10K - Nils Hünerfürst - E-Book

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Nils Hünerfürst

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Beschreibung

Das Leben ist nicht immer einfach. Das weiß auch Mark, denn obschon er eine glückliche Beziehung führt und zwei wunderbare Töchter hat, fehlt ihm etwas: Die Hochzeit, die sein Glück besiegelt. Nach einem heftigen Streit mit seiner Freundin Aileen am Vorabend, der sich erneut um das Hochzeitsthema gedreht hat, versucht er beim Joggen, sein Ziel von 10 Kilometern zu erreichen. Während er seine Vergangenheit Revue passieren lässt, stellt er sich auch die Frage, wie es nur so weit hat kommen können. Was hat er falsch gemacht, dass sie ihn nicht heiraten will? Und wieso kann er nicht einfach glücklich sein, so wie es ist?

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Für meine Frau und Kinder.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 K

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3 K

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6 K

7 K

8 K

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10 K

PROLOG

80 € hat der Fitness-Tracker gekostet. Die Verkäuferin hatte mich ganz genau gemustert, als sie die Packung scannte, als wäre meine Figur nicht ganz passend für ein Gadget dieser Art, dabei bin ich 1,78 cm groß und wiege nach dem Kacken auch mal 71 kg. Das ergibt einen BMI von 22,4. Zum Glück hat meine Krankenkasse eine App und zum Glück hat diese einen BMI-Rechner direkt mit an Bord. Unendliche Tastaturbefehle von der Kassiererin später frage ich mich, wo eigentlich die guten alten Kassen mit den Plastiküberzügen geblieben sind, die sahen alle gleich stark abgenutzt aus und waren bestimmt meist älter als man selbst, aber sie waren irgendwie cool. Eigentlich hatte ich mir, durch meine Online-Bestellung mit Abholservice, einen zeitlichen Vorteil erhofft, aber die etwas schlecht gealterte Verkäuferin in den nicht so teuren, aber bequem sitzenden Sportschuhen hat ja schon mehr als 130 Sekunden gebraucht, um den GPS-fähigen Schrittzähler aus der Abteilung Abholware zu holen. Das hätte ich auch selber weitaus schneller im Laden geschafft, aber hey, warum meckern. Jetzt hab ich das Teil wenigstens sofort und muss keinem Postboten mit einer weiteren halb sinnlosen Bestellung den Arbeitstag unnötig in die Länge ziehen. Haben Postboten früher Feierabend, wenn sie keine Briefe oder Pakete mehr zum Ausstellen haben? Und warum sind 130 Sekunden eine ewig lange Wartezeit? Ist ein BMI von 22,4 jetzt okay oder schon an der Grenze von Alarmstufe Gelb?

„So, dann brauche ich hier unten noch eine Unterschrift, dass Sie die Ware entgegengenommen haben, und dann sind wir hier fertig”, sagt die Verkäuferin in auswendig gelerntem monotonem Ton.

Ich unterschreibe wie immer. Einfach mit meinem Vornamen Mark, in klaren, leicht geschwungenen Druckbuchstaben. Ich wollte mir mal vornehmen, mir eine neue Unterschrift anzueignen, so eine mit großem Kringel und mit ganzem Nachnamen, aber dazu wäre es für mich persönlich notwendig gewesen, die Gewissheit zu haben, ob man jetzt bald heiraten wird oder nicht. Ich weiß auch nicht, was Aileen noch für Gründe braucht, mich zu ihrem Mann zu nehmen. Sind zwei Kinder nicht genug, um sich endlich verheiraten zu lassen? Außerdem habe ich ihr schon vor vier Jahren einen Antrag gemacht. Mir war eine große Feier nie wirklich wichtig gewesen. Ihr ist es auch gleich, aber leider auch das gesamte Thema Heiraten. Emotionslos und kühl wären zwei ganz tolle Adjektive, die ich ihr gerne an den Kopf knallen würde, wenn sie wieder versucht, das Thema frühzeitig zu beenden. Aber alles ist gut, der Tag im Büro war stickig und anstrengend genug. Heut war wieder einer dieser Tage, wo ich nur Wasser getrunken und Salat gegessen hatte. Da ist es völlig normal, wenn man halt ein bisschen wütend und vielleicht auch kurz vor der Ausfahrt Angepisst steht.

„Das ist ja eine süße Unterschrift”, höre ich von der Kassentippse in leicht frechem Ton.

„Ja - danke!”, antworte ich und muss gezwungenermaßen noch „Klein, aber woho” ergänzen und packe völlig unkoordiniert endlich das Fitness-Armband ein und lehne die angebotene Plastiktüte mit einer umweltbewussten Haltung ab. Mit fast 30 Jahren kann man eigentlich noch unfreundlicher zu solch einem Personal werden, aber so bin ich halt. Harmonie geht, glaube ich, über Konflikte. Und die Umwelt auf jeden Fall über Plastiktüten.

Jetzt endlich ab nach Hause und hoffentlich ein bisschen Ruhe genießen. Die Chancen, dass es mit der Ruhe klappt, liegen bei, ich würde sagen, 20 Prozent. Nach 9 Stunden aus der Wohnung kann viel passiert sein. Die Kinder könnten einen richtig schlechten Tag gehabt haben und einen akustischen Weltuntergang nachahmen. Es kann aber auch sein, dass ich heute nochmal die Waschmaschine inspizieren muss, die letzten Tage lief das Verlobungsgeschenk meiner Eltern nicht mehr ganz rund. Sinnbildlich gesehen passt das sehr gut zu der Beziehung von Aileen und mir. Seit meinem Heiratsantrag bröckelt etwas an unserer Beziehung und nagt wie ein Alien-Ungeziefer an uns. Ich denke oft darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, ihr einfach keinen Antrag zu machen. Viele Freunde aus unserem Umkreis haben auch Kinder und sind nicht verheiratet und leben seit fast einem Jahrzehnt in ihren Familienhäusern. Ob das eine neue Art von Beziehung ist, so unverheiratet?

Das Elektronikfachgeschäft verlasse ich mit zügigen Schritten und draußen bemerke ich, dass Einkaufspassagen immer gleich aussehen. Egal, welche Stadt oder welches Land. Sie sind nicht gerade laut, aber das würde man auch gar nicht wirklich mitbekommen. Wenn man durch eine Einkaufsmeile läuft, hat man, direkt von Beginn an, einen höheren Puls und steht unter Strom. Man wird überflutet von preiswerten Angeboten und an jeder Ecke darf man zum wiederholten Male einer hilfsbedürftigen Organisation mit nur einer einzigen Unterschrift helfen.

Mit stummen Lippenbewegungen und einem verneinenden Winken kann ich gerade so der auf mich zukommenden Volontärin, mit blau strahlender Jacke und übertrieben freundlichem Lächeln, ausweichen und die Flucht ergreifen.

Ich glaube, es gibt auch nur zwei Arten von Menschen. Der erste Typ wäre eine Version von meiner Handlungsweise von eben und der zweite ist ein Typ von der redseligen Sorte. Ich bin zwar schon ein paar Meter weiter voraus, aber blicke mit einem mutigen Schulterblick zurück zu den Leuten mit den blauen Jacken und sehe sofort eine Person vom zweiten Typ. Steht wahrscheinlich schon seit Ewigkeiten bei denen, möchte aber einfach nicht seine Unterschrift setzen, sondern einfach nur mit den netten Damen, die gerade ihren Führerschein gemacht haben, reden. Eigentlich traurig, denn diese Art von Mensch möchte einfach nur mit jemandem reden. Wahrscheinlich ist sie alleine und hat niemanden mehr. Oh ja - stimmt, ganz vergessen. Der zweite Typ Mensch ist meist im fortgeschrittenen Alter. Also werden wir alle irgendwann zu Typ Nummer 2.

Es wird kälter in den Straßen, dunkelblau ist die Primärfarbe, die von Sekunde zu Sekunde dunkler wird, und das Ende der Einkaufspassage wird mit einer Handvoll Straßenpennern angekündigt. Ich seh schon von Weitem, dass einer von der Gruppe gerade sehr aktiv am Einsammeln von möglichen Spenden ist. Weggucken oder einen großen Bogen laufen, das ist hier die Frage. Wie schlimm muss das für einen Straßenpenner sein, in der Nähe einer Einkaufspassage zu sitzen und zu betteln? Alle anderen haben ihre Sachen gekauft, Geld aus dem Fenster geworfen, sich mit sinnlosem Müll vollbepackt und gehen jetzt zurück nach Hause, wo das Essen in einem Kühlschrank einfach nur auf einen wartet, um verspeist zu werden. Strategisch schlecht ist eine solche Position ja wirklich nicht, aber wäre ich ein Straßenpenner, könnte ich die vielen Menschen mit ihren schweren Tüten aller Farben und Größen nicht anschauen. Und jetzt war ich so in Gedanken versunken, dass ich beim Laufen weder das Ausweichmanöver auf die andere Straßenseite starten noch Blickkontakt vermeiden konnte. Die Gedanken und meine Vorstellungskraft waren plötzlich, als wären sie vom Blitz getroffen, in mir gestorben. Es war der Anblick von der jungen Pennerin, der mich dann doch sehr unerwartet emotional getroffen hat. Sie ist vielleicht keine 25 Jahre alt und wirkt nicht ganz bei sich. Entweder betrunken oder zugedröhnt mit Drogen, macht sie einen holprigen Gang und kommt Schritt für Schritt auf mich zu. Sie ist klein und ihr lockiges langes Haar hängt an ihrer Kapuze raus, es hat noch drei verschiedene Farbtöne versteckt. Wahrscheinlich hat sie schon alle möglichen Lebensphasen hinter sich gebracht.

„'ne kleine Spende für mich?“, sagt sie nuschelnd zwischen total zerfallenen Zähnen hindurch. Sie hat ein zierliches Gesicht, ihre Statur verrät, dass sie mal sportlich aktiv gewesen ist, die Jacke sieht teuer aus, und auch wenn sie stark abgenutzt ist, kann man immer noch sehr gut erkennen, dass sie mal mehrere hundert Euro gekostet hat. Vielleicht kommt sie aus einer ehemals wohlhabenden Familie, die ihr viel Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt hat. Alles nur eine reine Vermutung.

„Ich hab noch eine Banane“, antworte ich ihr und versuch ihr damit aufzuhelfen, als wäre sie gestolpert, und ich ergänze in hoffnungsvollem freundlichen Ton: „Die ist schon ganz schön braun, aber man kann sie noch essen.“ Dabei fällt mir auf, dass dies meine bisher längste Unterhaltung mit einem Penner ist. Und wenn man es nicht erwartet, dann trifft es einen am härtesten, so oder so ähnlich geht doch irgend so ein Spruch.

Ihre Augen vergrößern sich und vor Wut werden sie tränenreich. Sie hebt die rechte Hand und ich sehe einen alten, dreckigen Verband um die Handfläche gewickelt, der dazu noch leicht blutig ist. Sie schlägt mir die Banane aus der Hand und schreit laut und kräftig mit heiserer Stimme: „Ich habe gesagt Spende! Was soll ich mit deiner kack Banane?! Soll ich mir die in die Fotze stecken, oder was?!“ Und auf einmal bin ich in einer echt unangenehmen Situation eingesperrt. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Die Leute um uns ungleiches Paar stoppen ihren zügigen Einkaufs-Schritt mit einer Vollbremsung und fangen sofort an zu gaffen. Eigentlich fehlt nur noch ein Lichtspot auf uns und diese kleine Bühnenshow wäre eingerichtet und startbereit für Akt II.

„Hey! Ist ja gut. Meine Fresse, dann halt nicht“, schreie ich in einem Drittel von ihrer Lautstärke in defensivem Ton zurück. Ich beginne mein Schritttempo wieder aufzunehmen und sie rudert wütend mit ihren Armen durch die Luft und Sekunden später hockt sie auf dem Boden und wippt wie ein Vogel auf einer Stromleitung.

Mann ey, Scheiße, denke ich mir. Ich wollte ihr doch nur was zu essen geben. Einfach helfen. Nett sein. Ihr eine schöne Geste machen. Sie hat mir einfach so leidgetan. Sie ist noch so jung, da kann ich mir noch richtig gut vorstellen, wie sie vor 10 Jahren als vielleicht glückliches Kind ausgesehen und gelacht hat. Zum Glück ist sie nicht noch mehr ausgerastet und hat eine Waffe aus der Tasche gezogen. Ich wollte auch mal zu einem Selbstverteidigungskurs. Ich schaff es gerade echt nicht, viel für mich zu unternehmen. Die Arbeit ist anstrengend, aber macht wenigstens Spaß, dennoch wäre es auch mal wieder schön, ein aktuelles Fußball-Spiel einfach direkt in die Konsole einzulegen und ein ganzes Wochenende lang nur darin zu versinken. Das wären einfach mal 48 Stunden der kompletten Sinnlosigkeit, aber sie würden mich unterhalten und Spaß machen. Andere haben Spaß dabei, ein ganzes Wochenende ihre Spielfiguren bunt anzumalen oder sich bei einer Tüte Chips das eine und ewig gleichbleibende Lieblingsbuch zum sechsten Mal durchzulesen. Ich möchte einfach nur ein Spiel zum ersten Mal spielen.

Und jetzt nur noch diese rote Ampel überwinden und dann hab ich es endlich geschafft. Vielleicht hilft mir die Wut von eben, um morgen die 10 Kilometer beim Joggen erfolgreich zu knacken. Aber warum sollte sie das? Man hat doch relativ viele Situationen, die einen tagtäglich fast zur Weißglut bringen, und nach einer schönen Mütze Schlaf ist vieles davon vergessen oder abgeebbt.

Der Lautsprecher der Ampel ertönt mit seinen besinnlichen Klängen und der Marsch über die letzte Hürde zum trauten Heim kann beginnen. Ich werde mal das Lauftempo erhöhen und vor dem Bürgersteig auf der anderen Seite noch ein paar Passanten überholen. Da kommt mir ein händchenhaltendes Pärchen entgegen. So wie es von hier aussieht, tragen sie Partner-Rucksäcke. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass viele Pärchen bereit sind, für einen fix entgegenkommenden Passanten ihre liebliche Haltung zu lösen. Ich riskier es und halte mit entschlossenem Blick voll auf ihre Mitte zu. Die beiden Augenpaare vom Pärchen treffen meinen Blick und ohne einen weiteren Blickkontakt zwischen den beiden lösen sie ihre zusammengepressten Hände und lassen mich zwischen sich durch. Es ist faszinierend, in einem kurzen Augenblick wie diesem handelt ein liebendes Paar fast simultan und lässt den anderen los, als wäre auch ihre eigene Beziehung und all das, was dahinter steckt, wie zum Beispiel die eigene Wohnung, aber auch die komplette Abhängigkeit voneinander, so schlicht, einfach und blitzschnell zu trennen wie ein Händchenhalten.

Angekommen an unserer Wohnung erfreut mich der Teppich auf unseren Hausflurtreppen, wie auch an jedem anderen vergangenen Tag. Der Teppich in unserem Mietshaus, was wir mit fünf weiteren Familien teilen, ist dunkelbraun. Eine leichte zackige Schraffur prägt seinen borstigen Stoff. Würde die Welt einem Meteoriten zum Opfer fallen und dieser gerade so fast die gesamte Menschheit ausrotten, aber diesen Teppich verschonen, dann wäre dessen Stoff überhaupt nicht gut für einen Pullover geeignet und man würde ihn bei der gewaltvollen, neu entstandenen Zivilisation als Folterwaffe einsetzen können. Aber ich mag diesen Teppich sehr. Er strahlt etwas von Wohlstand aus, und auch wenn ich diesen Teppich nie gekauft habe, sorge ich mit meiner Miete jeden Monat dafür, dass dieser Teppich gepflegt wird und das erfreut mich sehr.

Vor der Tür die erste Entwarnung. Es schreit kein Kind. Pia, meine zwei Jahre alte Tochter, die vielleicht baldig eine Brille braucht, müsste schon seit einer halben Stunde schlafen, und Lea, die dreijährige Rennmaus mit den pechschwarzen Haaren, sollte gerade eine Gutenachtgeschichte vorgelesen bekommen. Es ist 20:05 Uhr, eine normale Zeit, um nach Hause zu kommen, wenn man 40 Stunden die Woche arbeitet und um halb 9 Uhr morgens das Haus verlässt. Erschreckend ist der Gedanke, wenn ich mir die Stundenanzahl einer gesamten Woche grafisch vorstelle und mit meiner Arbeitszeit sowie meiner Schlafzeit auf ein Excel-Kuchendiagramm aufteile und vergleiche. Das Wort Personalausweis kriegt dabei eine ganz andere und vor allem neue Gewichtung. Ich öffne die Altbau-Holztür mit einem, mir unliebsamen, verräterischen Knarren und sehe die hohen Absatzschuhe meiner Schwiegeroma im Flur stehen. Ein zweites Mal vom Blitz getroffen und das in nur einer Stunde. Na ja - sie wird ja gleich gehen, denk ich mir. Es ist schon sehr spät und sie wird sicherlich bald ihr Schauspiel starten, in dem sie alle fünf Sekunden erwähnen muss, dass sie die ganze Woche so unglaublich viel zu erledigen hatte und jetzt völlig fertig in ihr Wochenende starten müsse. Die arme Frau, denke ich in größtmöglich ironischem Ton, dabei ist sie Vollzeit-Rentnerin und ständig auf Reisen. Vielleicht ist es aber wirklich sehr anstrengend für eine fast 70-jährige alte Dame, alle Nase muss sie zu verschiedenen Ärzten. Dazu kommt noch einkaufen gehen und sich mal mit den letzten lebenden Freunden treffen. Ich bin gespannt, was für ein Rentner-Typ ich sein werde.

In unserer Wohnzimmer- und Küchenkombo sitzen die beiden am Ende des Raumes an unserem riesigen Esstisch, mit teuren Antipasti, Brot und Wein. Lea macht, bei all den ganzen Gelatine-Süßigkeiten, die sie gerade mit einem Lächeln verputzt, nicht den Eindruck, als wäre sie in den nächsten Stunden nur ansatzweise dazu in der Lage, zu schlafen. Die erste Frage, die mir in den Kopf kommt, kann ich mir sofort selber beantworten. Daraus resultiert eine zweite Frage und diese brauch ich den beiden Damen gar nicht stellen, da sie ja gerade eh keine Person brauchen, die ihre fröhliche Stimmung unterbricht. Ich geh als erstes zu Lea. Hocke mich zu ihr runter und unterbreche ihr fröhliches, fantasiereiches Schlemmen mit einem: „Naa, Lea? Guten Abend, du kleine Feinschmeckerin. Solltest du nicht schon, wie deine kleine Schwester, längst im Bettchen sein und schlafen?“

„Hallo Papa. Eigentlich schon, aber Oma hat gesagt, solange sie noch da ist, brauch ich auch nicht ins Bettchen gehen“, spricht sie im niedlichen Kindstempo.

„Aha, und wo hast du die ganzen Süßigkeiten her?“, frage ich sie.

„Na, von Oma Edith natürlich! Die war nämlich in Rondon.“

„Du meinst wohl London?“

„Ja, ich glaube schon. Papa, bist du jetzt sauer, dass ich noch nicht im Bettchen bin?“

„Nein, natürlich nicht! Du kannst dafür ja nichts. Ich geh jetzt mal zu Mama und Oma und du räumst schon mal hier auf, ja?“

Lea reibt sich die Augen vor Müdigkeit und sagt: „Okay. Mach ich.“

Das wird jetzt lustig. Ohne groß Aufmerksamkeit zu erregen, setz ich mich an den Tisch und warte auf eine Reaktion. Nach 5 Minuten stiller Teilnahme wäre ein begrüßendes Hallo von den beiden so langsam angebracht. Aileen hört immer noch den langweiligen Geschichten aus London von Oma Edith zu, hat mir aber schon einen Blick und ein Lächeln geschenkt. Fühlt sich aber sofort wieder gezwungen, ihren Blick zurück zu Edith zu lenken, um ihr weiter zuzuhören.

Ich mag Edith nicht. Sie ist die Oma, die zwar von Kindesaugen immer gern gesehen wird. Freundlich, immer gut drauf und bringt immer was zum Naschen oder Spielzeug mit. Aus den Augen eines Erwachsenen jedoch zieht sie sich für ihr Alter einfach unpassend an. Sie ist laut und hat aus ihrer verschobenen Sicht immer recht. Sie spricht nur gerne über Dinge, die was mit ihr zu tun haben. Bringt den Kindern immer irgendetwas mit, meist ungesunde Süßigkeiten, und bricht dabei immer unsere auferlegten Erziehungsregeln. Dennoch ist sie das letzte lebende Stück Familie von Aileen. Die Vorstellung, dass Aileen bei dieser Frau aufgewachsen ist, bringt mir grausige Albträume bei Tageslicht hervor.

„Einen schönen guten Abend, die Damen“, sag ich mit meiner freundlich-warmen Radiostimme und unterbreche den Monolog von Edith.

„Ja hallöchen Mark, mein Lieber. Hast du schon gesehen, was ich den Kindern mitgebracht habe?“, sagt sie und erwartet einen Schulterklopfer.

„Habe ich gesehen, danke dir, meine Liebe.“ Ich beende mein falsches Lächeln und spreche im genervten Ton weiter: „Was ist das für eine wohltuende Süßigkeit? Und warum isst sie es so spät abends noch?“

„Das sind Rowntrees Fruit Pastilles. Ein Relikt aus vergangenen Jahren. Kinder aus dem Jahre 1881 durften schon diese Leckerei verköstigen“, singt sie uns schon fast vor. Und das Schlimme dabei, sie bemerkt meinen aggressiven, genervten Ton überhaupt nicht und ist sich immer noch keiner Schuld oder eines Fehlverhaltens bewusst. Ich stehe auf und um den Blickkontakt zu meiden, gehe ich in Richtung Küche.

„Ja, ganz toll! Und warum habt ihr beide euch dazu entschieden, dass Lea das ach so tolle Relikt der Vergangenheit heute Abend in sich reinstopfen muss? Sie hat schon fast die ganze Packung verdrückt“, schreie ich schon fast und durchsuche die Küchenschränke nach etwas Essbarem.

Aileen, die jetzt schräg mit dem Rücken zu mir sitzt, dreht sich um, schaut mich an und rollt leicht mit den Augen, als wäre doch alles halb so schlimm. Vielleicht reagier ich auch gerade über. Die schönsten Tage als Kind sind die, wo man Süßigkeiten ohne Ende hat oder lange wach bleiben darf. Lea hatte heute beides. Edith richtet entspannt ihr goldenes, pompöses Kettchen um den Hals und sagt: „Ach Mark, hör doch auf! Lass deinen Kindern doch auch mal die langen Nächte mit ihrer Oma.“

„Ach, lass mich einfach in Ruhe“, haue ich ihr mit einem entnervten Ton und abwinkender Hand verbal zurück. Ich hab Hunger. Ich will einfach nur einen Toast mit Marmelade oder Schinken, vielleicht auch zwei, und dann ab ins Bett. Meine entnervte Antwort wird von beiden gar nicht wirklich beachtet und ich kann in Ruhe mein Abendbrot zubereiten und sogar essen.

Aileen steht auf, als Edith anfängt, von ihrer vollgepackten kommenden Woche zu sprechen. Sie geht los und holt ihre Jacke, hilft ihr beim Anziehen und gibt ihr zum Abschied einen freundschaftlichen Händedruck. Oma Edith ist zu all ihrer Lautstärke nicht wirklich emotional oder bindungsfähig. Über ihre vergangene Männerwelt weiß ich so gut wie gar nichts. Der Stammbaum von Aileen hatte in all den Jahren nur zwei Personen zu verzeichnen, viele sind gestorben oder schon lange ausgewandert. Zu den Gestorbenen zählen leider auch die Eltern von Aileen. Sie starben, als sie 14 Jahre alt war. Kurz bevor wir zusammengekommen sind. Als die Wohnungstür mit dazugehörigem Knarren endlich im Türrahmen gelandet ist, beginne ich, meinen angestauten Frust loszuwerden.

„Was war denn hier heute los, Aileen?!“

„Oma war da. Wollte nur schnell die Geschenke für die Kinder abgeben und ich hatte Lust, mit ihr noch zu Abend zu essen, hast du doch gesehen“, sagt sie mit einem halben Lächeln im Gesicht.

„Ja, das hab ich gesehen, aber warum sind immer alle Regeln aufgehoben, wenn Edith hier ist?“, und mit ganzem Körpereinsatz fließt es weiter aus mir raus: „Und warum setzt du dich, ihr gegenüber, nicht mal durch und sagst Nein! Warum muss ich immer den bösen Cop spielen?“

Aileen weicht mir aus und räumt den Küchentisch auf.

„Ich weiß auch nicht, aber die Kinder freuen sich über ihre Oma und das soll auch so bleiben, finde ich“, dabei knallt sie das dreckige Besteck auf die benutzten Teller. Während sie auf dem Weg in Richtung Spülmaschine ist, laufe ich ihr hinterher.

„Ja. Das darf es ja auch, aber nicht auf Kosten unserer Kindererziehung, das hab ich dir schon hundertmal gesagt.“ Mehr und mehr kocht es innerlich in mir. Diese Art von Aileen, über solche Probleme einfach hinwegzusehen, kotzt mich einfach richtig an und das schon viel zu lange. Aileen bleibt entspannt und räumt weiter das Geschirr in den Spüler ein, wischt den Küchentisch ab, schmeißt die Essensreste in den Müll und ignoriert mich weiter. Lea räumt fleißig ihre Spielsachen auf.

„Aileen, magst du mir bitte mal erklären, warum dieses Problem nicht behoben wird und warum wir jedes Mal streiten, wenn Edith hier bei uns zu Besuch war?“

„Mark, jetzt lass doch mal gut sein. Ich will einfach nicht, dass ich da etwas anspreche, was sie mit Sicherheit verletzen könnte“, sagt sie und wirkt entkräftet.

„Ah okay, und was ist mit unseren Streitereien? Hast du die in deine Kalkulation auch schon mit einberechnet und stören sie dich dabei überhaupt nicht? Und auch nicht, wie ich mich jedes Mal dabei aufrege?“ Ich kann nicht aufhören und die Raserei packt mich.

„Ignorierst du auf dieselbe Art auch unser Hochzeitsthema?“ Es tritt eine urplötzliche Stille ein. Man hört das Atmen der Wasserleitung und den Strom durch die Leitung zurren.

„Woher kommt das denn jetzt?“ Sie dreht sich um, blickt mir schmerzhaft enttäuscht in die Augen und sagt: „Nein, natürlich nicht.“

„Nein? Okay. Dann sag mir doch mal bitte: Wann wollen wir zum Standesamt gehen? Morgen? Nächste Woche? 2052? Ich glaub nämlich, das ist auch ein Schaltjahr. Dann können wir am 29. Februar 2052 heiraten und du müsstest nur alle 4 Jahre an unsere Hochzeit denken.“ Mir ist es so egal, wie scheiße ich mich gerade aufführe. Es muss einfach raus. Aileen steht da und weicht nun meinen angepissten Blicken aus und ich entdecke dabei Lea, wie sie uns still und fasziniert von der Türschwelle aus beobachtet, als wären wir ein Gorilla-Pärchen im Affengehege, das um die letzte reingeworfene Futterration streitet. Wir beiden haben uns in unserer Beziehung selten gestritten und wenn einmal, dann nicht vor den Kindern. Lea hat die ganze Zeit aufmerksam zugehört, ich denke, das passiert in anderen Familien auch und ist hoffentlich ganz normal für das Kind. Man fühlt sich trotzdem unwohl dabei, von den eigenen Kindern ertappt worden zu sein. Aileen schnappt sich Lea unter den Arm, knabbert ihr am Ohr und kitzelt ihr den Bauch und durchwühlt ihr die Haare. Das Lachen von Lea färbt die schwarze, düstere Luft vom Streit in einen helleren Grauton. Bei einem Streit reagiert meine menschliche Psyche immer sehr ähnlich. Eine Art von Fatigue-Syndrom breitet sich in meinem Körper aus. Ich werde müde, hab keinen Appetit oder gar keinen Hunger mehr. Lea wird mindestens 30 Minuten brauchen, bis sie eingeschlafen ist. Ich könnte die Konsole schon warm spielen oder einfach den Mail-Eingang abarbeiten, um somit am Montag ein bisschen entspannter auf der Arbeit zu starten. Irgendwie habe ich aber auf gar nichts mehr Lust. Das ist ein weiteres Symptom bei ungelösten aktiven Streitereien, man hat einfach keine Lust auf gar nichts mehr. Ich bleib einfach am Smartphone und beantworte ein paar Quiz-Fragen. 15 Minuten später hör ich Aileen in unser großes Wohnzimmer kommen. Sie kommt an unseren Tisch. Ignoriert jeglichen Blickkontakt mit mir und setzt sich mir gegenüber. Sie nimmt ihr schulterlanges Haar in die Hände und baut sich einen, nach Stress aussehenden, Zopf. Sie schaut ein paar kräftige Atemzüge lang auf die Maserung des Tisches und beginnt mit ruhiger und ernster Stimme zu sprechen: „Ich möchte einfach keinen Streit mit dem letzten mir verbleibenden Familienmitglied, okay?“ Kann ich ja verstehen, aber warum muss das auf Kosten unserer Beziehung sein und warum können wir nicht einfach heiraten?

„Sie bringt unseren Kindern ja keine Drogen mit oder tut ihnen weh.“ Dabei spielt sie mit den Fingern an dem Verlobungsring, den ich ihr vor fast fünf Jahren an den Finger gesteckt habe.

„Sie ist vielleicht einfach zu gut und ehrgeizig in ihrer Oma-Rolle“, sagt sie mit einer aufwärmenden Stimme.

Ich habe keine Lust mehr, über Edith zu sprechen. Mir ist sie so egal und sie hat ja auch Recht mit dem, was sie sagt. Etwas anderes, was viel zu lange aufgeschoben wurde, muss meines Erachtens heut Abend geklärt werden. Ich nehme meinen silbernen Verlobungsring mit dünner Goldlinie ab und leg ihn auf den Tisch. Dann schaue ich Aileen an und mit leiser, aber ernster Stimme sag ich zu ihr: „Aileen, lass mal kurz Oma Edith, wo sie ist, sie stört mich auch nicht wirklich, aber beantworte mir jetzt eine Frage. Wolltest und wirst du mich jemals heiraten? Hattest du damals auch Angst davor, mir einfach die Wahrheit zu sagen?“

„Ich … Ich … also …“

„Was ist los, Aileen? Tu mir den Gefallen und sag mir, was in dir vorgeht? Ich hab mich heute von einer abgefuckten Pennerin anschreien lassen, deine Oma blickt jedes Mal auf mich herab, als wäre ich ein kleiner, dummer Junge und du versetzt mich wie einen von deinen ehemaligen nervigen Verehrern aus der Grundschule.“ Die Sätze sprudeln in einer Geschwindigkeit aus mir heraus, so als wären sie schon vor Monaten zurecht geschrieben worden. Meine Beine müssen für die nächsten Sätze in Bewegung sein, also laufe ich mit einer wilden Manier um den Tisch.

„Warum können wir unsere Hochzeit seit so vielen Jahren nicht planen? Warum darf ich dich nicht einfach alleine zum Traualtar führen, ohne Familie, ohne Oma Edith, ohne Trauzeugen? Was ist los mit dir und warum muss ich meine Familie seit einer viel zu langen Zeit anlügen, dass wir keine Hochzeitslocation finden oder wir dann doch gerade kein Geld dafür haben?“ Ich lehne mich zu ihr an den Tisch und schreie sie weiter an. „Mir ist bei einigen Verwandten schon nicht mehr eingefallen, was ich sagen sollte, und ich hab ihnen erzählt, dass an dem Tag ein wichtiges Endspiel ist und wir die Gäste nicht davon abhalten möchten, das Spiel zu schauen. Weißt du, wie dumm man bei solch einer Ausrede angeguckt wird? Ich habe da echt keinen Bock mehr drauf. Ich sehe da für uns dann auch keine Zukunft mehr.“ Ich stehe wieder auf und schließe die Augen, um einmal tief durchzuatmen.

„Bitte sag mir einfach, warum diese Zurückhaltung deinerseits? Wieso bist du so eigenartig bei diesem Thema? Weshalb können wir nicht offen und ehrlich über dieses von dir kreierte Tabuthema reden?“

Sie fängt an zu zittern, nimmt ihre Arme und legt sie um ihren Bauch, als wäre sie in Gefahr. Die Tränen laufen ihr ohne große Ankündigung über die Wangen. Ein ängstliches und schuldiges Gefühl braut sich in mir zusammen. Was hat sie nur, dass sie jetzt so einbricht? Was hab ich ihr nur angetan? Sie weint und zittert, als stünde ihr schlimmster Albtraum hier im Raum. Unter ihren, voll Tränen benetzten, Lippen rappelt sie sich auf, schiebt ihren Stuhl hastig beiseite und läuft Richtung Schlafzimmer.

„Schlaf heute auf der Couch, ich bitte dich. Ich muss jetzt alleine sein. Du kannst morgen früh gerne deine 10 Kilometer laufen, aber lass mich jetzt bitte, bitte in Ruhe.“

„Aber Aileen, was soll das denn jetzt? Was?“ Mit zügigem, aber schwachem Schritt und meines Blickes ausweichend, läuft sie an mir vorbei.

„Aileen! Ich … Warum bist du jetzt so?“

Das Schlafzimmer grenzt direkt an unser Wohnzimmer. Die schwere Holzschiebetür, die sie jetzt schon zuschiebt, kommt selten zum Einsatz. Eine totale Erschöpfung ist ihr abzulesen. Sie wirkt, als hätte sie sich fünf Tage lang nur mit mir gestritten. Ich sehe mich selber in unserem Wohnzimmer wie angewurzelt stehen und schaue ihr nur zu, wie sie mich alleine stehen lässt. Die Tür geschlossen, höre ich sie noch weiter weinen und schniefen. Eigentlich müsste ich jetzt sofort hinter ihr her, um sie zu trösten oder wenigstens mit ihr zu reden, aber so wie eben kommt sie mir völlig zerstört vor und ich will einfach nicht noch mehr Schaden anrichten.

Zähneputzen und dann einfach die, wahrscheinlich seit einer Ewigkeit, schlimmste Nacht schnell hinter mich bringen, das ist jetzt Priorität. Auf einem üblichen 3-Sitzer-Sofa zu schlafen, ist eigentlich nicht schwer. Man hat keine große Auswahl an Schlafpositionen und die wenigen, die einem zur Verfügung stehen, sind allesamt gleich ungemütlich. Ich versuch es mit der Bauchlage, seitlich klappt es sowieso nicht. Auf dem Rücken ist der Oberkörper viel zu hoch. Die Sofakissen werden auch immer aufdringlicher und nehmen den ganzen Platz weg. Ein Schluck warme Milch oder doch ein Glas starken Alkohols? Nein, kein Alkohol, nie wieder! Ich frag mich, ob Aileen schon schläft. Hoffentlich hat heute keines der Kinder eine solch schlechte Nacht wie wir beide. Du musst dich nur beruhigen. Der ganze Streit hängt dir noch am ganzen Körper. Ruhig atmen und dann schläfst du hoffentlich ganz schnell ein. Jetzt kling ich schon wie ein Yoga-Lehrer, der zu wenig Tricks draufhat und zum Ende der Stunde der ganzen Gruppe ein paar Atmungsübungen zeigt, damit alle einfach einschlafen. Hoffentlich heilt auch schlechter Schlaf ein paar seelische Wunden.

1 K

6:21 Uhr. Die Sonnenstrahlen wecken mich. Die Wohnung ist total vom Sonnenlicht überflutet und im Wohnzimmer hängen keine richtigen Vorhänge, um diese beschissene Sonne auszusperren. Manchmal hasse ich die Sonne. Mir tut der Nacken weh. Mein Rücken fühlt sich alt und verklebt an. Bloß schnell los. Die Joggingsachen liegen noch hier irgendwo, da bin ich mir fast ganz sicher. Jetzt fällt mir erst wieder ein, was gestern passiert ist und dass ich eigentlich richtig schlechte Laune haben müsste. Der Streit zwischen Aileen und mir war nicht intensiv und auch nicht so kinoreif, aber er war, in meinen Augen, essenziell für unsere Beziehung. Ich sollte mich jetzt einfach umziehen und loslaufen. Die körperliche Anstrengung wird bestimmt ein klares Bild auf diesen Streit geben. Hose, Schuhe, Shirt und einen Pullover. Irgendetwas fehlt doch noch? Ist Aileen die Richtige? Ich sollte noch etwas Winziges essen oder wenigstens einen guten Schluck trinken. Jetzt fällt es mir wieder ein: der Fitness-Tracker. Ich habe das teure Stück Technik noch gar nicht aus seiner Verpackung befreit. Hoffentlich wurde das Teil mit der üblichen halb vollen Batterieladung aus der Fabrik entlassen, wenn nicht, dann muss ich das Ding erst aufladen, und ohne Tracker am Handgelenk hätte das Joggen für mich ein wenig den Reiz verloren. Ohne Statistiken und visualisierter Strecke im Nachgang würde mir da ein wenig die virtuelle Bestätigung aus Bestzeiten kombiniert mit Kalorienverbrauch fehlen. Ich pell das Ding aus der Plastikpackung und versuch die Kurzanleitung so gut es geht und erfolgreich zu studieren. Alles geschafft. Das Teil hat noch genug Akkuleistung für Sportübungen von einer Gesamtdauer von drei Stunden. Das sollte eigentlich ausreichen. Dennis, mein Kumpel, schafft die 10.000 Meter in 54 Minuten und ungefähr 45 Sekunden, vielleicht waren es auch 45 Minuten und 54 Sekunden, so genau hab ich mir das nicht gemerkt. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie er mich zum Joggen manipuliert hat. Ich glaub, ich hatte ihm von meinen schlaflosen Nächten erzählt und er fragte dann mehr und mehr über meinen aktuellen Gemütszustand und kam schlussendlich auf die, für mich doch eigenartige, Erkenntnis, dass ich einfach unausgelastet wäre. Ich hatte noch nie von jemandem gehört, der nicht schlafen konnte, weil er den ganzen Tag einen niedrigen Blutdruck hatte. Wir waren gerade beim Online-Zocken und per Headset miteinander verbunden. Wir spielen immer gern zu zweit gegen andere Spieler und wir mussten ewig auf neue Gegner warten, da erklärte es Dennis mir mehr und mehr und hatte dabei seinen übertriebenen höflichen Ton drauf.

„Mark, hey hey Mark, warte mal, also. Guck doch mal. Du bist jetzt irgendwas um die 30 Jahre alt. Machst keinen Sport, bist aber auch nicht dick, nicht einmal leicht unförmig oder schlaff. Hast keinen Stress auf der Arbeit und deine Frau und Kinder sind nicht wirklich aufbrausend, weil ihr als überglückliches, nicht verheiratetes Paar einfach total harmonisch seid und ihr eure Gefühlswelt im buddhistisch gesehenen Mittelpunkt liegen habt.“

Ein, zwei Bier müsste er damals schon getrunken haben, aber ich kannte dieses Geschwafel von ihm nicht anders und es war dann doch eine plausible oder vielmehr logische Erklärung, die er mit relativ viel Alkohol intus von sich gab.

„Ja okay - hab es kapiert. Du warst mal in Indien. Woah.“

„Ne, erst in 2 Wochen.“ Und jetzt wandelte sich dieser überaus höfliche Ton von ihm in eine selbstzufriedene Dauergewinner-Tonalität.

„Tammi hat nur schon mal ganz viel Lektüre für unseren jährlichen Hochzeitstag-Urlaub gekauft und da hab ich mir schon ein bisschen was durchgelesen. Jedenfalls lenkst du vom Thema ab.“

Genervt unterbrach ich ihn: „Musstest du es noch extra stark betonen, dass du verheiratet bist?“

„Du - das war keine Absicht. Bleib easy, das wird schon. Aber hey, ich war noch nicht fertig“, sagte er und kramte in einer Chipstüte nach Nachschub. „Dein eigener Körper ist quasi müde von deinem entspannten Leben. Also ich würde dir einfach mal raten, loszulaufen und dahin zu laufen, wo du schon immer hinwolltest. Einfach mal heraus aus der Bude und für kurze Zeit frei von stressigen Zielen, die du nicht hast. Wenn du eine Weile gelaufen bist, immer weiter und weiter, drehst du dich irgendwann wie bei Forrest Gump um und gehst, gezwungen durch Müdigkeit, einfach nach Hause und völlig kaputt ins Bettchen.“

Wenn enge Freunde einfach mal recht hatten, tat ich mich immer etwas schwer, es direkt zuzugeben.

„Na gut, ich probier es mal“, sagte ich ganz beiläufig.

„JAWOHL, geht doch!“, schrie Dennis durch das Headset, sodass ich ruckartig die Lautstärke leiser stellte. „Wirst schon sehen, das wirkt Wunder. Und hol dir einen Fitness-Tracker, das motiviert unheimlich!“