hat gezeigt, von wie vielen Zufälligkeiten und variierenden Intentionen dieser Prozess begleitet war (Schmied 1997).

Etwas „kulturethologisch“ sensibilisiert, entdeckt man in Koenigs Biografie aber doch alsbald auch Abläufe, die geschichtlich zwar durchaus geläufig sind, die es aber auch verdienten, in den Kanon der kulturethologischen Verlaufsformen aufgenommen zu werden (Liedtke 1994, 66–77; 1996a; 1996b). Ich nenne nur zwei Beispiele.

Beispiel 1:

Das erste Beispiel betrifft die „stützende Funktion“ von Kulturtraditionen beziehungsweise von tradierten Ritualien.

Ich habe nie erlebt oder auch nur gesprächsweise erfahren, dass Otto oder Lilli Koenig praktizierende Christen wären. In Ottos Fall hat es mich – keiner Kirche angehörend – geradezu gestört, dass wir unter seiner Leitung im Matreier Umfeld vielleicht zwei- oder dreimal einen Gottesdienst bestellt hatten, der von uns aber – in Missachtung der vermutlichen Intentionen der Geistlichen – nur als wissenschaftliches Beobachtungsszenarium genutzt wurde. Otto Koenigs „religiöse Bindung“ hatte nach einem Text von 1937 („Religion und Jugendbewegung“) eher jugendlich-emotionalistische, naturschwärmerische Züge, keinesfalls aber hätte sich seine „Religiosität“ nach den Vorgaben der traditionellen christlichen Konfessionen einordnen lassen (Koenig 1984). Sowohl nach Ottos wie auch nach dem Tod seiner Frau Lilli habe ich mich gefragt, wie die Trauerfeiern wohl ablaufen werden und ob es eigene, vielleicht der speziellen Biografie entsprechende Akzente geben würde. Aber bei beiden Trauerfeiern griff man auf die tradierten Ritualien zurück. Völlig selbstverständlich – und ohne Zweifel in großer Würde – wurde Otto Koenig nach überliefertem evangelischem Ritus beerdigt, Lilli nach katholischem Ritus.

Obwohl Otto Koenig sich schriftlich wie mündlich geäußert hat, dass er seine Institute auch für die Zukunft sichern wolle, hat er es verabsäumt, ein Testament zu verfassen. Auch Lilli Koenig hat nach meiner Kenntnis kein Testament hinterlassen. In beiden Fällen regelte sich das Erbe nach den gesetzlichen Vorgaben.

Sowohl im Falle der Trauerriten wie bei der Regelung des Erbes erledigten sich Probleme durch kluge, zweckmäßige, mindestens faktisch vorhandene und notfalls nutzbare Vorgaben kultureller Tradition.

Beispiel 2:

Die zweite Verlaufsform, die angesichts der Biografie Koenigs in die Augen springt, betrifft den Umgang mit der wachsenden Informationsmenge. Die kumulierte Datenmenge übersteigt schon längst die „biologischen“ Speichermöglichkeiten des Menschen. Kulturell hat der Mensch vielfältige Möglichkeiten entwickelt, seine Speicherkapazitäten zu erweitern (Sprache, Schrift, Buchdruck, elektronische Datenspeicher). Aber das Tempo der Informationskumulation überfordert ihn gleichwohl. Die Überforderung betrifft zudem nicht nur die Datenspeicherung, sondern auch das Problem, aktuell gewünschte Daten verfügbar zu haben, just in time abrufen zu können. Es gibt Techniken, die Datenmenge durch Schlüsselbegriffe, durch Beispiele, durch Formeln usw. zugänglicher zu halten. Sofern es sich wie in der Sozialgeschichte aber oft um Daten handelt, die experimentell nicht verifizierbar sind (z. B. Einstellungen, präzise Angaben zu Lebensleistungen eines verstorbenen Menschen), werden Vereinfachungen gesucht und Differenzierungen reduziert. Das führt regelmäßig zu Klischeebildungen. Das gilt auch für das geschichtliche Bild Koenigs. Es liegt auf der Hand, dass der Fernsehzuschauer, der Otto Koenig nur in dieser Funktion oder überwiegend in dieser Funktion kennen gelernt hat, die Erinnerung an Koenig nur mit diesen Fernsehassoziationen versehen wird. Selbst wenn er sich bewusst wäre, dass das Leben Koenigs nicht nur aus seiner Fernseharbeit bestanden hat, er kann sich Koenigs weitereres Leben nicht konkretisieren. Die Sozialgeschichte dieser Welt besteht – abgesehen von wenigen konkreteren Lebensdaten – fast ausschließlich aus „Klischees“. Die Bildung von Klischees ist wegen der unbeherrschbaren Datenmenge (Speicherung und Zugriff) unvermeidlich. Sie lässt sich allenfalls hie und da etwas reduzieren.