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Kai Twilfer kennt den Ruhrpott wie seine Westentasche. Schließlich hat der gebürtige Gelsenkirchener seine Heimat nie für eine besorgniserregend lange Zeit verlassen und fühlt sich stark mit ihr verbunden. In 111 GRÜNDE, DEN RUHRPOTT ZU LIEBEN nimmt er die Leser nun mit auf eine Entdeckungsreise der besonderen Art. Er geht dabei auf die Geschichte der Region mit ihren Zechenhäusern, Fördertürmen und Hochöfen ein und vermittelt einen Eindruck der Schönheit des Ruhrgebiets von heute. In 111 pointiert geschriebenen Geschichten taucht der Leser in ein Ruhrgebiet ein, das er so vorher nicht kannte. So wird den Fragen nachgegangen, warum Bochum nicht von Herbert Grönemeyer gegründet wurde und warum ein Waldstück so heißt wie ein Film mit Bruce Willis. Anekdoten aus dem Alltag des Autors, vom Bonbonkauf an der Bude bis zur stilechten Currywurstbestellung, runden das Buch ab und lassen den Charme und die Einzigartigkeit der Menschen in dieser Region deutlich werden.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2013
Kai Twilfer
Vorwort
Wenn man ein Buch über den Ruhrpott schreiben möchte, dann ist man sehr schnell an dem Punkt angekommen, an dem man überlegt, an wen sich das Buch eigentlich richten soll. Es gibt ja mittlerweile unzählige Bücher über diese einmalige Region, aber die meisten sind dicke Reiseführer, vollgepackt mit allerhand nüchternen Fakten und vielen bunten Bildchen.
Dieses Buch ist anders! Natürlich werden Sie auch hier über zahlreiche Sehenswürdigkeiten, die das Ruhrgebiet prägen, stolpern, aber dieses Buch versteht sich nicht als klassischer Reiseführer, sondern als Liebeserklärung an eine bemerkenswerte Region – an meine Heimat.
Als gebürtiger Ruhri lebe ich nun schon seit mittlerweile 37 Jahren Tür an Tür mit den kuriosesten Typen, habe die lustigsten Dinge in den Straßen des Ruhrpotts erlebt und von Industriekultur und Strukturwandel weiß ich ein Lied zu singen. Die Veränderung des Ruhrpotts vom Industriestandort hin zu einer Region mit viel Grün und prallem Leben ist ebenso Bestandteil dieses Buches wie kleine und zumeist skurrile Geschichten und Anekdoten, die ein Leben hier so mit sich bringt.
Das Buch ist damit auch eine Verbeugung vor allen Bewohnern des Ruhrgebiets. Es ist ein Buch für die Menschen, die den Pott seit Jahren mit Leben füllen, ihn als liebenswerte Region kennen und schätzen und hier ein Stück Heimat gefunden haben. Ich würde mich freuen, wenn auch der größte Ruhrpottkenner hier noch interessante und spaßige Geschichten und Fakten entdecken würde, die er bisher noch nicht kannte.
Ebenso richtet sich das Buch an die Leser, die den Ruhrpott gerne kennenlernen möchten. Menschen, die vielleicht gewisse Klischees im Kopf haben und sich durch die Lektüre neugierig machen und inspirieren lassen wollen, den Ruhrpott 2. 0 mal auf sehr lustige Art und Weise zu entdecken. Auch den Zugezogenen, die vielleicht aus dem Beruf oder der Liebe geschuldeten Gründen täglich hier die Augen aufschlagen, soll diese Liebeserklärung an die Region verdeutlichen, dass es – mindestens – 111 Gründe gibt, den Ruhrpott in sein Herz zu schließen.
Ich möchte Sie nun auf eine Reise in eine mit Geschichten und Ereignissen gespickte Region mitnehmen. Sie werden dabei mit mir zusammen auch immer mal wieder einen Abstecher in meine Kindheit machen müssen, denn das Ruhrgebiet, das einem stetigen Wandel unterworfen ist, werde ich in vielen humorvollen Anekdoten auch mal aus der Sicht eines Heranwachsenden zeigen.
Schnallen Sie sich an, die Rundfahrt Ruhrpott hat soeben begonnen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit 111 Gründen, den Ruhrpott zu lieben!
Kai Twilfer
KAPITEL 1
Viele deutsche Städte werben ja gerne mit dem Slogan »Mittendrin«. Mittendrin im Schwarzwald. Mittendrin in Bayern. Mittendrin in der Mitte – oder wo auch immer. Genauso oft liest man auch, dass anscheinend alle Städte mit zweitem Namen »Venedig« heißen und dieses Merkmal nun zu ihrer eigenen Marke erkoren haben. Das Venedig des Ostens. Das Venedig des Westens. Das Venedig des Nordens und so weiter.
Die Einwohner des Ruhrgebiets können solche oft fadenscheinigen Floskeln nicht jucken, da man hier in der Region sehr gut weiß, wo man eigentlich liegt und wer man eigentlich ist. Dass wir uns nicht das Venedig Westdeutschlands nennen wollen, liegt dann wohl daran, dass man sich hier, außer im Riesenrad der Cranger Kirmes, nicht mit Gondeln fortbewegen kann und der romantische Touch der italienischen Lagunenstadt hier auch auf eine andere Art und Weise nicht zur Geltung kommt. Die Marke »Mittendrin« können wir aber sehr wohl für uns in Anspruch nehmen, denn das Ruhrgebiet ist nicht nur geografisch verdammt weit in der Mitte Europas angesiedelt, sondern bildet auch einen verkehrsgünstig gelegenen Punkt zwischen den Niederlanden und Ostdeutschland sowie zwischen Norddeutschland und Süddeutschland. Fünf Millionen Einwohner können da schließlich nicht irren und zeigen, dass man sich in dieser großen Ansammlung von Menschen aus aller Herren Länder irgendwie »mittendrin« fühlen muss.
Das Ruhrgebiet ist eines der größten Ballungsgebiete Europas. Zudem bietet es durch seine Lage die Möglichkeit, halbwegs zügig sowohl die Bergregionen Bayerns als auch die Küstenregionen Norddeutschlands aufzusuchen. Fragen Sie mal einen Hamburger, der zwölf Stunden mit dem Auto zum Skifahren in die Berge braucht. Er wird im Stau am Kamener Autobahnkreuz neidvoll aus dem Fenster schauen und die geografische Lage des Ruhrgebiets zu schätzen wissen.
Aber auch die Lage der einzelnen Städte innerhalb des Ruhrgebiets ist in Deutschland und Europa einmalig, da man nirgends so schnell von einer Großstadt in die nächste kommen kann. Und das oft, ohne es zu merken. Eine gepflegte Kurztour mit dem Fahrrad kann einen da unter Umständen innerhalb weniger Stunden durch vier oder fünf große Städte führen. Durch fast perfekt vernetzte Autobahnen, die nicht selten mitten durch Häuserblocks, Kleingartenanlagen oder Werksgelände führen, ist der »Ruhri« also auch inmitten des Ruhrgebiets immer zentral auf der Höhe des Geschehens.
Die Anwohner der oft sehr verkehrsgünstig gelegenen Wohnungen mit Blick auf die Überholspur sehen das zwar etwas anders, können aber, ohne mit der Wimper zu zucken, in ihrem nächsten Venedig-Urlaub mit stolzgeschwellter Brust sagen, dass sie nun wirklich »mittendrin« wohnen. Mittendrin im Ruhrgebiet, dem romantischen Florenz Westdeutschlands.
Wenn man sich die alljährlich publizierten Dialekt-Rankings der Boulevardblätter anschaut, so findet der Ruhrgebietsdialekt dort eigentlich gar nicht richtig statt. An vorderster Front der unbeliebtesten Dialekte in Deutschland duellieren sich schon seit Jahren das Sächsische und das Schwäbische um die Spitzenposition. Das Pfälzische mischt gerne mal mit und beim Bairischen ist sich der Bundesbürger noch nicht ganz sicher, ob er das oft unverständliche Gebrumme eines waschechten Lederhosenträgers nun sympathisch verschroben oder einfach nur lästig finden soll. Der Berliner Dialekt und auch das Plattdeutsche können da schon eher punkten.
Doch warum taucht in diesen Listen nie das Ruhrdeutsch auf, also der klassische Ruhrgebietsdialekt, den doch zahlreiche Bühnenkünstler wie Jürgen von Manger in der Vergangenheit oder Herbert Knebel in der Gegenwart so eindrucksvoll vertreten? Nun, die Begründung ist ganz einfach. Es gibt eigentlich gar keinen richtigen Ruhrpottdialekt, da unser »töftet Gequatsche« eher einen Slang, also eine sprachliche Abwandlung, darstellt. Das Wort »Slang« erinnert vielleicht mehr an brennende Mülltonnen in den Straßen der Bronx, um die sich rappende Crashkids versammelt haben, aber im Prinzip ist die Aussprache des Ruhris tatsächlich nichts anderes als Slang.
Damit das Ruhrgebiet aber nicht fälschlicherweise mit New York verwechselt werden kann, haben wir uns hier vor langer Zeit auf den Begriff »Mundart« verständigt, der uns dann doch etwas von der Kleinstadt New York abhebt und dem Sprachstil eine kunstvollere Note gibt. Schließlich ist im Wort »Mundart« ja auch das Wort »art«, also »Kunst«, versteckt.
Zugegeben, die Sprache im Ruhrgebiet kommt mit sehr wenigen Bestandteilen aus. Der Ruhri hat in schlechten Zeiten gelernt, mit wenig auskommen zu müssen, und möchte gerne auf schnelle Art und Weise vermitteln, was ihm am Herzen liegt. Dialogklassiker wie »Wie isset?« – »Gut! Und selbst?« – »Muss!« wurden hier maßgeblich geprägt. Und auch den Luxus, einfach mal auf den Genitiv zu verzichten, erlauben wir uns schon seit vielen Jahrzehnten. Aus Großmutters großer Liebe wird dann schnell mal »die Omma ihrn Alten«. Der sparsame Gebrauch von Fällen, Buchstaben und Satzinhalten ist hier also Programm, denn die meisten Ruhris wären durchaus in der Lage, brillantes Hochdeutsch zu sprechen. Wollen sie aber nicht. Hier ähneln wir doch sehr den geografisch nicht weit entfernten Rheinländern, bei denen sich ebenso wie beim Ruhri viele Unterhaltungen anhören wie das Ergebnis von einer Flasche Doppelkorn am Morgen: »Gehse anne Bude?« – »Ne, bei de Arbeit. Wills mitkommen?« – »Ne, ich bleib inne Betten. «
Bemerkenswert ist auch die Umschreibung von Alltagsgegenständen und Personen. Hier gibt sich der waschechte Ruhri gleichfalls nicht mit Allerweltsbegriffen aus dem deutschen Wörterbuch zufrieden, sondern erfindet fröhlich eigene Bezeichnungen, die auch gefälligst jeder Einheimische und vor allem jeder Zugereiste in seinen Wortschatz aufzunehmen hat. Die Synonyme »Furzknoten« für kleines Kind, »Malocher« für Arbeiter oder »Hackenporsche« für einen kleinen Einkaufstrolley, den man hinter sich herzieht, haben längst die Grenzen des Ruhrgebiets überschritten und sind vielerorts deutschlandweit in den Sprachgebrauch eingegangen.
Lustig wird es meist, wenn mal wieder eine niederbayerische Filmproduktionsfirma einen norddeutschen Drehbuchautor verpflichtet und auf die Idee kommt, mit ostdeutschen Darstellern eine typische Ruhrgebietsserie im passenden Milieu zu drehen. Da kräuseln sich dann häufig aufgrund falscher Aussprache und mangelnder Ortskenntnis bei vielen Ruhris vor Fremdscham die Fußnägel auf links. Sowat geht nämlich meistens inne Buxe!
In der ganzen Welt wird deutsches Bier geschätzt. Das Reinheitsgebot von anno dazumal hat den Gerstensaft berühmt gemacht. Aber auch in der Heimat wird gerne mal ein Hefeteilchen, eine Hopfenkaltschale oder einfach ein Pilsken genossen. Das Ruhrgebiet ist zwar nicht die Heimat aller Säufer dieses Landes, aber hier wird durchaus mit einer bemerkenswerten Brauereitradition geworben, selbst wenn die Hochphasen des Bierbrauens im Ruhrgebiet schon lange vorbei sind. Dass sich das Ruhrgebiet mit der Herstellung von Bier heutzutage noch so stark brüstet, liegt an der Verbundenheit des Getränks mit den Eigenheiten der Region. Unvergesslich sind wohl die Enden einer Schicht in einem der großen Bergwerke, als Hunderte Bergmänner gleichzeitig eine Eckkneipe überfielen, um dort in Dreierreihen am Tresen ein kühles Blondes zu genießen. Wenn die Lohntüte voll war, wurde sie an der Theke so lange wieder geleert, bis Mutti einen abholte, damit man nicht das ganze Monatsgehalt auf den Kopf hauen konnte. Bier und Bergbau standen also im Ruhrgebiet immer Seite an Seite, auch wenn das Trinken von Alkohol auf den Werksgeländen und bei der Arbeit natürlich streng verboten war.
Eine weitere Verbindung und somit ein triftiger Grund, sich regelmäßig mal einen hinter die Binde zu kippen, war und ist im Ruhrgebiet das Phänomen Fußball. Dutzende mehr oder weniger erfolgreiche Vereine ließen nicht nur die Sportbegeisterung der Menschen in der Region wachsen, sondern sorgten auch für einen guten Absatz des flüssigen Grundnahrungsmittels bei vielen Fußballfans im Stadion, am Fernsehgerät oder wo auch immer.
Herausragend und irgendwie auch die Hauptstadt der Ruhrpottbrauereien war über viele Jahrzehnte Dortmund. Eine Stadt, die ihr Bier sogar bis nach Japan exportierte und sinnbildlich für die Brauereilandschaft Ruhrgebiet stand. Die Union-Brauerei in der Nähe der Dortmunder Innenstadt war so eine Art Flaggschiff, das zwar heute zu großen Teilen abgerissen ist, durch das große »U« auf dem Dach eines noch erhaltenen Gebäudes aber weiterhin Strahlkraft besitzt. »U« steht also nicht mehr im engen Sinne für die Union-Brauerei, sondern wohl eher für »Undwirsaufentrotzdemnochgernebier«. Heute wird das Dortmunder U-Gebäude als Kultur- und Kreativzentrum genutzt. Lassen Sie sich dort im Museum aber bitte trotzdem nicht mit einer Flasche Bier in der Hand erwischen.
Kleinere Brauereien im Ruhrgebiet sind in den vergangenen Jahrzehnten zwar auch dem allgemeinen Brauereisterben zum Opfer gefallen, aber einige wenige (Familien-)Betriebe haben sich gemausert und stehen nach wie vor für überzeugende Brauereikunst made in Ruhrpott. Die Städte Duisburg, Essen und Bochum pflegen dieses Image noch ganz zärtlich und wenn man in diesen Städten durch die Kneipen tingelt, so wird einem mit großer Wahrscheinlichkeit überwiegend der lokal gebraute Gerstensaft kredenzt. Viele Schluckis wissen das zu schätzen, denn im Prinzip schmeckt ein Bier ja auch besser, wenn es direkt von der Brauerei ins Glas kommt und nicht erst mühsam einmal um die halbe Welt geschifft werden muss.
Sie können die noch bestehenden Brauereien übrigens auch besichtigen und sich einen Eindruck davon machen, wie das Zeug hergestellt wird. Und wem das noch nicht genug an alkoholischem Wissen ist, dem sei ein Besuch des Dortmunder Brauerei-Museums ans Herz gelegt. Hier erfährt man viele Details über die Brautradition, insbesondere aus Dortmund, von den Anfängen bis heute. Vor allem die sogenannten Goldenen Jahre von 1950 bis 1970 sind hier Thema und machen ordentlich Durst auf ein schönes Pilsken im Anschluss in der Dortmunder Innenstadt.
Aber übertreiben Sie es nicht mit dem Leitsatz: »Zwischen Leber und Milz passt immer noch ’n Pils!«
Eines der berühmtesten Fußballderbys in Deutschland ist sicher das Derby Hamburger SV gegen St. Pauli. Auch 1860 München gegen die Bayern sorgt immer für viel Stimmung in der Stadt. Schade eigentlich, dass es so eine tolle Sache nicht im Ruhrgebiet gibt.
Wie schön wäre es doch, wenn man sich im Ruhrgebiet an der Qualität eines guten Fußballspiels erGÖTZEn könnte und zwei sportlich zutiefst konkurrierende Mannschaften dabei aufeinandertreffen würden. Man könnte die sportliche Rivalität zweimal pro Saison auf dem Rasen austragen. Als Fan müsste man sich quasi von Geburt an für einen der beiden Vereine entscheiden. Super wäre es auch, wenn dann diese beiden Fußballvereine verschiedene Farbkombinationen als Trikotmontur tragen würden, also zum Beispiel Blau und Weiß oder Schwarz und Gelb. Die beiden Vereine sollten nicht zu weit voneinander beheimatet sein, aber dennoch so weit, dass der Fußballfan sein Territorium, also sein Revier, für sich beanspruchen kann und alle entweder auf heiligem Boden (Heimspiel) oder auf Kriegsgebiet (Auswärtsspiel) ihrer Freude am Fußball nachgehen könnten.
Ja, es ist wirklich schade, dass das Ruhrgebiet mit so etwas Verrücktem nicht werben und keine Auswärtigen auf die kleinen, aber feinen Sportkampfbahnen zum Beispiel in Gelsenkirchen oder Dortmund locken kann. Es gibt jedoch alte Überlieferungen aus der Nähe von Lüdenscheid-Nord und aus Herne-West, die besagen, dass es so etwas vor langer Zeit im Ruhrgebiet mal gegeben haben soll. Die sogenannten Vereine Schalke 04, also westlich von Herne gelegen, und Borussia Dortmund, etwas nördlicher von Lüdenscheid beheimatet, lebten diese meist gesunde Rivalität sportlich aus. Sie sollen mit ihrem Ballspiel sogar so erfolgreich gewesen sein, dass sie regelmäßig auf bundesdeutscher Ebene Pokale und Meisterschaften gewannen. Der eine eben mehr, der andere weniger.
Entscheidend für das Ruhrgebiet soll aber die Tatsache gewesen sein, dass man sich als Gebürtiger ebendieser Region für einen der beiden Vereine entscheiden musste. Es gab also vom Kreißsaal an nur die Möglichkeit, sich zwischen Lüdenscheid-Nord und Herne-West, alias Dortmund und Schalke, zu entscheiden. Randgruppen und Minderheiten, die sich diesem Diktat entzogen, sollen zur Strafe zu einer Mitgliedschaft beim VfL Bochum, bei Rot-Weiss Essen oder beim MSV Duisburg gezwungen worden sein. Es war eine schwierige Zeit, die die Protagonisten viel Stimme gekostet haben soll, wenn sie beim Aufeinandertreffen der beiden Top-Clubs ihre Schlachtgesänge anstimmten und die Heimstadien so sehr mit Leben erfüllten, dass man Gänsehaut bekam.
Der Verein aus Herne-West wurde im Jahre 04 gegründet (nicht 05!!) und der verfeindete Stamm der nördlichen Lüdenscheider anno 1909. Es war also viel Zeit ins Land gegangen, in der sich die beiden Vereine von kleinen Bergarbeiterclubs zu großen Wirtschaftsunternehmen mauserten, die weit über das Ruhrgebiet hinaus eine große Strahlkraft besessen haben sollen.
Ja, wirklich schade, dass es so eine tolle Fußball-Erfolgsgeschichte heutzutage nicht mehr gibt …
Und dann schüttelte meine Frau mich wach und sagte mir mit ernster Miene, dass ich wieder sehr aktiv geträumt hätte. Ich solle sie doch bitte nachts nicht immer treten, wenn ich vom nächsten Revierderby träume und in Gedanken wieder einen Elfmeter gegen die Schwarz-Gelben verwandele. Ich stand auf und war mir nicht sicher, ob ich in meinem Delirium den Ball nun im Kasten versenkt hatte oder nicht, aber eines war mir klar: Es war zum Glück nur ein böser Traum, denn die beiden Vereine gibt es ja tatsächlich. Die Fußballkultur im Ruhrgebiet ist wirklich zum Träumen schön.
Übrigens: Ich habe mich von Geburt an für Herne-West entschieden. Ich träume also regelmäßig in Blau und Weiß.
Wenn Industrie zu Kultur mutiert, dann bedeutet das nicht zwangsläufig, dass im Ruhrpott alle Schornsteine mit Prilblumen beklebt werden. Auch heißt das nicht, dass in jedem Stahlwerk nun Picassos gesammelte Werke besichtigt werden können, aber irgendwie hat es dann doch was damit zu tun.
Die Industriekultur ist heute im Ruhrgebiet einer der wichtigsten Anziehungspunkte für den Tourismus und bedeutet auch für das ortskundige Publikum eine enorme Aufwertung seiner Heimat. Als in den Sechzigerjahren das große Zechensterben im Ruhrgebiet begann und man läuten hörte, dass es mit der Industrialisierung hier wohl nicht unendlich weitergehen würde, sah man in den nun brachliegenden Industrieanlagen zunächst Ruinen, die man eigentlich nur noch abreißen konnte. Niemand hatte die Ideen oder die finanziellen Mittel, diese doch sehr speziellen Großanlagen zu erhalten und sie einer neuen Bestimmung zuzuführen.
Doch irgendwie waren dem Ruhri seine großen Schlote, seine Fördertürme, die das Stadtbild prägten, und seine weitläufigen Betriebsgelände so sehr ans Herz gewachsen, dass er zumindest einen Großteil von ihnen erhalten wollte. Und wie das mit dem dreckigen alten Teddy ist, den man eigentlich nur noch wegwerfen kann, aber nicht will, wurden auch die Industrieanlagen des Ruhrgebiets irgendwann in die Waschmaschine gesteckt und aufgehübscht. Man erkannte, dass das, was dort über Jahre hinweg praktiziert worden war, nicht nur bloße stupide Arbeit gewesen war, wie sie in Tausenden anderen Unternehmen dieser Republik verrichtet wird, sondern dass sie das Ruhrgebiet maßgeblich geprägt hat. Die Industrie des Ruhrgebiets erhielt also mit vollem Stolz den Ritterschlag, zukünftig als Zeugnis der Zeitgeschichte erhalten zu bleiben.
Man begann, auf den stillgelegten Zechen Museen zu errichten, die Zeugnis von der dort geleisteten Arbeit ablegten. Waschkauen baute man zu Theaterbühnen oder Sporthallen um. Man schuf Kunst auf ehemaligen Abraumhalden, lackierte Fördertürme neu und machte alles bunter und schöner – und sogar ganz ohne Prilblumen. Die Industriekultur war geboren und ist heutzutage gleichzeitig Mahnmal für eine Epoche, die das Ruhrgebiet zu dem gemacht hat, was es ist, und Touristenmagnet für alle diejenigen, die sich diese Erinnerung an die Montanindustrie ins Gedächtnis rufen wollen.
Die »Route der Industriekultur«, die eigentlich mehr ein Netz ist, wurde im Ruhrpott in den Neunzigerjahren geschaffen und weist eine Vielfalt bedeutender Bauwerke auf, die einen Besuch wert sind. 54 Hauptattraktionen umfasst sie heute. Darunter befinden sich 13 historische Arbeitersiedlungen, 16 markante Aussichtspunkte auf das Ruhrgebiet und 25 Ankerpunkte der Industriekultur, die über das ganze Ruhrgebiet verteilt sind und zu allen erdenklichen Themen der Industrie der Vergangenheit Informationen liefern.
Bedeutende und bekannte Ankerpunkte wie die Zeche Zollverein zählen ebenso dazu wie eher unscheinbare, aber nicht minder interessante Ausflugsziele, wie beispielsweise der Hohenhof in Hagen. Ein besonderes alljährliches Highlight ist die sogenannte Extraschicht, die Nacht der Industriekultur. An diesem Abend können sich Interessierte mit einem einzigen Bus- und Bahnticket durch das gesamte Ruhrgebiet zu den Attraktionen der Industriekultur kutschieren lassen. An den jeweiligen Punkten wird dann jede Menge Kulturprogramm für Jung und Alt geboten.
Vergessen Sie nicht, ein paar Prilblumen mitzunehmen, und kleben Sie etwas Flower-Power an den erstbesten Schornstein.
Es ist leider kein Klischee, dass der Ruhrpott seit vielen Jahren mit Klischees zu kämpfen hat. Das tapfere Dorf namens Ruhrgebiet zieht aber mutig gegen die Übermacht aus Restdeutschland ins Feld und müht sich, diese Klischees zu widerlegen.
In einer Zeit, als im Ruhrgebiet noch sämtliche Einwohner, also auch Kinder, Rentner und Frauen, mit schwarzem Gesicht und Grubenhelm auf dem Kopf durch die Straßen zogen, hatten wir diese Sorgen nicht. Damals bewegte man sich nur mit Atemschutzmasken durch das Ruhrgebiet und alle Menschen hier arbeiteten ausnahmslos im Bergwerk. Man konnte keinen vernünftigen deutschen Satz gerade aussprechen und war das Armenhaus der Republik. Ja, diese Klischees gibt es noch heute. Das mit dem Armenhaus der Republik möchte ich zwar an dieser Stelle nicht krampfhaft zu widerlegen versuchen, aber es wird Zeit, zumindest mit den anderen Vorurteilen mal aufzuräumen.
Liebe Norddeutsche, die ihr immer so gerne mit eurer guten Seeluft prahlt. Die Luft im Ruhrgebiet ist nicht orange. Auch sind die Taschentücher nicht mehr schwarz, wenn man sich mal die Nase putzt. Nein, das war mal. Das ist von damals, das war bääh. Ist aber zum Glück vorbei. Die Kluterthöhle in Ennepetal ist gar als Luftkurort anerkannt und bietet Kettenrauchern die Möglichkeit, mal wieder richtig durchzuatmen.
Der Klassiker in Sachen Klischeedenken sind aber meist die Besuchergruppen, die stilecht in Trachtenhose aus einem Reisebus aussteigen und als Erstes loben: »So grün habe ich es mir hier gar nicht vorgestellt. «
Liebe Süddeutsche! Ja, es gibt im Ruhrgebiet Bäume. Bei einer großen Ansammlung sprechen wir mitunter sogar von einem Wald oder gar einem Waldgebiet, in dem dann gleich Tausende solcher Bäume stehen. Und wissen Sie was? Die sind von ganz alleine gekommen. Die wachsen hier wie Sau. Hagen ist gar die waldreichste Großstadt Deutschlands. Und das alles inmitten des Ruhrgebiets.
Und dass es hier dreckig und schwarz ist, trifft höchstens noch auf meinen Abstellkeller zu, aber mitnichten auf das ganze Ruhrgebiet. Die Schornsteine, aus denen früher die gesamte Republik zugepustet wurde, stehen längst nicht mehr. Und die zwei bis drei Osterfeuer beziehungsweise die Handvoll alter Autos, die hier noch durch die Straßen brettern, sorgen nicht flächendeckend für ein schmutziges Umfeld. Auch im Ruhrgebiet haben sich Hersteller von Besen, Abrissbaggern und Wischmopps einen Namen gemacht und Verkaufserfolge erzielt. Ja, wir sind verdammt sauber geworden und blühen derzeit recht grün und gepflegt auf. Natürlich gibt es im großen Haus Ruhrpott immer noch Ecken, in denen der Staub etwas höher liegt, aber der Fleiß und der Ehrgeiz der Ruhris sorgen dafür, dass es hier jeden Tag ein wenig schöner wird. Eine Nordseeküste oder ein Alpenvorland werden wir zwar nie besitzen, aber dafür treten wir auch nicht an allen Ecken und Enden in Wattwürmer und Kuhscheiße.
In Bezug auf die Sprache ist das mit dem Klischeedenken so eine Sache. Zugegeben, die Sprache im Ruhrgebiet ist mitunter wie der Inhalt eines Würfelbechers, in dem die Worte etwas durcheinandergemischt werden, wobei dann aus den zur Verfügung stehenden Lauten ein etwas verkehrter Satz gebildet wird. Aber auch hier bemühen wir uns in Zukunft, die Zusammenhänge grammatikalisch und orthografisch besser zu koordinieren. Versprochen! Im Zeitalter der SMS, in der ja sprachlich irgendwie alles auf ein Minimum reduziert wird, fällt dieses alte Ruhrgebietsmanko aber gar nicht mehr so stark ins Gewicht. Während man bei einer SMS die banale Abkürzung »Hdl LG Oma« wählt und damit »Hab dich lieb. Liebe Grüße, Großmutter« ausdrückt, sagt man im Ruhrgebiet ganz klischeefrei: »Komma lecker bei die Omma. «
Na, was gefällt Ihnen denn nun besser?
Wenn Ihnen etwas besonders gut gefällt oder Sie mit einer Sache Gewinnerzielungsabsichten haben, dann werden Sie vermutlich für dieses Etwas werben. Sie versuchen natürlich, es dabei in einem guten Licht dastehen zu lassen, um möglichst viele Unwissende auf dieses Etwas aufmerksam zu machen. Das kann Werbung für Ihr Unternehmen, Ihren alten Rasenmäher oder Ihre Ehefrau sein. Ein guter Werbespruch wirkt bei gutem Marketing oft Wunder, was die Außenwirkung angeht.
Auch das Ruhrgebiet lässt sich da nicht lumpen und kreiert fröhlich seit vielen Jahren Werbesprüche, die sich so seltsam anhören, dass jeder, der sie liest, zwangsläufig auf das Ruhrgebiet aufmerksam werden muss. Die beauftragten Werbeagenturen, die für einen neuen Werbeslogan monatelang die Köpfe qualmen lassen, müssen so denken, denn anders lassen sich ja Highlights wie zum Beispiel »Bochum macht jung« nicht erklären. Bochum macht jung? Ich dachte immer, das Einzige, was jung macht, sei eine Antifaltencreme oder eine wöchentliche Botoxbehandlung. Vor allem aber klingt es so, als würde Bochum alte Säcke anziehen wollen, die erst auf Bochumer Stadtgebiet wieder zu flotten Teenies mutieren.
Die Stadt Oberhausen macht es sich da etwas einfacher, um Besucher in die Stadt zu locken. Sie wirbt einfach mit dem großen kursiven O und setzt einen Punkt dahinter. Die Geschichte der O. ist in Oberhausen für viele trotzdem eine Geschichte mit vielen Fragezeichen, auch wenn nur ein Punkt drin vorkommt. Der überregional bekannte Besuchermagnet CentrO kam also zwangläufig nicht um dieses große »O« herum. Daher werden in Oberhausen wohl auch nur Gebäude zu einer Sehenswürdigkeit auserkoren, die ein »O« im Namen tragen. Zum Beispiel der GasOmeter oder das SchlOss Oberhausen. »O, wie schön«, kann man da nur sagen.
Um den Städten aber nicht die Vorherrschaft im Tourismusmarketing zu überlassen, möchte das Ruhrgebiet natürlich auch als Gesamtregion in Sachen Werbung eine gute Außendarstellung bieten und so werden in hübscher Regelmäßigkeit Versuche unternommen, dem Ruhrpott ein schickes Gewand auf den Leib zu texten.
In den Neunzigerjahren sorgte der Spruch »Der Pott kocht« für Aufmerksamkeit, den aber viele Stadtobere als zu schmuddelig empfanden. Wahrscheinlich in erster Linie im Hinblick auf die eigenen Kochkünste am heimischen Herd, denn der Spruch hatte etwas Besonderes. Zum einen sollte er eine gewisse Dynamik ausdrücken, also eine Art Aufbruchstimmung heraus aus der Zeit der Montanindustrie, und zum anderen sollte er den schon damals populären Begriff »Pott« im Sinne von »Ruhrpott« im wahrsten Sinne des Wortes befeuern. Der Schuss ging aber nach hinten los, denn niemand konnte sich so richtig mit dem Slogan anfreunden. Oberlehrer gingen auf die Barrikaden, da sie argumentierten, dass ja nicht der Pott koche, sondern wenn überhaupt dann nur der Inhalt. Außerdem assoziierte man mit dem Werbespruch eher das HB-Männchen, das vor Wut kocht, als die aufstrebende Metropolregion Ruhr. Der Spruch verschwand nach einiger Zeit der Aufregung also wieder von der Bildfläche.
Da der Superlativ von »merkwürdig« aber »am merkwürdigsten« ist, dachte sich vor einigen Jahren eine Werbeagentur, dass man auf diesen etwas misslungenen Versuch, das Ruhrgebiet in eine Werbebotschaft zu verpacken, noch einen draufsetzen könnte, und entwickelte allen Ernstes den Werbeslogan »Ruhrn, Teamwork Capital«. Hallo? Ruhr hoch n? Teamwork Capital? Ich versuche das mal etwas zu erklären, da es sonst kaum ein Nichteingeweihter, der kein Mathematikstudium in Harvard absolviert hat, verstehen würde. »Ruhr hoch n« hat mit dem mathematischen kleinen »n« zu tun, das etwas nach oben gestellt ein unendliches Potenzial anzeigt. Die Ruhr ist also demzufolge unendlich, auch wenn sie irgendwann mal im Rhein landet. Gemeint gewesen waren sicher die Möglichkeiten, die das Ruhrgebiet bietet, aber wer soll da direkt drauf kommen? Ruhr2 oder Ruhr3 hätte sich ja auch irgendwie nach Blödsinn10 angehört, deshalb also das altkluge »n«. Die Ergänzung »Teamwork Capital« bezog sich nicht auf die Mühe der Banker, im Verbund möglichst viel Kapital zu scheffeln, sondern sollte in etwa so viel ausdrücken wie … na ja, keiner weiß es so genau.
Man kann vom Ruhrgebiet also halten, was man will, aber es macht durch verkorkste Werbebotschaften immerhin so regelmäßig auf sich aufmerksam, dass auch dies ein Grund ist, es zu lieben, und Sie darüber lesen. Was will Werbung mehr?
Und da der Versuch, dem Ruhrgebiet eine passende, griffige und einprägsame Werbebotschaft zu vermitteln, ja mal wieder gescheitert ist, können die einzelnen Städte einmal mehr aus dem Vollen schöpfen und sich ihren ganz persönlichen Slogan auf die Fahnen malen.
»Essen ist fertig!« oder »Datteln, hier wohnen keine Pflaumen!« sind Vorschläge, die mir da spontan einfallen.
Letztlich sind es also eher die Menschen, die durch ihre charmante und beherzte Art die beste Werbung für den Ruhrpott darstellen und weniger die überdimensionalen und schweineteuren Werbebotschaften, mit denen sämtliche Bushaltestellen im Ruhrgebiet zutapeziert werden.
Der Ruhri ist ja allgemein für allerhand schönen Blödsinn deutschlandweit bekannt. Für seine Marotten, für sein großes Herz, für seine Kultur und für seine Geschichte. Was den echten Ruhri, also die meisten Menschen in der Region, aber ausmacht, ist seine direkte Art und sein lockeres Mundwerk. Nun gut, darunter kann man erst einmal alles verstehen, denn wenn mir ein Verkehrspolizist sagt, dass 180 innerorts zu schnell sei und er nun gerne meinen Führerschein hätte, dann ist das ja auch eine direkte Art. Beim Ruhri ist es eigentlich ähnlich, aber doch irgendwie ganz anders.
Die große Klappe ist den Menschen im Ruhrgebiet nämlich anscheinend angeboren beziehungsweise mit der Muttermilch verabreicht worden. Man war und ist im Ruhrgebiet immer sehr bemüht, Handlungsabläufe oder Ziele in möglichst kurzen und knappen Sätzen auf den Punkt zu bringen. Dies geht natürlich oft zu Lasten einer gewissen Höflichkeit. Während der Polier auf der Baustelle in Restdeutschland seinem Hiwi mit auf den Weg gibt, er möge doch bitte mal so nett sein und ihm den Hammer reichen, damit er nun zügig die Wand herniederreißen könne, spricht der Ruhrpottler dieses etwas direkter und somit knapper aus: »Gimma Mottek – ich klopp getz die Wand zu Gülle!«
Diese direkte Art scheint also der Industrie im Ruhrgebiet geschuldet zu sein, die immer bedingte, dass man zügig und schnell arbeitete. Lange und komplizierte Sätze hätten nur dazu geführt, dass wahrscheinlich bis heute noch kein einziger Brocken Kohle aus der Erde geholt worden wäre. Durch die direkte Art sind wir da etwas weiter und haben die Zechen (größtenteils) schon hinter uns gelassen. Aber es sind nicht nur die Sprache und die Form der Kommunikation, die den Ruhrpottler zu einem direkten Menschen machen. Auch die Art, wie im Ruhrgebiet mit Mitmenschen, gerne auch Ortsfremden, umgegangen wird, ist mitunter von einer sehr gewürzten Direktheit: »Ey, kumma. Dat is ’n Prominenter. « – »Ja und, der trinkt sein Bier auch nich anders als wie wir. «
Der Hang des Ruhris, bei keinem Thema hinter dem Berg zu halten und alles, was ihm gerade durch den Kopf wandert, ungefiltert hinauszuposaunen, bringt also Klarheit und Offenheit. Nichtsdestotrotz bergen solche Verhaltensweisen natürlich auch das Risiko, mal anzuecken und negativ in Erscheinung zu treten, da es ja auch Situationen gibt, in denen man nicht immer direkt und ungefiltert antworten sollte. Hier hat sich der Ruhri einen natürlichen Schutzfilter zugelegt, der ihm bei Rapports beim Chef, Diskussionen mit der eigenen Ehefrau oder Streitereien mit den pubertierenden Kindern zeigt, dass es auch Situationen gibt, wo man besser mal die Klappe hält. Da bieten sich dann Rückzugsmöglichkeiten, zum Beispiel in den Schrebergarten, wo man nicht so direkt antworten muss, sondern unter dem Sonnenschirm auch einfach mal indirekt die Sonne genießen kann.
Ich mach mal direkt weiter.
Das Entscheidende an der direkten Art der Menschen im Ruhrgebiet ist aber, dass alles von Herzen kommt und dem Ganzen ein gewisser Charme innewohnt. Da der Ruhri seit Urzeiten auch mit Klischees über sich und seine Heimat fertigwerden muss und musste, sind auch hier Schutzmechanismen entstanden, die ihm zeigen, ob es sich beim Gegenüber um einen positiv oder negativ eingestellten Menschen handelt. Durch seine direkte Art demonstriert der Ruhri dann also erst einmal Präsenz und Selbstbewusstsein und lässt beim Gegenüber keine Spielräume für Vorurteile und Überheblichkeit. Hat der Ortsfremde dann die direkte Art der Ruhris akzeptiert, wird er diesen besonderen Charakterzug der Einheimischen in den meisten Fällen auch zu schätzen wissen.
Insbesondere die Gastarbeiter aus aller Herren Länder, die bereits in den Sechzigerjahren ins Ruhrgebiet strömten und hier Arbeit fanden, waren dankbar für diese direkte und unkomplizierte Art und Sprache. Zwar wussten sie auch nicht vom ersten Arbeitstag an, was eine Ratsche mit 6er-Nuss ist, aber die passende, hektisch ausgeführte Handbewegung des Meisters machte klar, dass hier irgendetwas vonnöten war, um irgendetwas festzuziehen.
Der angesprochene Lehrling schüttelte dann nur den Kopf und machte auf sehr direkte Art und Weise deutlich, dass jetzt nix mit 6er-Nuss, sondern Mittagspause angesagt ist. Die direkte Art wurde also auch von Neu-Ruhrpottlern direkt verinnerlicht.
Und nun direkt zum nächsten Grund, den Ruhrpott zu lieben …
»Mach meinen Kumpel nicht an!«, hieß mal eine Antidiskriminierungskampagne, in der für ein soziales und harmonisches Miteinander geworben und dem Rassismus Hausverbot erteilt wurde. Der Begriff »Kumpel«, der ja »Freund« oder »Kamerad« bedeutet und ursprünglich wohl vom Wort »Kumpan« oder »Kompagnon« hergeleitet wurde, hat im Ruhrgebiet aber eine viel tiefgreifendere Bedeutung, da er eng an den Bergbau geknüpft war und ist.
»Kumpel«, also die im Ruhrgebiet gängige Bezeichnung für den Bergmann als Berufsstand, bezeichnet hier sowohl den »Malocher« von der Zeche als auch den guten Freund. Das ist insofern praktisch, als der hier arbeitende Bergmann auf diese Art und Weise auch den größten Volldeppen unter Tage mit breiter Brust als einen guten Kumpel bezeichnen kann, wenn er denn nur entsprechend fleißig arbeitet, aber darüber hinaus eventuell nicht viel taugt. Und obwohl der Bergbau von einer Hierarchie geprägt ist, wie man sie sonst nur aus der Bundeswehr kennt, darf also der frischgekürte Hauer, der als Lehrling unter Tage schuftet, seinen Vorgesetzten, den Obersteiger, am Abend in der Kneipe Kumpel nennen. Versuchen Sie das mal am ersten Arbeitstag als Auszubildender in einer Sparkassenfiliale.
Der Begriff »Kumpel« hat also im Montanbergbau eine Tradition und hat sich bundesweit etabliert. Sah man mal wieder eine Großdemonstration von Bergleuten, die gegen Zechenschließungen durch die Städte zogen, dann war die einzige dazu passende Überschrift in den Tageszeitungen: »Kumpels gehen für den Zechenerhalt auf die Straße«.
Haben Sie denn auch einen echten Kumpel in Ihrem Freundeskreis? Nein? Dann wird es aber Zeit, denn mittlerweile wird der Begriff »Kumpel«, auf den doch alle echten Ruhrgebietler so stolz sind, ein wenig inflationär eingesetzt. Man hört das Wort nun an jeder Ecke, da mittlerweile jede flüchtige Thekenbekanntschaft nach fünf Minuten bereits als Kumpel betitelt wird, ohne dass die Beteiligten auch nur einmal gemeinsam einen Förderkorb bestiegen hätten.
Sehr populär war im Ruhrgebiet eine Comicfigur, die ab den frühen Fünfzigerjahren auf den Namen Kumpel Anton hörte und täglich in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung dem interessierten Leser Alltagsgeschichten von nebenan präsentierte. Nach weit über 1400 Geschichten ging aber auch Kumpel Anton dann irgendwann mal in Rente und konnte leider trotz seines Tatendrangs nicht verhindern, dass Anfang der Siebzigerjahre etwas viel Freizügigeres auf den deutschen Filmmarkt kam.
Laß jucken, Kumpel, ein cineastisches Meisterwerk, bei dem man sich noch heutzutage fragt, wer denn auf die Idee kam, den Kumpel, den regionalen Helden des Ruhrpotts, auf diese Art und Weise zu verunglimpfen. Wem der Film aus dem Jahre 1972 und die daran anschließende Filmreihe nichts sagt, dem sei kurz erläutert, dass es sich dabei um ein Heimatfilmchen der besonderen Art handelt, in dem eben besagter Kumpel unter Tage arbeitet und parallel dazu in schönster Ruhrpottkulisse so allerhand Abenteuer der freizügigen Art erlebt. Bei wem das Wort »Trash« keine Zahnschmerzen auslöst, der sollte sich dieses Machwerk nicht entgehen lassen, denn schließlich kann der Ruhrpottler auch über sich selbst lachen und den Ausdruck »harte Arbeit« so mal aus einer ganz anderen Perspektive beurteilen.
Man sieht also, der Begriff »Kumpel« drückt im Ruhrgebiet nicht nur etwas Positives aus, sondern er verbindet auch Menschen miteinander – wie in diesem kleinen Filmchen. Getreu dem Motto: »Mach meinen Kumpel ruhig mal an!«
Und wenn Ihnen Ihre imaginären Facebook-Freunde demnächst zum Halse heraushängen, dann kommen Sie doch mal ins Ruhrgebiet und lernen echte Kumpels aus Fleisch und Blut kennen.
Ruhrstadt? Wat is dat denn? Gibbet nich! Ich gebe zu, Sie haben recht. Das Ruhrgebiet war und ist immer das Ruhrgebiet, das Revier und natürlich der Ruhrpott. Aber eine große Stadt war es nie und wird es wohl aufgrund politischer Egomanie auch nie werden. Aber das Bedürfnis, insbesondere der Bewohner der Region, sich wie in einer großen Stadt zu fühlen, war im Ruhrgebiet immer sehr ausgeprägt. Das mag an den fast gar nicht wahrnehmbaren Stadtgrenzen innerhalb der Ruhrregion liegen, findet seine Begründung aber auch vor allem darin, dass der Ruhrgebietler sich gerne als Großstädter sehen möchte, selbst wenn er in Datteln, Bottrop oder Oer-Erkenschwick beheimatet ist. Daher entstand hier der Begriff »Ruhrstadt«, der dem neidischen Hamburger oder Berliner dann schlichtweg vermitteln soll, dass wir unter dem Deckmantel des Begriffes »Ruhrstadt« tatsächlich die größte und mitunter am dichtesten besiedelte Region Europas sind und es doch faszinierend wäre, wenn man im Ruhrgebiet ganz offiziell von der größten Stadt Deutschlands sprechen könnte.
Ein bisschen Größenwahn sei den Ruhris also gegönnt, denn schließlich sind sie ja auch ziemlich breit und lang. Was die Fläche betrifft selbstverständlich. Das Ruhrgebiet erstreckt sich nämlich über eine Fläche von 67 mal 116 Kilometern, auf der sich sämtliche kleinen Orte, Randgebiete und beschaulichen Stadtteile nun Ruhrstadt nennen dürften. Der Wunsch, aus einer großen Metropole Ruhr, wie wir im Ruhrgebiet auch hin und wieder betitelt werden, eine große Ruhrstadt zu zimmern, in der dann nach Möglichkeit auch nur eine Stadtverwaltung das Sagen hat, geht also in erster Linie von den Bürgern und weniger von den Herren im schwarzen Anzug aus.