20. Juli - Bernhard Schlink - E-Book

20. Juli E-Book

Bernhard Schlink

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Beschreibung

Ihr letzter Schultag fällt auf den 20. Juli. Am Vortag hat die Deutsche Aktion mit ihrem charismatischen jungen Führer bei der Landtagswahl 37 Prozent bekommen. Im Leistungskurs Geschichte entbrennt unter den Abiturienten und ihrem Lehrer eine hitzige Diskussion. Das Attentat auf Hitler kam am 20. Juli 1944 viel zu spät. Es hätte am 20. Juli 1931 begangen werden müssen. Was ist daraus zu lernen? Zuwarten oder eingreifen? Saubere Hände behalten oder schmutzige riskieren?

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Bernhard Schlink

20. Juli

Ein Zeitstück

Diogenes

20. Juli

Personen

fünf Abiturienten
ESTHER  18 JahreFABIAN  18 JahreMARIA  20 JahreNIKLAS  21 JahrePAUL  22 Jahre
ULRICH GERTZ  33 Jahreihr LehrerDER ALTE  72 JahreGroßvater von FabianRUDOLF PETERS  34 JahrePolitiker der Deutschen Aktion

Szene 1.1

Fünf Stühle, die Lehnen dem Publikum zugewandt, dahinter, den Sitz dem Publikum zugewandt, ein einzelner Stuhl – ein Klassenzimmer. Die Schüler und Schülerinnen Esther, Fabian, Maria, Niklas und Paul stehen beisammen und sind im Gespräch. Am Rand der Bühne steht Peters, ein attraktiver deutscher Kennedy in Jeans, offenem Hemd und Jackett; er ist während des ganzen Stücks dabei, stehend, auf und ab gehend, beobachtend, mal amüsiert, mal verwundert, mal irritiert, und wenn von ihm die Rede ist, springt er ein und spricht.

ESTHER

37 Prozent für die Deutsche Aktion, 37 Prozent! Hätte einer von euch das für möglich gehalten?

NIKLAS

Ich habe schon vor Wochen gesagt, dass die DA die Landtagswahl gewinnt.

ESTHER

Aber nicht so. Nicht vor der CDU mit 21 Prozent, Linken und Grünen mit 16 und 13 und SPD mit 7.

NIKLAS

Und dass wir eine Koalition von DA und CDU kriegen, hätte auch ich mir nicht träumen lassen. Nur weil die DA der CDU den Posten des Ministerpräsidenten lässt, der große Koalitionspartner dem kleinen, und Carsten bleiben darf.

FABIAN

Das war Peters. Er hat Carsten in die Koalition gelockt. Er imitiert Peters. »Im Dienst an Deutschland …«

PETERS tritt vor

Im Dienst an Deutschland kennen wir nicht große und kleine Partner, nur Partner und Gegner, und unter Partnern macht jeder, was er gut kann. Herr Carsten, Sie können Ministerpräsident, mit uns können Sie es noch besser. Peters geht wieder an den Rand der Bühne.

NIKLAS

Klingt gut – die Leute mögen das. Als gehe es ihm nicht um Posten, sondern um die Sache.

FABIAN

Es geht ihm um die Sache. Seine Sache ist der Bund, das Land ist ihm egal. Nach diesem Wahlkampf und diesem Wahlsieg wird er beim nächsten Bundesparteitag Bundesvorsitzender und Spitzenkandidat, und bei der nächsten Bundestagswahl ist die Wirtschaft weiter geschrumpft und die Arbeitslosigkeit weiter gewachsen und sind wir mitten in der Rezession und bringt er die DA mindestens gleichauf mit der CDU / CSU.

PAUL

Ich habe ihn im Interview gesehen. Der Mann ist gut – nach Bedarf ernst, witzig, dramatisch, ironisch und immer schlagfertig. Den Nazi-Jargon der DA hat er der Journalistin so beiläufig gefüttert, dass die sich gar nicht mehr empörte.

ESTHER

Ich mochte am Abend nicht mehr fernsehen.

FABIAN

Die deutsche Fox, unser neuer Sender, hat gestern ein Porträt von Peters gebracht. Wusstet ihr, dass Rudolf Peters ein Ururenkel von Carl Peters sein soll, dem Begründer von Deutsch-Ostafrika? Er kann für seinen rassistischen und kolonialistischen Ururgroßvater nichts, aber ist es nicht hübsch?

ESTHER

Hübsch?

FABIAN

Er war bei der Bundeswehr und ist Leutnant geworden, hat Grundschullehrer studiert und war, so hieß es, ein erfolgreicher Lehrer an einer dieser failed schools in Kreuzberg. Wie er zu den Rechten und zur Deutschen Aktion fand, ist ein Geheimnis – oder sie machen eines draus. Er tauchte auf dem Landesparteitag der DA wie aus dem Nichts auf, ein heller Komet am Nachthimmel, und hielt eine Rede, wie man bei der DA noch keine gehört hatte. Die Delegierten haben gejubelt und ihn gegen alle vorherigen Absprachen zum Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten gekürt. Die Delegierten werden auch beim Bundesparteitag jubeln.

NIKLAS

Es war schon übel, als alle Rechten Dumpfbacken waren. Dann gab’s auf einmal rechte Intellektuelle …

FABIAN

… die sich links nicht mehr wichtigmachen konnten …

NIKLAS zuckt die Schultern

… und es wurde schlimmer. Immerhin machten sie nichts her und blieben unter sich. Jetzt haben wir einen Rechten mit Charisma, und es ist richtig übel.

FABIAN

Statt der bräsigen alten Säcke und schrillen Weiber …

MARIA

Schrille Weiber?

FABIAN

Weibliche Schreihälse, männliche Schreihälse, bräsige alte Säcke – was von der DA derzeit in den Parlamenten sitzt, sind Jammergestalten, die in den anderen Parteien nichts geworden sind. Statt ihrer kriegen wir jetzt junge Leute, gescheit, opportunistisch, skrupellos, ehrgeizig. Nirgendwo macht man so schnell und steil politische Karriere wie bei der DA. Und Peters ist das Vorbild.

ESTHER

Als ich mir in Leipzig die Uni angeschaut habe, bin ich auf dem Rückweg zum Bahnhof in eine Demonstration mit ihm geraten. Bei ihm klingt das alles nicht mehr gestrig: Festung Europa, Europa der Nationen, deutsche Sprache, deutscher Boden, deutsche Art, keine Kopftücher, keine Minarette. Und er redet von einer neuen Demokratie, in der nicht nur alle vier Jahre gewählt wird, sondern in der die, die Verantwortung tragen, mit denen, für die sie sie tragen, über Versammlungen, Kundgebungen, Abstimmungen in ständigem Kontakt stehen. Hat er auf der Pressekonferenz auch wieder von Russland geredet?

FABIAN

Von unseren russischen, polnischen, ungarischen und österreichischen Freunden. Mit denen wir das neue Europa, die neue Demokratie bauen und es mit der amerikanischen und der chinesischen Herausforderung aufnehmen.

NIKLAS

Ja, so redet er.

FABIAN

Es ist das neue Modell. Ein starker Führer und ein Volk, das gelegentlich Beifall klatschen darf. Die Chinesen, die Russen, die Polen, die Ungarn haben es, Amerika ist noch mal dran vorbeigeschrammt – bis zum nächsten Trump. Mit Peters wird es das Modell für Deutschland.

Szene 1.2

Der Lehrer Ulrich Gertz, groß, schlank, sportlich, gutaussehend, kommt rein, legt seine Mappe neben seinen Stuhl. Die Schüler und Schülerinnen setzen sich.

GERTZ

Das ist die letzte Stunde, bevor Sie die Schule mit dem Abitur verlassen. Zwei Jahre lang haben wir zusammengearbeitet. Sie waren mein erster Leistungskurs Geschichte, Sie waren, vielleicht weil ein paar von Ihnen schon älter sind, besonders interessiert und engagiert, es hat mir mit Ihnen Spaß gemacht, und ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme. Wir haben uns lange mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, und der Zufall will, dass die letzte Stunde auf den 20. Juli fällt.

NIKLAS

In der Geschichte gibt es keine Zufälle. Haben Sie das nicht gesagt?

GERTZ lacht

Dann erklären Sie’s mir. Warum fällt die letzte Stunde auf den 20. Juli?

FABIAN ironisch

Damit Sie uns zum Abschied noch mal daran erinnern können, dass wir uns für das Gute einsetzen und dem Bösen widerstehen sollen, wie Graf von Stauffenberg.

PAUL ebenfalls ironisch

Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben.

ESTHER

Warum die Ironie?

FABIAN

Weil es hier nichts zu lernen gibt. Das ganze letzte Jahr haben wir über den Nationalsozialismus geredet, über Hitlers willige Schergen, über die verhetzten und verblendeten Mitläufer, über die, die etwas hätten ändern können, aber zu feige waren. Und über die Lichtgestalten des Widerstands, die uns Vorbild und Ansporn sein sollen. Von denen wir lernen sollen. Stauffenberg, Moltke, Schlabrendorff, Schulze-Boysen, Harnack, Elser, die Geschwister Scholl – die lange Liste. Was haben sie erreicht? Nichts. Von ihnen lernen? Loser werden wie sie?

ESTHER

Loser? Ist das dein Ernst? Warum kommst du damit erst jetzt?

FABIAN

Ich wollte es mit ihm er zeigt mit dem Kopf zu Gertz nicht verderben. Er mag mich nicht. Er mag die Lichtgestalten.

ESTHER

Die Loser haben mit dem Leben bezahlt.

PAUL

Na und? Jeden Tag bezahlen Menschen auf den Straßen mit dem Leben. Menschen, die nichts Böses wollen, nur Gutes: zur Arbeit fahren, nach Hause kommen, die Kinder abholen, die Eltern besuchen. Mit dem Leben bezahlen beweist gar nichts.

GERTZ

Was beweist was?

PAUL von Gertz’ Frage genervt

Was beweist was? Herr Gertz, die Frage ist, ob der Umstand, dass jemand mit dem Leben bezahlt, den Wert dessen beweist, wofür er mit dem Leben bezahlt.

Alle sehen Gertz an und warten auf seine Antwort.

GERTZ langsam

Dass der Widerstand richtig war, brauchte nicht den Preis des Lebens als Beweis. Ob die Männer und Frauen des Widerstands hingerichtet wurden oder überlebt haben – sie haben das Richtige getan. Es geht beim Opfer des Lebens nicht um einen Beweis, eher um eine Beglaubigung. Die Beglaubigung, dass der aufrechte Gang, die moralische Integrität, die menschliche Würde wichtiger sind als alles andere. Deshalb achten wir die Widerständler.

FABIAN

Ich hätte Achtung vor ihnen, wenn ihr Widerstand was gebracht hätte. Wenn Stauffenberg nicht gegangen wäre und darauf vertraut hätte, es werde schon klappen, sondern mit der Bombe bei Hitler geblieben und mit der Bombe und Hitler hochgegangen wäre. Wenn Elser nicht einen Zeitzünder benutzt, sondern sein Leben drangegeben, sich im Gebäude versteckt und selbst die Bombe gezündet hätte. Aber was soll’s – Stauffenbergs Erfolg wäre ohnehin zu spät gekommen. Zu spät für Millionen Juden, Polen, Russen – und Deutsche. Und wenn Elser Erfolg gehabt hätte, hätten Göring und Goebbels und die Wehrmacht vermutlich auch ohne Hitler Krieg angefangen.

GERTZ

Wir dürfen die Bedeutung der Gesten des Widerstands nicht unterschätzen. Wir könnten die Jahre von 1933 bis 1945 nicht in unsere Geschichte integrieren, wenn es nicht die Gesten des Widerstands gegeben hätte, kluges und mutiges Handeln unter Einsatz des Lebens. Erfolg ist nicht alles.

PAUL

Gut gemeint ist auch daneben. Die gute Absicht genügt bei Kindern. Erwachsene müssen’s bringen.

NIKLAS

Die Jahre von 1933 bis 1945 in unsere Geschichte integrieren? Mich interessiert doch nicht, wie sich unsere Geschichte gefällig schreiben lässt. Mich interessiert, was war und warum es so war und wie es anders und besser hätte laufen können. Damit ich weiß, wie es heute anders und besser laufen kann. Was ich anders und besser machen kann. Warum sollen wir uns sonst mit Geschichte beschäftigen?

FABIAN

Aus der Geschichte lernen – haben Sie uns das nicht ständig gepredigt?

ESTHER

Wenn schon Elser zu spät dran war und Stauffenberg erst recht – wann hätte das Attentat passieren müssen? Am 20. Juli 1933?

GERTZ

Hitler umzubringen war nicht die einzige Geste des Widerstands, die Wert hatte. Aber wenn Sie schon fragen …

MARIA unterbricht

Der aufrechte Gang, Zivilcourage, Widerstand – alles, wovon Sie immer geredet haben, sind nur Gesten?

GERTZ zunächst unsicher, ob er Esther oder Maria antworten soll, wendet sich dann, weil ihm die Antwort leichter fällt, Esther zu

Nach der Machtergreifung war Hitler so abgeschirmt, dass ein Attentat praktisch unmöglich war. Der Attentäter hätte zu seiner Entourage gehören müssen, und die bestand aus den Getreusten der Getreuen. Also kein Attentat am 20. Juli 1933. Am 20. Juli 1932 … Er überlegt.

NIKLAS

Am 20. Juli 1932 standen die Reichstagswahlen bevor, und Hitler flog von Rede zu Rede und sprach vor Zehntausenden. Auch am 20. Juli 1932 hätte man ihn nicht mehr erschießen können. Am 20. Juli 1931 war Hitler in Franken und hat Reden zum Young-Plan und zum Hoover-Plan gehalten, noch nicht vor Tausenden, sondern noch vor Hunderten.

GERTZ mit erstaunter Bewunderung

Sie kennen sich aber aus! Ja, am 20. Juli 1931 gab es noch eine Chance. Nach den Reden wird Hitler auf der Straße oder im Hotel nicht so gesichert gewesen sein, dass man ihn nicht hätte erschießen können. Man wäre gefasst und vor Gericht gestellt oder gleich von seinen Anhängern erschlagen worden. Aber danach haben Sie nicht gefragt.

FABIAN

Also hätte man am 20. Juli 1931 handeln müssen. Hätten Sie es getan?

GERTZ

Was ist denn das für eine Frage!

FABIAN

Eine einfache Frage. Hätten Sie Hitler am 20. Juli 1931 erschossen, wenn Sie gekonnt hätten?

GERTZ schweigt lange, spricht schließlich zögernd

Das ist eine schwierige Frage. Man bringt nicht so einfach jemand um. Und man hat damals doch noch gar nicht gewusst …

FABIAN

Nehmen Sie an, Sie hätten gewusst, was kommen würde.

GERTZ