111 Gründe, die Nordsee zu lieben - Carsten Wittmaack - E-Book

111 Gründe, die Nordsee zu lieben E-Book

Carsten Wittmaack

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Beschreibung

Seit Carsten Wittmaack denken kann, verbrachte er die Sommer mit seinen Eltern im Wohnwagen in Büsum, heute verbringt er sie mit Frau und Kindern im Ferienhaus an der Küste. Warum der Autor von der Nordsee nicht genug bekommen kann? Weil es keinen schöneren Ort zum Gucken, Staunen und Seele-baumeln-Lassen gibt. In 111 Gründe, die Nordsee zu lieben nimmt Carsten Wittmaack den Leser mit auf einen Streifzug durch eine Region voller Geschichte und Geschichten: über die nordfriesischen Inseln, in die Theodor-Storm-Stadt Husum, durch die freie Bauernrepublik Dithmarschen, nach Cuxhaven, Bremerhaven und Ostfriesland, an die Unterelbe mit Altem Land, nach Glückstadt und Hamburg. Es gibt so viel zu erzählen über Feuerschiffe, Nebelbänke, Wattspaziergänge, Seemannsfriedhöfe, Friesengeist und Aberglaube. Das Buch ist eine schwärmerische Liebeserklärung an das Reich der Friesen. Wobei Friese nicht gleich Friese ist, wie der Fachmann weiß und der Laie lernen wird.

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Carsten Wittmaack

111 Gründe, die Nordsee zu lieben

Eine Liebeserklärung an die schönste Küste der Welt

Schwarzkopf & Schwarzkopf

PROLOG

DER »BLANKE HANS«

Die Nordsee. Mit ihr verbinden die meisten Menschen Sommer, Sonne und Badeurlaub. Dabei hat die Region viel mehr zu bieten als Wasser, Deiche und plattes Land. Bevölkert wird der Landstrich seit Jahrhunderten von den Friesen. Schweigsame Kumpane, die einst Wale auf den Sieben Weltmeeren jagten und heute die Touristenmassen mit stoischer Gelassenheit ertragen. Sturmfluten nahmen Land und Leben, heute ringt man dem Meer wieder Land ab und schafft künstliche Köge, die jahrzehntelang unbewohnbar bleiben und so zu Naturparadiesen werden. Theodor Storm hat hier gelebt und seine »graue Stadt« Husum beschrieben, sein »Schimmelreiter« kämpfte gegen das Meer, und noch immer gibt es Deichgrafen, die das Marschenland hinter den Schutzwällen sichern sollen. Der Ostfriese hat bundesweit Eingang in die Witzkultur gefunden, und Sylt stieg zur Herberge der High Society auf.

Die Nordsee. Es gibt so viel zu erzählen über Feuerschiffe, Nebelbänke, Wattspaziergänge, Friesengeist und Aberglaube. Protagonist ist stets der »Blanke Hans«, wie die Nordsee von den Einheimischen genannt wird. Nordsee ist Mordsee, wissen die Menschen, die hinter den Deichen wohnen. Sie ist wie eine schöne Geliebte. Ein Traum, wenn sie sanft ist, und ein Albtraum, wenn sie zürnt. 111 Gründe, sie zu lieben, lassen sich dennoch spielend leicht finden. Denn wie das so ist mit störrischen Geliebten: Je aufbrausender sie sind, umso mehr verzehrt man sich nach ihnen.

»111 Gründe, die Nordsee zu lieben«. Eine fröhlich-augenzwinkernde Reise in die Welt der Friesen, ihrer Traditionen und ihres Lebensstils. Die Typisierung eines Landstrichs, in dem der Autor aufgewachsen ist, und den er bis heute über alles liebt.

In diesem Sinne: Viel Spaß bei der Lektüre!

Carsten Wittmaack

KAPITEL 1

DIE HEIMAT DER FRIESEN UND ANDERER URIGER TYPEN

Über den Menschenschlag zwischen Husum und Emden

GRUND NR. 1

WEIL DIE SEE DIE MENSCHEN PRÄGT

Ich war noch nicht einmal ein Jahr alt, als es das erste Mal ans Meer ging. Meine Eltern fuhren zum Sommerurlaub nach St. Peter-Ording. 1969 war das. Der Vorteil lag auf der Hand: Von unserem Wohnort Krempe aus fuhr man nur eine knappe Stunde bis an die See. Wir campierten im Zelt. Und weil ich den Strand und das Watt liebte, wurde die Nordsee mein zweites Zuhause. Die folgenden zwei Jahrzehnte verbrachte ich die Sommer im Wohnwagen in Büsum. Und heute? Heute buchen meine Frau und ich jeden Sommer für zwei Wochen ein Ferienhaus an der Küste – sehr zur Freude unserer beiden Kinder übrigens. Ach ja: Wir wohnen inzwischen in Itzehoe und brauchen dank der A 23 nur noch eine halbe Stunde, bis wir das Meer sehen können. Entsprechend oft lassen wir uns eine frische Nordseebrise um die Ohren wehen.

Ich habe mich Hals über Kopf in den Menschenschlag verliebt, der hinter den Deichen lebt. Es sind die See, die Stürme und die Touristen, wovon die Friesen geprägt wurden. Sie gelten als wortkarg und naturfürchtig. Ihre Heimat ist ein plattes und urwüchsiges Land. Es gibt kleine Küstenorte wie Husum und Neuharlingersiel, doch die meisten Einwohner leben verstreut in der endlosen Weite. Direkt hinter dem Deich stehen einsame Höfe, die in alten Zeiten ihre Bewohner mehr schlecht als recht ernährten. Also ging man im Sommer zusätzlich zum Fischen und im Winter wurde nach Treibgut Ausschau gehalten. Legenden – von denen es hier viele gibt – erzählen von Seeräubern und Wegelagerei. Und von falschen Positionsmarkierungen, mit denen Schiffe bei Dunkelheit und Nebel in Untiefen gelotst wurden, um deren Ladung zu stehlen, wenn sie auf Grund gelaufen waren.

Der »Blanke Hans« grub sich tief in die Seelen der Menschen ein. Das Meer gab Nahrung und Leben, nahm es aber auch. Man findet kaum eine Familie, die nicht mindestens einen ihrer Lieben auf dem Meer verloren hat. Auch daheim wurde gezittert, sobald der Wind aufheulte. Die Deiche erinnerten noch vor einem Jahrhundert eher an jämmerliche Erdhügel, die bei jeder Sturmflut zu brechen drohten. Nachts saß man bei Kerzenschein in der Wohnstube. Die Menschen erzählten sich Geschichten von Seeungeheuern, untergegangenen Siedlungen und Geisterschiffen. Das Ergebnis war ein Aberglaube, an dem sich die christlichen Missionare lange die Zähne ausgebissen haben. Der Friese ist ein gläubiger Mensch, doch bis heute wird sein Denken von einem Gemisch aus Bibeltreue und althergebrachtem Seemannsgarn bestimmt.

Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts begann eine Flutwelle ganz anderer Art von Land heranzurollen. Es waren Touristen, die die schönsten Flecken an der See für sich entdeckten. Die Küstenbewohner reagierten pragmatisch. Aus Schweigern, die tagelang allein auf See unterwegs waren, wurden findige Händler. Redselig ist der Friese dennoch nicht gerade geworden. Fast alle waschechten Nordseeaner sind froh, wenn der Touristenstrom im Spätsommer abebbt und im Herbst fast gänzlich zum Erliegen kommt. Endlich ist man wieder unter sich und kann ein halbes Jahr durchatmen, bevor der Spuk von Neuem beginnt.

Wer genau hinschaut, kann noch heute das alte Friesland entdecken – die Höfe hinter dem Deich mit spärlich beleuchteten Wohnstuben, die oft noch den Charme aus Großvaters Zeiten atmen. Gründe dafür gibt es viele. Zum einen ist nicht jeder Nordseebewohner durch den Touristenboom reich geworden, zum anderen mag der Friese keine großen Veränderungen. Gut Ding will Weile haben, heißt das Motto. Zwar hat elektrisches Licht die Kerzen ersetzt, die Deiche wurden erhöht und die kleinen Kutter von einst sind hochseetüchtigen Schiffen gewichen. Doch im Kern ist sich der Friese treu geblieben. Trotz allen modernen Komforts und neuer Sicherheitsstandards spürt er in seinem Innersten, dass die See nicht kontrollierbar ist.

GRUND NR. 2

WEIL DER FRIESE AUF EWIG EIN SEEBÄR BLEIBT

Wer irgendwo im Friesischen eine Kirche besucht, wird ihn schnell spüren, den Geist der Seefahrer. Fast in jedem Gotteshaus an der Küste hängen hölzerne Modellschiffe von der Decke und in die Bankreihen sind seemännische Motive eingraviert. Oft liegen die Kirchen auf kleinen Erdhügeln, sogenannten Warften. Sie waren bei Deichbrüchen das letzte Bollwerk vor den heranbrausenden Fluten. Was nach Schauermärchen klingt, war vor allem im Mittelalter immer mal wieder bitterer Ernst. So umspülte während der Allerheiligenflut 1532 das salzige Meerwasser die Grundmauern der Büsumer Kirche. Büsum war damals noch eine Insel, erst der Bau des Wardams 1585 gab dem Eiland eine gewisse Sicherheit.

Ich weiß noch, wie ich als Jugendlicher über die Büsumer St.-Clemens-Kirche gestaunt habe. Sie war so ganz anders als die Kirchen, die ich bis dahin im Binnenland gesehen hatte. Statt prunkvoll und protzig eher zierlich und fragil. Als leidenschaftlicher Modellbauer habe ich natürlich vor allem das Modell des Dreimasters »Der milde Herbst« bewundert, das an der Decke hängend auf den Altar zusteuert. Im Volksmund heißt die St.-Clemens-Kirche auch Fischerkirche. Wer sie betritt, weiß warum. Der Geist der seefahrenden Ahnen ist spürbar und im wahrsten Wortsinn zum Greifen nah. Zum Interieur gehört ein bronzenes Taufbecken aus dem 13. Jahrhundert, das der Seeräuber Cord Widderich im 15. Jahrhundert der Insel Pellworm geraubt haben soll.

Überall an der Küste sind Spuren zu finden, die verraten, dass hier eine alte Seefahrernation beheimatet ist. Ein geradezu klassisches Beispiel ist der Kirchhof auf der nordfriesischen Insel Amrum. Ich habe den Friedhof des kleinen Ortes Nebel Anfang der 1990er Jahre das erste Mal besucht. Es war ein Aha-Erlebnis der morbiden Art. Viele Grabsteine erzählen von den Heldentaten der Toten. Mit meiner damaligen Freundin habe ich stundenlang versucht, die verwitterten Texte zu entziffern. Die »sprechenden Steine«, von denen heute rund neunzig unter Denkmalschutz stehen, verraten viel über die innige Liebe der Friesen zum Meer.

Zu denen, die in Nebel ihre letzte Ruhe gefunden haben, gehört der Seefahrer Hark Olufs, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Amrum lebte. Schon sein Vater Oluf Jensen war Kapitän und die Tradition verlangte es, dass der Sohn denselben Berufsweg einschlug. 1724 geriet Hark Olufs in Gefangenschaft, als sein Schiff von algerischen Piraten gekapert wurde. Er wurde auf dem Sklavenmarkt von Algier verkauft, stieg am Hofe des Beys von Constantine bis zum Oberbefehlshaber der Kavallerie auf und nahm 1735 an der Eroberung von Tunis durch die algerische Armee teil. Zum Dank wurde er noch im selben Jahr freigelassen und kehrte nach Amrum zurück, wo er heiratete und den Rest seines Lebens verbrachte.

Geschichten wie diese lassen sich auf der letzten Ruhestätte der Kapitäne »ausgraben«. Ich glaube, ich war bei jedem meiner Amrum-Abstecher auf diesem Friedhof unterwegs, um nach bislang unentdeckten Lebensläufen zu suchen. Vor allem bei Nebel und Schietwetter ist die Atmosphäre einzigartig. Der Friedhof der toten Kapitäne, die Silhouette der benachbarten Kirche – alles Zutaten für ein wahrhaft unvergessliches Erlebnis.

GRUND NR. 3

WEIL WIND UND WELLEN DEM LAND CHARAKTER VERLEIHEN

Über die Schönheit einer Landschaft lässt sich trefflich philosophieren. Und streiten. Der eine mag die Berge, der andere liebt die Stadt mit ihren urbanen Reizen. Wenn es um die Nordseeküste geht, fallen gern einmal Sätze wie »Hier kann man ja schon morgens sehen, wer abends zu Besuch kommt« oder »Mann, ist das eintönig hier. Nichts als Wasser und plattes Land«. Genauso ist es – zum Glück, kann ich da nur antworten. Meer und Marsch sind es, die der Nordsee ihren unverwechselbaren Charakter verleihen. (Die Marsch ist die flache Küstenlinie, die sich an der Nordsee weit ins Hinterland hineinzieht. Das größte Marschgebiet weltweit erstreckt sich von Dänemark im Norden rund 500 Kilometer gen Süden bis nach Holland hinein.) Dass ich mit dieser Meinung nicht allein stehe, beweisen die unzähligen Nordseeurlauber, die Jahr für Jahr wiederkommen, weil sie die Sehnsucht gepackt hat. Die Sehnsucht nach der See und schier endloser Weite.

Wer einmal vom Deich aus einen Sonnenuntergang miterlebt hat, weiß, wie kitschig schön die Nordseeküste sein kann. Ich habe unzählige Fotos von knallroten, grell-orangen und pinkfarbenen Sonnenuntergängen geschossen. Einfach, weil der Augenblick so einzigartig war und ich selbst kaum glauben konnte, was ich gerade mit eigenen Augen sah.

Die Gedanken schweifen lassen. Ja, auch das kann man am Meer. Die See ist ein Synonym für Freiheit. Ich bin früher öfter einmal spontan nach Friedrichskoog gefahren, wenn es mir nicht gut ging. Dann habe ich mich bei Wind und Wetter ans Wasser gesetzt, aufs Meer hinausgeschaut und beobachtet, wie die Wellen anrollen. Spätestens nach einer halben Stunde spürte ich, dass der seelische Ballast von mir abfiel und ich innerlich ganz ruhig wurde. Die Dinge bekommen an der See eine andere Bedeutung. Vermeintlich Wichtiges entpuppt sich als nichtig und man besinnt sich wieder auf das Wesentliche. Heute – mit zwei kleinen Kindern – fehlt mir schlicht die Zeit, um in solchen Momenten ans Meer fahren zu können. Was sehr schade ist, denn diese Art seelischer Ausgleich ist durch nichts zu ersetzen.

Die Nordsee ist ein guter Seelenklempner, so viel steht fest. Sie zieht vor allem Menschen an, die sich nach unberührter Natur und Ruhe sehnen. Wer Remmidemmi und ausschweifendes Nachtleben sucht, kommt hier nur bedingt auf seine Kosten. Der größte Entertainer ist die See selbst. Wer Wattlaufen nicht mag, weil er dabei dreckige Füße bekommt, ist ebenso am falschen Ort wie Wetterfühlige, die schon beim geringsten Anflug von Wind und Regen das Weite suchen. Es ist der Mix aus Naturgewalten, der die Nordseeküste unverwechselbar macht. Schmuddelwetter muss man nicht lieben, aber es gehört dazu. Genau wie Wind und Wellen, wie Deiche und Schafe, wie Friesen und Katen mit Reetdach.

Die Nordseeküste ist ein rauer Landstrich, der seinen Charme aus genau dieser Ungeschminktheit gewinnt. »Hier ist wenigstens noch alles echt.« Dieses Lob hört der Friese gern. Wer am Meer Urlaub macht, dem reicht ein Handtuch am Deich oder ein (dann allerdings teuer bezahlter) Strandkorb. Kinderlärm stört hier gestresste Single-Seelen noch nicht, das Fahrrad ersetzt das Auto und abends, wenn es zum Essen in ein Restaurant geht, muss man keinen Dresscode beachten. Sylt mag da eine Ausnahme sein, aber diese Insel hat sich ohnehin losgesagt vom restlichen Küstenleben. Das wahre Friesland mag es leger und herzlich, ehrlich und unverblümt.

GRUND NR. 4

WEIL DAS WETTER BESSER IST ALS SEIN RUF

Es ist schon erstaunlich, dass die Nordseeküste ein Urlaubsparadies ist, obwohl sie wettertechnisch einen geradezu katastrophalen Ruf genießt. »Bei euch da oben regnet’s ja immer«, bekomme ich regelmäßig zu hören, wenn mich Freunde aus südlicheren Regionen der Republik besuchen. »Schmuddelwetter« heißt dabei das Unwort, das selbst eingefleischte Bajuwaren kennen. Schmuddelwetter, das steht für Dauerregen, Wind und kühle Temperaturen. Vor allem der Regen kann es an der Küste tatsächlich in sich haben. Die feinen Tropfen finden selbst noch durch dickste Lederjacken und Jeans ihren Weg. Dann klebt die Kleidung am Körper und die Feuchtigkeit dringt tief ein. Die Einheimischen sprechen von Schietwetter, bei dem selbst der dickhäutigste Seebär nur ungern den sicheren Hafen verlässt.

Zur Beruhigung: Auch im hohen Norden regnet es nicht immer. Außerdem ist ein Schauer spätestens nach fünf Minuten vorbei und die Sonne lässt sich wieder sehen. Der Wind, der an der Küste eigentlich ununterbrochen weht, hat nämlich einen positiven Nebeneffekt: Graue Wolken werden rasch weggepustet. Und wer länger an der Küste Urlaub macht, wird die leichte Brise – vor allem an heißen Sommertagen – sogar als angenehm empfinden. Apropos Brise: Wie abgehärtet wir Holsteiner sind, habe ich überrascht festgestellt, als ich vor einigen Jahren eine Freundin aus Augsburg vom Hamburger Flughafen abgeholt habe. Als wir die Ankunftshalle verließen, war ihr erster Satz: »Mann, ist das windig bei euch.« Ich guckte sie verwundert an, denn beim besten Willen konnte ich keinen Wind spüren.

Ganz allgemein gilt: Das Wetter an der Nordseeküste ist besser als sein Ruf. Sylt gehört sogar zu den sonnenreichsten Orten Deutschlands. Und im Herbst ist es an der See oft noch angenehm warm. Schuld daran ist das Meerwasser, dessen Temperatur im Oktober oft höher ist als die nächtliche Lufttemperatur. So wirkt die See wie eine Heizung und sorgt ganz nebenbei für ein optisches Phänomen: Gespenstisch breitet sich binnen Minuten dichter Nebel über der Küste aus.

Küstennebel gibt es zumeist im Winterhalbjahr zu bestaunen, doch auch Sommerurlauber können von ihm überrascht werden. Ich war noch keine zehn Jahre alt, als ich mit einer Freundin im Watt unterwegs war. Als wir uns fertig machten, schien noch die Sonne, doch kaum hatten wir die Wasserlinie erreicht, zog sich der Vorhang zu. Der Nebel war derart dicht, dass wir kaum noch unsere Füße sehen konnten, geschweige denn den Deich. Als »alter Küstenhase« orientierte ich mich beim Rückweg an den Prielen, die das Watt durchziehen. Ortsunkundige haben es da naturgemäß schwerer.

Sobald Nebel aufzieht, erklingt daher an der Küste das Nebelhorn. Es soll allerdings keine verirrten Wattläufer retten, sondern es dient als Navigationshilfe für die Schifffahrt. Wenn ich früher morgens in unserem Büsumer Wohnwagen dieses tiefe Signal hörte, wusste ich: Heute wird ein schöner Tag. Denn an der Küste bedeutet Nebel am Morgen im Sommer meistens Sonnenschein. Die Erklärung ist einfach: Morgennebel bildet sich fast nur in sternenklaren Nächten, wobei es ab und zu auch mal eine Ausnahme von der Regel gibt. Und ich weise ausdrücklich jede Verantwortung von mir, sollte ein Tag mit Morgennebel doch einmal ins Wasser fallen. Die See ist eben unberechenbar – auch wettertechnisch gesehen. Und ihren Ruf als »Schlechtwetterküche« genießt sie nicht ganz grundlos. Aber für schlechte Tage hat der Friese schließlich den Friesennerz erfunden. Friesennerz? Gemeint sind die zumeist knallgelben Regenmäntel, eine Art Nationaltracht der Einheimischen.

GRUND NR. 5

WEIL DER NORDFRIESE KEIN OSTFRIESE IST

Küstenbewohner ist nicht gleich Küstenbewohner. Der Unterschied lauert im Detail, sollte aber ernst genommen werden. Wer zum ersten Mal an die Nordsee reist, erwartet in der Regel, von Husum bis Emden auf Friesen zu stoßen. Doch »Friesen« ist ein pauschaler Sammelbegriff, der nicht auf alle Menschen entlang der Nordsee zutrifft.

Fangen wir mit der Begriffsklärung im äußersten Norden an: Gleich südlich der dänischen Grenze beginnt der Landkreis Nordfriesland. Und – wie kann es anders sein – bewohnt wird er von den Nordfriesen. Der Nordfriese ist zwar völkerkundlich eng verwandt mit dem Ostfriesen, lebt aber räumlich von ihm getrennt. Die friesische Volksgruppe gilt übrigens in Deutschland als anerkannte Minderheit. Die südlich auf den Kreis Nordfriesland folgenden Kreise Dithmarschen, Steinburg und Pinneberg werden von Nicht-Friesen bewohnt. Gleiches gilt für die Region südlich der Elbe. Und erst weit hinter dem Jadebusen beginnt das ostfriesische Kernland.

Der Nordfriese wohnt im Norden. So weit, so klar. Doch nun wird es kompliziert. Wenn wir uns die Landkarte ansehen, wird sich so mancher Friesen-Laie fragen, warum die Ostfriesen nicht Südfriesen oder zumindest Westfriesen heißen, schließlich liegt ihr Siedlungsgebiet südlich des Gebietes der Nordfriesen und auch ein ganzes Stück westlicher. Zur Auflösung des Rätsels müssen wir die niederländische Grenze überqueren. Denn Friesland endet keinesfalls an der Zollschranke, sondern erstreckt sich noch ein ganzes Stück weit ins holländische Hoheitsgebiet hinein. Und nimmt man diesen Teil Frieslands als Ausgangspunkt, dann ist die Bezeichnung »Ostfriese« geografisch gesehen absolut korrekt.

Zwischen den friesischen Gruppen gibt es bis heute Unterscheidungsmerkmale. Da wäre zum Beispiel die Sprache. Ja, Friesisch ist eine eigene Sprache. Und sie hebt sich hörbar vom Plattdeutschen ab, das im übrigen Norddeutschland weit verbreitet ist. Westfriesisch wird im Norden Hollands noch von rund 300.000 Menschen gesprochen, Ostfriesisch hingegen gilt seit den 1930er Jahren als weitgehend ausgestorben. Ebenfalls als ernsthaft gefährdet gilt Nordfriesisch. Doch vor allem die Bewohner der nordfriesischen Inseln besinnen sich seit einigen Jahren wieder verstärkt ihrer Wurzeln und so kann man als Tourist in einer echten Friesenkneipe mit ein wenig Glück der alten Sprache im Gespräch der Einheimischen am Nebentisch lauschen. Viel mehr als staunendes Zuhören ist dabei allerdings nicht drin, denn Friesisch hat – im Gegensatz zum Plattdeutschen – mit unserem Hochdeutsch wenig Gemeinsamkeiten.

Das Nordfriesische wird sogar noch in Inselfriesisch und Festlandsfriesisch unterteilt. Ich weiß noch gut, wie ich das erste Mal auf Föhr zu Gast war und aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam, als ich zwei Einheimische belauschte, die sich in ihrem Inseldialekt unterhielten. Ehrlich: Ich verstand kein Wort – und das, obwohl ich mit dem Plattdeutschen keinerlei Schwierigkeiten habe. Ich bin mir bis heute sicher, dass die beiden älteren Herren ihre helle Freude an meinem verdatterten Gesicht hatten.

GRUND NR. 6

WEIL ES AM DEICH NICHT SANDIG IST

Wer seinen Urlaub an der See verbringen möchte, der träumt vom Schwimmen im Meer und von endlosen Sandstränden. Aber das Meer ist an der Nordsee mit Vorsicht zu genießen, weil die Wassertemperatur selten über zwanzig Grad steigt, und Sandstrände sucht man vielerorts vergebens. Ja, im Ernst, nicht jedes Nordseebad kann mit einem Strand aufwarten. »Hätte ich das gewusst …«, stöhnt so mancher ahnungslose Tourist, der seinen Urlaub auf gut Glück gebucht hat.

Die strandlosen Abschnitte sind eine Folge der schweren Sturmfluten im Mittelalter, die große Teile der einstigen Küstenlinie förmlich verschlangen. Seither ist weißer Sand an der Nordsee Mangelware. Orte wie etwa Friedrichskoog kommen ganz ohne Strand aus. Auch in Büsum gibt es keinen Naturstrand. Doch die Tourismusmanager waren schon Anfang der 1970er Jahre erfinderisch und schütteten einfach Sand auf, der von einer Art Betondeich umgeben ist.

Ich habe zwanzig Sommer meiner Jugend in Büsum verbracht und »echten« Strand nie vermisst. Burgen baute ich einfach im Watt, da hielten sie auch viel besser und es war spannend zu beobachten, wie sich das Meer bei auflaufendem Wasser die kleinen Kunstwerke wieder einverleibte. Den Kunststrand fand ich eigentlich nur bei Sturmflut spannend, wenn die Strandkörbe, die von den Besitzern festungsartig von Sandwällen umbaut worden waren, langsam in einem Gemisch aus Salzwasser und Sand untergingen. Anschließend mussten die entsetzten Besitzer die förmlich einbetonierten Körbe in mühseliger Handarbeit wieder freischaufeln.

Gut beraten war der, der seinen Strandkorb nicht auf Sand, sondern auf dem Deich postiert hatte. Dort blieb er bei entsprechender Standhöhe auch bei schweren Unwettern vor den Wassermassen geschützt. Ohnehin ist der Deich an der Nordsee vielerorts eine Art Strandersatz. An einigen Abschnitten liegen die Badetücher ähnlich dicht gedrängt wie am Hauptstrand von Mallorca. Es gibt Zonen, die für Hunde verboten sind, Zonen, die mit Strandkörben geradezu vollgestopft sind, und Zonen, an denen die Deichschafe ungestört grasen dürfen – jene schmackhaften Tiere, die abends in den Lokalen als Salzwiesenlamm auf den Tisch kommen. An fast allen Deichen führen Radwege entlang, an einigen dürfen die Radler sogar die Aussicht von der Deichkrone aus genießen.

Der Deich ist also quasi eine Allzweckwaffe, er schützt nicht nur vor heranrollenden Sturmfluten, sondern ist auch von touristischer Bedeutung.

Wer dennoch nicht ohne Strand leben kann, der muss sein Urlaubsziel sorgfältig aussuchen. Fast alle Inseln in der Nordsee sind für Freunde des weißen Sandes empfehlenswert. Wobei es auch hier Ausnahmen gibt: So bietet beispielsweise Föhr nur ein äußerst beschränktes Strandvergnügen. Amrum, die direkte Nachbarinsel, glänzt hingegen mit einem der breitesten Sandstrände, die ich bislang weltweit gesehen habe. Auch einige Küstenorte wie St. Peter-Ording können mit einem schier endlosen Sandstrand aufwarten. Das niedersächsische Dangast mit seinen gerade einmal 540 Einwohnern bietet ebenfalls Strandvergnügen. Wobei hier die Besonderheit hinzukommt, dass auf einen schützenden Deich verzichtet werden kann. Der Grund: Dangast liegt auf einer natürlichen Anhöhe am Jadebusen.

Hier noch ein kleiner Tipp: Wer an Land bleiben will und Strand bis zum Horizont sucht, dem seien unsere Nachbarländer an der Nordsee empfohlen. In Holland und Dänemark sieht die Küste genauso aus, wie sie sich viele Binnenländer vorstellen. Aber wie schon gesagt: Strand ist an der Nordsee kein Muss. Und der Deich ist allemal die sauberere Alternative.

GRUND NR. 7

WEIL EBBE UND FLUT DIE TOURISTEN IN VERWIRRUNG STÜRZEN

Ich war etwa zehn Jahre alt, als ich mit meinem Vater in Büsum auf dem Deich spazieren ging. Plötzlich sprach ihn eine Touristin an. »Guter Mann, wo ist denn eigentlich die Nordsee?«, wollte die ältere Dame wissen. Mein Vater und ich guckten uns fragend an und fingen dann schallend an zu lachen. Die Dame schaute etwas pikiert, bis ihr mein Vater erklärte: »Wir haben jetzt Ebbe. Da ist das Wasser weiter draußen auf See.« Die Frau machte ein Gesicht, als sei sie gerade fürchterlich veräppelt worden, und mein Vater fühlte sich zu einem Nachsatz genötigt: »Keine Angst, das Wasser kommt zurück. Spätestens in ein paar Stunden.«

Für uns Nordsee-Anrainer ist es schier unglaublich, dass es Menschen gibt, die Ebbe und Flut nicht kennen. Wir wachsen mit diesem Phänomen auf und nehmen es als etwas Alltägliches hin. Wer hingegen zum ersten Mal an die Nordsee kommt, wird über diesen stetig wiederkehrenden Zyklus staunen. Etwa zweimal am Tag wechseln sich Ebbe (Niedrigwasser) und Flut (Hochwasser) ab, dabei hebt und senkt sich das Wasser um mehrere Meter. Dieser sogenannte Tidenhub ist zum Glück berechenbar, sodass kein Urlauber Angst haben muss, von einer plötzlichen Flut überrascht zu werden.

Ich traf einmal einen Touristen, der sich vor einer Springflut fürchtete. Er vermutete hinter dem Begriff eine urplötzlich heranrollende Welle gleich jenem Tsunami, der im Frühjahr 2011 Teile Japans verwüstete. Ich beruhigte ihn, indem ich ihm erklärte, dass man unter einer Springflut kein heranspringendes Hochwasser versteht, sondern eine besondere Flutkonstellation. Bei Voll- und Neumond bilden Sonne, Erde und Mond eine annähernd gerade Linie. Auf diese Weise addieren sich ihre Anziehungskräfte und es kommt zu einer ungewöhnlich hohen Flut. Das Gegenteil ist die sogenannte Nipptide, bei der Sonne, Erde und Mond in einem rechten Winkel zueinander stehen.

Wer im Sommer an der Nordsee seine Zelte aufschlagen will, muss sich also nicht mit Spring- und Nipptiden beschäftigen. Viel wichtiger ist der Tidenkalender, der anzeigt, wann es ebbt und wann das Wasser wieder aufläuft. Einen solchen Kalender findet man an der Küste in jeder Lokalzeitung. Das gilt auch für die meisten der kostenlosen Anzeigenblätter. Selbst einige Infobroschüren, die in den Ferienhäusern und auf den Campingplätzen ausliegen, bieten einen langfristigen Tidenkalender an.

Wer eine Wattwanderung plant, sollte allerdings bedenken, dass das Wasser erstaunlich schnell zurückkehrt und dass einem unter Umständen vollgelaufene Priele den Rückweg versperren können. Ich habe schon Wattwanderer erlebt, denen wortwörtlich das Wasser bis zum Hals stand, weil sie zu spät dran waren. Es ist also ratsam, sich mit ablaufendem Wasser auf den Weg ins Watt zu machen oder spätestens, wenn die Ebbe ihren tiefsten Stand erreicht hat. Dann bleibt einem genügend Zeit zum Staunen. Denn es ist wirklich verblüffend, wie sich das Wasser zurückzieht, nur um Stunden später zurückzukehren.

GRUND NR. 8

WEIL DIE HERBSTSTÜRME ZUM GRUSELN EINLADEN

Herbst an der See, das heißt vor allem Sturm und nochmals Sturm. Klack, klack, klack! Ich habe das Geräusch noch immer im Ohr. Das Vorzelt unseres Büsumer Wohnwagens blähte sich auf und ächzte unter der Gewalt der Böen. Der Wind pfiff durch die Ritzen und der Regen prasselte aufs Dach des Campers. Wer im Herbst seinen Urlaub an der Nordsee verbringt, hat gute Chancen, das Gruseln zu lernen. Bei Orkanstärke peitscht die See gegen die Deiche und ohne Friesennerz verlässt niemand mehr das Haus. An keinem anderen Ort kann man die Naturgewalten intensiver spüren als am Meer. Wer sich von der Deichkrone aus ganz nah an die Gischt der See heranwagt, der schmeckt das Salz auf seiner Haut und ahnt, welche Macht die tobende Flut entfachen kann.

Nicht immer ging der Kampf Mensch gegen Natur gut aus. Es gab sie wirklich, die großen Sturmfluten, die die Nordseeküste für alle Zeiten veränderten. Jeder Friese kennt die Grote Mandränke. Genau genommen gab es zwei große Mandränken, Sturmfluten, die als Marcellusflut und Burchardiflut in die Geschichtsbücher eingingen. Die erste Grote Mandränke schwappte am 16. Januar 1362 über die Deiche. Der legendäre Ort Rungholt ging zusammen mit sieben anderen Kirchspielen an der schleswig-holsteinischen Küste unter. Wo gestern noch Land war, breitete sich nur einen Tag später die See aus. Übrig blieben die Insel Strand und vereinzelte kleine Eilande, die heute als Halligen bezeichnet werden. Es muss ein schauderhaftes Schauspiel gewesen sein, das die ahnungslosen Menschen überraschte. In der flachen Küstenregion gab es keine Fluchtmöglichkeiten. Rund 8000 Menschen kamen ums Leben, die Marschenebenen wurden bis an den Rand der benachbarten Geest überschwemmt. (Die Geest ist eine Art Gegenentwurf zur platten Marsch, der durch eiszeitliche Sandablagerungen entstanden ist. An einigen Stellen ist die Geest derart hügelig, dass wir Nordsee-Anrainer schon von kleinen Bergen sprechen.)

Die zweite Grote Mandränke verwüstete am 11. Oktober 1634 die Region. Die Insel Strand wurde in die Teile Nordstrand und Pellworm zerrissen, die Halligen Nieland und Nübbel gingen unter. 9000 Menschen starben, über 1300 Häuser wurden zerstört – ein Inferno, das die Überlebenden prägte. Nur kleine Teile des überschwemmten Landes konnten später wieder eingedeicht und urbar gemacht werden. Die Menschen empfanden die Flut als Strafe Gottes, die sogar als Anfang der nahenden Apokalypse gedeutet wurde.

Höhere und stabilere Deiche haben seither vergleichbare Katastrophen verhindert. Doch der Klimawandel hängt wie ein Damoklesschwert über der Nordseeküste. Irgendwann – da sind sich die Wissenschaftler weitgehend einig – werden auch die modernen Deiche nicht mehr hoch genug sein.

Als kleiner Steppke habe ich unzählige Stürme am Meer miterlebt. »Kurz nach 21 Uhr erreicht die Flut ihren Scheitelpunkt«, verkündete eines Tages das Radio. Einen Fernseher hatten wir in unserem Wohnwagen noch nicht. Während meine Eltern das Vorzelt mit zusätzlichen Heringen und Leinen sicherten, ging ich mit einem Freund auf den Deich. Mit ausgebreiteten Armen lehnten wir uns gegen den Wind und sahen zu, wie das Wasser Zentimeter um Zentimeter stieg. Am meisten Spaß machte es, vor den heranrollenden Wellen im letzten Augenblick zu flüchten, was nicht immer gelang. So kehrten wir regelmäßig von oben bis unten durchnässt auf den Campingplatz zurück.

Noch heute ist der Herbst meine liebste Zeit an der See. Ich genieße es, die Kraft der Natur zu spüren. Und genauso liebe ich es, mich anschließend bei einem heißen Pharisäer in einem der heimeligen Küstenlokale aufzuwärmen.

Pharisäer? Ja, genau, das ist das Leibgetränk der Friesen, bestehend aus Kaffee und einem gehörigen Schuss Rum samt Sahnehaube.

GRUND NR. 9

WEIL DER »BLANKE HANS« ZUR WACHSAMKEIT MAHNT

Die Nordsee hat viele Namen. »Blanker Hans« gehört zweifellos zu den prägnantesten. Das Synonym steht für die tobende See und wurde einst vermutlich aus dem Niederländischen abgeleitet. »Blank« bedeutet »weiß«, die Farbe der schäumenden Gischt, die sich auf den Sturmwellen bildet. Vertraut man dem Internetlexikon Wikipedia, dann geht der Name auf den Deichgrafen von Risum zurück, der nach Fertigstellung eines neuen Deiches der Nordsee herausfordernd »Trutz nun, blanker Hans« entgegengerufen haben soll. Kurze Zeit später brach der Deich.

Der Lyriker Detlev von Liliencron (1844–1909) machte den Namen in seinem Lied »Trutz, blanke Hans« bekannt. Der Text ist den meisten Küstenbewohnern zumindest in Teilen vertraut, er beginnt mit den Zeilen:

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Noch schlagen die Wellen da wild und empört

wie damals, als sie die Marschen zerstört.

Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,

aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:

Trutz, blanke Hans!

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,

liegen die friesischen Inseln im Frieden.

Und Zeugen weltenvernichtender Wut,

taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.

Kein anderes Gedicht versinnbildlicht die urwüchsige Gewalt der See intensiver. Die Nordsee als Mordsee – auch dieses Bild hat sich den Friesen tief in ihre kollektive Erinnerung eingebrannt. Auf den Halligen können selbst Tagestouristen erahnen, welche Kraft das Meer birgt. Die winzigen Inseln sind der traurige Rest einer Küstenlinie, die es seit den Groten Mandränken nicht mehr gibt. Wie lange die Halligen noch der Nordsee trotzen werden, ist fraglich. Von Jahr zu Jahr peitschen die Wellen ein Stück näher an die Häuser heran. »Die See nimmt, die See gibt.« Diese alte Weisheit ist auf den Halligen keine Phrase, sondern alltägliche Gewissheit.

Die Halligen sind sichtbarstes Indiz, dass die Nordseeküste kein starres Gebilde ist. Sturmfluten und die Klimaveränderung werden auch in Zukunft neue Linien ziehen und die Menschen hinter den Deichen werden versuchen, damit zu leben. In einem »GEO-Special« aus dem Jahr 1987 hat der Schriftsteller Günter Kunert ein fiktionales Szenario beschrieben, nach dem meine Heimatstadt Itzehoe, die immerhin gut dreißig Kilometer von der Küste entfernt im Binnenland liegt, bis zum Jahr 2037 zum wasserumspülten »Venedig des Nordens« werden könnte. Als Ursache nannte Kunert bereits damals eine Anhebung des Meeresspiegels. Schon fünf Meter würden ausreichen, um weite Teile Nordfrieslands, Dithmarschens und der niedersächsischen Küste untergehen zu lassen. Zwischen Aurich und Oldenburg würde sich eine große Insel bilden und Hamburg läge direkt am Meer.

Ob diese Fiktion jemals Wirklichkeit wird, kann kein Forscher voraussagen. Doch unrealistisch ist sie nicht. Ob es in Itzehoe in ein paar Jahrzehnten so warm ist, dass wir in unserem Garten Bananen anbauen können, wie es Kunert 1987 in seiner Geschichte weissagte, sei dahingestellt, aber ein stetig steigender Wasserstand ist heute bereits Fakt. Langsam, aber sicher stoßen die Deiche an ihre Grenzen und im besonders niedrig gelegenen Holland gibt es tatsächlich bereits Pläne, Teile der Küste langfristig aufzugeben, weil ihre Sicherung einfach zu kostspielig werden könnte. Schon seit Langem haben die Häuser auf den Halligen speziell gesicherte Schutzräume in den Obergeschossen. Es scheint durchaus realistisch, dass dies auch bei Neubauten an der Küste zukünftig zum Standard gehören wird.

GRUND NR. 10

WEIL DER HIMMEL SCHLICHTWEG ENDLOS IST

In diesem Kapitel gönne ich es mir, hemmungslos zu schwärmen: vom Meer, vom Watt und dem Himmel, der nirgendwo auf der Welt weiter ist als an der Nordseeküste. Ich habe in Büsum die schönsten Sommer meines Lebens verbracht. Mit dem Kescher ging es rein ins Watt und schnurstracks zum nächstgelegenen Priel.

Priele sind Flüsse, die sich bei Ebbe zeigen und das Watt quasi entwässern. Sie sind bei Niedrigwasser oft nur knöcheltief, können sich aber bei auflaufendem Wasser binnen Minuten in reißende Ströme verwandeln. So manchem Wattwanderer, der diese Gefahr nicht erkennt, wird dadurch der Rückweg abgeschnitten. Wer Glück im Unglück hat, stößt in der Nähe auf einen Rettungsturm, der erklettert werden kann und Schutz vor der Flut bietet. Meist sind es die Jungs und Deerns von der DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft), die die vom Wasser Überraschten wieder in den trocknen Hafen bringen.

Zurück ins Watt. Mit meinem besten Freund aus Kindertagen habe ich in den Prielen Fische gefangen. Kleine Aale und Schollen, Seenadeln und Krabben gingen uns ins Netz. Anschließend haben wir den Fang zum Campingplatz getragen, wo schon kleine Becken bereitstanden. Täglich wechselten wir das Wasser aus, doch kaum ein Fisch überlebte länger als eine Woche. Aus Erwachsenensicht war das ziemlich grausam, doch Kinder denken anders und so waren die Miniaquarien unser ganzer Stolz.

Meine Kinder sind heute fast ebenso begeistert beim Keschern, wie ich es einst war. Jeder Fang muss bestaunt werden. Und wehe, die Fische lassen sich einmal nicht blicken! Ebenso spannend ist es für Kinder, einmal auf einem richtigen Fischkutter mitzufahren. In einigen Häfen werden Fangfahrten angeboten, bei denen ein- oder zweimal die Netze ausgeworfen werden und Fachleute anschließend die einzelnen Fischarten erklären. Wer an der Nordsee mit seinem Nachwuchs Urlaub macht, sollte sich das Spektakel nicht entgehen lassen.

Wer ohne Kinder anreist, genießt vor allem die Natur. Stundenlange Spaziergänge am Meer, roter Abendhimmel, dessen Wolkenformationen im Sekundentakt neue Gebilde hervorzaubern. Fisch frisch vom Kutter oder in einem der zahllosen Lokale. Krabben pulen auf der Terrasse des Ferienhauses oder eine Abendfahrt auf einem der fast überall vor Anker liegenden Ausflugsschiffe. All das ist Erholung pur und gratis dazu gibt es noch eine gehörige Portion jodhaltiger Seeluft. Mehr Sauerstoff atmet man nirgendwo auf der Welt.

Nicht gratis hingegen gibt es vielerorts den Zugang zum Meer. Fast in allen Touristenzentren wird Kurtaxe erhoben. Diese Zwangsabgabe zahlen Urlauber meist schon bei der Anfahrt, sie fällt zuweilen recht happig aus. Wer es günstiger wünscht, muss sich eine Bleibe irgendwo im Hinterland suchen und von dort aus Küstenabschnitte erkunden, an denen kein Eintritt verlangt wird. Meist sind Deichschafe ein gutes Indiz. Wo sie ungestört grasen, ist die Nordsee in der Regel kostenlos zu haben.

Über den »typischen« Nordseeurlauber habe ich übrigens meine ganz eigene Theorie. Den meisten Liebhabern dieses Landstrichs geht es wie mir. Man macht seine ersten Erfahrungen als Anhängsel von Mama und Papa. Für Kinder ist die Nordsee ein riesengroßer Abenteuerspielplatz und der tollste Ort auf Erden. Das bleibt so bis zum Ende der Pubertät. Dann ist plötzlich alles »uncool«, was einem die Eltern vorleben, und so wird auch die Nordsee für einige Jahre zur Tabuzone. Diese Sichtweise ändert sich spätestens wieder, wenn man eigene Kinder hat und feststellt, dass es nirgendwo schöner ist als an der See.

KAPITEL 2

SYLT, DIE KÖNIGIN DER NORDSEEINSELN

Ein Leben zwischen Kult und Küste

GRUND NR. 11

WEIL MAN AUF SYLT DEN MILLIONÄREN AUF DIE TELLER GUCKEN KANN