Antisemitismus reloaded - Dietrich Schulze-Marmeling - E-Book

Antisemitismus reloaded E-Book

Dietrich Schulze-Marmeling

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Beschreibung

Das Massaker vom 7. Oktober, bei dem 1.200 Israelis von der Terrororganisation Hamas brutal ermordet und geschändet wurden, fand auch in Deutschland seinen Widerhall in heftigen Diskussionen um Antisemitismus und Islamismus. Blieb in den Tagen nach dem Massaker die Empathie mit den jüdischen Opfern seltsam begrenzt, so formierte sich im Zuge der israelischen Militäraktion immer lautstärker eine Bewegung, die Israel als Kolonialmacht anprangerte und die Ziele der Hamas unterstützte. Juden in Deutschland dagegen sahen sich verstärkt antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Dieses erschreckende Missverhältnis in den öffentlichen Reaktionen hat den Autor Dietrich Schulze-Marmeling veranlasst, die Koordinaten in der Diskussion zu überprüfen. Die Unversöhnlichkeit, mit der sich pro-israelische und pro-palästinensische Positionen gegenüberstehen, sieht Schulze-Marmeling weniger in der Sache selbst begründet. Dass im Nahen Osten auf beiden Seiten politischer Starrsinn in der Führung und großes Leid in der Bevölkerung herrscht, ist unverkennbar. Auf der bundesdeutschen Linken wie der Rechten geht es aber laut Schulze-Marmeling vielfach weniger um die eigentlichen Probleme, sondern darum, die eigene Identität zu füttern. Jüdische Israelis und Palästinenser würden zu diesem Zweck instrumentalisiert. Sein höchst lesenswertes und stringent verfasstes Buch liefert einen wichtigen Kompass, um die Hintergründe eines aufgeregten Diskurses zu verstehen und manche moralischen Verrenkungen zurechtzurücken.

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Dietrich Schulze-Marmeling

Antisemitismus reloaded

Die Linke, der Staat und der 7. Oktober

Dietrich Schulze-Marmeling ist freier Publizist. Er hat zu friedenspolitischen Themen und zum Nordirlandkonflikt geschrieben; bekannt geworden ist er vor allem als einer der produktivsten deutschen Autoren zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs. U. a. hat er sich um die Rekonstruktion der jüdischen Fußballgeschichte verdient gemacht, die nahezu vollständig verdrängt war.

1. Auflage 2024

© edition einwurf GmbH, Rastede

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89684-713-3 (Print)

ISBN 978-3-89684-714-0 (Epub)

Satz und Gestaltung:

Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.edition-einwurf.de

Dietrich Schulze-Marmeling

Antisemitismus reloaded

Die Linke, der Staat und der 7. Oktober

Inhalt

Um es vorweg zu sagen

„Moralisch und intellektuell versagt“

Die Linke und der 7. Oktober

Die Bundesrepublik, der Antisemitismus und die Linke

Biografische Notizen

Islamisten, andere Demokratiegegner und die universellen Menschenrechte

Postkolonialismus, Antizionismus und „westliche Werte“

Unser Antisemitismus, der Antisemitismus der anderen und rechte „Israel-Solidarität“

Personenregister

Um es vorweg zu sagen

Dieses Buch hat eine Schlagseite. Leser:innen werden bemängeln, dass die palästinensische Perspektive und das Leiden der Palästinenser zu kurz kommen.

Dem kann und will ich nicht widersprechen.

Auslöser für dieses Buch, das zumindest in Teilen eine Streitschrift ist, waren das Massaker vom 7. Oktober und die Reaktion von Teilen der Linken, die den Opfern mit Empathielosigkeit begegneten, den antisemitischen Gehalt der Tat ignorierten und die Hamas zu einer Widerstandsorganisation verklärten. Und damit den weltweit zunehmenden Antisemitismus befeuerten.

Das Ausmaß des Massakers, das auch eine Orgie sexualisierter Gewalt war, macht es auch noch Monate danach schwierig, sich in die palästinensische Seite hineinzuversetzen. Während dies gegenüber den Palästinensern nur schwierig ist, und sicherlich auch unfair, ist es mir gegenüber den weder in Gaza noch im Westjordanland lebenden verirrten deutschen Linken schlichtweg unmöglich.

Wenn die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz konstatiert, dass „die Linke ihre Leitwerte verraten“ habe, was „eine doktrinäre Spaltung unvermeidlich und notwendig mache“, kann ich dies nur unterschreiben. Ja, das ist so. Die Rückkehr zu einem „Wir“ ist kaum vorstellbar. Wobei der Vorwurf eines linken Antisemitismus‘ nur eine Minderheit der hiesigen Linken betrifft.

Die schockierenden Reaktionen von Teilen der Linken sind Ausdruck einer ethisch-moralischen, aber auch ideologischen und politischen Krise, die nicht erst mit dem 7. Oktober begann. Empathielosigkeit war auch schon beim russischen Massaker von Butscha zu beobachten. Weshalb es in diesem Buch nicht nur um das Massaker der Hamas und den Israel-Palästina-Konflikt geht.

Es thematisiert aber auch nicht nur die Linke, sondern auch einen „offiziellen“ Anti-Antisemitismus, der mit einer Engführung des Problems auf die Haltung zu Israel den Antisemitismus in seiner Tiefe und seinem gesamten Ausmaß nicht zu fassen bekommt. Oder, wie vor allem „rechts der Mitte“ der Fall, die Situation von Juden und Jüdinnen für eine rassistische Agenda instrumentalisiert und Entlastung im „importierten Antisemitismus“ sucht – fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind Antisemiten nur noch die anderen.

Diese Engführung und die Unkenntnis darüber, wo wir es mit Antisemitismus zu tun haben und wo nicht, haben die Debattenkultur in ungesunder Weise eingeschränkt. Und dies nicht erst seit dem 7. Oktober. Bereits 2015 wurde in Köln vom damaligen SPD-Oberbürgermeister Jürgen Roters eine Ausstellung mit dem Titel „So haben wir in Gaza gekämpft“ abgesagt – nach scharfer Kritik seitens der rechten Regierung in Israel. Die Ausstellung basierte auf Aussagen von Angehörigen der israelischen Armee, die das Vorgehen ihrer Regierung in Gaza und im Westjordanland kritisierten. An dieser Ausstellung war nichts antisemitisch. Das Verbot erfolgte auf Zuruf einer Regierung, die jüdischen Pluralismus negiert und mit der Meinungsfreiheit auf dem Kriegsfuß steht.

Etwas anders verhält es sich mit der Veranstaltung Global Assembly, die im März 2024 von ihren Organisatoren abgesagt wurde – sozusagen präventiv. In der Frankfurter Paulskirche sollten Teilnehmer aus zahlreichen Ländern über Menschenrechte, Demokratie und globale Gerechtigkeit diskutieren. Die Organisatoren erklärten, Kritiker der israelischen Reaktion auf das Massaker würden mit dem Vorwurf des Antisemitismus bzw. Israel-Hasses überzogen. Seit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs sei in Deutschland ein offener Dialog zwischen dem Süden und dem Norden nicht mehr möglich. Man müsse sich eingestehen, „dass der kommunikative Schutz- und Freiraum für solche Diskurse, wie ihn die Global Assembly bieten wollte, derzeit nicht gegeben ist“. Dies war übertrieben. Weder waren vor der Paulskirche Massendemos gegen tatsächlichen oder vermeintlichen Antisemitismus angemeldet worden, noch drohte den Partnerorganisationen aus dem „Globalen Süden“ ein Einreiseverbot. Zur Cancel Culture gesellt sich die Kultur des Selbst-Cancelns, manchmal offenbar eingesetzt, um die Existenz einer Cancel Culture zu beweisen. Und über eine Cancel Culture ganz anderer Form können auch Berlins Juden klagen, wenn sie sich nicht mehr mit der Kippa auf die Straße trauen.

In Sachen Global Assembly brachte Moshe Zimmermann, israelischer Historiker und profilierter Kritiker der israelischen Regierungspolitik, das Problem nüchtern auf den Punkt: „Wenn die Organisatoren dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Meinungen (nicht Vorurteile oder Hetze) vetreten sind, gibt es keinen Grund, eine solche Veranstaltung nicht stattfinden zu lassen. Cancel Culture darf es weder von links noch von rechts geben; also müssen die Veranstalter das Treffen so konzipieren, dass die Diskussion sachlich bleibt, auf dem Boden der Tatsachen, und nicht in eine Propagandaschlacht ausartet. Für eine liberale Demokratie sollte dies keine Herausforderung sein.“ Sollte …

Für die Verurteilung des Massakers vom 7. Oktober muss mensch nicht die deutsche Geschichte bemühen. Wer islamistische und antisemitische Organisationen wie die Hamas als Teil eines legitimen Widerstands gegen eine unzweifelhaft bestehende israelische Unterdrückungs- und Besatzungspolitik rechtfertigt, Massaker mit eingeschlossen, kann kein Partner im Kampf für eine freie und solidarische Gesellschaft sein. Auch für die Anerkennung eines Existenzrechts Israels bedarf es nicht der deutschen Geschichte. Und last but not least auch nicht für die Unterstützung der berechtigten Interessen der palästinensischen Bevölkerung in Gaza und im Westjordanland und die Verurteilung der israelischen Kriegsführung.

„Als radikale Linke im Land der Täter*innen der Shoah gibt es jetzt viel, was wir falsch machen können“, schrieb die Interventionistische Linke (IL) nach dem Massaker vom 7. Oktober. So ist es. So war es. Und so wird es vermutlich auch immer sein. Und dies gilt nicht nur für die radikale Linke.

Dietrich Schulze-Marmeling

März 2024

„Moralisch und intellektuell versagt“

Die Linke und der 7. Oktober

Am Samstag, dem 7. Oktober 2023, gegen 06:30 Uhr Ortszeit (05:30 Uhr MEZ) verkündet die islamistische und antisemitische Terrororganisation Hamas den Beginn der „Operation al-Aqsa-Flut“.

Zunächst werden der Süden und das Zentrum Israels stundenlang unter massiven Raketenbeschuss genommen. Der oberste Befehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, Mohammed Deif, spricht von 5.000 Raketen, die auf Israel abgefeuert worden seien.

Raketen aus Gaza sind für die israelische Bevölkerung nichts Neues. Schon gar nicht für die Israelis, die nahe der Grenze zu Gaza leben. Aber einige Stunden später überwinden etwa 3.000 Hamas-Terroristen an 29 Stellen die Sperranlagen um den Gazastreifen, dringen bis zu 18 Kilometer tief auf israelisches Staatsgebiet vor und verüben Massaker an der Zivilbevölkerung. Mehr als 1.200 Israelis werden auf bestialische Weise ermordet, davon allein 364 Besucher des Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering in Re‘im, einem säkularen Kibbuz.

Unter den Opfern des Massakers befinden sich auch viele, die sich für eine Versöhnung zwischen Juden und Palästinensern eingesetzt haben. So u. a. die 74-jährige Friedensaktivistin Vivian Silver, die wiederholt palästinensische Kinder aus Gaza in israelische Krankenhäuser gebracht hatte. Ihre verbrannte Leiche wird in einem Haus im Kibbuz Be’eri gefunden.

Am 7. Oktober 2023 werden des Weiteren etwa 240 Juden und Jüdinnen von der Hamas als Geiseln genommen und nach Gaza verschleppt.

Erinnerung an Babyn Jar

Seit der Shoah hat es keinen anderen Tag gegeben, an dem so viele Juden ermordet wurden. Viele Juden und Jüdinnen fühlen sich deshalb an das Massaker von Babyn Jar erinnert. Im September 1941 wurden Tausende von Jüdinnen und Juden aus Kiew von den Deutschen und mit Hilfe der ukrainischen Miliz zusammengetrieben und nach Babyn Jar gebracht. Dort wurden sie gezwungen, sich zu entkleiden. Anschließend wurden die über 30.000 Jüdinnen und Juden von Mitgliedern der berüchtigten Einsatzgruppe C erschossen.

Die Hamas-Terroristen filmen ihre Taten mit Bodycams. Einige nehmen ihre Morde mit den Mobiltelefonen ihrer Opfer auf und senden die Aufnahmen an Angehörige oder Bekannte der Opfer oder laden sie auf die Facebook-Profilseiten der Getöteten hoch. Normalerweise bestreiten Armeen und Terroristen ihre Untaten an der Zivilbevölkerung. Nicht so die Hamas, die mit diesen prahlt. Die Message der Islamisten lässt an genozidaler Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo ihr, die Juden, sicher seid. Nicht einmal in Eurer Festung Israel. Jüdisches Leben hat hier nichts zu suchen.“

Am 23. Oktober 2023, 16 Tage nach dem Massaker, lädt das israelische Militär die internationale Presse ein, um ihr einen Zusammenschnitt von Videos zu zeigen, die die Hamas-Schlächter mit ihren Bodycams aufgenommen haben.

In Die Zeit berichtet Malin Schulz über die Präsentation: „Was in Tel Aviv gezeigt wird, ist schwer erträglich, die Bilder sind so schlimm, dass Journalistinnen aufstöhnen oder sich entsetzt die Hand vor den Mund halten. (…) Eines der in Tel Aviv vorgeführten Videos zeigt, wie jemand einer am Boden liegenden Person mit einer Gartenhacke den Kopf abtrennen will. Es mag ihm nicht recht gelingen. Auf einem anderen Video wirft ein Hamas-Kämpfer eine Granate in einen Luftschutzbunker. Ein Vater stirbt, beide Söhne taumeln aus dem Bunker, eines der Kinder scheint ein Auge verloren zu haben. ‚Papa, Papa‘, ruft es. Der Terrorist nimmt seelenruhig eine Cola aus dem Kühlschrank.“

Einige Wochen nach dem Massaker besucht der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Remko Leemhuis die Tatorte. Gegenüber der Frankfurter Rundschau berichtet Leemhuis: „Bei 300 Menschen –vor allem Mädchen und Jungen – ist die Identifizierung bislang nicht gelungen. Ihr Zustand lässt das nicht zu. Sie sind nach ihrer Ermordung so zugerichtet worden, dass man sie nicht identifizieren kann. In den betroffenen Gebieten werden bis heute noch Leichenteile gefunden. Einige Tage bevor wir in einem Kibbuz waren, wurde dort in einem Backofen ein Baby gefunden, das dort verbrannt worden ist. (…) Ich arbeite jetzt schon einige Jahre auf diesem Feld und habe schon einige Konflikte miterlebt. Aber das übertrifft alles. (…) Ich persönlich habe mich immer dagegen gewehrt, Parallelen zum Holocaust zu ziehen. Aber fast jeder Israeli, mit dem wir gesprochen haben, hat einen Vergleich aufgestellt.“

Eine Orgie sexualisierter und antisemitischer Gewalt

Wenige Tage nach dem Massaker von Re’im zitiert der Tagesspiegel einen Gast des Festivals: „Frauen wurden auf dem Gelände des Raves vergewaltigt, neben den Leichen ihrer Freunde. (…) In dem Video ist eine nackte Frau mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks zu sehen. Vier Kämpfer der Hamas führen sie einer jubelnden Menge in Gaza vor. Einer hält sie an den Haaren, während ein anderer ein Gewehr in die Luft hält und ‚Allahu akbar‘ (‚Gott ist groß‘) brüllt. Ein Junge spuckt auf sie. Ob sie in diesem Moment noch am Leben ist, ist unklar. Sie liegt regungslos da.“

Bis Mitte Dezember 2023 tragen israelische Ermittler mehr als 1.500 Belege für Gräueltaten zusammen. Häufig geht es um sexualisierte Gewalt an Frauen. Am 7. Oktober wurden Jüdinnen massenhaft vergewaltigt. Der Spiegel: „In einem Video sieht man die junge Soldatin Naama Levy, die in Gaza aus einem Hamas-Truck stolpert, den Schritt ihre Jogginghose rot gefärbt. Eine Überlebende des Nova-Musikfestivals berichtet, dass mehrere Männer eine Frau vergewaltigten. Noch bevor der letzte ejakuliert habe, habe er der Frau in den Kopf geschossen. Ersthelfer an den Orten des Massakers berichten von Leichen mit heruntergezogenen Hosen und Spuren von Sperma an den Beinen. Eine Freiwillige, die auf der Schura-Militärbasis bei der Identifikation toter Frauen half, erzählt von gebrochenen Beinen und Becken.“

Haim Otmazgin arbeitet ehrenamtlich für die Organisation Zaka, die nach Unfällen und anderen Katastrophen die Leichen und Körperteile birgt. Otmazgin hat 2.800 Bilder vom Massaker gemacht. Der Spiegel: „Die Bilder auf seinem Handy sind eine Galerie des Grauens. Erstes Foto: Eine Frau mit hochgeschobenem Rock, sie trägt keine Unterwäsche. An ihren Oberschenkeln klebt geronnenes Blut. Zweites Foto: Eine blonde Frau liegt auf dem Rücken, ihre Augen starren ins Leere. Ihr weißes Hemd ist zerrissen. Drittes Foto: rot gefärbte Hotpants. Man habe der Frau zwischen die Beine geschossen.“

Ein Massaker wird gefeiert

Als das Blut der Opfer noch warm ist und die militärische Antwort der israelischen Regierung noch aussteht, wird das Massaker auf der Berliner Sonnenallee als antikolonialistische Tat gefeiert. Die Besucher des Festes werden kostenfrei mit Baklava verköstigt. Aufgerufen hat die Organisation Samidoun, die sich selbst als „Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene“ bezeichnet. Samidoun steht der vermeintlich linken Popular Front for the Liberation of Palestine / Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) nahe und negiert mit Parolen wie „From the River to the Sea, Palestine will be free“ ein Existenzrecht Israels. Remko Leemhuis: „Was in Neukölln passierte, war Verherrlichung von Terror und Verfälschung von einem antisemitischen Massenmord.“

Nicht nur Menschen mit einem palästinensischen oder anderweitig arabischen Migrationshintergrund sind auf der Sonnenallee und ähnlichen Festen präsent. Auch deutsche Linke sind euphorisiert und tragen dazu bei, dass eine Welle des Antisemitismus‘ durch Deutschland und Europa fegt. Jüdische Einrichtungen werden angegriffen. In Deutschland ist Berlin die urbane Hochburg antisemitischer Kampagnen. In Berlin-Mitte werfen Unbekannte Molotow-Cocktails auf ein Gebäude der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel, in dem neben einer Synagoge auch eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Juden trauen sich nicht mehr mit der Kippa auf die Straße. Das Abonnement der Jüdischen Allgemeine ist bei Zusendung bitte so zu verpacken, dass man die Zeitung nicht sieht. Jüdische Schulen und Kitas in Deutschland sind leer, weil die Eltern der Kinder Angst haben. An Mauern wird „Kill Juden!“ geschmiert. Stolpersteine, die an die ermordeten Berliner Juden erinnern, werden verätzt. Häuser, in denen die real existierenden Juden und Jüdinnen leben, werden mit einem Davidstern markiert. Der jüdische Sportverein Makkabi Berlin sieht sich zur vorübergehenden Einstellung seines Spielbetriebs genötigt.

„Man kriegt das Kotzen“

Feine Sahne Fischfilet (FSF) ist eine antifaschistische Punkband. Es sind Antifaschisten aus dem Osten, genauer: aus der Provinz in Mecklenburg-Vorpommern. FSF ist eine Band, die den Nazis die Stirn bietet und auch dorthin geht, wo es weh tut, wo die Rechten die Hegemonie ausüben und Demokraten und Linke auch physisch bedrängen.

2017 produzierten der Schauspieler Charly Hübner und Sebastian Schultz einen Dokumentarfilm über den Leadsänger der Band, Jan „Monchi“ Gorko. Der Film heißt „Wildes Herz“ und wurde mehrfach ausgezeichnet. Er erzählt viel über die besondere Situation von jungen Menschen in der ostdeutschen Provinz sowie über die Entwicklung von „Monchi“ und Co. zu Antifaschisten. Gerade dem westdeutschen Publikum ist „Wildes Herz“ ans Herz zu legen.

Als am 25. Juni 2023 in Sonneberg im Bundesland Thüringen erstmals ein AfD-Mann zum Landrat gewählt wurde, schrieb Stefanie P. über Instagram eine Nachricht an „Monchi“: „Meint ihr, ihr könntet evtl. noch ein Garagenkonzert dazwischenschieben?! Ich glaube, es ist nicht gerade ungefährlich, aber ein riesiges Zeichen für die Leute, die hier täglich gegen den braunen Müll ankämpfen.“ Dies war nur eine von über 100 Anfragen, die die Band aus Sonneberg erhielt. Die Band sagte zu, Ort des Konzerts war eine Kellerbar. „Monchi“: „Wir spielen seit Jahren Konzerte gegen Rechts, immer als Feuerwehr und ständig brennt es irgendwo.“ Deswegen seien sie auch in Sonneberg, „um den Menschen hier Kraft zu geben, dass sie bei dem Scheiß auch mal abschalten können. Und um zu zeigen, es leben auch viele coole Menschen hier.“

Am 8. Oktober 2023, einen Tag nach dem Massaker der Hamas, veröffentlicht FSF eine Erklärung, in der sie nicht nur zum von den Islamisten verübten Blutbad Stellung beziehen, sondern auch zu den Jubelfeiern auf der Berliner Sonnenallee. Das Statement ist klar in seiner Sprache, geprägt von authentischer Empathie und folgt einem funktionierenden politischen und ethisch-moralischen Kompass:

„Man kriegt das Kotzen.

Da stehen irgendwelche Wichser auf den Straßen und feiern es, dass Kinder, Frauen und Männer in Israel verschleppt oder ermordet werden. Da siehst du Videos, wo Menschen, man weiß nicht, ob sie tot oder am Sterben sind, auf Pick-Ups liegen und von Leuten angespuckt werden. Da werden Leichen geschändet und irgendwelche Freaks feiern das als Widerstand‘, ‚revolutionär‘ oder sonstwas für einen Müll.

(…)

Wir schwanken andauernd zwischen Wut, Hilf- und Fassungslosigkeit und der Frage, was diese ständige Online-Empörung am Ende den Menschen wirklich hilft. Wir sind keine krassen Politfreaks, die jeden Konflikt bis aufs kleinste erklären können oder wollen. Aber eins wissen wir:

Scheissegal, wo die Leute herkommen, welcher Religion sie angehören, welchen Gott sie anbeten: Wir denken an all die Menschen, die unter diesem räudigen faschistischen bzw. islamistischen Terror leiden!

Wir verachten Menschenfeinde und Überzeugungsarschlöcher. Egal, ob nun weiss, schwarz, braun, gelb …! Fahrt zur Hölle!

Eins bleibt bestehen und das ist gefühlt oftmals der große Unterschied:

Sie lieben den Tod und wir lieben das Leben!“

Aber wie kommentiert ein altlinker Bekannter das Statement von FSF? „‘Wir schwanken andauernd zwischen Wut, Hilf- und Fassungslosigkeit und der Frage, was diese ständige Online-Empörung am Ende den Menschen wirklich hilft.‘ Bei dem Satz hätte es Feine Sahne Fischfilet bleiben lassen sollen.“

Was dem Kommentator nicht gefiel, bleibt ein Rätsel. War es die unmissverständliche Verurteilung des antiwestlichen Islamismus als Faschismus? Störte ihn, dass FSF im Massaker nichts Widerständiges, antiimperialistisches oder antikolonialistisches entdecken mochte? Fehlte ihm, dass die Politik der israelischen Regierung gegenüber Gaza und den dort lebenden Palästinensern nicht erwähnt wurde – und damit der eigentlich Schuldige für das Massaker? Oder war es einfach nur eine Sprache, die insofern unangenehm war, als dass sie in ihrer Klarheit alle Kontextualisierer des Massakers als empathielos und ethisch-moralisch verirrt entlarvte?

Dschihadismus als Antikolonialismus

Im Interview mit der taz unterscheidet der israelische Historiker Moshe Zimmermann zwischen der israelischen und deutschen Linken: „Die Linke in Israel ist sich im Klaren darüber, dass mit der Hamas nichts anzufangen ist, mit einer Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, uns zu zerstören. Ob man gegen sie so vorgehen sollte wie im Moment das israelische Militär, ist eine Frage, über die man in Israel diskutiert. Aber die Hamas ist kein Partner für irgendeine Regelung. Es wäre suizidal, mit einer Organisation zu einem Arrangement zu kommen, die zum Ziel hat, die andere Seite zu vernichten.“

Von dieser Klarheit sind Teile der deutschen Linken aber weit entfernt. Vielmehr bieten diese ein verheerendes Bild – nicht nur politisch und ideologisch, sondern auch und gerade ethisch-moralisch.

Auf der Webseite der trotzkistischen Gruppe Klasse gegen Klasse lesen wir: „Hamas, der Islamische Jihad und weitere palästinensische Gruppen des Widerstandes haben eine großangelegte militärische Operation gestartet, die die israelische Armee und Gesellschaft vollkommen überrascht hat. Wie von israelischen Medien ebenfalls bestätigt, hat Hamas 5 Orte in der Nähe von Gaza unter ihre Kontrolle gebracht. Zum ersten Mal seit 1948 verliert Israel also die Kontrolle über Teile ‚ihrer‘ Territorien. (…) Als Vergeltung fängt Israel an, die palästinensische Bevölkerung wieder einmal kollektiv zu bestrafen. […] Der palästinensische Widerstand steht einer gewaltigen Militärmacht gegenüber. Zudem ist Israel, nach Angaben der Arms Control Association, die achtgrößte Atommacht der Welt. Daher ist es schlichtweg lächerlich, Israel als Opfer darzustellen. Das ist auch großen Teilen der unterdrückten Jugend weltweit klar. […] Lang lebe der palästinensische Widerstand!“

„Ihrer“ Territorien. „Ihrer“ in Anführungszeichen. Klasse gegen Klasse verweigert dem Staat Israel die Anerkennung. Für ein Land der Größe Israels ist dessen Militär in der Tat gewaltig. Aber wer will dies dem Land nicht zugestehen nach drei arabischen Überfällen 1948, 1967 und 1973? Und außerdem stehen dieser gewaltigen Militärmacht in der Region nicht nur die offiziellen arabischen Armeen und der Iran gegenüber, sondern auch hoch motivierte Armeen von Dschihadisten. Oder sollen wir diese „Genossen“ nennen? Israel wird von seinen Feinden mehr oder weniger in die Zange genommen. Aus dem Süden wird das Land von der Hamas mit Raketen beschossen, aus dem Norden von der Hisbollah, und mittlerweile sind auch die Huthi-Rebellen dabei, die aus dem Jemen auf Israel zielen. Der Jemen liegt über 2.000 Kilometer von Israel entfernt; Juden leben dort schon lange nicht mehr. Aber auf der Flagge der Huthi steht „Allahuh Akbar“, „Tod Amerika“, „Tod Israel“, und „Fluch den Juden“. Hamas, Hisbollah und Huthi werden in unterschiedlichem Ausmaß vom Iran unterstützt, der ein Existenzrecht Israels abstreitet. Der Iran hat im Nahen Osten ein Netzwerk verbündeter Gruppen aufgebaut, eine „Achse des Widerstands“, deren gemeinsamer Gegner die USA und Israel sind. Antisemitische Vernichtungsfantasien gehören zur DNA des Regimes in Teheran. Was viele Linke nicht kapieren: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist nur ein kleinerer (und instrumentalisierter) innerhalb eines größeren. Der größere Konflikt tobt zwischen dem jüdischen Staat Israel und dem islamistischen und kolonialistischen Dschihadismus, der sich nicht auf die Region beschränkt. Dschihadismus ist keine Bewegung, die dem Nationalstaat huldigt – vielleicht ist es ja das, was einige Linke fasziniert. Für das Hamas-Führungsmitglied Mahmoud a-Zahar wäre der Kampf mit der Vernichtung Israels noch nicht beendet: „Wir wollen nicht nur unser Land befreien. Der ganze Planet wird unter unserem Gesetz stehen. (…) Es wird keinen Zionismus und kein betrügerisches Christentum mehr geben.“ Dschihadismus ist keine nationalstaatlich beschränkte Ideologie.

Was haben Dschihadismus und eliminatorischer Antisemitismus mit einem antikolonialen Widerstand zu tun? Lew Bronstein alias Leo Trotzki, als dessen Erben sich Gruppen wie Klasse gegen Klasse verstehen, dürfte sich im Grabe umdrehen. Der Jude Trotzki war Atheist und ein Gegner des radikalen Zionismus. Nur: Was Marx, Luxemburg und Trotzki, allesamt Juden, zur „Judenfrage“ schrieben, das schrieben sie in einem anderen Kontext – im Falle von Marx noch vor den großen antisemitischen Pogromen im russischen Zarenreich, im Falle von Trotzki und Luxemburg vor der Shoah, einem Zivilisationsbruch, wie ihn Europa noch nie gesehen hatte und durch den so manche Hoffnung hinfällig wurde. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt: Das Ausbleiben der Weltrevolution hätte Trotzki kaum an die Seite antisemitischer Dschihadisten getrieben. Er hätte zwischen deren Idee von Weltrevolution, der Errichtung eines globalen Kalifats und seiner eigenen zu unterscheiden gewusst.

Noch eine Spur wilder als Klasse gegen Klasse treibt es das autonome Berliner Hausprojekt Rigaer 94, das ein Statement veröffentlicht, in dem das Massaker als „Ausbruch aus dem größten Gefängnis der Welt“ gepriesen wird. Was die Medien über das Massaker erzählen würden, seien „konstruierte Schreckensgeschichten“. Rigaer 94 wirft den Medien einen „orientalistischen Diskurs“ vor, in dem „das Bild des Arabers als das ultimativ Böse konstruiert“ werde. Das Massaker wird zum „Weg zur Befreiung“ verklärt, die israelischen Opfer werden nicht direkt benannt. Das Statement der Rigaer 94 wird unter anderem auch vom „Revolutionärer 1. Mai-Bündnis“ auf der Plattform „X“ verbreitet.

Wenn der Feminismus pausieren muss

Ein weiterer Akteur im Kabinett der politisch und moralisch Verkommenen ist die Gruppe Young Struggle, die stolz konstatiert, dass der „Widerstand des palästinensischen Volkes mit der Al-Aqsa-Flut Offensive (gemeint ist das Massaker, d. A.) eine neue Stufe erreicht“ habe. Zwar sei das Massaker von der „reaktionären Hamas“ angeführt worden, „aber unterstützt durch alle revolutionären und fortschrittlichen Organisationen Palästinas“. Die „unnötige Ermordung von Zivilist:innen“ sei zwar bedauerlich, ändere aber „nichts an der Legitimität des Befreiungsschlags“. Nur „unnötig“, nur „bedauerlich“ – aber nicht zu verurteilen. Auf Instagram attestiert Neonazi-Funktionär Patrick Wieschke von der Partei Die Heimat (ehemals NPD) Young Struggle, sich von der Israel-freundlichen Position der „gleichgeschalteten Linken“ „emanzipiert“ zu haben.

Das ganze Ausmaß der ideologischen Verstrahlung wird offensichtlich, wenn mensch auf der Internetseite des „Jungen Kampfes“ surft. Die Gruppe schreibt sich den Kampf gegen das Patriarchat („Feuer und Flamme dem Patriarchat“), gegen Sexismus und LGBTQ-Feindlichkeit auf ihre Fahnen. Was sie aber nicht am Schulterschluss mit extrem patriarchalischen und schwulenfeindlichen Islamisten hindert, die an Jüdinnen ihre unterdrückten sadistischen Männerfantasien ungehemmt ausleben, die Jüdinnen vergewaltigen, bis denen die Beckenknochen brechen, ihnen die Vagina aufschlitzen, die Brüste abschneiden, ihnen innere Organe herausreißen. Mit einer „Befreiungsbewegung“, die im Art. 17 ihrer Charta die Rolle der Frau im „Befreiungskampf“ auf die einer Gebärmaschine reduziert. Deren Aufgabe sei es, neue Kämpfer zu liefern und diese zu Männern zu erziehen. Der „Feind“ glaube, den Kampf gewinnen zu können, wenn es ihm „gelingt, die Frauen so zu lenken und zu formen, wie sie es wollen, nämlich (sie) dem Islam entfremdet“. Und wie macht „der Feind“ das? „Durch Medien, Filme und Lehrpläne mithilfe ihrer Marionetten in zionistischen Organisationen und Foren“, darunter „Freimaurerlogen, Rotary-Clubs, Spionagegruppen“. Der palästinensische Befreiungskampf würde durch eine kulturelle Beeinflussung, etwa eine mögliche Säkularisierung, „Verwestlichung“ und stärkere Emanzipation der Frauen, bedroht. „Das Wort von der Frauen-Emanzipation ist nur ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort.“ Der Mann müsse Heldenmut auf dem Schlachtfeld zeigen, die Frau kämpfe an der „Geburtenfront“. Diese beiden Aussagen stammen nicht von der Hamas, sondern vom „Führer“ persönlich.

Jüdinnen werden am 7. Oktober auch deshalb vergewaltigt, weil „die Israelin als emanzipierte, kämpfende Frau alle Werte verkörpert, die der Islamismus verachtet“, schreibt der Psychologe Louis Lewitan in Die Zeit. „Ob sie Armeedienst leistet, studiert oder arbeitet, stets wird sie als Infragestellung des patriarchalischen Herrschaftsmodells empfunden. Zugleich ist die Israelin eine sexuelle Projektionsfläche. Weil sie als unrein und unmoralisch gilt, ist es für Hamas-Kämpfer rechtens, sie zu vergewaltigen und zu ermorden.“ Dieser frauenverachtende Wahn sei keineswegs neu. „Wir kennen den Topos der sündhaften, bedrohlichen, emanzipierten Jüdin bereits aus dem antisemitischen Geschlechterbild der Nationalsozialisten.“

Die Soziologin Julia Bernstein wurde in Charkiw, heute Ukraine, geboren. Mit 18 floh sie vor dem grassierenden Antisemitismus nach Israel. Als Forscherin interessierte sich Bernstein immer dafür, warum Juden nach der Shoah nach Deutschland ausgewandert sind. Bernstein treibt die ausbleibende Solidarität aus Kreisen um, „die sich sonst für Frauen und Minderheiten einsetzen. Auch die sexualisierte Gewalt der Hamas gegen israelische Frauen, Misshandlungen und Vergewaltigungen scheint einige weniger zu empören, als ein mögliches Verbot des Genderns in Hessen. Jüdinnen und Juden machen darauf gerade mit der Losung aufmerksam: ‚Me too unless you are a Jew.‘“

Deutsche Linke sind offenbar der Meinung: Wenn’s gegen den „zionistischen Kolonialismus“ geht, dann muss der Kampf gegen das Patriarchat eine Pause einlegen. Denn ein Anspruch auf Feminismus ist in diesem Kontext „westlich“ und somit konterrevolutionär. So muss die Linke auch bei einem phallischen Machtrausch beide Augen zudrücken.

Und ist die Hamas nur „reaktionär“? Reaktionär wie, sagen wir mal, Philipp Amthor oder Friedrich Merz von der CDU? Nicht antisemitisch, nicht islamistisch?

„Die Welt wird den Juden auch dieses Massaker nicht verzeihen“

Die Reaktion der Linken wird u. a. auch vom Wiener Autor Richard Schuberth genauer beobachtet. Im Blog faust-kultur.de, 2010 als „Weltbühne für Autoren und Künstler“ in Frankfurt/M. gegründet, stellt er zunächst einige Fragen: Warum drehten die Linken „den Lautstärkeregler ihrer Israelschelte just in dem Moment auf Anschlag hoch“, als in den Kibbuzim Südwestisraels „das Knattern der Schnellfeuerwaffen und die Allahu-akbar-Rufe noch nicht verhallt waren? Wieso öffneten sie dem genozidalen Islamistenterror sofort die Tore in die palästinensische Widerstandserzählung, indem sie diesen als dritte Intifada ausriefen? Wieso stellten sie das schlimmste Judenpogrom des Jahrhunderts als Torsturm im Match zweier Mannschaften hin, dessen Stürmern man wegen Foulplay zwar die Gelbe Karte zeigte, aber die Rote schon im Ärmel hatte fürs Revanchespiel der Gefoulten?“

Drei Aspekte würden die Fulltime-Kritiker israelischer Palästinenserpolitik, deren Argumenten man sich bei notwendiger Distanz zur Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) und unreflektierten Apartheidvorwürfen, nie verschließen sollte, verdächtig machen: „Warum sind sie so auf diesen Zwergenstaat am Mittelmeer eingeschossen, an dessen Verfehlungen sich alle ‚moralischen Kompasse‘ dieser Welt auszurichten scheinen? Warum werten sie die Hamas, den bösesten Feind, den die Palästinenser je hatten und gegen den sich die Fatah geradezu als palästinensische Interessenvertretung ausnimmt, zu deren legitimem Vertreter auf? Und wieso konnten sie die Beerdigung der jüdischen Opfer nicht abwarten, sondern stürmten schon am Tag der Tat die Kibbuzim, um die letzten dort Verblutenden nicht ohne Wissen um ihre Schuld an den Lebensverhältnissen der Leute im Westjordanland sterben zu lassen?“

Die schwierige Frage, wo linke Kritik an israelischer Politik in linken Antisemitismus hinübergleitet, habe am 7. Oktober einen weiteren Teststreifen erhalten: „In den sozialen Medien unterzogen sich Millionen unwissentlich diesem Test. Schon am Abend zeichnete sich das Ergebnis ab. Das Abschlachten von ca. 1.400 Zivilisten und Zivilistinnen, ihre Folterungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen (Frauen wurden die Brüste abgeschnitten), das Köpfen von Menschen aller Alter, das Töten von Juden, Arabern, Touristen, Arbeitsmigranten aus Asien, sowie die Entführung Lebender und Schändung Toter zeitigten spontanes Entsetzen und Trauer.“ Entsetzen und Trauer über die realen Opfer bei den einen, daneben aber auch ein „antizipatives Entsetzen und Trauer“ über die Opfer der zu erwartenden israelischen Vergeltungsmaßnahmen bei den anderen – also noch bevor das israelische Militär mit der Bombardierung von Gaza begann. „Antizipatives Entsetzen und Trauer“ sind aber nicht per se unangebracht. Dass die Antwort der Netanjahu-Regierung ziemlich skrupellos ausfallen würde, dass diese das Massaker für ihre politische Agenda instrumentalisieren würde, konnte mensch in der Tat erwarten. Ein Freund und Kollege schrieb mir einige Wochen nach dem Massaker: „Ich war entsetzt (auch ‚öffentlich‘) über den absoluten Zivilisationsbruch der Hamas. Ich hege keinen Zweifel, dass es für Israel notwendig ist, die Hamas militärisch auszuschalten. Aber ich fürchte, die jetzige israelische Regierung tut dies auf eine Art, die über die Gebühr Opfer fordert. Und ich kann mein Mitgefühl nicht selektieren nach der Zugehörigkeit der jeweils unschuldigen Opfer. Ich werde aber zumeist mit öffentlichen Demonstrationen und Stimmungen konfrontiert, bei denen eben genau so selektiert wird. Da mag ich mich nicht anschließen.“ Problematisch waren „antizipatives Entsetzen und Trauer“ dann, wenn dadurch das Massaker komplett in den Hintergrund gerückt und verharmlost und der israelischen Regierung das Recht auf eine militärische Reaktion abgesprochen wurde.

Zurück zu Richard Schuberth, der weiter schreibt: Wer den Antisemitismus unserer Zeit, jenen, der keiner sein will, verstehen würde, wisse, dass „die Welt Israel und den Juden auch dieses Massaker nie verzeihen wird. Und wieder werden die Juden aus einem Mord an ihnen nicht gelernt haben, und ihn, als wäre er bestellt, dazu ausnützen, aus der Rolle des schlimmsten Täters der Geschichte (kein Land wurde von der UNO öfter verurteilt) in ihre Opferrolle zurückzuschleichen.“ So würde „der islamistisch etwas fehlgeleitete David einen missglückten Präventiv-Genozid versucht haben, mit dem er den Rache-Genozid durch den hochgerüsteten zionistischen Goliath nicht abwenden konnte.“ Eine beliebte israelkritische Mär laute, dass die Abriegelung des Gazastreifens keine Maßnahme gegen den Hamas-Terror gewesen sei, „sondern dieser die Folge der Abriegelung, die Qassam-Raketen auf Israel also so was wie die zu Stahl geronnenen Tränen des palästinensischen Volkes“.

Religiöser Fanatismus und Judenhass

Auch in differenzierteren Texten, die das Massaker glaubwürdig verurteilen und in denen sich die Kontextualisierung in Grenzen hält bzw. keine Relativierung des Massakers verfolgt, fehlt häufig der Verweis darauf, dass es sich bei der Hamas um eine Organisation handelt, zu deren DNA ein eliminatorischer Antisemitismus gehört – die Vernichtung des jüdischen Staates und jüdischen Lebens in der Region. Es sei denn, dieses unterwirft sich der Herrschaft des Islams.

Gegründet wurde die Hamas im Dezember 1987 von palästinensischen Anhängern der Muslimbruderschaft in Gaza. In ihrer Charta lesen wir, dass das Töten von Juden – nicht nur von jüdischen Bürgern Israels oder Zionisten – zur unbedingten Pflicht jedes Muslims gehöre, Voraussetzung für das Kommen des Jüngsten Gerichts sei. In Artikel 7 zitiert die Hamas ein Hadith zum Endgericht Allahs, wonach „die Steine und Bäume versteckte Juden verraten, damit die Muslime sie alle töten“. In Artikel 13 werden friedliche Lösungen und internationale Konferenzen zur Lösung der Palästina-Frage abgelehnt. Sie würden im Widerspruch zur Ideologie der islamischen Widerstandsbewegung stehen. Der Verzicht auf „auch nur einen Teil Palästina“ sei ein Verzicht „auf einen Teil des Glaubens“.

In Artikel 22 übernimmt die Charta die in Europa entstandene antisemitische Verschwörungstheorie vom Weltjudentum als Tatsache: Die Protokolle der Weisen von Zion seien echt, die Freimaurer, der Lions Club und der Rotary-Club arbeiteten insgeheim „im Interesse der Zionisten“. Die Juden seien für die Französische Revolution, den westlichen Kolonialismus, den Kommunismus und die Weltkriege verantwortlich: „Es gibt keinen Krieg, wo sie nicht ihre Finger im Spiel haben …“

Lassen wir noch den Kopf des Massakers vom 7. Oktober zu Wort kommen, Mohammed Deif, Chef des militärischen Arms der Hamas, der Izz ad-Din al-Quassam Brigaden. 2011 schrieb Deif: „Die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden … sind besser darauf vorbereitet, unseren ausschließlichen Weg fortzusetzen, zu dem es keine Alternative gibt, und das ist der Weg des Dschihad und der Kampf gegen die Feinde der muslimischen Nation und der Menschheit … Wir sagen unseren Feinden: Ihr seid auf dem Weg der Auslöschung (zawal), und Palästina wird uns gehören, einschließlich Al-Quds (Jerusalem), Al-Aqsa (Moschee), seiner Städte und Dörfer vom (Mittelmeer) bis zum (Jordan), von seinem Norden bis zu seinem Süden. Ihr habt kein Recht auf auch nur einen Zentimeter davon.“

Gibt es in der Charta der Hamas auch nur einen einzigen Ansatzpunkt, der Linken eine Solidarität mit dem Kampf und dem Anliegen der Dschihadisten gestattet? Wenn Teile der Linken darauf verzichten, die Hamas als das zu charakterisieren, was sie ist, lässt sich das nur so erklären: Würde man dies tun, dann würde sich jegliche Sympathie mit der Hamas und die Relativierung ihrer Verbrechen verbieten.

Hier gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zum Umgang mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Damals gaben sich viele Linke in Sachen Antisemitismus hochsensibel. Dass es unter den ukrainischen Nationalisten auch Antisemiten gibt, war ein Grund, warum man den von einem ukrainischen Juden angeführten Widerstand gegen Putins Truppen nicht unterstützen mochte. Der Antisemitismus in der Ukraine wurde zu einem großen Thema gemacht. Man folgte mal mehr und mal weniger der Erzählung des Putin-Regimes, das das Nachbarland von Nazis befreien wollte, dessen Außenminister Sergej Lawrow sich dabei allerdings als durchgeknallter Antisemit entpuppte. Dem italienischen TV-Sender Rete4 erzählte Lawrow: „Wie kann es eine Nazifizierung geben, wenn er (der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj) Jude ist? Ich kann mich irren. Aber Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.“ Mit anderen Worten: Die schlimmsten Verbrechen an den Juden wurden von Juden begangen, nicht von „arischen“ Nazis.

Teilweise sind es nun dieselben Akteure, die den jüdischen Israelis ihre Unterstützung gegen eine Horde mordender Antisemiten verweigern. Noch schlimmer: Sie flirten mit deren Mordlust.

Streng getrennt fürs Kalifat

In den folgenden Wochen mischen auch Islamisten bei den Protesten mit. Anfang November marschieren in Essen mehr als 3.000 Männer und Frauen, getrennt in geschlechtermäßiger Apartheid, durch die Stadt, skandieren „Allahu Akbar“ und fordern die Einrichtung eines Kalifats. Laut Essener Polizei riefen auch linke Gruppen zu dieser Demo auf. Der Aufmarsch von Essen zeigt, dass die „Pro-Hamas-Proteste“ nicht nur jüdische Bürger bedrohen. Sie bedrohen auch jene Muslime, die einige Jahre zuvor aus dem Iran und Syrien vor dem Islamischen Staat geflohen sind. Wie auch die Muslime, die Afghanistan wegen der Taliban verlassen haben. Im Tagesspiegel kommentiert die Wissenschaftsjournalistin Farangles Ghafoor: „Sie mussten ihre Heimat verlassen, weil sie von Terroristen verfolgt, gefoltert, erschossen, gar erhängt worden wären. Extremisten haben ihr Land zerstört und Familien auseinandergerissen. Deutschland hat die Schutzsuchenden aufgenommen, ihnen ein neues Zuhause gegeben: Sie wurden zu Deutsch-Afghanen, Deutsch-Syrern, Deutsch-Irakern.“ Nun aber müssten Eingewanderte aus muslimischen Ländern befürchten, auch in Deutschland nicht sicher zu sein. Genau jetzt müsse Deutschland beweisen, „dass das Versprechen vom Einwanderungsland nicht da endet, wo jemandem der Aufenthalt gewährt oder gar die Staatsbürgerschaft verliehen wird. Sondern, dass Muslime hier hergehören, weil ihnen kein anderes Land mehr Heimat sein kann.“ Innere Sicherheit bedeute, dass sie „nie wieder Angst vor Islamisten haben müssen“.

Die überwältigende Mehrheit der hier lebenden muslimischen Migranten, die aus politischen Gründen in die Bundesrepublik kamen, wurde nicht vom Westen vertrieben und ins Elend gestürzt, sondern von Glaubensbrüdern. Welches islamische Land können muslimische Demokraten und Linke noch im politischen Sinne als ihre Heimat bezeichnen?

„Es wird nie wieder ein ‚Wir mit euch‘“

Im Jahr 2023 müssen deutsche Linke also ernsthaft darüber diskutieren, ob Massaker – einschließlich Vergewaltigungen und das Schänden von Leichen – legitime Mittel im Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus sind. 85 Jahre nach der Reichspogromnacht gestatten sich Teile der Linken, unbefangen über einen Massenmord an Juden zu reden. Sind antisemitische Massaker legitim, wenn sie unter der Flagge des Antikolonialismus verübt werden? Sind das die jüngsten Spaltungslinien innerhalb der bundesdeutschen Linken?

Die französisch-israelische Wissenschaftlerin Eva Illouz, Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem und Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique (CESSP) in Paris, fällt in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau ein vernichtendes Urteil über die deutsche und internationale Linke. Diese habe eine „moralisch und intellektuell sehr wichtige Prüfung nicht bestanden“. Die Linke würde sich von diesem Zusammenbruch nicht erholen. Sie habe es versäumt, „das zu tun, was israelische Araber und einige Araber auf der ganzen Welt spontan getan haben: menschliches Mitgefühl und Menschlichkeit zu zeigen“.

In der Wiener Zeitung lässt die Kulturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Beatrice Frasl ihrer Fassungslosigkeit freien Lauf: „Was soll man sagen, wenn Menschen, die sich selbst als ‚progressiv‘ und ‚links‘ bezeichnen, die sich selbst als Antifaschist:innen verstehen (was lustig wäre, wäre es nicht so unfassbar tragisch), dieses Massaker, dieses Pogrom, diesen unbeschreiblichen Ausbruch an Unmenschlichkeit, nicht verurteilen, sondern gutheißen? (…) Was sagt man, wenn Männer, berauscht von Hass, berauscht von einer faschistischen Ideologie und gedoped mit Captagon, massenmorden, massenvergewaltigen, foltern, Menschen bei lebendigem Leibe verstümmeln und verbrennen, Babys enthaupten, Holocaustüberlebende entführen? (…)

Was soll man sagen und mit welchen Worten, wenn Frauen, manche von ihnen eigentlich noch Teenager, eigentlich noch Kinder, Blut zwischen den Beinen hinunterrinnt, wenn sie mit riesigen Blutflecken auf dem Hosenboden und völlig verstörtem, verlorenem Gesichtsausdruck durch Straßen getrieben werden und man nicht wissen möchte, was man eigentlich weiß, nämlich dass das Blut Ergebnis von brutalsten Massenvergewaltigungen ist. Wenn dann Politinfluencerinnen in Wien, Politinfluencerinnen, die noch vor ein paar Tagen irgendetwas mit #meetoo und von Täter-Opfer-Umkehr in ihren Insta-Stories hatten, dieselben Politinfluencerinnen, die tapfere Kämpfe gegen fettfeindliche Flugzeugsitze ausfechten und gegen cultural appropriation durch falsch verwendete Emojis, wenn diese Politinfluencerinnen dann diesen Frauen und allen anderen, die zusehen, ausrichten, dass sie diese Gewalt völlig zurecht trifft. Was soll man sagen, wenn Menschen, die den Holocaust überlebt haben, 75 Jahre später verfolgt, gekidnappt, vertrieben, ermordet werden? Und die Nachkommen der Täter des Holocausts auf den Straßen von Berlin ‚Free Palestine from German guilt‘ schreien.*

Was soll man noch und in welchen Worten sagen angesichts dieser Verrohung, dieser Unmenschlichkeit? Es gibt keine Worte in der deutschen Sprache, die groß und absolut genug wären, um diese Abgründe zu beschreiben.

Nichts davon vergessen wir. Wir werden eure ‚This is decolonization‘-Posts nicht vergessen. Es wird nie wieder ein Wir mit euch. Es gibt keinen Weg zurück von hier. Die Grenzenlosigkeit eurer moralischen Verwahrlosung ist nicht zu fassen: Die eurer Dummheit auch nicht. Nach dem 7. Oktober 2023 wird nichts mehr sein, wie es davor war.“

„Wir fühlen uns ziemlich allein“

Avi Rybnicki ist Psychoanalytiker und lebt und praktiziert in Tel Aviv. Rybnicki ist unter anderem Mitbegründer der Initiative NLS Wien sowie des Forums Zadig Wien, eines internationalen Netzwerks gegen Ausgrenzung. Geschockt von den Reaktionen auf das Massaker, verfasst er einen offenen Brief an die europäische Linke:

„Liebe Genossinnen und Genossen von der Europäischen ‚Linken‘!

Diese Zeilen sind nicht das Ergebnis einer gut durchdachten intellektuellen Analyse, sondern von Nächten mit sehr wenig Schlaf, heftigen Emotionen der Trauer, Traurigkeit, Wut, Frustration, Hilflosigkeit und Sorge darüber, was die nächsten Tage des Krieges mit sich bringen werden.

Ich schreibe Euch, weil Ihr logischerweise auch in diesen Tagen meine Partner sein solltet, Partner im Kampf für eine bessere Welt mit mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und auch – ich wage es, dieses Wort sogar in diesen Tagen zu erwähnen – Frieden.

Ich schreibe auch deshalb, weil ich mich viele Jahre lang geweigert habe, die Überzeugung meiner Eltern, Überlebende von Auschwitz, zu akzeptieren, dass wir Juden in Wahrheit auf uns allein gestellt sind und es niemanden gibt, auf den wir uns verlassen können.

Sie hatten nicht recht. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der Präsident Frankreichs, der deutsche Kanzler und andere kamen und drückten ihre Solidarität aus, ein Teil von ihnen nicht nur mit Worten.

Aber wir, die fortschrittlichen Israelis, wir fühlen uns ziemlich allein.

Wir können gut damit leben, dass wir uns nicht auf unsere Regierung verlassen, weil wir das nie getan haben und eine große Mehrheit der Israelis tut das auch heute nicht. Monat für Monat, Woche für Woche waren und sind wir auf den Straßen Israels zusammen mit hunderttausenden anderen Israelis, um uns der Absicht der Regierung zu widersetzen, in unserem Land ein autoritäres System zu installieren, und wir werden damit fortfahren, sogar mit noch mehr Kraft. Ich verspreche es!

Aber es fällt mir schwer, die Haltung, wie sie in den letzten Tagen von einem Teil der sogenannten fortschrittlichen Kräfte in Europa und den USA artikuliert wird, zu hören. Es hat mich nicht überrascht, ich kenne diese Meinungen über die Jahre zu gut.

Aber dennoch, nach dem blutigen, brutalen, mörderischen Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten im Süden Israels ist es schwerer zu ertragen. Das war ein Gemetzel in der Tradition des Todeskultes des Islamischen Staates.

Ich weiß, Ihr seid dagegen und wenn wir nicht reagieren würden, wärt Ihr ‚empathisch‘ mit uns geblieben, weil Ihr uns als Opfer gernhabt. Aber Ihr mögt es weniger, wenn wir Juden diese historische Rolle ablehnen und reagieren und uns verteidigen.

Sehr schnell relativiert Ihr: Unsere Opfer des Massakers im Süden und das Leiden der palästinensischen Zivilisten in Gaza, als ob Kollateralschäden einer Militäraktion, bei der Zivilisten leiden und auch ihr Leben verlieren – was aber nicht das Ziel ist – dasselbe sei, wie das vorsätzliche Ermorden von Zivilisten, Kindern, Frauen, alten Menschen, Entführen, Foltern, Vergewaltigen, Enthaupten.

Habt Ihr eine andere Idee, wie man die Hamas bekämpfen kann, als dort anzugreifen, wo sie ist und herrscht? Oder erwartet Ihr im Geheimen von uns, dass wir nicht reagieren, was bedeutet, dass wir unser Recht auf Selbstverteidigung verweigern? Fordert Ihr das von jedem anderen Land? Und wenn nicht, was bedeutet das? Dass Ihr unser Recht, ein souveränes Land zu sein, nicht anerkennt? Bitte, ein kleines bisschen intellektuelle Aufrichtigkeit.

Sehr schnell ‚erklärt‘ Ihr: ‚Der Angriff ist das Ergebnis der Besetzung und des Leidens des palästinensischen Volkes.‘ Glaubt Ihr das wirklich? Ich nehme nicht an, dass Ihr an einer mentalen Schwäche leidet. Wisst Ihr wirklich nicht, was die Hamas, der Dschihad, die Hisbollah seit Jahren offen sagen? Dass das Problem die Existenz einer nicht-islamischen jüdischen Einheit in einer islamischen Region ist und die einzige Lösung ihr und unser Verschwinden von hier wäre? Wenn Ihr es wirklich nicht wisst, dann nur, weil Ihr es nicht wissen wollt. Aus welchen Gründen …?

Wir werden weiterhin für unsere Werte kämpfen, auch in diesen Tagen in Israel, was nicht einfach ist, wenn der Hass auf seinem Zenit steht. Aber Ihr begebt Euch mit dieser Haltung in die politische Irrelevanz und schwächt die demokratischen Kräfte in Euren Ländern, in denen die Demokratie auch nicht garantiert ist.“

Was ist noch links?

In Deutschland dokumentiert die Zeitschrift analyse & kritik eine Diskussion, die Arielle Angel für den Podcast On the Nose des linken jüdischen Magazins Jewish Currents moderierte.

Angels Gesprächspartner sind Yair Wallach, Sozial- und Kulturhistoriker an der renommierten SOAS University in London, Sally Abed, aktiv in der arabisch-israelischen Basisbewegung Standing Together, und Michael Sfard, Menschenrechtsanwalt in Israel.

Wallach zur Reaktion der Linken auf das Massaker: „Wenn wir zum Morgen des 7. Oktobers zurückgehen, gab es Menschen, die den Angriff als emanzipatorisches Ereignis feierten. Auch wenn man bei einigen der anfänglichen Bilder, etwa vom Niederreißen des Zaunes, verstehen kann, woher diese Reaktion kam, hätte jeder vernünftige Mensch zu diesem Zeitpunkt zumindest vorsichtig sein müssen. Und es dauerte nicht lange, bis klar war, dass wir es hier mit einem Ausmaß an Gewalt zu tun haben, das wir gegenüber jüdischen israelischen Zivilist*innen seit langem nicht gesehen haben. Ich halte diesen Jubel für eine Offenbarung, denn er zeigt, was diese Leute glauben und welches Modell der Dekolonialisierung sie für akzeptabel halten. (…) Für mich hat es auch gezeigt, wie schwach und zerbrechlich das ganze Konzept des Anti-Apartheid-Kampfes bei vielen war, die den Begriff verwendet haben.“

Es sei nicht nur ein Regime, für dessen Abschaffung sie eintreten würden, „sondern sie sind einverstanden oder nehmen zumindest in Kauf, dass, wenn dies Massenmord an Israelis beinhaltet, es eben so ist. Ein Anti-Apartheid-Kampf kann so aber nicht stattfinden, denn so wird man die israelische Gesellschaft nicht überzeugen, auch nur ein bisschen Hegemonie aufzugeben. Das ist aber die Voraussetzung, außer man besiegt Israel vollständig.“

Für Sally Abed sind die globale pro-palästinensische und post-kolonialistische Bewegung „extrem akademisch und theoretisch und weit entfernt von unserem tatsächlichen Leben“. Pro-palästinensische Bewegungen in den USA würden sie zum Beispiel fragen: „Warum benutzt ihr nicht konsequent das Wort Apartheid? Warum identifiziert ihr euch nicht als antizionistische Bewegung?“