1990 - Dietrich Schulze-Marmeling - E-Book

Beschreibung

Das Jahr, in dem der Fußball-Hype begann Die Fußball-WM 1990 in Italien ist nicht nur wegen des Weltmeisters Deutschland und dessen kühnem Teamchef Franz Beckenbauer ("Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein") in Erinnerung geblieben. Vor allem markiert das Turnier im italienischen Sommer eine Zeitenwende: Aus dem einstigen Arbeitervergnügen wurde nun ein durchkommerzialisierter Volkssport, der völlig neue Schichten anzog und begeisterte. "Italia 90" löste einen Fußball-Hype auf allen erdenklichen Ebenen aus, der bis ins Jetzt nachwirkt.

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DIETRICH SCHULZE-MARMELING

1990

Eine WM,die alles veränderte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2022 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medienproduktion, Göttingen

eISBN 978-3-7307-0632-9

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1

Italienisches Profitum

Vom Amateur- zum Profisport

Den Deutschen weit voraus

Agnelli, Pirelli und Co.

Ausländer raus …

Deutsche raus aus dem Mitropacup …

Südamerikaner rein …

Europas erster Weltmeister

„Amateur-Weltmeister“

Boom

Fußball und Kultur

„Deutsche Lösungen“

Auf ins Paradies

„Ich mag das Land und die Menschen“

KAPITEL 2

Englische Katastrophen

Heysel

Fußball als soziales Ärgernis

Hillsborough

„Boozing“

Italien ist anders

„Erst in Italien wurde ich zum Profi“

Technik und Taktik

KAPITEL 3

Deutsche Tristesse

Langweiliger Fußball und politische Fehltritte

Deutscher Fußball als „elende Farce“

Die „Bösewichte des Weltfußballs“

Die Welt dankt Italien

Wolfgang Mischnick und die „Sportschau“

Der „Dicke“ und die DFB-Elf

Es rette uns ein höheres Wesen

„Wir sind zum Glück nicht Weltmeister geworden“

Oranje spielt besser

KAPITEL 4

Die Serie A, Berlusconi und „Die Unsterblichen“

Eine neue Welle „Italien-Legionäre“

Berlusconi kommt

„Forza Italia“ und die „Fußballisierung“ der Politik

Fußball, Politik und die Linke in Italien …

… und in Deutschland

„Das Stadion ist kein Opium“

Fußball als Unterhaltungsindustrie

Franco Baresi

Intelligenter Fußball

„Milan – ein Traum!“

Die beste und teuerste Liga der Welt

Berlusconi und die Champions League

KAPITEL 5

Über den Brenner

Ein „Kaiser“ plant die Auswanderung

Konzentrationsstörungen

Die Mauer fiel zu früh …

Des Kaisers Kader

Tüchtige Italiener und eine WM der Rekorde

Rock statt Schlager

Wenn Deutsche singen

Die Favoriten: Die Teams der Serie A-Spieler

KAPITEL 6

Die DFB-Elf souverän, Kamerun sensationell

„Italien im Delirium“

Gruppensieger Kamerun

Die DFB-Elf: Souverän durch die Gruppe

Schwach, aber spannend

„Underdog-Fußball“

„Kein Fußball, bitte! Wir sind britisch!“

Superspiel mit roten Karten

Irland: Sieglos ins Viertelfinale

Ein Kaiser zeigt Nerven

Die „Löwen“ spielten zu lange

Abschiede (1): UdSSR und CSFR

Abschiede (2): Das Ende der Plavi

KAPITEL 7

Gascoignes Tränen und Fußball zum Heulen

„Maradona in unserem Herzen, Italien in unseren Liedern“

„Gazza“ weint

Ein letztes Mal „Toto“

Klassik trifft Fußball

Finale: Das kleinere Übel siegt

Weltmeister dank Serie A

Fußball der ärmsten Sorte

Markstein eines Imagewandels

Fußball und Fernsehen

KAPITEL 8

England: Vom „Slum-Sport“ zur „Greatest Show on Earth“

Fußball wird Rock’n Roll

Neoliberalismus und sozialer Wandel

Die Premier League

Oligarchen, Sportunternehmer und Staaten

Premier League global

Football’s coming home

Premier League statt Serie A

Ausländische Trainer als Entwicklungshelfer

Last Order im Highbury

KAPITEL 9

Auf zum Volkssport

Klassenverschiebung

Der zweite große Zuschauerboom

Konkurrenz steigert die Einnahmen

Die Schwergewichte kommen: Mercedes …

… Opel und VW

Nationaler Taumel

Ein Land wird „fußballerisiert“

„Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien!“

„Undeutsch“ im Breisgau

Gute Seiten, schlechte Seiten

Zum Autor

Vorwort

Im Sommer 1990 wurde die deutsche Nationalelf zum dritten Mal Weltmeister. Dass ich das Turnier in Italien nicht nur in guter Erinnerung habe, ist nicht allein einem Mangel an Patriotismus geschuldet.

Ich fühlte mich damals enteignet. Menschen gerierten sich als Fans und Experten, die sich bis dahin für Fußball kaum interessiert hatten. Meine Kindheit und Jugend hatte ich im Ruhrgebiet verbracht, in einer Kleinstadt vor den Toren Dortmunds, in der der Bergbau der größte Arbeitgeber war. Ich war dort im akademischen Milieu und in der besten Straße aufgewachsen. Fußball war in meiner Familie kein Thema.

Auf der Volksschule war ich unter meinen männlichen Klassenkameraden, viele von ihnen waren Kinder von Bergarbeitern, der Einzige, der von Fußball null Ahnung hatte. Als Borussia Dortmund in der Saison 1965/66 dem Gewinn des Europapokals der Pokalsieger entgegenstrebte, dachte ich bis zum Halbfinale, „Borussia“ sei ein Spieler. Vermutlich ein Russe. Als die Mitschüler auf dem Schulhof die Fußballbilder aus dem in Unna-Königsborn beheimateten Bergmann-Verlag tauschten, nervte ich mit der Frage, wer von den Spielern denn nun der berühmte „Borussia“ sei. Den Kicker kaufte und studierte ich zunächst heimlich. Nach der soundsovielten Fünf (manchmal war es eine Sechs) in Latein wurden meine Fußballalben der Vernichtung preisgegeben. Kurzum: Ich musste bei meiner Begeisterung für das Spiel Widerstände überwinden und auch mein soziales Milieu verlassen.

Und jetzt, im Juli 1990, fluteten schwarz-rot-gold dekorierte Menschen die Straßen und Marktplätze, wurden kampflos Fußballfans, aus einer puren Mode heraus, und drohten, den Fußballdiskurs zu dominieren. Das ging irgendwie gar nicht.

Mittlerweile lebte ich im Münsterland. Die spontanen Autokorsi, die nach jedem Spiel in der Gemeinde stattfanden, empfand ich als peinlich und Belästigung. Solche hatte ich noch nie erlebt. Was nicht ganz stimmt. Zum Zeitpunkt der WM 1982 wohnte ich noch in Frankfurt, deren italienischstämmige Community hupend den Finalsieg über die Deutschen feierte. Aber die Italiener durften das auch.

Die WM 1990 war sportlich eine der schwächsten. Aber bezüglich ihrer Strahlkraft spielte das keine Rolle. Das Turnier markierte eine Zeitenwende. Das galt besonders für England und Deutschland, wo der Fußball nun zu einem durchkommerzialisierten Volkssport wurde, wie er das in Italien bereits seit Jahrzehnten war. Das Turnier fand zur richtigen Zeit im richtigen Land statt. „Italia 90“ löste einen Fußball-Hype auf allen erdenklichen Ebenen aus, der bis ins Jetzt nachwirkt. Der deutsche Fußball wurde ein bisschen „italienisiert“, Italien wurde nun für einige Jahre für die Bundesliga zum Leitbild. Borussia Dortmund, das sich zum neuen Herausforderer des FC Bayern aufschwang, versuchte, die italienischen Topklubs nachzuahmen. Und Lothar Matthäus, Kapitän der deutschen Weltmeisterelf, brachte aus Mailand die Erkenntnis mit: „Die Schuhe müssen immer zum Gürtel passen.“

Dietrich Schulze-Marmeling, Oktober 2022

KAPITEL 1

Italienisches Profitum

„Für mich als Fußballer war Italien ein Paradies.“

HORST BUHTZ

„Fußball ist hier mehr als Fußball, er ist Teil einer lebendigen Volkskultur. (…) Wenn bei uns jemand fünf Millionen in einen Klub reinbuttert, heißt es überall: ‚Der Typ spinnt.‘ Doch hier gibt es Präsidenten, die 60 Millionen und mehr reinschießen – das ist eine Ehrensache, das sind wahre Volkshelden.“

JÜRGEN KLINSMANN WÄHREND SEINER ZEIT BEI INTER MAILAND

Vom Amateur- zum Profisport

Um zu verstehen, warum das Austragungsland der WM 1990 so wichtig für die weitere Entwicklung des Fußballs war, schauen wir zunächst auf die Geschichte des italienischen Fußballs und den unterschiedlichen Umgang mit dem Spiel in Italien und Deutschland.

Bis 1926 waren auch in Italien die Fußballspieler offiziell Amateure. Die meisten Spieler hatten im Haupt- oder Nebenberuf andere Jobs, waren Ärzte, Künstler, Studenten oder Hafenarbeiter.

Der offizielle Amateurismus wurde allerdings häufig mit allerlei Tricks umgangen. Italiens erster Fußballprofi hieß Virginio Rosetta. Im Sommer 1923 wechselte der Rechtsverteidiger von der US Pro Vercelli zu Juventus Turin. „Juve“ bezahlte für Rosetta eine Ablöse von 50.000 italienischen Lire. Er war damit nicht nur der erste Kicker Italiens, der für Geld spielte, sondern auch der erste professionell transferierte Spieler. Der Verstoß gegen die Amateurbestimmungen hatte zur Folge, dass der Verband den Wechsel nach drei Meisterschaftsspielen für irregulär erklärte. „Juve“ wurden die Punkte aus den Begegnungen, in denen Rosetta mitgewirkt hatte, abgezogen, was den Klub am Ende der Saison 1924/24 die Meisterschaft in der norditalienischen Liga kostete.

1922 hatte in Italien der faschistische Diktator Benito Mussolini die Macht übernommen. Obwohl der Faschismus eher klassische Sportarten wie Fechten sowie den modernen Motor-Rennsport bevorzugte, erkannte das Regime im Gegensatz zu seinen liberalen, katholischen und sozialistischen Vorgängern schnell die Massenattraktivität des Fußballs.

Fußball wurde „de-anglisiert“, aus „football“ wurde „calcio“. Die Erzählung lautete nun: Nicht die Engländer waren die Erfinder des Spiels, vielmehr wurde dieses bereits im 15. Jahrhundert in Florenz gespielt. Das Regime institutionalisierte Calcio als faschistisches Spiel und attestierte dem Sport im Allgemeinen und dem Fußball im Besonderen eine bis dahin unerreichte Bedeutung.

Die englischen Namen, die einige italienische Klubs entsprechend der Herkunft des Spiels trugen, waren bald verpönt. So wurde aus dem Genoa Cricket & Football Club der Genova 1893 Circulo del Calcio. Ein völliges No-Go war der Vereinsname Football Club Internazionale Milano. Inter hatte sich 1908 vom Milan Cricket & Football Club abgespalten, nachdem es zum Streit über das Mitwirken von Ausländern gekommen war. Im ersten Inter-Team standen acht Schweizer. Den Faschisten klang „Internazionale“ zu kosmopolitisch und kommunistisch, weshalb der Klub nun Associazione Sportiva Ambrosiana hieß. Ambrosius war der Name eines Mailänder Heiligen.

1926 rief der Faschist Lando Ferretti, Präsident des italienischen Olympischen Komitees (CONI), eine Kommission zur Reform des italienischen Fußballs ins Leben. Das Ergebnis war die Carta di Viareggio, die den Profifußball legalisierte und Mussolinis faschistischer Partei die Kontrolle über den Fußball gab. Mit den führenden Klubs aus dem ganzen Land wurde eine neue Lega Nazionale gegründet. Anfangs wurde La Lega noch in regionalen Gruppen gespielt. 1929 wurden diese durch eine eingleisige nationale Liga ersetzt, die den Süden in die Fußballnation eingliederte.

Den Deutschen weit voraus

Das war 34 Jahre, bevor Deutschland mit der Bundesliga eine zentrale Liga einführte. Der späte Zeitpunkt war der hartnäckigen Ablehnung des Vollprofessionalismus‘ geschuldet. Denn eine nationale Liga war ohne die Legalisierung des Berufsfußballs nicht zu haben.

In Deutschland gab es Fußball bis 1948 offiziell nur als Amateursport. 1920 hatte der DFB ein Amateurstatut verabschiedet, in dem es hieß: „Wir bekämpfen das Berufsspielertum aus ethischen Gründen (…) Es wäre ein Frevel an unserer deutschen Jugend, wollten wir das Berufsspielertum in Deutschland auch nur im Geringsten begünstigen.“ Im Februar 1925 bekräftigte der Verband seine Ablehnung des Professionalismus‘: „Der DFB ist und bleibt ein reiner Amateurverband.“ Für den damaligen DFB-Boss Felix Linnemann war der Berufsfußball „ein Zeichen für den Niedergang eines Volkes“. Während sich die an Deutschland angrenzenden Länder nach und nach zum Professionalismus bekannten – Ausnahme waren die Niederlande – wählte der DFB einen Sonderweg.

1930 erschien im Jahrbuch des DFB ein Beitrag mit dem Titel „Kampf dem Berufssport“, in dem es hieß, dass der „DFB immer auf dem Standpunkt gestanden (hat), dass nur der Amateursport zu pflegen sei. (…) Die Pflege des Amateursports verlangt auf der anderen Seite Kampf gegen den Berufssport. Es ist unsere Pflicht, Berufssportler, die sich in unseren Reihen finden sollten, auszumerzen.“ Um international nicht weiter ins Hintertreffen zu geraten, ersann man einen deutschen Sonderweg. Mit der Saison 1933/34 wurden 16 Gauligen eingeführt, womit Deutschland erstmals eine einheitliche oberste Spielklasse erhielt. Die Zahl der „Erstligisten“ sank damit von über 500 auf „nur noch“ 133. Mit der Gauliga schuf man ein „Zwischending“, das ein Festhalten am Amateurismus-Dogma wie auch etwas Professionalismus gestattete. Der Historiker Per Leo: „Die Spieler gingen zwar weiterhin einem Beruf nach, wurden aber durch den reduzierten Ligabetrieb und eine Reihe anderer Privilegien entlastet und ihre Leistungsstärke durch den systematischen Ausbildungsaufwand des DFB deutlich verbessert.“ Der Kurs der DFB-Führung verhinderte, dass die Vereine so stark wurden wie in Italien oder England. Der Verband stärkte die Nationalelf – auch durch die Übernahme der Hauptverantwortung für die Ausbildung. Per Leo: „Da die Einführung einer nationalen Berufsfußballliga aufgrund des Amateurdogmas möglichst lange verhindert werden sollte, sah man beim DFB den Schlüssel zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit in einem breit angelegten, zentral gesteuerten Ausbildungssystem. (…) Der stark angewachsene Trainerstab im Reich und in den Gauen war mit der herausfordernden Aufgabe betraut, aus Amateuren Weltklassespieler zu formen, und er besaß genügend Mittel und Vollmachten zu deren Entfaltung.“ Diese Politik manifestierte sich auch in einer starken Zunahme von Länderspielen, von 4,8 pro Jahr im Zeitraum 1920 bis 1932 auf 10,6 in den Jahren 1933 bis 1942.

Agnelli, Pirelli und Co.

In Italien engagierten sich Großindustrielle schon in den frühen 1920ern als Mäzene des Spiels. Piero Pirelli war Präsident des AC Mailand von 1909 bis 1928. 1872 hatte sein Vater Giovanni Battista Pirelli eine Gummiwarenfabrik gegründet, die zunächst telegraphische Leitungen, Unterseekabel und Fahrradreifen produzierte. 1901 begann Pirelli mit der Produktion von Autoreifen und entwickelte sich zu einem großen Konzern. Den Bau des Stadions San Siro finanzierte Piero Pirelli aus eigener Tasche. Bei Juventus Turin war die Geschichte des Vereins seit 1923 untrennbar mit der Agnelli-Familie und dem FIAT-Konzern verbunden. FIAT produzierte 90 Prozent aller italienischen Autos, und die Agnelli-Familie besaß 70 Prozent des Konzerns. 1923 wurde Edoardo Agnelli Präsident von „Juve“ und blieb dies bis 1935. Dank des Reichtums der Agnelli-Familie wurde der Klub zwischen 1931 und 1935 fünfmal in Folge Meister. Diese Jahre gingen als Quinquennio d’Oro in die Klubgeschichte ein. Lokalrivale Torino besaß mit dem Traditionsunternehmen Cinzano ebenfalls einen zahlungskräftigen Mäzen. Von Unterstützern der Größenordnung Pirelli, Agnelli und Cinzano war der deutsche Fußball noch einige Jahrzehnte entfernt.

Mitte der 1920er konnte man nirgendwo in Europa mit dem Kicken so viel Geld verdienen wie in Italien, was zahlreiche Spieler aus Österreich und Ungarn, aber auch aus Jugoslawien und der Tschechoslowakei nach Italien trieb. In der Saison 1925/26 verdienten über 80 Österreicher und Ungarn ihren Lebensunterhalt im italienischen Meisterschaftsbetrieb.

Dabei wurde in Österreich bereits ebenfalls offiziell professionell gespielt, aber deutlich weniger bezahlt als in Italien. 1924 hatte der Wiener Fußballverband den Professionalismus eingeführt. Österreich war damit das erste Land auf dem Kontinent, das die Bezahlung von Spielern legalisierte. Die Tschechoslowakei folgte 1925, Ungarn 1926. Wien und Budapest waren zu Kontinentaleuropas Fußballmetropolen avanciert. Hier wurde an einem Gegenentwurf zum englischen „kick-and-rush“-Spiel gearbeitet, bei dem man den Ball auf dem Rasen hielt und sich mit präzisen Pässen in Richtung gegnerisches Tor bewegte.

Es war aber nicht nur Geld, das die Kicker nach Italien trieb. Im Falle der Ungarn profitierten die italienischen Klubs auch vom staatlichen Antisemitismus in deren Heimat, denn eine Reihe der ungarischen Kicker waren jüdischen Glaubens.

Ausländer raus …

Die Carta di Viareggio legalisierte zwar den Profifußball, verbot aber die Verpflichtung von Ausländern. Da einige Klubs zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung bereits auf dem Transfermarkt tätig geworden waren, wurde die Saison 1926/27 zur Übergangsperiode erklärt. Die Klubs durften maximal zwei Ausländer auf ihrer Gehaltsliste führen, aber in jedem Spiel durfte nur einer von ihnen auflaufen. Viele der betroffenen Spieler wurden nun arbeitslos und kehrten in ihre Heimat zurück.

In der folgenden Saison gab es keine Ausländer mehr in der Liga, und 1928 erklärte der Verband: „An der italienischen Meisterschaft dürfen nur Spieler italienischer Nationalität und Staatsbürgerschaft teilnehmen.“

Ausländische Trainer wurden nur gestattet, wenn der Klub keinen für den Job geeigneten Italiener fand. Dies war aber auffällig häufig der Fall. Coaches ungarischer und österreichischer Herkunft galten als Entwicklungshelfer und waren in ganz Europa begehrt. Als Italien 1934 erstmals Weltmeister wurde, stammten zehn der 16 Erstligatrainer aus Wien oder Budapest. Beim zweiten WM-Titel 1938 waren es noch sieben. Der ungarische Jude Árpád Weisz wurde 1929 mit Inter Mailand Meister. Der damals 33-Jährige ist bis heute der jüngste „Meistermacher“ im italienischen Fußball. 1936 und 1937 gewann Weisz auch mit Bologna die Scudetto. Im Oktober 1938 verlor der Erfolgscoach seinen Posten. Grund waren die von den Faschisten eingeführten Rassengesetze. Im Januar 1939 verließ Weisz Italien und zog mit seiner Familie über Paris in die Niederlande, wo er den FC Dordrecht trainierte. Nach dem deutschen Einmarsch wurde Weisz im August 1942 verhaftet und ins KZ Westerbork gebracht. Wenige Wochen später wurde er nach Auschwitz deportiert. Weisz starb dort im Januar 1944. Seine Frau und die beiden Kinder waren bereits im Oktober 1942 in Birkenau ermordet worden.

Ernö Erbstein, wie Weisz Jude und aus Budapest stammend, trainierte zunächst die unterklassigen Klubs AS Bari und ASG Nocerina. 1930 übernahm er den CS Cagliari und stieg mit ihm auf Anhieb in die Serie B auf. 1933 wurde Erbstein Trainer des toskanischen Klubs US Lucchese Libertas, mit dem ihm innerhalb von drei Jahren der Aufstieg von der dritten in die erste Liga gelang. 1938 wechselte Erbstein zum AC Turin. Für den Spieler Raf Vallone war der Trainer Ernö Erbstein ein Vorläufer von Rinus Michels und Johan Cruyff. Erbsteins Turin sei seiner Zeit voraus gewesen, habe wie später die Holländer gespielt. Nach dem Krieg wurde Erbstein, der die Shoa in Budapest überlebt hatte, Technischer Direktor des Klubs und baute eine Mannschaft auf, die eine der besten der Welt war. Erbsteins „Il Grande Torino“ wurde viermal in Folge Meister. Im Mai 1949 bestritt die Mannschaft ein Freundschaftsspiel in Lissabon. Auf dem Rückflug geriet das Flugzeug im Landeanflug bei dichtem Nebel vom Kurs ab und zerschellte am Hügel von Superga. Mit der gesamten Mannschaft kam auch Erbstein ums Leben.

Deutsche raus aus dem Mitropacup …

Am 27. Oktober 1926 fand in Prag am Rande des Länderspiels Tschechoslowakei gegen Italien ein Treffen statt, auf dem Vertreter Österreichs, Italiens, Ungarns und der Tschechoslowakei über die Einrichtung internationaler Wettbewerbe berieten. Die Anwesenden beschlossen die Austragung eines Mitteleuropäischen Cups für Vereinsmannschaften (Mitropacup) sowie die Planung eines Internationalen Cups für Nationalmannschaften.

Motor dieser Projekte war Hugo Meisl, seit 1913 Verbandskapitän beim Österreichischen Fußball-Verband (ÖFV) und in dieser Funktion verantwortlich für das Nationalteam. Der 1881 im mährischen Ostrava in eine jüdische Kaufmannsfamilie hineingeborene Meisl verfügte über eine ungeheure Fußballkompetenz, war ein energetischer Visionär, der die Fußballgemeinde ständig mit neuen, die Organisation des Spiels vorantreibenden Ideen strapazierte. Vor allem war Meisl vielleicht der erste Fußballfunktionär, der in europäischen Dimensionen dachte. Bereits 1922 äußerte er die Überzeugung, die Entwicklung des Fußballs werde im Wesentlichen durch den internationalen Spielverkehr vorangetrieben.

Die Wiener Vereine benötigten für die Finanzierung ihres Professionalismus’ zusätzliche Einnahmen – durch internationale Begegnungen, die die Massen mobilisieren sollten. 1927 wurde erstmals um den Mitropacup gespielt. Dieser war in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die wichtigste Trophäe im kontinentaleuropäischen Vereinsfußball.

Der Mitropacup war ein Wettbewerb der kontinentaleuropäischen Profiklubs und deren Ligen, weshalb Deutschland nicht dabei war. 1925 hatte der DFB auf einer Vorstandssitzung in Hannover seinen Mitgliedsvereinen die Austragung von Spielen gegen ausländische Profiklubs untersagt, um dem Kampf „für die Reinhaltung des deutschen Fußballs sichtbaren Ausdruck zu verleihen“. Die „Hannoveraner Beschlüsse“ waren ein harter Schlag für Klubs wie den FC Bayern und den 1. FC Nürnberg, die zu den nahe gelegenen Fußballmetropolen Wien, Prag und Budapest intensive Beziehungen pflegten. Die Bayern und der „Club“ bewegten sich in zwei Kontexten: einem deutschen und einem mitteleuropäischen. Bayern-Präsident Kurt Landauer: „Wo kommt der deutsche Fußballsport hin, wenn die deutschen Mannschaften im Wettbewerb mit England, Österreich, der Tschechoslowakei und späterhin auch Ungarn, ausgeschlossen bleiben? Wir werden recht bald schön isoliert sein und können nur mehr ‚unter uns‘ spielen. Und uns Münchener kostet ein Spiel gegen Wiener, Budapester und Prager Mannschaften nicht viel mehr als gegen eine solche aus Mitteldeutschland, Berlin oder Hamburg. (…) Man kann sich ein deutsches Wettspielprogramm heute nicht mehr denken ohne Gegner wie Amateure, Rapid und Vienna Wien, ohne Sparta, Slavia und D.F.C. Prag, ohne MTK und F.T.C. Budapest, ohne die englischen Berufsspielermannschaften!“

An der ersten Auflage des Mitropacups nahmen die Spitzenteams aus Österreich, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei teil. Es gewann Sparta Prag, das sich im Finale gegen Rapid Wien durchsetze. 1929 waren mit Juventus Turin und dem FC Genua erstmals auch die italienischen Spitzenklubs dabei.

Südamerikaner rein …

Bereits Mitte der 1920er tätigte der italienische Klubfußball auch interkontinentale Spielertransfers. Auslöser der Zunahme interkontinentaler Spielertransfers waren die beeindruckenden Darbietungen Uruguays beim Olympischen Fußballturnier 1924 in Paris, die erstmals Fußball-Europas Aufmerksamkeit gen Südamerika lenkten. Die Eindrücke von Paris wurden beim folgenden Turnier 1928 in Amsterdam bestätigt, als Uruguay und Argentinien das Finale bestritten. Zwei Jahre später machten die beiden Nachbarn auch den ersten WM-Titel unter sich aus.

In Südamerika lebte eine große italienischstämmige Community. Getrieben von der wirtschaftlichen Not hatte in den 1860ern bzw. während des italienischen Einigungsprozesses eine Massenauswanderung aus dem Süden Italiens eingesetzt. Um 1911 wurden in Argentinien zwei Millionen italienischstämmige Bürger gezählt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten fünf bis sechs Millionen Italiener außerhalb ihres Heimatlandes. In den 1920ern und 1930ern waren dann ein Drittel der Einwohner von Buenos Aires Nachfahren italienischer Immigranten. In Brasilien waren 40 Prozent der 3,7 Millionen europäischen Einwanderer italienischer Herkunft. In São Paulo war die größte und populärste Vereinigung der italienischen Community der Sportklub Palestra Italia. So versammelte sich viel Fußballtalent mit italienischen Wurzeln im Süden des amerikanischen Kontinents.

Da die Carta di Viareggio die Verpflichtung von europäischen Legionären untersagte, schauten sich die italienischen Top-Klubs nun in Südamerika nach Nachfahren italienischer Emigranten um. Das faschistische Regime zeigte sich hier äußerst flexibel, indem es in seiner Interpretation einer italienischen Identität auch die Diaspora integrierte.

So wurden die Oriundi geboren. Als solche wurden Spieler aus Südamerika klassifiziert, die auf italienische Vorfahren verweisen und deshalb für sich die italienische Staatsbürgerschaft beanspruchen konnten, die ihnen vom faschistischen Regime auch nur zu bereitwillig gewährt wurde. Aus Sicht des Staates war es dabei einerlei, ob das Geburtsland des Spielers Italien oder ein südamerikanisches Land war. Während des Faschismus wurden diese Spieler, sofern ihr Geburtsort nicht Italien war, Rimpatriati genannt.

Das Verbot des Imports von ausländischen Spielern wurde durch diese massive Naturalisierungspolitik gegenüber südamerikanischen Spielern mit italienischen Vorfahren mehr als kompensiert. Von 1929 bis 1943 verdingten sich 118 Rimpatriati im italienischen Profifußball – 60 kamen aus Argentinien, 32 aus Uruguay, 26 aus Brasilien, von denen 14 zuvor für Palestra Italia gespielt hatten.

Schon 1925 verpflichtete der AC Turin den Argentinier Julio Libonatti, dessen Eltern aus Genua stammten. Klubpräsident und Cinzano-Boss Enrico Maroni hatte den im argentinischen Rosario geborenen Kicker auf einer Geschäftsreise entdeckt. 1928 zog Umberto Agnelli, Boss der FIAT-Werke und des Lokalrivalen Juventus, nach und lockte Argentiniens Star Raimundo Orsi in die norditalienische Industriemetropole. Orsis alter Klub Independiente de Avellaneda kassierte beim Transfer 100.000 Lire, und der Spieler verdiente bei „Juve“ das 15-Fache eines italienischen Grundschullehrers. Die argentinische Zeitung El Mundo Deportivo behauptete, nicht „Juve“ habe die Ablöse bezahlt, sondern das Mussolini-Regime. 1929 wurde Renato Cesari, einem weiteren argentinischitalienischen Stürmer, von Juventus ein Monatsgehalt von 4.000 Lire offeriert, was etwa dem Vierfachen entsprach, was seinerzeit ein Arzt oder Anwalt in Italien verdiente. Daneben kamen die Spieler noch in den Genuss von Bonuszahlungen, Autos und mietfreiem Wohnen. Südamerikas Klubs konnten mit derartigen Offerten nicht konkurrieren.

Europas erster Weltmeister

Die Rimpatriati machten auch Italiens Nationalmannschaft stärker. 1931 wurde Argentiniens Nationalspieler Luis Monti „Italiener“, als er ein 150.000-Lire-Angebot von Juventus annahm. Beim olympischen Turnier 1928 hatte Monti mit Argentinien Silber geholt, bei der WM 1930 war er mit der Albiceleste erneut Zweiter geworden. Monti hatte seine Karriere bei den Boca Juniors in Buenos Aires begonnen, einem Klub, den 1905 italienische Emigranten gegründet hatten und der in einem von italienischen Einwanderern geprägten Viertel der argentinischen Metropole residierte. Ebenfalls 1931 konnte Inter Mailand den Stürmer Attilio Demaria vom Wechsel nach Europa überzeugen. Der AS Rom verpflichtete 1933 mit Enrique Guaita, Alejandro Scopelli und Andrea Stagnaro gleich ein argentinisches Trio. In der Saison 1934/35 wurde Guaita Torschützenkönig der Serie A und erhielt den Spitznamen „Il Corsaro Nero („Der Schwarze Korsar“), da die Roma damals noch in schwarzen Trikots spielten.

Für Nationalcoach Vittorio Pozzo waren Monti und Co. „Söhne italienischer Eltern, die zufällig nach Südamerika ausgewandert sind, Italiener“. Die Ausweitung der Rekrutierungspolitik italienischer Vereine auf Argentinien, Brasilien und Uruguay sowie die Einbürgerungspolitik des Mussolini-Regimes gegenüber fähigen Fußballern stießen in Südamerika auf Protest. Damit nicht weitere Stars in italienische Fänge gerieten, schickte Argentiniens Verband zur WM 1934 lediglich ein B-Team.

Beim WM-Turnier standen mit Monti, Orsi, Guaita und Demaria viele Spieler im Aufgebot der Italiener, die zuvor für Argentinien gespielt hatten. Von ihnen war nur Orsi für das Turnier spielberechtigt. Denn laut WM-Reglement musste ein Spieler, der die Nationalität wechselte, mindestens drei Jahre in seinem neuen Land leben und arbeiten, bevor er für dieses auflaufen durfte. Dies war bei Monti, Guaita und Demaria nicht der Fall. Letzterer hatte noch am 5. Februar 1933 für Argentinien gespielt. Die FIFA ignorierte den offensichtlichen Reglementverstoß. Zu eng war die Verflechtung zwischen dem FIFA-Organisationskomitee und den Mussolini-Faschisten.

1934 hätte es keinen anderen Weltmeister als Italien geben dürfen. Gerieten die Italiener in Schwierigkeiten, reagierten sie mit Brachialgewalt – assistiert vom Schiedsrichter. Raimundo Orsi schrieb später in seinen Memoiren, dass seine Mannschaft nur deshalb so brutal spielte, weil jeder Spieler Angst vor der Rache des „Duce“ hatte.

Für das Schweizer Fachblatt Sport ging es beim Turnier um folgende Dinge: „1. um die Ehre, 2. um die Einnahmen, 3. um die Wirkung auf das Duce-Publikum, 4. um die WM, 5. um Fußball, 6., 7., 8. und 9. um den möglichst geeigneten Schiedsrichter und 10. auch um Sport.“

Im Finale besiegte Italien die Tschechoslowakei nach Verlängerung mit 2:1. Luis Monti ist bis heute der einzige Fußballspieler, der mit zwei unterschiedlichen Nationalmannschaften im WM-Finale stand.

„Amateur-Weltmeister“

Die Elf des DFB wurde überraschend Dritter und feierte sich als „Weltmeister der Amateure“, da bei den Finalisten Italien und Tschechoslowakei Profis mitspielten. Bei den Olympischen Sommerspielen 1936, zu denen nur Amateure zugelassen waren, wollten die Deutschen nun Gold holen, scheiterten aber am Underdog Norwegen, trainiert von Asbjörn Halvorsen, einem ehemaligen Star des Hamburger SV und späteren Sympathisanten des Widerstands gegen die Besatzung seines Landes. Gold gewann Italien, mit einer Mannschaft, in der kein Weltmeister von 1934 stand.

Der WM 1934 folgten zunächst weitere interkontinentale Spielertransfers. Zur Saison 1935/36 verpflichtete der FC Bologna den Uruguayer Miguel Andreolo von Nacional Montevideo. Andreolo gewann mit Bologna viermal die Serie A und spielte anschließend noch für Lazio Rom, Neapel, Catania und Forli. Im Mai 1936 wurde er italienischer Nationalspieler und war auch 1938 dabei, als die Squadra Azzura ihren WM-Titel verteidigte.

Aber in der zweiten Hälfte der 1930er nahm die Zahl der Rimpatriati deutlich ab. Gründe waren die Legalisierung des Profifußballs in Argentinien und das politische Klima in Italien. Die Oriundi gerieten zusehends in Misskredit, da man ihren Patriotismus und ihr „Italienertum“ anzweifelte.

Im Sommer 1935 hatte Guaita die Einberufung zum Militär erhalten, die die Möglichkeit eines Kampfeinsatzes im italienisch-äthiopischen Krieg beinhaltete. Guaita flüchtete zunächst mit zwei weiteren Oriundi beim AS Rom, Alessandro Scopelli und Andrea Stagnaro, nach Frankreich, um von dort aus nach Argentinien zurückzukehren. 1937 zog Guaita noch einmal das Trikot der Albiceleste über. Auch Raimundo Orsi entzog sich dem Militärdienst und kehrte nach Südamerika zurück.

Die Flucht der vier Spieler geriet zum nationalen Skandal, und das faschistische Regime bezeichnete sie als Feiglinge, Diebe und Schmuggler. Der ehemalige Roma-Präsident Renato Sacerdoti wurde der Mittäterschaft beschuldigt. Wohl auch, weil der Banker Sacerdoti Jude war.

Boom