2057 - Ruth Kornberger - E-Book

2057 E-Book

Ruth Kornberger

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Beschreibung

Kurzgeschichten: Im Jahr 2057 gehören Datenbrillen, genannt "Reality Shields", zum Alltag der Menschen. Sie erweitern das Gedächtnis und verwalten Wünsche und Erinnerungen. Doch die Technik hat ihre Tücken. Wer die Brillen tauscht oder manipuliert, driftet durch fremde Existenzen, verliert einen Teil seiner Vergangenheit oder sogar den eigenen Ehemann ... INHALT - »Wenn du schreist« (2. Platz beim 22. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb, 2017) - »Die erste Liebe - zu schön, um sie nur einmal zu erleben« - »Null« + Bonusgeschichte »Wären wir alt« (3. Platz beim Literaturpreis der Räuber `77, 2013)

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2057

Wenn du schreistDie erste Liebe - zu schön, um sie nur einmal zu erlebenNullWären wir altImpressum

Wenn du schreist

8.4.2057, das Datum prangt in rosa Ziffern auf dem handgeschöpften Papier. Meine ältere Tochter hat mir die Hochzeitseinladung bei ihrem letzten Besuch persönlich überreicht, und ich bewahre sie in einer Schublade der Anrichte auf, damit die Tinte aus Rote-Bete-Saft nicht verblasst. Jeden Morgen nehme ich die Karte heraus, fahre mit den Fingern über die Zeilen, die Hannah mit einem Gänsekiel verfasst hat, und lege meine Wange auf den Kussabdruck neben ihrer Unterschrift. Trotz der Liebe, die aus der Karte spricht, ist mir, als berühre ich einen Grabstein.

Deine Kleidung von der Stange zu räumen, fiel mir nicht schwer. Hannah hat alles genommen. In dem Offline-Dorf, in dem sie lebt, ist nur Selbstgemachtes und Gebrauchtes erlaubt. Darum besitzt jede Familie eine Scheune voll Kram, der irgendwann einmal nützlich werden könnte.

Du und ich waren Minimalisten, wie alle Digitalos. Unser Besitz passte in zwei Koffer. Bei jedem materiellen Wunsch prüft der Algorithmus, ob die Ware uns nachhaltig Freude machen wird. Kommt er zu einem positiven Ergebnis, wird geordert. Dafür müssen wir nicht einmal etwas sagen. Mussten. Nein, müssen. Du kannst immer noch sprechen, wenn auch mit meinem Mund. Aber Wünsche hast du keine mehr. Wünsche brauchen eine Zukunft, und du hast nur noch eine Vergangenheit. Doch die ist in guter Qualität erhalten. Ich zog dir das Reality Shield von den Augen, als du meine Hand dreimal drücktest. Man darf nicht warten, bis die letzte Energie aus dem Körper gewichen ist. Seitdem trage ich dein Shield Tag und Nacht. Wenn ich mein eigenes benutze, schiebe ich deines auf den Hinterkopf und laufe wie ein doppelgesichtiger Dämon herum. Nach deinem Tod riet man mir, Pausen einzulegen, damit dein Shield sich langsam entlädt und ich mich verabschieden kann. Aber dazu werde ich noch früh genug gezwungen. Heute ist der 6. April. Mir bleiben nur noch zwei Tage mit dir. Ich werde sie für einen Retro-Trip nutzen.

Mit einer Schachtel Energieriegel und zwei Wasserflaschen setze ich mich in das Luftkissensofa. Du hast in deinem Shield aufgeräumt, die Jahre deiner ersten Ehe belegen kaum Speicherplatz. Trotzdem warten noch viele Erinnerungen, die ich nicht teile.

Ich wähle einen Segeltörn und kreuze mit Malte vor der holländischen Küste. Zweimal lasse ich mich nachts unter Deck von den Wellen in den Schlaf schaukeln. Malte hat eine Flasche Genever dabei. Nach dem ersten Schluck schüttele ich mich, schmecke aber nichts. Die Sensorikerfassung war damals noch nicht voll entwickelt. Als Sturm aufzieht, klingelt es an der Tür. Meine jüngere Tochter ist gekommen, um mich abzuholen. »Habe ich dich aufgeweckt?«, fragt Ina. Dann bemerkt sie deinen Shield. »Die sind im Dorf verboten.«

»Weiß ich. Mach dir keine Sorgen. Ich schaff das schon.«

Die Shields ziehen ihre Energie aus den elektrischen Strömen der Hirnaktivitäten, und weil sie individuell angepasst sind, kann niemand sie so effizient laden wie der Besitzer. Der Akku deines Shields hält, weil ich nur vier Stunden täglich schlafe. Wenn ich es für einen ganzen Tag abnehme, wird sich der Akku leeren und dann wird der Speicher gelöscht.

Aber ich habe mir vorgenommen, diese Hochzeit mitzufeiern. Ich ziehe mich um, und Inas Auto bringt uns zu dem Treffpunkt, an dem die Kutschen warten. Aus einer davon winkt meine Enkelin Zora.

 »Oma, ich hab dir einen Platz frei gehalten!« 

 Ihre blonden Haare sind zu einem Bob geschnitten.

 »Neue Frisur?«, frage ich.

»Damit ich morgens schneller fertig bin. Ich komme doch nächsten Monat in die Schule.«

 »Bist du aufgeregt?«

»Nö. Du hast das ja auch geschafft.«

 »Stimmt.« 

»Und Mama sagt, in meiner Schule ist es wie in deiner früher.«

 »Alle Sechsjährigen lernen dasselbe.«

 »Wie denn sonst?«

 Ich schweige. Offenbar möchte Hannah ihrer Tochter nichts über die Welt außerhalb des Dorfes erzählen. Dabei war Hannah ein glückliches Kind. Die Algorithmen identifizierten sie schon früh als mathematisch begabt und reservierten für sie einen Platz in einer Spezialklasse. Dort fand sie Gleichgesinnte, lachte über mir unverständliche Witze und entdeckte Logikfehler in Science-Fiction-Filmen. Nicht ein einziges Mal kam sie weinend nach Hause, weil Mädchen mit Glitzerturnschuhen sie auslachten oder ein Junge sie wie Luft behandelte. Mit sechzehn Jahren schrieb sie sich für Biochemie ein und löste noch vor ihrem Abschluss das Trinkwasserproblem der Dritten Welt. Mit zwanzig lernte sie einen Schafhirten kennen, warf alle Pläne über Bord und zog mit ihm in die Einöde.

»Entschuldigung.« Jemand tippt mir auf die Schulter. »Wir kennen uns doch.«

Ich drehe mich um. Auf der hinteren Bank sitzt ein Herr in meinem Alter. Sein unregelmäßig gestrickter Pullover verrät ihn als Dorfbewohner. Auf seiner Nasenspitze klemmt eine Brille, und ich meine nicht etwa eine Datenbrille, sondern eins von den ganz alten Drahtgestellen mit geschliffenen Gläsern. Selbst unter den Greisen des Dorfes benutzt so etwas niemand mehr. Permanente Kontaktlinsen sind als medizinische Hilfsmittel erlaubt. Aber dieser Herr war offenbar auf einem Ausflug in meine Welt und trägt die Brille als Ausdruck seiner extremen Rückwärtsgewandtheit.

»Ich erinnere mich nicht an Sie«, sage ich.

Würden Sie ein Shield tragen, wüssten Sie, wer ich bin und wo wir uns zum ersten Mal trafen. Sie könnten abrufen, worum es bei unserer letzten Unterhaltung ging, und vorbei wäre das peinliche Schweigen.

»Spielen Sie Tennis?«, fragt der Herr.

Ganz kalt. Ohne technische Unterstützung werden wir keine Gemeinsamkeiten finden. Mein Shield ist zwar eines der neuesten Generation und an die Universaldatenbank angeschlossen, aber um Berührungspunkte zu identifizieren, müsste auch der Herr eines besitzen.

Seit Einführung der neuen Shields ist die Anzahl der Kriege auf der Erde zurückgegangen. Verfeindete Diktatoren entdecken, dass ihre Nannys Schwestern waren, und Soldaten greifen nicht mehr an, weil ihnen die Partnervermittlungsfunktion in der gegnerischen Armee ein hundertprozentiges Match anzeigt. Im Supermarkt erfahre ich, für welchen Anlass andere Damen Schokoladenstapel in den Einkaufswagen wuchten. Jetzt weiß ich, dass jede Religion ein Fest hat, zu dem man seine Enkel mit Süßigkeiten überschüttet. Indem wir auf solche Ähnlichkeiten hingewiesen werden, rücken wir zusammen. Nun ja, zumindest der fortschrittliche Teil der Menschheit.

»Ich bin unsportlich«, sage ich und drehe mich wieder um.

 Am Horizont tauchen die Pappeln auf, hinter denen das Dorf liegt. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Doch Zora hat eine Frage.

 »Warum hast du zwei von den durchsichtigen Augenbinden?«

 »Die heißen Shields«, sage ich. »Und das vordere ist von deinem Opa. Ich kann damit er sein.«

 Zora klatscht in die Hände. »Zeig!«

 Also schalte ich den Unterhaltungsassistenten an. Dabei lauscht das Shield einem Gesprächspartner und schlägt individuell zugeschnittene Antworten vor. Mir gibt die Funktion das Gefühl, berechenbar und langweilig zu sein, aber du spieltest gern damit herum. 

»Erzähl, wie es zu Hause geht«, sage ich zu Zora.