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Der Leser soll Teil der Menschheitsgeschichte werden, dies ist das Ziel des umfassenden Romanprojekts 1000 Höllen bis zur Gegenwart. Manuel, der Protagonist und Sinnbild der Menschlichkeit, hat im vorliegenden Teil die Wirren des 30-jährigen Kriegs überstanden. Eine neue Weltordnung soll für einen dauerhaften Frieden stehen. Das Scheitern folgt auf dem Fuß. Gelingt unserem Helden die neuen Herausforderungen, die französische Revolution, Napoleon, die Sezessionskriege, zu bestehen? Wieder vereint das Werk Spannung, historische Treue, fantastische Bilder.
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Seitenzahl: 604
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Milchorangenbaum (1638 n. Chr.)
Olivenbaum, Linde und Blutbuche (1648 n. Chr.)
Sonnentau und coffea arabica (1682 n. Chr.)
Türkenbund (1653 n. Chr.)
Lärche (1718 n. Chr.)
Feuerdorn (1755 n. Chr.)
Buchweizen (1776 n. Chr.)
Rote Nelke (1789 n. Chr.)
Franzosenkraut (1809 n. Chr.)
Gartenschaumkraut (1847 n. Chr.)
Im Schlaf erreichte mich ein Schwindelanfall.
Ich setzte mich auf und versuchte auf allen Vieren zu krabbeln. Alles drehte sich um mich. Meine Wahrnehmung war derart begrenzt, dass ich so gut wie nichts um mich aufnahm.
Eine starke Hand zog mich mit aller Gewalt auf die Beine und stieß mich derb in eine Richtung. Ich taumelte dahin, allein bemüht, nicht zu fallen.
Häuser um mich. Ich musste mich in einer Stadt befinden. Menschen. Ich rempelte eine Person an. Er schlug auf mich ein.
Benommen stolperte ich weiter.
„Was soll das Ganze?“, fragte ich und hielt schließlich inne. Ein Säulenstumpf bot sich als Sitzgelegenheit an. Erneut wurde ich weggerissen, strikt in eine Richtung verwiesen. Ich ließ mich fallen, der Fremde zwang mich auf.
Orient. Bagdad? Istanbul? Irgend so etwas…
Intuitiv erkannte ich, wie ein Pfeil auf mich zu schwirrte. Er musste mich treffen, konnte mich unmöglich verfehlen. Wie in Zeitlupe spielte sich dieser Augenblick ab. Indes wurde ich angesprungen, ich fiel …doch nicht zur Erde. Durch die Lüfte wurde ich gewirbelt …
Ich kam auf einem hölzernen Grund auf.
Mühsam rappelte ich mich auf und wartete ab, bis mir der Schwindel entkam.
Ich befand mich in einem Raum.
Vorsichtig schaute ich um mich. Ich saß in einer Bücherei. Es war keine Bibliothek, wie ich sie bislang kennengelernt hatte. Die unzähligen Bücher standen nur teilweise in Reihen, vereinzelte schwebten in der Luft. Sogar einzelne Seiten hielten sich schwankend in der Höhe und glichen einem Nachen, der im Seegang schaukelte.
Der Saal selbst fand kein Ende. Weit in der Ferne endete er in Nebelfeldern, zumindest mein Blick endete dort. Ringsherum fehlte es an Wänden, Begrenzungen waren allein Regale, wobei sie wiederum keine Gestelle nach herkömmlicher Vorstellung waren, weit mehr ausgehöhlte übermächtige Baumstämme oder in Felsblöcke geschlagene Nischen.
Neben mir atmete ein Herr auf. „Das war in letzter Minute.“
Malyek trat hinter einem Buschwerk hervor, das keine Früchte trug, sondern Buchstaben, die ohne Unterbrechung die Reihenfolge wechselten.
Ich schaute ihm entgegen, von Grund auf erleichtert, den Freund zu sehen. „Was ist geschehen?“, wollte ich wissen.
„Ein Pfeil war bereits auf dich abgefeuert.“
„Dann warst du schneller als sein Flug?“
„Instinkt, Vorhersehung. Bin selbst überrascht.“
„Du hattest es geahnt?“
„So war es nicht geplant. Meine Sendung bestand allein darin, deine Kinder zu schützen.“
„Dann warst du im rechten Augenblick zur Stelle.“
„Es war einer jener unnatürlichen Luftwirbel, will sie Luftgeister nennen, der meinem Auge nicht entging, und ich erspähte darin die Kraft der Dämonen. Keine Sekunde zögerte ich und folgte der Strömung. Du wurdest schon zuvor direkt in die Schussrichtung gelenkt.“
„Wer war der Schütze? Dem Dämon ist es untersagt, mich zu töten.“
„Sein Geist steckt in mancher Person. Wer er war, erkannte ich in der Eile nicht. Mir lag daran, dich aus der Zielrichtung zu werfen.“
„Malyek, wie soll ich mich bedanken? Wieder einmal bin ich dem sicheren Tod entkommen. Der Sohn des Utukxul ist wirklich zu fürchten, er ist ein ganz anderes Gewicht als der Alte.“
„Hast du das bezweifelt?“
„Ich konnte es mir nicht vorstellen. Der Alte hatte schon alle Register gezogen.“
„Die Brut ist brutaler. Wenn wir Glück haben, auch einfältiger. Wir werden sehen. Zumindest registriere ich einen Fakt, du gehörst wahrlich zu den Begünstigten.“ Malyek klopfte mir auf die Schulter.
„Darauf verzichte ich!“
„Oh, verstehe mich nicht falsch. Ich beziehe die Feststellung auf unseren Aufenthaltsort. Siehst du nicht, wo wir sind?“
„Das alles ist unnatürlich, zauberhaft.“ Ich blickte mich bewusst um und kam langsam zur Ruhe.
„Manuel, wir sind in der Bibliothek der Urwissenden.“
Ich ließ die Erklärung auf mich wirken, schwieg.
„Das, was die gesamte Welt zu einem großen Wunder macht - hier stehst du vor der Lösung.“
Mir fehlten die Worte, um meine Eindrücke zu fassen. Bücher beobachtete ich, die sich selbst durchblätterten, eines stöhnte dabei wie mit großem Schmerz, ein anderes hüpfte aus einem engen Loch und wieder zurück.
„Das alles...“ Ich suchte nach einer passenden Beschreibung. „...es ist namenlos. Ist es ein Traum? Ähnliches hätte ich mir in allen Fantasien nicht ausmalen können.“
„Dazu ist auch niemand berufen. Es ist erstaunlich, dass dir die Tore geöffnet wurden. Ein Mysterium …es ist ein Mysterium. Vermutlich wusste die Herrin nicht, wohin mit dir. Jeder weitere Ort wäre dir zur Gefahr geworden, so verhalf sie dir in absolute Sicherheit. Wohlgemerkt, das ist eine Vermutung. Jetzt bist du in ihren Händen.“
„Was bedeutet das?“
„Es ist ein glücklicher Umstand. Alle Achtung. Es erhört deinen Stellenwert … selbst vor meinen Augen.“
„Übertreibe nicht, guter Malyek. Wir wollen zufrieden sein wie es ist und …“
„Was und?“
„Erstmal warten was geschieht.“
„Naja. Ich will dich nicht beunruhigen, aber Zeit kennt man an diesem Ort nicht. Es wäre durchaus denkbar, dass sich erst in 50.000 Jahren jemand meldet.“
„Dann sollten wir nach einem bequemen Sitzplatz Ausschau halten.“
„Ich wüsste eine Alternative.“
„Die wäre?“
„Wir rufen Sophian.“
„Vermutlich wird er der Herr der Bücherei sein? Ein Mensch vergleichbar mit Hallgird?“
„Ein Mensch? Wohl kaum. Er steht an der Seite der Urwissenden und pflegt ihre Allmacht.“
„Die Urwissende, vermutlich ist sie ebenfalls kein menschliches Wesen?“
„Sie liebt die Menschen, und sie sind ihr und Sophian wert. Sie kann allerdings genauso auf diese Kreaturen verzichten. Sie erfreut sich an der Schönheit und Vollkommenheit der Natur und alledem, was sie zu bieten hat. Das geistige Gut der Menschen hat durchaus seinen Reiz, soweit es der Weltenharmonie zuträglich ist. Es muss dich nicht kümmern. SOPHIAN, HÖRST DU UNS?“
„Was soll das Geschrei, mein Sohn?“, klang es hohl aus jeder Richtung.
„Dachte mir´s doch, dass du hier bist. Was hat die Herrin mit uns vor?“
„Sie bittet euch in den Hyalos.“
„Wo finden wir den?“
„Da hast du dir selbst einen Streich gespielt. Zu übermütig hast du das Kind aus dem Sein geworfen. Ihr seid an einem dem Hyalos weit entfernten Ort gestrandet.“
„Wie weit entfernt?“
„Es gibt zwei Wege: durch den Morast der Schamlosen oder die Wälder der Hoffenden.“
„Wir wählen den zweiten Weg.“
„Seht ihr den gelben Schein, den ich euch wachrufe?“
„Wir sehen ihn.“
„Folgt ihm.“
„Den Morast der Schamlosen scheust du?“, fragte ich nach.
„Ich bin ein Hüter der Urwissenden und habe manches gelernt. In den Sümpfen steckt das abgrundtiefe verderbliche Wissen. Es sind die Gedanken, Sehnsüchte von Herrschern, gar Päpsten, aber auch gemeinem Volk. Nichts ist verloren. Gehst du hindurch, klebt es wie Rotz an dir. Du bekommst den Schleim nicht mehr vom Leib.“
„Und die Wälder der Hoffenden?“
„Folge mir.“
Wie viele Stunden wir durch die Bücherwelt marschierten, kann ich kaum schildern, zumal Zeit in der versteckten Welt nicht wahrnehmbar war. Die räumliche Färbung änderte sich in einen bläulichen Dunst und langsam glitten wir in einen Wald, der nicht dicht bewachsen war; seine Stämme standen in respektablem Abstand zueinander. Der Übergang erfolgte nicht abrupt. Noch lange schlummerten Manuskripte in Asthöhlen, Urschriften im Blätterwerk.
„Wälder der Hoffenden, bitte sage etwas dazu“, bat ich Malyek ein weiteres Mal. Die Bäume waren zu unterschiedlich, dicke, dünne Stämme, manche mit riesigen Kronen, daneben geduckte verkrüppelte mit dürftigem Astwerk. Manche kannte ich, Eichen, Linden, Ahorne, andere waren mir nie zu Gesicht gekommen, vermutlich waren sie längst auf unserer Mutter Erde ausgestorben.
„Jedes Volk, das sich auf der Erde gründet, baut seine Zukunft auf eine Hoffnung. Daher rührt der Name dieses Forsts. Jeder Baum erzählt die Geschichte eines Geschlechts, eines Volkes, einer ethnologischen Gemeinschaft.“
„Die Bäume können reden?“
„Es steht geschrieben.“
„Wo? Ich sehe nichts. Jeder Stamm hat Äste, Blätter. Sind womöglich die Rinden eine Art Hieroglyphen?“
„Wo denkst du hin?“ Malyek lachte. „Es ist einfacher. Die Rinden sind auf der Innenseite beschrieben. Du kannst es nur entziffern, wenn du mit dem Mark des Gewächses eins wirst.“
„Einfacher nennst du das?“, scherzte ich.
„Die Mehrzahl der Völker ist längst ausgestorben und doch ist in dem Wald jeder Gedanke festgehalten.“
„Das ist wunderbar!“ Ich blieb stehen und drehte mich im Kreis.
„Ist es so?“
Nach ewig langer Zeit erhellte sich der gelbe Strahl. Die Baumwelt löste sich auf, und wir traten auf eine Hochebene mit kristallenem Felsgestein. Wanderndes weißes Licht brach sich an den Wänden, so dass sich verschiedenartige Regenbogen über die Fläche spannten, die laufend die Richtung änderten. Malyek setzte sich auf einen der Kristalle.
„Es ist ein irres Farbenspiel“, schwärmte ich bis ins Innerste beseelt.
Er ging mit keinem Wort auf meine Träumerei ein, sondern erwiderte knapp: „Wir sind angekommen.“
„Das ist der Hyalos?“
„Ja, so nennt man das Gebirge.“
„Welches Wissen ist an dieser Stelle gespeichert?“
„Keines.“
„Leere? Eine Gedächtnislücke?“, scherzte ich.
„Ich kann mir den Grund denken, warum du hierherbestellt wurdest.“
„Bestellt? So ist diese Reise kein Zufall?“
„Sophian? Was sagst du dazu?“, wandte sich Malyek an den freien Raum.
„Zweifellos war es Rettung in höchster Not, keine Absicht, kein Zufall“, schwoll es aus verschiedenen Fugen. „Nachdem es so eingetroffen ist, will die Urwissende Manuel beschenken.“
„Welches Wissen sieht sie für ihn vor?“, fragte Malyek.
„Kannst du es dir nicht denken? Wir stehen am Rande des Hyalos.“
„Rate du dem Jungen, ich weiß nicht, wie weit ich befugt bin.“
„Manuel“, klang es eindringlich. „Du hörst mich wohl und deutlich?“
„Herr Sophian, ich vernehme dich“, bestätigte ich.
„Es gibt eine Frage, die dich seit Beginn deiner Reise beschäftigt, nämlich die, wie es sich mit der Zeit verhielte. Die Urwissende will dir eine Ahnung des für dich Unfassbaren vererben. Bist du bereit?“
„Ich bin es, Herr.“
„Manuel, du betrachtest die tausenderlei Farben, die sich über uns spannen. Kannst du dir ein Bild machen, wie es zu diesen kommt?“
„Herr, es ist nur eine Vermutung. Der Hyalos besteht aus wunderbaren Kristallen in unermesslich vielen Formen. Sie werden normales Licht spalten und so erleuchtet diese Vielfalt. Auf der Erde sind es Wassertropfen, die Sonnenlicht in Regenbogen verwandeln.“
„Brav, mein Junge. Mit der Erscheinung der Zeit verhält es sich kaum anders. Die Kristalle des Hyalos sind in der Lage, das Allgegenwärtige in das Jetzt, das ,war gewesen‘ und das ,wird sein‘ aufzuspalten. Insofern stehst du im einzigen Teil des Reichs der Urwissenden, wo man von Zeit sprechen darf.“
„Du meinst, es gibt sie nicht, es existiert nur ein Immer?“
„Es ist ein wenig komplizierter und für ein Wesen, das in seinem ganzen Werden von zeitlichen Faktoren manipuliert wird, nicht fassbar. Nur eine Ahnung werden wir dir vermitteln können.“
„Inwieweit komplizierter?“
„Es gibt ein Vorwärts, jedoch kein Weiterkommen. Das muss dich wenig mühen und ist für einen Menschen ohne Belang. Das Reich der Urwissenden ist das JETZT und IMMER. Zeit ist nicht Bewegung, es ist ... sehe es mehr wie ein Brennglas. Zeit spaltet, beleuchtet und schafft dadurch den Eindruck von unterschiedlichen Räumen. Man müht sich zu viel mit der Erscheinung und übersieht das Wesentliche, das Allgegenwärtige.“
„Ich sah diese vielen Bücher und Schriften, die Legenden der Völker“, sagte ich und versuchte, alles auf einen Nenner zu bringen. „Unter dem Allgegenwärtigen versteht man also die Gesamtheit des Wissens?“
„Nicht allein das, aber du hast den Kern erkannt.“
„Herr, die Urwissende, ist sie Gott?“
„Ich sehe sie gerade lächeln“, bemerkte Sophian süffisant. „Nein, guter Manuel, du bist im Reich des Geschaffenen, werfe es mit dem Wunder der Schöpfung nicht in einen Topf.“
„So muss ich die Urwissende als so etwas wie einen Engel des Allmächtigen betrachten?“
„Sie hat keinerlei Einwendungen.“
„Bin ich noch auf der Erde?“
„Zeit und Ort, beides ist belanglos.“
„Hier im Hyalos existiert Zeit?“, fragte ich nochmals nach.
„Weit mehr als das. Du stehst inmitten der gesamten aufgeblätterten bunten Vielfalt dessen, was du als Geschehen, als Geschichte definierst. Zukunft, Gegenwart, Vergangenes - alles umgibt dich. Begleitest du mich ein Stück?“
„Wohin?“
„Einen Ausflug durch den Hyalos.“
„Ich sehe dich nicht“, entgegnete ich. „Wie soll ich dir folgen können?“
„Bewege dich vorwärts, die Kristalle werden weichen.“
Wagemutig lief ich einem überdimensionalen Felsen mit ungeschliffenen Kanten entgegen. Er barst, Teile hoben sich wie Seifenblasen in die Luft, andere bröckelten ab und verursachten neuartige Lichtbrechungen.
„Wie weit muss ich gehen?“, fragte ich verunsichert.
„Nur Mut! Schreite tapfer voraus.“
Neugierig folgte ich seinem Anliegen.
Was sich nach und nach abspielte, vermag ich kaum in Worte zu fassen. Die Lichtbrechungen schwächten sich ab. Es lag wohl daran, dass wenig weißes Licht dem Gebirge zugeführt wurde. Stattdessen bauten sich Erscheinungen auf, Menschen, Landschaften. Ich hielt inne.
„Herr“, rief ich Sophian an. „Verstehe ich es richtig, der Hyalos ist ein Bereich, in dem das Immer gebrochen wird und Zeit entsteht?“
„Du hast es schön formuliert. Ich will dich in keine neuen Abenteuer lenken. Zu viel hast du erlebt und manches wirst du erdulden müssen. Das Reich der Urwissenden sollst du in hehrer Erinnerung behalten. Sie verachtet ohnehin Gewalt, Mord, Egoismus. Trotzdem will sie dir einen Anblick schenken.“
„Gern“, willigte ich ein.
„Sie wird nun ein Bild vor dir ausbreiten.“
Wie aus dem Nichts entspross aus einem dezenten Lichtstrahl ein Bauwerk. Wir standen vor dem Tadsch Mahal.
„Indien“, warf ich ein.
„Du siehst den Trauerzug? Der Leichnam der Kaiserin Mumtaz Mahal wird in ihr neues Grabmal verlegt. Ihr Ehemann Shah Jahans ließ für sie ein traumhaft schönes Bauwerk entstehen. Wir können durch die Gärten gehen.“
Ich fasste den letzten Einwurf als Vorschlag auf, genau dieses zu tun, und machte mich auf den Weg. Malyek blieb die ganze Wanderung stumm an meiner Seite.
Bei jenem Spaziergang erreichten mich seltsame Gefühle. Im Gegensatz zu allem anderen, was ich seither erlebt hatte, bewegte ich mich in einer zur Stunde entfachten Vision, eine Vision, die gleichermaßen real war. Ich schaute das traumhafte Gemäuer, die Minarette empor, war vom Himmel, den Wolkenbewegungen ergriffen und wusste doch gleichzeitig, es war ein Spiel, ein Abbild. Intensiv atmete ich den Duft von Rosen und Lilien, als wir in die Gärten traten, die ähnlich denen in Isfahan an die Worte Muhammads und den Koran angelehnt waren. Zwischen Orangenbäumen hindurch erklangen Gebete von Geistlichen, die dem Begräbnis ihre Hoffnungen schenkten.
„Es ist die zweite Umbettung“, berichtete Malyek.
„Der Schah hat sie wohl absolut geliebt?“
„Sie war seine ,Auserwählte des Palastes‘, also Mumtaz Mahal.“
„So war das nicht ihr richtiger Name?“
„Sie entstammte einer persischen Adelsfamilie. Arjumend Banu, so ihr Name. Sie gebar dem Fürsten 14 Kinder.“
„…und starb…“
„Es ist eine schlimme Sache. Shah Jahan war auf einem Kriegszug, sie, die Kaiserin, an seiner Seite. Das entsprach dem Gängigen. Zwölf der Kinder gebar sie ihm auf Reisen. Dieser Kriegszug bei Buhanpur, im Süden des Landes, wurde zu einem Geduldspiel. Seuchen schwächten das Heer, in der Folge auch eine Hungersnot. Die Fürstin ging mit dem 14. Kind schwanger. Am Morgen mit den einsetzenden Schmerzen schaute sie aus dem Fenster über den Taptifluss. Jahan bestieg einen der Kriegselefanten.“
„Sie starb bei der Geburt?“
„Bald darauf. Jahan ließ sie anfangs am Taptifluss beisetzen, befahl jedoch wenige Monate später die Überführung in einem goldenen Sarg nach Agra. Dort stand ein kleiner Kuppelbau bereit.“
„Das genügte nicht?“
„Die Liebe war zu übermächtig. Dem Shah, der ohnehin von der persischen Architektur überwältigt war, lag an einem besonderen Gebäude für die Verstorbene. Es musste das Schönste aller Bauwerke sein.“
„Es ist ihm gelungen.“
„Sicherlich. Es wird gar gemunkelt, der Architekt wäre ermordet worden, damit er dieses Werk nicht ein zweites Mal wiederholen konnte, womöglich noch bezaubernder.“
„Gemunkelt? Steht hier nicht alles Wissen offen?“
„Der Urwissenden wird es bekannt sein. Wir wollen es damit bewenden lassen.“
„Sie hat manches Leid zu verschmerzen.“
„Sie ist die Wahrnehmende, nicht die Fühlende“, bemerkte Sophian.
„Doch es gibt eine Wertung zwischen dem, was gut ist und dem, was schlecht ist? Ich verstehe ansonsten den Morast der Schamlosen nicht.“
„Das Herz der Einheit des Werdens und des Vergehens ist der Friede und die Schönheit. So ist es bestimmt. Wer Unfriede und Verderben bringt, wird in den Sümpfen in Erinnerung bleiben. Das Universum hat zu viel Wertvolles zu bieten. Was will man die Räume der Andenken mit Schmalhansens Kost belasten?“
„Lebt dieser Jahan?“, fragte ich Malyek, als wir ein Stück weitergegangen waren.
„Er lebt“, bestätigte er.
„Er ist einer der Mogulfürsten?“
„Du weißt von Akbar?“
„An ihn kann ich mich erinnern.“
„Jahan ist der Enkel Akbars. Um es genau zu sagen, er ist der dritte Sohn des Fürsten Jahangir, oder Salim, wie er bei seiner Geburt genannt wurde.“
„Der dritte Sohn und trotzdem Erbe?“
„Muss ich dir das erklären? Jahan, geboren als Khurram, ich betone es, da dieser Name ,freudvoll‘ bedeutet, war der Lieblingsenkel Akbars. Der Großvater lehrte ihm den Schwertkampf und entführte ihn zur Leopardenjagd. Als der Vater zum Shah wurde und im Laufe der Zeit unter Alkohol und Opiumgenuss litt, versuchte der ältere Bruder Jahans, Khusrau, das Erbe an sich zu reißen. Es misslang und so wurde der Hausarrest sein Los. Nun erkrankte der Vater. Jahan sah sich gezwungen, Fakten zu schaffen. Frech übermittelte er dem Vater, Khusrau wäre an einer Kolik erlegen.“
„Dem war aber nicht so?“
„Selten hinterlässt eine Kolik Spuren einer Erdrosselung.“
„Hab‘s verstanden.“
„Sklaven Jahans vollbrachten das Werk. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, es gab schließlich weitere Brüder.“
„Du kannst dir die restlichen Worte sparen. Ich verwette meine Hand, sie wurden ebenfalls beiseitegeschafft.“
„Deine Hand bleibt sicher am Gelenk. Wollen wir an das Ufer des Flusses Yamuna wandern? Du siehst ihn bereits von hier.“
Selbstverständlich willigte ich ein, zumal von einem Basar und Karawansereien gesprochen wurde, die sich in der Nähe befänden.
Es sollte jedoch nicht so kommen. Wirbel in der Luft sorgten für eine Trübung und bald darauf verschwand die utopische Vision.
„Die Aufgabe ist gelöst“, meldete sich Sophian. „Du hast den Begriff Zeit als trügerisches Objekt verstanden. Wir wollen dich nun wieder entlassen.“
„Gibt es ein bestimmtes Ziel?“, wollte ich wissen.
„Dem Ort, dem du entrissen, wirst du neu gegeben. So steht es geschrieben.“
Schließlich standen wir in einer Straße, Malyek an meiner Seite.
„Keinen Schritt gehe ich weiter“, protestierte ich.
„Was ist mit dir?“
„Ich kenne die Gasse und die Gebäude genau. Ich war zwar nicht ganz bei Sinnen, aber daran erinnere ich mich. Noch zwei Schritte und der Pfeil wird mich durchbohren. Verstehst du? Jeden Augenblick wird er mich treffen.“
„Rede nicht daher.“ Malyek schob mich zur Seite. „Wir werden das klären.“ Er sprach einen gebrechlichen Herrn an. „Du! Alter! Bist du ständig um diese Gegend?“
„Was willst du von mir?“, fragte der Fremde unwillig.
„Eine Antwort, und zwar eine bestimmte. Genau die, die ich hören möchte.“
„Dann gebe sie dir selbst. Was geht mich deine Not an?“
„In welcher Stadt sind wir?“
Mitleidig sah der Alte Malyek an. „Istanbul. Hast du davon schon gehört?“
„Kommt es vor, dass hier an der Stelle geschossen wird?“
„Istanbul ist eine Stadt der Jahrtausende. An jedem Ende sind Kugeln geflogen.“
„Ich spreche von keiner Kugel. Wurden an dieser Stelle irgendwann in den vergangenen Jahren Menschen mit Pfeilen bedroht?“
„Mitunter ja.“
„Und? Wer war der Schütze?“
„Siehst du das Prachtgebäude vor uns?“
„Ein Palast.“
„Der Sultanspalast.“
„Und?“
„Was und?“, wehrte der Alte ab. „Der Sultan hat aus langer Weile einen Scherz erdacht und die Menschen von der Straße geschossen. Es war sein Zeitvertreib.“
„Welcher Sultan?“
„Murad IV.“
„Lebt er noch?“
„Wir feiern den Tod solcher Herren, hoffen auf Besserung, doch was kommt nach? Zu aller Glück gibt es die valide sultan.“
„Wen?“
„Die Sultansmutter.“
„Zurück zur Frage: Lebt er noch?“
„Es ist so manches Jahr her, als er abkam. Es mögen acht Jahre sein.“
„Hab Dank und geh deines Wegs.“
„Unverschämter Kerl“, beklagte sich der Angesprochene und verschwand in einer Seitengasse.
„Wir haben Glück gehabt, der Dämon wusste von dem Wahnsinnigen und dem Augenblick und hatte dich zur Zielscheibe auserkoren. Die Gefahr ist überstanden. Der Vorgang ist Geschichte.“
„Hab‘s verstanden“, lenkte ich beruhigter ein.
„Ich schlage vor, wir suchen uns für die Nacht eine Bleibe“, entschied Malyek.
„Du hast bereits einen Plan?“, riet ich, da mein alter Freund gezielt eine ankommende Karawanengruppe ins Visier genommen hatte.
„Wir folgen denen.“ Er deutete auf sie. „In einer Karawanserei ist immer gute Weil und so, wie ich den Sajjd einschätze, weiß er, wo es sich leben lässt.“
Unbekümmert folgten wir der Gruppe. Malyek behielt recht. Nach einem ordentlichen Fußmarsch standen wir hinter den emsigen Händlern vor einem derartigen Gebäude.
Wir umgingen das Durcheinander, das logischerweise einer Bewirtung bei ankommenden Karawanen folgen musste - die Verstauung der Waren, die Pflege der Tiere -, flohen in den Bereich der Annehmlichkeiten und ließen uns Tee servieren. Nebenbei sahen wir, wie die Dromedare in einen abgelegenen Teil geführt wurden.
Wir saßen auf der Erde auf bequemen Kissen. Der Gastbereich war frei der Hektik, die sich am Eingangsbereich aufstaute. Hier war es dunkel; allein durch die Eingangstüre erreichte das Sonnenlicht einen kleinen Teil des riesigen Raumes. Man behalf sich mit Öllämpchen. Ich genoss die Ruhe und träumte mich in die Arkaden hinein, die über uns schwebten und deren Umrisse Traumbilder erweckten.
„Vermutlich hatten wir Glück“, stellte ich fest, „mir scheint die Karawanserei nicht zu alt.“
Ein Araber wandte sich uns zu. „Ist von der valide sultan gespendet.“
„Oh, sie scheint eine wichtige Person zu ein“, sagte ich und lächelte.
Der Beduine war wohl den anderen voraus und freute sich, an uns interessierte Ansprechpartner gefunden zu haben. Geschickt drehte er sich an unsere Seite und riss dabei fast den Schlauch aus seiner Wasserpfeife.
„Die Türken schwören auf sie, zumindest die mir bekannten“, betonte er.
„Du bist keiner?“
„Meine Heimat ist näher bei Bagdad. Man muss sich nicht wundern, Kösem hat gar eine Moschee gestiftet.“
„Kösem ist die Sultansmutter?“ Ich leitete es aus dem Begriff ,valide sultan‘ ab.
„Genau.“
„Dann ist sie sehr wohlhabend?“
„Der Prophet hat sich stets für einen Wohlstand der Frauen ausgesprochen.“
„Das ist mir nicht neu.“
„So muss es dich auch nicht wundern, wenn viele der Moscheen von Frauen finanziert wurden - in den vergangenen Jahrzehnten sogar die meisten.“
„Du bist gut informiert“, lobte ich ihn.
„Ich bin nicht das erste Mal in Istanbul. Man erlebt stets neue Überraschungen.“
„Kann ich mir denken.“
Ich sparte mir eine direktere Nachfrage, da ich vermeiden wollte, in einen Wirrwarr von Geschichten über unendlich viele Herrschernamen, Meuchelmorde und ähnlichen Gräuel zu geraten. „Du hast deine Ware schnell verstaut.“
„Das lasse ich meine Sklaven machen. Für was hat man sie? Ich habe überdies Dinge, die schnell an den Mann kommen. Ich bediene die Venezianer. Da geht der Handel flott von der Hand. Die Kunst besteht darin, zu riechen, nach was ihnen gelüstet.“
„Und das verstehst du sicher vortrefflich?“
„Ich will nicht klagen. Man muss schauen, wo man bleibt. Ist bei mir nicht anders, als bei … ja, bei Kösem beispielsweise, wenn wir sie schon auf dem Tablett hatten.“
„Sie wusste die Gelüste der Venezianer ebenfalls zu nutzen?“, lästerte ich.
„Von wegen, von wegen. Es wird erzählt, sie wäre einem alten griechisch-orthodoxen Priester abgekommen und als Kind, angeblich hieß sie A-nastasia, versklavt worden. Es war ein Glücksumstand, dass sie in den Haushalt des Sultans kam.“
„Das hört sich nicht nach einer grausamen Kindheit an. Sie wird vermutlich eine strahlende Schönheit sein?“
„Warum grausam? Woher soll man Sklaven bekommen? Uns Moslems ist es untersagt, Gleichgläubige zu knechten. Da müssen die Christen und Juden herhalten. Eine Schönheit war sie sicherlich, den sie wurde schnell zur Konkubine erzogen, lernte zu nähen, tanzen, singen und Instrumente zu spielen. Wie es eben sein muss.“
„Dabei blieb es allerdings nicht?“
„So wie es aussieht nicht. Sie wurde eine Ehefrau Ahmets I. und bald die haseki“
„Und das bedeutet?“
„Die Nummer eins.“
„Ein glücklicher Umstand für das Volk“, unterstellte ich.
„Wem sagst du das. Was wären die Türken ohne Kösem, was wären sie…“, sinnierte er.
Nach einem kurzen gedanklichen Abschweifen kam er zum Thema zurück. „Es wird manches über die ,valide sultan` gesprochen. An bestimmten Tagen verteilt sie Kleider an die Armen, Mäntel und Turbane. Den Waisenmädchen bezahlt sie eine Mitgift, dass sie heiratsfähig werden.“
An der Stelle wurden wir unterbrochen. Verschiedene Männer seiner Sippe setzten sich zu ihm, so dass er sich mit einer freundlichen Entschuldigung abwandte.
Die Nacht in der Karawanserei wurde zu einer eigenartigen. Die Dromedare verdrehten mir den Kopf. Meine Wünsche waren voll und ganz auf Akabakar gepolt. Ich malte mir in den herrlichsten Farben aus, den Freund unter den Tieren zu finden. Mehrmals ging ich die Reihen der Kamele durch. Ergebnislos.
Als ich erfuhr, dass selbst zu später Stunde weitere Händler eintreffen könnten, entschied ich, unter den Tieren meinen Schlaf zu finden, damit ich gleich am rechten Ort wäre, falls Akabakar doch auftauchte.
Es blieben Wunschvorstellungen.
Übernächtigt taumelte ich morgens meinem Sitzkissen und einem neuerlichen Krug Tee entgegen.
„War wohl nichts“, empfing mich Malyek, als kannte er meine Sehnsüchte. „Hätt´s dir sagen können.“
Ich gab mich damit zufrieden.
Der Händler vom Vorabend gesellte sich an unsere Seite. „Was für eine vorzügliche Nacht nach dieser langen Reise, dem Propheten sei ewiger Dank. Dann wollen wir sehen, was der neue Tag bringt.“
„Der Prophet wird deine Geschicke steuern“, entgegnete ich.
„Die meinen sicherlich! Doch wird er ebenso die Geschicke der ,valide sultan‘ unterstützen? Das wird die Frage sein.“
„Deine Gedanken verstehe ich nicht“, warf ich ein.
„Es rumpelt, das ist mir gestern Abend zu Ohren gekommen. Im Palast ginge es heiß her. Wenig dringt nach außen, aber angeblich kochten die Suppen!“
„Ein Aufstand?“
„Es wird in diese Richtung gehen. Halten wir Auge und Ohr offen. Heute Abend weiß man mehr.“
„Angenommen, die Valide wäre nicht mehr die Herrin – brächte das schlimme Veränderungen?“
„Für die Istanbuler nicht auszudenken. Viele kennen nur sie. Was wären sie ohne ihre Frauen?“
Die letzte Bemerkung war derart markant - sie schlug fast wie eine Axt in einen weichen Holzklotz ein -, dass ich ins Grübeln kam. Ich erinnerte mich an die Erzählung während meiner Tage im Dreißigjährigen Krieg. Es fiel auf, dass sich die Türken fernhielten. Nach meinen Erlebnissen in Isfahan schloss ich, dass die persische Seite eine Lähmung der Schlagkraft herbeigeführt hatte. Trog das Bild oder zeigte es nur einen Teil der Wahrheit? Was spielte sich tatsächlich im Vorderen Orient ab?
„Was ist mit den Männern?“, fragte ich daher drängend.
„Was soll mit ihnen sein?“
„Gibt es sie?“
„Die Namen, die gibt es. Aber sind sie nicht Schall und Rauch?“
Tee wurde uns dargebracht. Der Händler verbrannte sich voreilig den Mund und verbiss sich die zweite Hälfte seiner Bemerkung, ein Kraftausdruck wäre es geworden.
„Vermutlich begann das Übel bei Mehmet III. oder zuvor, was weiß ich. Zuvor war alles sauber geregelt, die Söhne der Sultane töteten sich gegenseitig und der stärkste kam an das Erbe. Das war eine klare Geschichte. Jeder wusste, dass derjenige, der sich behauptet, der richtige Herrscher war.“
„Hat sich daran etwas geändert?“
„Wie will ich es erklären? Früher wurde es den Brüdern leicht gemacht, sich gegenseitig zu meucheln. In der Regel waren sie stets Halbbrüder, also Söhne verschiedener Konkubinen. Es hat sich die Untugend eingeschmuggelt, mit einer haseki mehrere Söhne zu zeugen. Verstehst du? Bruder und Bruder ist nicht dasselbe. Zudem sind Müttern gelegentlich mehrere Söhne gleich lieb. Sie bevorzugen nicht immer den, dem das Muskelwerk gut entsprungen ist und den sich Allah zum Führer wünscht. Es kam dann vor ... wie soll ich sagen. Du verstehst?“
„Das Erbrecht musste angepasst werden?“
„So kann man es sehen. Es gibt stets Erstgeborene.“
„Und die sollten Sultan werden?“
„Genau. Allerdings wäre Scherereien Vorschub geleistet worden, wenn man nicht mit Raffinesse vorgebeugt hätte. So bürgerte es sich ein, dass nur der Erstgeborene eine entsprechende Vorbereitung genoss und die anderen in Käfigen weggeschlossen wurden. Nur stumme Diener durften sie bedienen, unfruchtbare Frauen beglückten sie, man durfte die Nachfolge nicht verkomplizieren. Kurz und gut, sie wurden zu isolierten, verlassenen Narren erdrückt mit einem Wissensstand eines Kleinkindes.“
„Wenn dann der Erstgeborene starb?“
„Kam der Zweite in die Verantwortung.“
„Ein Mensch, der zum Idioten erzogen wurde?“
„Du sagst es, und du hast genau den Punkt getroffen.“
„Und die Macht?“
„Blieb bei den hasekis, den favorisierten Frauen, die ihnen an Bildung weit voraus waren.“
Was für ein Wahnsinn, sagte ich mir, als ich an jenem Tag allein die vielen Straßen abging, die ich seit Jahrhunderten kannte. Wie sich doch alles verändert hatte. Vom Glanz Konstantinopels war wenig erhalten geblieben. Stattdessen hatte sich auf den Trümmern eine veränderte Welt aufgebaut. Moscheen waren die Paläste der neuen Zeit, der Topkapipalast eine geheimnisvolle Insel.
Ich entschied, die größte und schönste aller Moscheen, die Blaue Moschee, zu besuchen.
Schon als ich zu der Stelle kam, wo die einstige Mese auf den Vorplatz des Gotteshauses traf, wurde ich der panischen Unruhe der Bevölkerung gewahr.
„Was ist hier los?“, fragte ich einen Passanten, der dem Gewirr von Menschen entkommen war.
„Sie haben den Großwesir auf die Straße geworfen.“
„Wie bitte?“
„Ahmet Pascha. Ich will nichts damit zu tun haben.“
Eilig stahl er sich davon.
Weinende Kinder. Mütter scheuchten sie aus der Menge, trieben sie weg. Ein Mann, blutbesudelt, schrie Worte, die ich nicht verstand. Auch er entfernte sich.
Hin- und hergerissen, blieb ich schließlich an Ort und Stelle. Brutale Gewalt verabscheute ich, doch Tatsachen zu kennen, nütze mir häufig. So biss die Zähne zusammen und näherte mich dem Tumult.
Mir bot sich ein Bild des Schreckens. Die Menschen waren außer sich, zerstückelten den Erschlagenen und schlugen auf seine Überreste ein. Sobald ich den Wahnsinn erkannt hatte, wandte ich mich ab.
Ahmet Pascha, der Großwesir, ging als Hezarpare, „der Mann der 1000 Stücke“, in die Geschichte ein.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Bluttat und damit verbunden ihre Hintergründe. Anfangs noch blass, erhielten gegen Abend manche Berichte Farbe.
„Ich hab‘s verstanden“, erklärte Malyek mir, als er zu später Stunde in der Karawanserei eintraf. Dieses Mal zog er dem Tee einen Wein vor, den es hier durchaus auch gab.
„Sind wir in Gefahr?“
„Was für eine Frage! Ach Manuel! Wie immer!“, seufzte er. „Was tun wir?“
„Verschwinden?“
„Höre zuerst, was ich erfahren habe. Dir ist bereits bekannt, dass Sultan Ahmet I., übrigens der Sohn Mehmet III., Kösem zu seiner haseki gemacht hat. Seinen Erstgeborenen, der kein Sohn Kösems war, sah er für seinen Erben vor. Die anderen Söhne ...“
„Wurden eingekerkert?“, warf ich dazwischen.
„Wie der Händler es berichtet hatte. Ahmet ist vor 31 Jahren an Typhus gestorben. Der Sohn, der für seine Nachfolge in Frage kam, Osman, zählte damals 13 Jahre. Es muss eine merkwürdige Situation gewesen sein, denn der Kronrat, der normalerweise über solche Dinge gar nicht verfügt, verweigerte sich und holte einen Bruder Ahmets, Mustafa, auf den Thron. Er wurde also aus dem ,Käfig‘ geholt, so will ich die Erziehungskammer nennen, und nach drei Monaten brach das Chaos aus. Dem Kronrat blieb nichts anderes übrig, als nun doch den jungen Osman zu akzeptieren.“
„Du beginnst mit deiner Erzählung sehr früh, das heißt, es verbirgt sich mehr dahinter?“
„Durchaus. Dieser Osman, Osman II., hatte Probleme mit dem Nachwuchs. Alle Söhne starben nach der Geburt. Aber das allein wurde nicht zu seinem Dilemma. Er hatte eine Muslimin zur Ehefrau gewählt, keine Konkubine, und die lehnte den Aufenthalt im Harem ab.“
„Verstehe ich.“
„Du ja, aber nicht das Militär, die Janitscharen. Sie fürchteten, diese Frau könnte zu mächtig werden und Einfluss auf den Sultan gewinnen.“
„Wurde sie getötet?“
„Das nicht, aber Osman wurde vom Thron gerissen und statt ihm der trübsinnige Mustafa aus der Versenkung geholt. Nicht unterbrechen! Es klappte 18 Monate lang, und danach war er samt der Sultanmutter weg.“
„Du betonst Sultanmutter.“
„Gut herausgehört. Jetzt kam die Stunde Kösems und ihres erstgeborenen Murads IV.“
„Auch er ein Sohn Sultan Ahmets I.?“
„Das war er. Wie wurde mir dieser Murad beschrieben? Klug. Brutal. Sozial gestört. Säufer. Sadist.“
„Das war doch dieser Idiot, der den Pfeil auf mich abgefeuert hat.“
„Sultan bitte, Sultan! Er war es … der Idiot. Er muss mitunter erfolgreich gewesen sein, hat Eriwan besetzt, Bagdad erobert und herrschte bis vor sieben Jahren, wobei die Regierungsgeschäfte über Kösem liefen. Sie pflegte zwischenzeitlich politische Verbindungen bis weit in die Welt hinaus.“
„Und Murad starb also vor sieben Jahren?“
„Ja, und vor seinem Tod entschied er, die Dynastie zu zerstören. Er gab Befehl, seinen Sohn, Ibrahim, zu töten.“
„Sind hier alle wahnsinnig?“
„Das wird so stimmen. Kösem und der Thronrat verhinderten es. So kam nach Murads Ableben Ibrahim im 24. Lebensjahr auf den Thron. Er, in der bekannten dunklen Zelle aufgewachsen, litt ständig unter Todesangst, Bindungen zu Menschen kannte er nicht und so versuchte Kösem ihm das Frauengeschlecht schmackhaft zu machen. Mit Erfolg. Mit überdurchschnittlichem Erfolg.“
„Ich verstehe.“
„Fangspiele mit nackten Konkubinen haben ihm anscheinend vor allem am Herzen gelegen und wehe, ihm wäre eine Dame auf dem Flur begegnet ...“
„Komm zur Sache.“
„Hadice Turhan wurde seine Hadice.“
„Kösem hatte abzudanken?“
„Die Situation ist problematisch. Alles war auf Kösem gepolt. Der Sohn spielte verrückt, ernannte einen Bademeister zum General der Janitscharen, baute Wasserleitungen um, um die eigenen Gärten zu bewässern, so dass die Bürger ohne das Nass dursteten. Dann gesellten sich noch folgenreichere Fehler dazu: Den eigenen Sohn schloss er in einer Zisterne ein - er konnte in letzter Not gerettet werden. Den Mufti, den höchsten Geistlichen, zwang er, die Tochter dem Harem zu überlassen.“
„Das war zu viel?“
„Kösem und der Geistliche entschieden den Aufstand.“
„Erleben wir diesen Putsch gerade in diesen Tagen?“
„Der Wesir, den du heute sterben sahst, war Ibrahim streng ergeben. Es ist heute weiteres geschehen, Ibrahim wurde vom Thronrat abgesetzt. Vermutlich werden sie ihn ins Gefängnis gebracht haben. So wird zumindest erzählt.“
„Und?“, fragte ich, nachdem Malyek innehielt.
„Ich bin am Ende angekommen.“
„Verschwinden!“
„Wie?“
„Das ist die Antwort auf die Frage, die du mir am Anfang unseres Gespräches gestellt hast.“
An dieser Stelle will ich die Ereignisse um einige Punkte ergänzen: Ibrahim wurde ein Jahr später von den Scharfrichtern stranguliert. Sein Sohn Mehmet kam darauf mit sechs Jahren an die Sultanswürde und an seiner Seite die Sultanmutter Hadice. Die Auseinandersetzungen zwischen den Frauen entschied Hatice für sich. Kösem sollte bei einem Aufbegehren getötet werden.
„Äh, wie bitte?“
Irritiert schaute ich um mich. Wir standen in einer mittelalterlichen Stadt im Herzen Europas.
„Münster.“ Malyek klang gelassen.
„Ganz gezielt gewählt?“
„Bist doch Katholik? Habe mich daher für Münster entschieden. Wärst du ein Protestant, verpflanzte ich dich nach Osnabrück.“
„Was blüht im Hintergrund?“
„Du kennst doch den Krieg, den man den beiden Religionen in die Schuhe schiebt.
„Nein, bitte nicht. Vor dem habe ich die Nase gestrichen voll.“
„Ich kann dich beruhigen, die Heere stehen sich nicht mehr gegenüber! Friedensverhandlungen.“
„Sag das nochmals!“
„Friedensverhandlungen.“ Maylek lächelte. „Für dieses Jahr sah ich keinen Ort, der sicherer sein kann. Niemand ist auf Gewalt programmiert. Ich wollte dich aus dem Schlamassel heraushaben. Man hat mir deutlich die Augen geöffnet, wie sehr du unter der ganzen Gewalt leidest. So ist beschieden, du sollst zwischendurch die Früchte deiner Menschlichkeit ernten.“
„Meiner Menschlichkeit? Was habe ich damit zu tun?“
„Mehr als du fassen kannst. Die stillen Keime deiner selbst, sie bringen die Menschheit durchaus zu solchen Entwicklungen.“
„Friedensschlüsse.“
„Mitunter.“
Der Wechsel von der orientalisch geprägten Stadt Istanbul in das Herz Europas war zu vehement. Ich brauchte einige Stunden, bis ich den Schritt verdaut hatte. Malyek fand in der Zwischenzeit jemanden, der uns ein Zimmer bereithielt. Welche Kanäle er für diesen Erfolg wählte, blieb mir verschlossen. Es muss dabei ein Beziehungssystem zum Tragen gekommen sein, das ich schwer durchschaute und nicht hinterfragte. Über den Namen unserer Gastgeberin war ich zumal überrascht: Droste zu Hülshoff. Mir war der Name der Dichterin bekannt, die noch lange nicht am Leben war. Malyek sah meinem Gesicht die Verunsicherung an.
„Du kennst den Namen?“
„Ja, aber mehr nicht.“
„Wir sind bei einer ehrwürdigen Familie gelandet, sie gehörte zu den Erbmännern. Ich will es so ausdrücken, Herren, die zum Hohen Rat, zum Bürgermeister und ìn ähnliche Positionen gewählt werden durften.“
„Mittlerweile ist es nicht mehr so?“
„Vieles hat sich geändert. Münster kämpft gerade darum, als freie Reichsstadt anerkannt zu werden. Reich ist sie zumal. Sie ist eine vorgelagerte Hansestadt. Der Handel hat sie veredelt.“
„Oh, das wusste ich nicht.“
„Nun halte dich fest, Münster hatte gar einen König, der vor hundert Jahren das Königreich Zion ausrief.“
„Ein Verrückter?“
„Jan van Leiden. Es war eine radikale christlich-protestantische Bewegung, die Täufer, die die Stadt für sich in Anspruch nahm. Siehst du die drei eisernen Körbe an der Kirche?“
Malyek zeigte auf einen Kirchturm. Weit oben schwebten eiserne Käfige.
„Ein Bischof, Franz von Waldeck, hat die belagerte Stadt befreit. Die Anführer der Täufer endeten in diesen Körben in luftiger Höhe.“
„Wo geht es zu den Hülshoffs?“
„Wir halten uns links.“
Bald stellte sich heraus, die Gunst, die uns erwiesen wurde, ging nicht von Bernhard III. Droste zu Hülshoff aus, sondern dem habsburgischen Gesandten Graf von Wolkenstein-Rodenegg. Er bewohnte das Gebäude, in das mich Malyek führte. Mit dem Grafen freundete ich mich bald an, zumal ich begriff, dass die Österreicher konsequent auf ein Ende des Krieges zielten und massiv auf einen Friedensschluss drückten.
Münster – Osnabrück. Was hatte es mit diesen Städten auf sich?
Malysek war enorm gut im Bilde. Damit die Verhandlungen nicht durch Querelen beeinträchtigt wurden, beherbergte Münster die Katholiken, Osnabrück die Protestanten. Alle Zufahrtsstraßen waren gesperrt. Beide Orte wurden zu einer kriegsfreien Zone ausgerufen. Das bedeutete allerdings auch, dass der Krieg längst nicht zu Ende war. Er tobte ungebremst weiter und beeinflusste jahrelang die Beratungen. War eine der Parteien durch eine erfolgreiche Schlacht im Vorteil, so ging sie mit erhobenem Haupt in die Gespräche und stockte ihre Forderungen auf. Da die Aktivitäten der Heere während der Winterzeit schlummerten, war die Winterzeit die fruchtbarere, um sich nä-herzukommen. Die eingefärbte Blätterwelt ließ auf den Oktober schließen. Das entfachte Hoffnungen.
Einem stolzen Herrn begegneten wir im Flur. Er würdigte mich keines Blicks, obwohl ich ihn freundlich grüßte.
„Das kannst du dir sparen“, betäubte Malysek meinen Missmut. „Octavio Piccolomini. Er war einst einer der Generäle Wallensteins, flog dann nach dessen Tod einige Stufen hoch.“
„Ist mir nicht unbekannt“, entgegnete ich. „So sieht der Typ also aus.“
„Klingt nicht unbedingt freundlich.“
„Es sind dunkle Erinnerung, die ich mit ihm verbinde. Er war an dem Mord an Wallenstein beteiligt. Von dem Geschehen ab weiß ich nichts mehr von dem Krieg. Es ist mir ganz lieb so.“
„Da war gerade mal Halbzeit.“, witzelte Malysek, als spräche er von einem lapidaren Wettkampf.
„Ist danach noch Einschneidendes geschehen, oder gab es nur noch Mord, Tod, Hunger und Seuchen?“
„Du fasst das Wesentliche in einem grauenvollen Wortquartett zusammen. Allerdings ist es damit nicht getan. Die politischen Machenschaften und Fallstricke eröffneten Spielwiesen, die ganz Europa ein neues Bild aufzwingen wollen.“
„Das Bild wird derzeit geprägt ... ich meine ausgehandelt?“
„Das kannst du so sehen. Der deutsche Zwist verseuchte das gesamte Europa, veränderte es - jetzt ist es an der Zeit sich die Pfründe langfristig zu sichern.“
„Wie das?“
„Es ist einfach erklärt. Nach Wallensteins Tod fühlte sich Kaiser Ferdinand verpflichtet, das Heereswesen neu aufzustellen, und er sah in dem eigenen Sohn, er ist zwischenzeitlich Kaiser Ferdinand III., den rechten Mann dafür. Bei Nördlingen kam es zu einer Entscheidungsschlacht, die zugunsten der Habsburger endete und die protestantischen Heere aus dem Süden verwies. Ferdinand kamen die Männer zugute, die zuvor in Mantua und Oberitalien gekämpft hatten, dann aber von den Spaniern in die Niederlande beordert wurden.“
„An die Erbzwistigkeiten in Italien kann ich mich erinnern. Soweit ich weiß, war Frankreich darin verwickelt.“
„Absolut. Den Schweden fehlte ihr erschlagener König. Zurückgedrängt befürchteten sie weitere Einbußen und riefen Kardinal Richelieu, also die Franzosen, zu Hilfe. Der Kardinal, bislang den Skandinaviern wohlgesonnen, witterte darin Gefahren und Chancen. Es geschah das, was keiner wollte: Mit dem Eintritt Frankreichs in den Krieg wurde der Zwist endgültig zu einer europäischen Sache. Richelieu dehnte die Grenzen seines Landes bequem zum Rhein hin aus und sicherte sie mit entsprechenden Verteidigungslagen. Gleichzeitig zurrte er den Pakt mit den Niederlanden fest. Danach war die Vorlage gegeben, um den Krieg zwischen den Ländern Frankreich und Spanien auszulösen.“
„So brannte es in Europa überall lichterloh?“
„Kriegsschauplatz blieben die deutschen Lande. Der Kaiser musste die unberechenbaren Gesellen, die Kurfürsten, auf irgendeine Weise besänftigen. Auf Grund einer friedlichen Annäherung in Prag rang sich der Kaiser durch, das Restitutionsgesetz, das Brandbeschleuniger des Kriegs war, für vier Jahre auszusetzen. Im Gegenzug wurden den Fürsten Bündnisse untereinander versagt. Es passte nicht jedem, insbesondere der Bayer war vergrämt. Zu all dem sollten die Truppen der deutschen Fürsten dem Kaiserheer zugeführt werden.“
„Ein gewaltiger Machtblock, wie ich erkenne. Und das gelang?“
„Die Heere hatten sich längst selbst organisiert. Von Frieden war keine Rede. Das Chaos irrte ungedrosselt weiter und verheerte die Verwüstungen.“
„Du sagtest, Ferdinand III. sei zwischenzeitlich Kaiser?“
„Viele der Personen, die dir in Erinnerung sein mögen, sind in den Kriegsjahren verstorben. Neben Kaiser Ferdinand II. auch Kardinal Richelieu, Frankreichs König Ludwig XIII. und Papst Urban VIII.“
„Wer lebt denn noch?“
„Axel Oxenstierna, der Schwede, Maximilian von Bayern und Johann Georg von Sachsen.“
„Es ist eine blumige Garde, die verschwunden ist. Die Nachfolger kennen wahrscheinlich nichts anderes als den Krieg.“
„…und sind ihn vielfach satt. Eine der wichtigsten Personen wird dir die nächsten Tage über den Weg laufen, der erste Berater Ferdinands III., der Trauttmansdorff. Du erkennst ihn an seinem Mundartgeschwätz. Er ist absolut friedliebend.“
„Und wer ist in Frankreich König?“
„Ludwig XIV.“
„Oh“, entfuhr es mir. Der Stern des Sonnenkönigs war aufgegangen.
„Ein junger Kerl. Zu jung. Der Kronrat und die Königswitwe Anna von Österreich halten noch das Zepter in der Hand.“
„Und wer folgte auf Richelieu?“
„Kardinal Mazarin kam an seine Stelle. Er hat vom Alten viel gelernt, ist aber lange nicht so klug. Friedrich Wilhelm von Brandenburg will ich dir bei dieser Gelegenheit noch vorstellen. Er ist der Sohn Georg Wilhelms, durchdacht und hart. Er wird eine Rolle spielen.“
Einige Anmerkungen Malyeks über die Anschauung des in der Zwischenzeit bestimmenden Papstes, Innozenz X., wunderten mich wenig. Er war Spanien zugeneigt und unterstützte bei den anstehenden Verhandlungen lediglich Befriedigungen unter den Katholiken. Um dieses Interesse zu wahren, entsandte er seinen Nuntius Chigi und einen Botschafter aus der Republik Venedig, Contarini, in die westfälische Stadt. Kontakte mit den Protestanten lehnte er ab. Mit Glaubenslosen wäre eine Einigung unrealistisch, bekräftigte Seine Heiligkeit. Wer schenkte jemandem, der nicht glaubte, Glauben?
Man wird versucht haben, dem frommen Menschen diese harte Gangart abspenstig zu machen. Das unterstellte ich, denn es kursierte ein weiteres Dekret Seiner Heiligkeit: bei Gesprächen war es verboten, den Protestanten in die Augen zu sehen. Gespräche? Bedeutete dies nicht ein Miteinander und das Finden von Lösungen?
Münster. Der Reichtum, den die Hanse in die Stadt gespült hatte, war ersichtlich. Die Handelshäuser der Wohlhabenden reihten sich im Herzen der westfälischen Metropole Seite an Seite.
Aus dem Blickwinkel meiner Unterkunft heraus betrachtet, war der Weg zur St. Lambertikirche, also dort, wo die Gestelle der Täufer aufgehängt waren, und der zum Rathaus von nahezu identischer Entfernung. Die Friedensverhandlungen fanden im Ratssaal statt. Müßiggang hatte ich genügend und daher schlenderte ich regelmäßig durch die Märkte und den Auslagen der Kaufhäuser.
Unter dem Angebot eines Schmieds fand ich eine raffiniert gestaltete Haustürglocke. Mein Vater hatte eine ähnliche gesucht und war dafür viele Städte abgefahren. Ein tiefer Seufzer entkam mir.
Wieder einmal durchwanderten wir die Bogengänge des Prinzipalmarktes. Im Rathaus musste es heftige Diskussionen gegeben haben, denn aufgewühlte Botschafter verließen das Gebäude, diskutierten auf der Straße und verschwanden bald wieder in dem gotischen Bau. Sie zogen bei der Gelegenheit einige Beamte mit, die zuvor in den Gasthäusern ihre Wartezeit mit der Verkostung von Gerstengebräu verbracht hatten. Uns war es lieb. Malyek und ich ergriffen die freigewordenen Plätze.
Mein Freund schaute mich einige Zeit nachdenklich an, bevor er mit einer Frage aufwartete.
„Was vermutest du? Wie lange werden wir in Münster sein?“
„Ich verstehe die Frage nicht“, gestand ich.
„Wenn uns das Umfeld nicht passt, können wir in einer Stunde weg sein. Ich sehe allerdings keinen Grund dazu. Du weißt, wie sehr ich mir ein gesichertes Milieu wünsche.“
„In einem solchen wähnst du dich?“
„Zugegeben, ja. Hast du Zweifel?“
„Lassen wir es so stehen.“
„Hast du nicht selbst diesen Ort gewählt?“ Ich blieb bei dem Thema. „Wo verstecken sich bei dir Hintergedanken?“
„Münster wählten wir für dich aus, damit du nicht ständig mit Blut und Krieg in Berührung kommst, sondern mit dem reifenden Frieden versöhnliche Augenblicke erlebst. Meine Aufgabe ist damit beendet.“
„Was hast du vor? Willst du mich im Stich lassen? Hast du nicht wahrgenommen, dass überall um uns herum der grauenvolle Krieg weiter wütet? Allein hier ist eine Insel der Seligkeit.“
„Es gibt für mich keine Vorgabe“, besänftigte er mich.
Er gönnte sich einen kräftigen Schluck aus einem halbgefüllten Krug, den einer der Räte in der Eile zurückgelassen hatte.
„Friede“, sinnierte ich. „Friede nach dreißig Jahren Entsetzen. Das Land ist restlos am Ende. Es ist erschütternd, wenn ein darniederliegendes, sterbendes Volk einen Frieden akzeptieren muss, der den Kriegsherren zugutekommen wird. Niemand interessiert sich für das Volk, die Bauern, die Bürger. Wären auch Höfe zwanzigmal geplündert, Städte wieder und wieder niedergebrannt, Menschen hundertfach verschleppt.“
„Du hast diese Realität kennengelernt. Die Gewalt ist die Normalität. Das Problem ist, den konkreten Zeitpunkt für den Kriegsschluss zu finden. Er muss auf eine Stunde fallen, in der jede Partei für sich selbst einen strategischen Vorteil sieht.“
„Dann ist es nicht der Friede, der angestrebt wird, sondern es geht darum, herausgespielte Vorteile umzumünzen?“
„Das wird die Wahrheit treffen. Die Kurfürsten, deren Schlösser aus den Trümmerfeldern herausragen, mögen ein Interesse an der Versöhnung haben, kaum aber die Mächtigsten der Mächtigen, die ihren stumpfen Willen bestätigt wissen wollen.“
„Und doch gibt es diese Friedensverhandlungen!“, fügte ich hinzu, eher träumend.
„Sie sind das Ergebnis einer Gegenentwicklung, die nicht vorhersehbar war.“
Ich horchte auf. „Erklärst du mir das Ganze?“
„Es ist angebracht. Ich will eine Kriegspartei herausgreifen, Spanien unter ihrem König Philipp IV.“
„Spanien ist weit vom Schuss.“
„Denkst du. Die habsburgischen Spanier kämpfen überall.“
„Das entging mir nicht.“
„Dann also. In Spanien, das darf nicht übersehen werden, eröffnete sich ein separater Brandherd. Erst kurz vor der Katastrophe hatten die Staaten Iberiens eine Einheit gefunden. Wahrscheinlich war sie zu frisch, um die Anspannung des Krieges auszuhalten. Philipp überspannte die wirtschaftlichen Kräfte seines Landes, erhob aus Not willkürliche Steuern und rekrutierte aus dem ganzen Land Soldaten. Den Katalanen passte das nicht und so begehrten sie auf. Es blieb keinesfalls bei einer unbedenklichen Demonstration, nein, sie erinnerten sich ihres damaligen Königs, des Franzosen Ludwig VIII., und den bestimmten sie zu ihrem Grafen. Logischerweise triumphierte Richelieu und verwies auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Diese Argumentation und nicht weniger die Einflussnahme des Kardinals auf Portugal, führte zur Abspaltung der Katalanen. Philipp und sein unfähiger Berater Olivares standen den Entwicklungen hilflos gegenüber. Bei all dem hatten die Niederländer kurz zuvor die spanische Flotte in die Tiefen der Meere versenkt. Von 67 Schiffen entgingen gerade mal sieben dem Inferno. Es sollte noch schlimmer kommen. Bei der Schlacht bei Rocroy – somit auf französischer Erde – vernichteten die Niederländer erhebliche Teile des spanischen Heers. Auf Grund seiner Fehlschläge schickte Philipp IV. Olivares nach Toro ins Exil. Kaum ein ähnliches Desaster ist mir in der Weltgeschichte bekannt.“
„Willst du mir damit sagen, Spanien ist in sich zusammengebrochen?“
„Gut ausgedrückt! Der eiserne iberische Einfluss, der den Kaiser stets zum Krieg ermutigte, verblasste zunehmend. Das Resultat war erfreulich, Maximilian von und zu Trauttmansdorffs Einfluss schlug durch. Er, ein kluger Berater des Kaisers, strebte stets den Frieden an. Natürlich litten die Markgrafen erheblich unter der Kriegslast. Sie drückten längst auf Ruhe. Ferdinand III. blieb im Ergebnis gar keine andere Wahl, als einzulenken. Auf Fürsten- und Reichstagen in Nürnberg, Regenburg und Frankfurt setzte sich der Friedensgedanke zunehmend durch.“
„So wurden die Städte Osnabrück und Münster für die Verhandlungen…“
Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Ein Edelmann war eingetreten und stand nahezu drohend vor mir. Er war mit bekannt, doch wohin musste ich ihn stecken?
„Herr Freiherr von Oxenstierna…“Malyek half mir auf die Sprünge.
Der Groschen fiel: Es war der ehemalige Kanzler Gustav Adolfs, den ich verunsicherte. Ihm war vor der Schlacht in Lützen mehrmals begegnet, hatte gar Depeschen für ihn verfasst. Nun visierte er mich ausgiebig.
„Kann es sein, dass ich dich als Schreiber in Erinnerung habe?“, fragte er.
„Es war eine glückliche Zeit in den Diensten des schwedischen Heers“, erwiderte ich und bog jeden Zweifel einer Ungereimtheit zur Seite.
„Man hätte erneuten Bedarf. Bist du an die Katholischen gebunden?“
„Ich kann frei über mich verfügen.“
„Stellt ein zusätzliches Pferd bereit!“, gebot er einem weiteren Herrn, der mit ihm die Gaststätte betreten hatte.
„Malyek?“ Ich wandte mich verunsichert an den Freund.
„Dann ab nach Osnabrück“, sagte er und lächelte. „Meine Zeit ist ohnehin abgelaufen.“
„Versprichst du mir, dich um Atid und Silve zu kümmern?“
„…und um Amnara“, ergänzte er und nahm mich in die Arme.
Oxenstierna erwartete, dass ich ihm auf der Stelle folgte.
Dass Osnabrück von den Protestanten zum Gegenstück des katholischen Münsters gewählt worden war, lag angeblich daran, dass die Stadt kaum zerstört worden war.
Mich überzeugte die Begründung kaum. Seuchen und Stadtbrände hatten sehr wohl ein desaströses Bild hinterlassen. Ich schloss daher, dass es um die anderen Städte noch übler stehen würde. Allerdings kam mir ebenso zu Ohren, Gustav Gustavson, ein unehelicher Sohn Gustav Adolfs, sei Administrator des Hochstifts Osnabrück gewesen. Das wird die Wahl beeinflusst haben.
Die kommenden Wochen überspringe ich. Die Verhandlungen schritten fort und es wurden Ziele formuliert. Einer der ersten Verträge, der den Friedensschluss zwischen dem deutschen Kaiser und den Schweden fixierte, wurde im Rathaus zu Osnabrück unterzeichnet. Ich war zugegen.
Der 24. Oktober 1648 sollte mir im Gedächtnis bleiben, der Tag des Westfälischen Friedens.
Die Spannung in Münster war am Bersten. Während der Verhandlungswochen war manches prunkvolle Fest am Rande zustande gekommen, an jenem Tag hielt alles den Atem an. Lösungen lagen auf dem Tisch und an nun sollte alles unterzeichnet werden. Mir selbst war der Zutritt zu den Ratsherrlichen Räumlichkeiten nicht gestattet. Vertreter aller Parteien hatten sich eingefunden und daher platzte das Gebäude beinahe aus allen Nähten.
Mit dem Friedensvertrag wurde ein Sammelsurium von Kompromissen zusammengeschweißt. Kaum durfte man von einem einzelnen Vertrag sprechen, doch das zentrale Schriftstück enthielt alle entscheidenden Punkte.
Frankreich konnte eine Ausdehnung in Richtung des linken Rheinufers erreichen. Metz, Toul, Verdun und Lothringen waren die Schlagworte. Ebenfalls war eine Diskussion über die Zugehörigkeit des Elsass entstanden. Die Spanier beanspruchten diese Flächen für ihren Weg nach Belgien, daher wurde Straßburg zur reichsunmittelbaren Stadt erklärt, das Elsass selbst erhielt einen selbständigen Status, allerdings unter dem Schirm der Franzosen. Dass dadurch spätere Differenzen unabdingbar sein würden, das dürfte jedem klar gewesen sein. Die Niederlande errang die volle Selbständigkeit, was sogar von Spanien anerkannt wurde. Auch der Schweiz gelang eine Statuserhö-hung: Habsburg gab Gebietsansprüche auf, und durch kluges Taktieren des Bürgermeisters Wettstein gelang Basel der Weg in die eidgenössische Gemeinschaft. Schweden behielt Vorpommern samt der Hauptstadt Stettin und erhielt fünf Millionen Taler. Hinterpommern verblieb bei Brandenburg, ebenso Halberstadt und Magdeburg. Bei der Teilung der Pfalz blieb es. Die Oberpfalz wurde fester Bestandteil Bayerns, die Rheinpfalz bekam Karl Ludwig, der Sohn des einstigen Pfalzgrafen Friedrich V., zugesprochen. Sein großer Gewinn war die Zuerkennung der Kurfürstenwürde, die der Vater verloren hatte.
Und der Kaiser? Er sicherte sich die Hoheit der eigenen Erblande und der dazugehörigen Ländereien in Oberitalien, so wie die Entscheidungsgewalt über die Religion in Böhmen und Österreich.
Als grundsätzlicher Besitzstand wurde die Situation des Jahres 1624 herangezogen.
In der Summe gingen die deutschen Fürsten gestärkt aus den Verhandlungen hervor, da der Kaiser an Einfluss verloren hatte. Deutlich war eine Weiche in Richtung des royalen Absolutismus gestellt worden.
Schaden erlitten die Städte auf breiter Front, wollte man von Hamburg absehen, das sich als weltoffene Handelsstadt weiterhin behaupten konnte. Geschädigt sah ich ebenso das Papsttum. Die Durchschlagskraft der herrisch auftretenden Heiligkeiten war für alle Zeit gebrochen.
Wenn ich auch in Münster die Vertragsunterzeichnungen nur am Rande mitbekam, stand ich am folgenden Tag in Osnabrück im Mittelpunkt. Der Friede wurde auf der Rathaustreppe verkündet und verlesen. Ich weilte an der Seite Oxenstiernas, des schwedischen Reichskanzlers, und schaute auf die unzähligen Menschen, die hoffnungsvoll jedes Wort aufsaugten.
Mein Blick fiel auf eine dunkle Gestalt, die, auf einem erhöhten Protest stehend, sich nichts entgehen lassen wollte: der Sohn des Utukxuls.
Einen leichten Hauch von Verachtung konnte ich kaum verhehlen. Ein weiteres Mal war ein Triumph über die Dämonenwelt errungen worden. Unendlichen Hass erwiderte er. Bezwungen drückte er sich unter die Menschen.
Quer durch das Land wurde in den Kirchen das Tedeum angestimmt. Feste - in vielen Gebieten Huttänze - würden in Kürze aus der Taufe gehoben werden, um die Warnung vor dem Schrecken am Leben zu erhalten. Feierlicher Protest erklang aus Rom.
Die Rückführung aller Truppen sollte noch Jahre dauern.
Sicher fühlte ich mich in Osnabrück keinesfalls. Pausenlos wähnte ich mir den Dämon nahe. Auf Schritt und Tritt hörte ich sein Atmen in meinem Nacken. Wandte ich mich um, blieb es bei einer ängstlichen Einbildung.
Verträumt saß ich mehrmals nach der Veranstaltung auf der Rathaustreppe und beobachtete die vielen Menschen, Handwerker, Kaufleute, die mit neuem Mut ihren Geschäften nachgingen. Ältere Personen zögerten mit Aussagen, ob alles wieder so werden könnte, wie es vor dem ewigen Krieg war. Jugendliche und Kinder konnten sich unter der Hoffnung, die sich ausbreitete, nichts vorstellen.
Eine junge Frau und ein Mann fanden sich verschämt in einem versteckten Winkel. Ihr Kuss rührte mich.
„Ein Sieg ist stets der Ausgangspunkt zu einer Niederlage“, hörte ich. Der Dämon stand an meiner Seite.
„Willst du mich das lehren?“ Ich versuchte die Ruhe zu bewahren.
„Lehren muss ich es nicht. Es ist ein Faktum.“ Der Hohn hatte in seine Gesichtszüge zurückgefunden.
„Du magst recht behalten. Sieg oder Niederlagen haben wenig Bedeutung. Am Ende steht das, was sich auf lange Zeit durchsetzt.“
„Auf keinen Fall dein Friedenswahn. Ein solcher ist nicht menschgegeben.“
„Vielleicht ist es so. Wir haben es nicht in der Hand.“
„Den Frieden nicht!“ Er wurde scharf, „Dagegen ist ein Leichtes, einen Krieg zu entfachen.“
„Wer schenkt dir diese Sicherheit?“
„Die Lehre der Väter und der Väter der Väter.“
„Wir werden sehen, später oder später nach später“, lästerte ich.
„Schenke dir deine Albernheiten. Finde zur Vernunft, nein, zur Realität zurück!“
„Zeig sie mir“, antwortete ich übermütig.
Aus lichtem Himmel zuckte ein Blitz, darauf verdunkelte sich alles.
Ich hielt mich an einer Wand in einem abgedunkelten Raum, um nicht zu stürzen. Der Dämon stand unverrückt vor mir.
„Und schon haben sich die Vorzeichen verändert“, triumphierte er.
„Was hast du vor?“. Mir grauste.
„Ich? Ich, nichts. Du bist an der Reihe!“
Zweifelsfrei stand ich in einem Verwaltungsgebäude.
Männer strömten von einer engen Eingangstüre herein. „Angesehen“ war das passende Wort, um sie zu beschreiben, achtungsgebietend waren ebenso die Möblierung und die Ausschmückung des Saals. In Reihen setzten sich die Herren auf die Stühle.
„Geselle dich dazu!“, forderte der Dämon.
„Ich? Was soll ich da?“
„Wirst schon sehen.“
Verunsichert suchte ich Abstand zu der üblen Gestalt und verbarg mich zwischen zwei Männern, die mir einen aufgeschlossenen Eindruck vermittelten.
„Bist du neu hier?“, fragte mich der Erste.
„Vertretungshalber …“ Ich suchte eine Ausflucht, auf die ich eine Portion Unwissenheit aufbauen konnte.
„Das geht auch? Man ist immer aufs Neuerliche überrascht. Nun, man wird heute zur Ausnahme gegriffen haben. Es wird interessant werden, wie viele Abgeordnete erscheinen werden. Von den 135 Mitgliedern des Tribunals werden manche fernbleiben.“
Tribunal? Gericht, kombinierte ich. Glücklicherweise sah ich mich weder auf der Anklagebank, noch im Zeugenstand.
„68“, murmelte ein Mitglied in meinem Rücken, als die Türe verschlossen wurde. „Gerade die Hälfte.“
„Man hat gut daran getan, dich als Vertreter zu schicken. Es gibt ein schlechtes Bild ab, wenn sich zu viele verweigern.“
Ich nickte.
Ein Sprecher begab sich in das Herz des Saals, die anderen stellten die Gespräche ein.
„Sirs“, hob er an, „es ist beklemmend, dass nur ein Teil der Personen, die Verantwortung tragen, heute gekommen sind. Allein für diesen Tag wurde das Hohe Gericht einberufen und dazu gehört es auch, zu der Aufgabe zu stehen. Wir wollen heute entscheiden, wie in der Sache King Charles I. weiter zu benehmen ist, und darum will ich unserem Kollegen Oliver Cromwell das Wort geben, da er näher an den Geschehnissen dran ist, wie sonst jemand. Kein Mensch ist besser in der Lage die Gefahren zu durchleuchten als er. Ich bitte.“
Allgemeiner Applaus.
Oliver Cromwell, England - das hatte ich begriffen. Betroffen verfolgte ich seinen Auftritt.
„Meine Herren, jedem ist klar, wir haben heute eine Entscheidung von enormer Tragweite zu treffen. Angeklagt ist der König! Er, eine herrschsüchtige Gestalt, hat unserem Land großen Schaden zugefügt. In meinem ganzen Wirken war ich bestrebt, gemeinsam mit dem Parlament, Sie wissen das, eine gütige Lösung zu finden, die ein Miteinander von Krone und Commons zum Wohle unserer Länder möglich machte. Der Versuch ist gescheitert.“
Getuschel zeugte von verschiedenen Ansichten.
„Er allein strebt nach göttlicher Allmacht und wähnt sich erhaben, mit uns Spiele zu treiben, die abträglich sind. Wir wissen von verbindenden Gesprächen zwischen ihm und Frankreich, und wir erlebten, wie er das schottische Heer gegen sein eigenes Volk richtete. Wenn wir das nicht als Hochverrat erkennen, so verdient dieses Wort keine Existenz. Das Urteil lautet für ein derartiges Vergehen ,Enthauptung mit dem Schwert‘. Wir wollen heute abstimmen, wer sich dieser Entscheidung anschließt und das Ergebnis in einem schriftlichen Akt fixieren.“
Cromwell trat ab.
„Wir können die Entscheidung nicht länger verzögern“, äußerte sich mein Sitznachbar. „Sechs Tage beraten wir bereits über das Vorgehen. Das Volk erwartet Entscheidungen.“
„So verschließt sich also knapp die Hälfte gegen eine Verurteilung“, schloss ich, da nur ein Teil erschienen war.
„Es ist der bequemste Weg, seinen Missmut zu zeigen, aber er ist kaum zielführend.“
„So will ich ein Zahlenspiel wagen.“ Ich begann zu kombinieren. „Entschieden sich 80 Prozent der Anwesenden für die Hinrichtung des Königs, so bedeutete es den Tod Seiner Majestät, da eine Mehrzahl gegeben ist. Münzte man die Anzahl der abgegebenen Ja-Stimmen auf das gesamte Tribunal um, das 135 Mitglieder umfasst, so wäre es die Minderheit, die die Hinrichtung fordert.“
„Wir sehen nicht in die Köpfe der Fehlenden, insofern ist eine solche Rechnung eine Farce.“
„Dann wollen wir zur Abstimmung kommen!“, rief der erste Speaker die Versammlung zur Ruhe auf. „Ich bitte um entsprechende Handzeichen. Wer von den Anwesenden sieht den Vorwurf des Hochverrats als gegeben und unterstützt die Vollstreckung des genannten Urteils, Enthauptung durch das Schwert?“
Ein Großteil der Anwesenden war von der Missetat überzeugt und hob selbstsicher die Hand, andere zögerten, ließen sich durch harsche Blicke beeinflussen, vereinzelte Mutige verwehrten die Zustimmung. Dass ich zu den letzteren gehörte, kann unerwähnt bleiben.
Mein Sitznachbar drehte sich zu mir. „Willst du den Kopf nicht rollen sehen?“
„Ist nicht so mein Ding.“
„59 Ja-Stimmen. Damit ist das Tribunal am Ende der Beratungen angekommen und die Vollstreckung des Urteils ist mit großer Mehrheit beschlossen. Wir wollen die entsprechenden Mitglieder des Hohen Hauses bitten, das Urteil zu unterzeichnen. Die Verweigerer sind mit gleichem Aufruf entlassen.“
Entlassen hieß, ich dufte den Raum verlassen. Diese Chance wollte ich nützen. Blitzschnell schmiss ich mich unter die neun Abgeordneten, die dem Ausgang zustrebten.
Trotz der kühlen Fassade, hinter der die Briten ihre Gefühle zu verbergen verstanden, war eine Überhitzung der Gemüter unverkennbar. Sie alle wollten nicht nur den aufgestauten Stress abschütteln, sondern auch der drückenden Enge des Parlamentsraums entkommen.
Mir kam diese Bedrückung entgegen.
Am Ausgang hatte sich der Dämon aufgebaut. Drohend schaute er mir entgegen und natürlich wollte er mich zurückhalten. Wie gerne hätte er meinen Namen auf der Todesliste gesehen.
Die weichenden Abgeordneten überrannten ihn. Das kam mir zustatten.
London
Als ich durch die Straßenschluchten schlenderte und, benommen von dem Erlebten, wahllos von einem Viertel ins Nächste wechselte, erwartete ich, durch eine Stadt zu ziehen, wie es sie vielfach gab. Natürlich schmückten britische Eigenheiten die Häuserfluchten aus.
Das allein ging aber an der Wahrheit vorbei. London war nicht nur London. Wie in einem schwarzen Loch fand sich in dieser Stadt alles das, was den Stolz des Adels und des Reichtums ausmachte, Kultur, Würde, das Erblühen einer Weltmacht. Das weite Land blieb ohne Bedeutung. Überbevölkert war die Metropole längst. Jeder erhoffte sich einen Vorteil vom königlichen Hof. War die Stadt nicht gar ein Moloch, der sich am Pomp des Royals mästete?
Und nun? Der König würde hingerichtet werden.
Niemals zuvor hatten Abgeordnete gewagt, einen von Gott akzeptierten Monarchen zum Tode zu verurteilen. Wer begehrte auf? Bürger? Volk? Wohl eher der Adel, eventuell noch reiche Gutsbesitzer - jedenfalls Stände, die weit von der unteren Bevölkerungsschicht entfernt waren.
