Die Spur der Bambusbären - Ruth Kornberger - E-Book

Die Spur der Bambusbären E-Book

Ruth Kornberger

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Beschreibung

In einer Zeit, in der Pandabären noch als Fabelwesen galten, macht sich eine New Yorkerin auf den Weg, der Welt das erste lebende Exemplar zu präsentieren

New York, 1936: Ruth Harkness, ein absolutes Glamourgirl ihrer Zeit, beschließt nach dem Tod ihrer großen Liebe Bill, seine Reise fortzusetzen und die sagenumwobenen chinesischen Pandabären mit eigenen Augen zu sehen. Ihr gelingt, was kaum jemand für möglich hielt: Nach einer langen und beschwerlichen Reise bringt sie den ersten Pandabären in die USA. Die Sensation ist riesig, alle wollen Su Lin sehen, und auch Ruth ist in jeder Zeitung. Doch schnell merkt sie, dass ihr die Situation zu entgleiten droht. Denn nun ist die ganze Welt im Pandafieber – und nicht alle haben das Wohl der Tiere im Sinn.

In ihrem neuen Roman zeichnet Ruth Kornberger das Porträt einer Frau, die zerrissen war zwischen zwei Welten, die das Rampenlicht suchte und zeitgleich die Natur in all ihrer Pracht zeigen wollte. Und die damit den Grundstein gelegt hat dafür, wie sich der Mensch die verborgenen Geheimnisse der Natur zu eigen gemacht hat.

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2025

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In einer Zeit, in der Pandabären noch als Fabelwesen galten, macht sich eine New Yorkerin auf den Weg, der Welt das erste lebende Exemplar zu präsentieren

New York, 1936: Ruth Harkness, ein absolutes Glamourgirl ihrer Zeit, beschließt nach dem Tod ihrer großen Liebe Bill, seine Reise fortzusetzen und die sagenumwobenen chinesischen Pandabären mit eigenen Augen zu sehen. Ihr gelingt, was kaum jemand für möglich hielt: Nach einer langen und beschwerlichen Reise bringt sie den ersten Pandabären in die USA. Die Sensation ist riesig, alle wollen Su Lin sehen, und auch Ruth ist in jeder Zeitung. Doch schnell merkt sie, dass ihr die Situation zu entgleiten droht. Denn nun ist die ganze Welt im Pandafieber – und nicht alle haben das Wohl der Tiere im Sinn.

In ihrem neuen Roman zeichnet Ruth Kornberger das Porträt einer Frau, die zerrissen war zwischen zwei Welten, die das Rampenlicht suchte und zugleich die Natur in all ihrer Pracht zeigen wollte. Und die damit den Grundstein gelegt hat dafür, wie sich der Mensch die verborgenen Geheimnisse der Natur zu eigen gemacht hat.

Ruth Kornberger wurde 1980 in Bremen geboren, liebt Schiffe und Geschichten über Abenteurerinnen. Mit ihrer Familie lebt sie in Weinheim. Sie ist Mitglied der Autorenkollektive Junge Literatur Mannheim und Qindie; ihre Kurzgeschichten sind in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen. Mit ihrem ersten Roman Frau Merian und die Wunder der Welt gelang ihr auf Anhieb der Einstieg in die SPIEGEL-Bestsellerliste. 2022 erschien ihr zweiter Roman Die Symphonie der Sterne.

www.cbertelsmann.de

RUTH KORNBERGER

Die

Spur

der

Bambusbären

ROMAN

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Copyright © 2025 by C. Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.

Redaktion: Susann Harring

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagabbildungen: © Look and Learn / Bridgeman Images; © Obbchao / shutterstock; © akram ahmed karam / shutterstock

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28324-7V002

www.cbertelsmann.de

Prolog

New York, Juni 1934

Ruth stand am Schlafzimmerfenster ihres Appartements im fünften Stock und hielt mit ausgestrecktem Arm den Deckel eines Schuhkartons ins Freie. Aus dem Wohnungsflur hörte sie Bill rufen.

»Zieh einfach das Erstbeste an, Liebling! Für den Zoo musst du dich nicht herausputzen.«

Damit lag ihr Bill gleich doppelt falsch. Erstens war Ruth längst ausgehfein – etwas Schönes im Schrank zu finden, gelang ihr mühelos, manchmal träumte sie sogar von neuen Kombinationen. Zweitens musste sie sich immer herausputzen, denn welche New Yorkerin würde sonst Kleider von ihr entwerfen lassen?

Aber antworten konnte Ruth gerade nicht. Im Kartondeckel lagen Sonnenblumenkerne. Tief unter Ruth wuselten Menschen über die Gehwege der 18th Street, geschäftig, aber nicht ganz so eilig wie sonst. Es war Sonntag und der erste warme Tag des Jahres, zehn Uhr morgens. In der Saint Peter’s Church begann gerade die Messe, und gleich musste die Taube kommen. Wie es dem Vogel gelang, Tag für Tag pünktlich zu sein, wusste Ruth nicht. Aber für eine Art, die über Hunderte Meilen nach Hause zurückfand, war das wohl eine Kleinigkeit. Schwierigkeiten bereitete der Taube nur das Landen. Die Ärmste hatte verstümmelte Krallen. Da kam sie schon! Sie steuerte Ruth an, stürzte flatternd auf den Deckel, kippte nach vorn, richtete sich mit dem Schnabel auf und balancierte mit gespreizten Beinen auf dem glatten Karton. Mit ihren versehrten Füßen fand sie schlecht Halt und konnte sich nicht an Äste klammern. Oft saß sie auf dem flachen Dach gegenüber. Die Federn an ihrem Hals leuchteten grün und violett.

»Guten Morgen, Schönheit«, sagte Ruth.

Die Taube schüttelte sich, ordnete ihre Flügel und begann, die Kerne aufzupicken. Zufrieden beobachtete Ruth sie dabei. Bis die erste Fütterung gelungen war, hatte es vieler Versuche bedurft, aber sowohl Ruth als auch das Tier waren unermüdlich gewesen. Bill hatte all das verpasst, weil er auf Komodo Warane gejagt hatte, gelbzüngige Monster, die sie heute besuchen wollten. Die Taube war satt. Mit schief gelegtem Kopf beäugte sie Ruth. Ob sie sich irgendwann berühren ließe? Schon als kleines Kind hatte Ruth Tiere geliebt und beim Abendessen heimlich Käsestückchen aufgespart, um damit die Mäusefamilie anzulocken, die hinter der Wandverkleidung ihres Zimmers gelebt hatte.

»Braves Täubchen«, sagte Ruth. »Nun flieg zurück und bau an deinem Nest. Ich muss zu den Drachen.«

Den Waranen ging es sichtlich gut. Als Ruth und Bill die Gehege im Bronx Zoo erreichten, wurde das Männchen gerade gefüttert. Wegen seines aggressiven Verhaltens lebte es allein. Gierig schnappte es sich einen Brocken von etwas Blutigem, das ein Pfleger mit einer Stange durch die Stäbe des Zauns schob, schleppte es in eine Ecke, schlug es mit kräftigen Kopfbewegungen auf den Boden und verschlang es in einem Stück.

»Holla!«, rief Bill.

Seine jungenhafte Begeisterung rührte Ruth, aber der Anblick des Tieres jagte ihr Schauer über den Rücken. Die spitzen Zähne, die scharfen Klauen und der lange, schuppige Körper mit dem peitschenden Schwanz waren Stoff für Albträume.

Der Pfleger verfolgte das Spektakel ebenfalls.

»Was gebt ihr ihnen?«, fragte Bill.

»Heute Hühnchen.« Der Mann wischte seine Hände an einem Tuch ab. »Aber bis jetzt haben sie alles gefressen, was ich ihnen angeboten habe. Hervorragende Verwerter sind das. Geflügel können die fast komplett umsetzen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Ruth.

»Na ja, wir wiegen das Futter ab und dann, äh …«

Offenbar hielt er Ruth für zu fein, um unappetitliche Details verkraften zu können. Zu einem Kostüm trug sie weiße Handschuhe und einen Hut mit Spitzenschleier. Letzterer hielt die Fliegen auf Abstand, von denen es hier viele gab, denn neben ihrer Liebe für Mode besaß Ruth durchaus Sinn fürs Praktische.

»Dann wiegt ihr, was aus dem Tier wieder rauskommt«, beendete Ruth seinen Satz.

»Genau.« Der Pfleger lachte erleichtert. »Der Arzt hat ausgerechnet, das sind nur fünfzehn Prozent.« Er hob einen leeren Eimer auf. »Einen schönen Sonntag noch!«

»Das wünsche ich Ihnen auch.« Ruth hakte Bill unter. »Komm, wir setzen uns dort in den Schatten.«

»Ein guter Bursche«, sagte Bill, nachdem sie auf einer Bank Platz genommen hatten.

Meinte er den Pfleger oder den Drachen?

»Sie sollten den Waranen etwas reinwerfen, das sich bewegt, Kaninchen zum Beispiel. Damit sie ihren Jagdtrieb ausleben können, weißt du? Die Biester haben einen giftigen Biss. Damit können sie Beute erlegen, die größer ist als sie selbst. Sie schnappen einmal zu und warten, bis ihr Opfer stirbt. Den da haben wir mit einer Ziege geködert. Ich wette aber, er würde eine Kuh …«

»Bill!« Ruth war entsetzt. »Wie grausam! Hier kommen Leute mit kleinen Kindern her.«

»Hast ja recht, Liebling. Aber interessant wäre es doch, und die Leute könnten was dabei lernen.« Bill streckte die Beine aus. »He, dein Verlobter hat sich unter Einsatz seines Lebens unter rauchenden Vulkanen durch den Dschungel geschlagen, um das größte Schuppenkriechtier der Erde zu finden. All das, damit die New Yorker mehr über die wilde Natur erfahren, ist es nicht so?«

Neckend hob Ruth die Augenbrauen. »Von welchem Verlobten sprichst du? Ich war so lange allein, ich weiß gar nicht mehr, wer das sein könnte.«

»Dann werde ich dich erinnern.«

Bill legte einen Arm um Ruth, lüpfte den Hutschleier und küsste sie. Sein Schnurrbart kitzelte ihre Nase. Bill roch nach Acqua di Parma. Während er fort gewesen war, hatte Ruth seine Halstücher vom Schrank in eine Schublade geräumt, um den Duft darin länger zu konservieren. Trotzdem waren die Noten von Bergamotte und Zimt im Laufe der Monate verblasst.

Ruth nahm seine Hand. »Du bist ein Held, Bill Harkness.«

Das hatte sie schon bei ihrem ersten Treffen gedacht, er hätte es ihr gar nicht durch mutige Taten beweisen müssen. Einmütig saßen sie eine Weile nebeneinander und beobachteten den Drachen, der mit offenem Maul würgte. Eine Feder erschien zwischen seinen Zähnen, hing dort kurz und wurde erneut verschlungen. Ruth wandte den Blick ab.

»Die Tiere waren das Risiko wert«, sagte sie. »Sie sind nicht sofort gestorben, wie so viele andere Neuzugänge. Ich wünschte nur, sie wären irgendwie … ansprechender.«

Wahrscheinlich fand Bill das oberflächlich. Doch er nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Über etwas Ähnliches wollte ich mit dir reden. Du weißt doch, dass Lawrence mir geschrieben hat?«

Und ob Ruth das wusste. Der Brief lag auf Bills Schreibtisch. Seit Tagen schlich Ruth um ihn herum und widerstand der Versuchung, ihn zu lesen. Bis jetzt hatte Bill ihn nicht erwähnt, sodass Ruth gehofft hatte, er sei nicht von Bedeutung.

Lawrence Griswold war Bills Expeditionspartner gewesen. Sie hatten gemeinsam in Harvard studiert. Jahre später war Lawrence plötzlich in der Stadt erschienen, in schlecht sitzenden Khaki-Hosen und mit einem Schreiben des Bronx Zoos in der Brusttasche seines Hemdes. Das Schreiben versprach eine stattliche Belohnung für lebende Komodo-Drachen. Schon beim ersten Treffen war deutlich geworden, dass Ruth und Lawrence keine Freunde werden würden. Ruth wollte mit Delfinen schwimmen, mit Schimpansen spielen und Papageien kraulen, Lawrence bewunderte Großwildjäger, die Elefanten erlegten, was Ruth einfach nur grausam fand. Töten war doch kein Sport! Außerdem nahm Lawrence ihr Bill weg, zumindest zeitweise.

Früher hatten Ruth und Bill gemeinsam von weiten Reisen geträumt. Viele Abende hatten sie über Atlanten gesessen und mögliche Routen mit den Fingern nachgefahren, magisch angezogen von den weißen Bereichen, die für Gegenden standen, in die noch kein Mensch aus der westlichen Hemisphäre vorgedrungen war. Welche Geheimnisse sich dort wohl verbargen? In den letzten Jahrzehnten waren viele Tierarten erstmals beschrieben worden, zum Beispiel das wundersame Okapi, das eine Kreuzung aus Pferd und Giraffe zu sein schien, oder der majestätische Berggorilla. Expeditionen waren en vogue, spätestens seit der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt Spezies im tropischen Afrika gesammelt hatte. Seiner Gruppe hatte ein legendärer Jäger angehört, ein Scharfschütze, mehrere Naturforscher, ein Chirurg und Roosevelts Sohn Kermit. Dazu kamen örtliche Führer, Träger, Bedienstete und Pferdeknaben. Die unterschiedlichsten Talente wurden gebraucht, aber eins hatten alle Expeditionsteilnehmer gemeinsam, wie Lawrence schonungslos bemerkte: »So was ist nur für Jungs. Sorry, Ruth.«

Nur stimmte das gar nicht mehr. Während Bill in Asien gewesen war, hatte Ruth im Kino die Abenteuer von Martin und Osa Johnson verfolgt. Das Forscher-Ehepaar drehte Filme über seine Touren durch Afrika, und Martin betonte immer wieder, das alles nur mit seiner Gefährtin schaffen zu können. Dort draußen gab es durchaus Platz für Frauen. Allerdings hätte Ruth sich niemals mit Osa verglichen. Weder konnte sie jagen noch fischen oder ein Flugzeug steuern. Eine Modeschöpferin wie sie eignete sich allenfalls für das Ausbessern von Zeltnähten. In Ruths Reisefantasien spielten schöne Hotels eine wesentliche Rolle, und die weißen Bereiche auf den Landkarten würde sie gern in einem Geländewagen mit Chauffeur erkunden. Doch jetzt schilderte Bill ihr eine Gegend ohne Autostraßen. Mit Lawrence und zwei weiteren Gefährten wollte er nach Tibet. Während er davon sprach, hielt es ihn nicht mehr auf der Bank. Er lief vor ihr auf und ab. Der Drache verfolgte Bills Bewegungen mit minimalen Bewegungen seines Kopfes. Als kein weiteres Futter auftauchte, kletterte er auf einen flachen Stein und sonnte sich.

»Das Land überhaupt nur zu erreichen, ist extrem schwer«, sagte Bill. »Aber es lohnt sich, denn weißt du, was es in den Bergen geben soll?« Vor Ruth blieb er stehen. »Bambusbären!«

»Bambus…?«

Ruth verstand nicht, wovon Bill sprach. Meinte er dekorative Schnitzfiguren?

Bill kniete sich vor Ruth. Er wollte wohl sichergehen, dass er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, und da er Khaki trug, sorgte er sich nicht um Schmutz. Von unten sah er Ruth an. Seine Augen funkelten.

»Auch Pandas genannt«, flüsterte er. »Na, wären das ansprechende Tiere?«

Und ob! Lange hatten Pandas in die Welt von Einhörnern und Schneemenschen gehört. Nur wenige Menschen berichteten von Sichtungen. Die chinesische Hutmacherin aus der Nachbarschaft etwa hielt die Tiere für göttliche Erscheinungen, die sich nur ausgewählten Menschen zeigen. Manche Sammler besaßen Felle, aber die konnten ebenso unecht sein wie die mumifizierten Meerjungfrauen, bei denen ein Fischschwanz mit unsauberen Heftstichen an ein Affenpräparat genäht war. Kermit Roosevelt hatte mit seinem Bruder Theodore junior Tausende Tiere von einer asiatischen Expedition mitgebracht, darunter auch zwei ausgestopfte Pandas, die nun im Chicagoer Museum ausgestellt wurden. Einen der Pandas hatten die Brüder angeblich mit gleichzeitigen Schüssen erlegt. Manche von Ruths Bekannten liebten die Geschichte, andere hielten sie für zu gut, um wahr zu sein, und glaubten auch nicht an die Echtheit der Pandas.

»Ein Betrug, wenn Sie mich fragen«, hatte die Hutmacherin aus der Nachbarschaft gesagt. »Das waren Braunbären, die man zum Änderungsschneider gebracht hat. Sie und ich wissen doch, mit Nähzeug und Farbe lässt sich Erstaunliches produzieren.«

Ruth wiegte den Kopf. Sie kannte ja auch nur ein körniges Zeitungsfoto von der Museumsvitrine. Darin standen die Pandas in der Kulisse eines Bambuswäldchens. Wenn das Fälschungen waren, dann jedenfalls sehr schöne. Mit ihren schwarzen Öhrchen und den Ringen um die Augen wirkten die Pandas niedlich wie Micky Mäuse. Man wollte ihr dichtes Fell zausen und wuscheln. Ob sie so verspielt und friedfertig waren, wie sie schienen?

Was für ein Jammer, solche Tiere zu töten und in einer Pose auf ewig einzufrieren! So erfuhr man kaum etwas über sie. Konnten sie auf zwei Beinen gehen wie die westlichen Artgenossen? Trugen sie ihre Jungen am Nackenfell herum wie Katzen? Warum lebten sie in Bambuswäldern? Fraßen sie die Blätter? Aber von denen wurden sie wohl kaum satt. Möglicherweise wuchsen dort schmackhafte Pilze und Beeren, und es gab Ameisen und Kleingetier, von denen sie sich ernährten.

Kein Zoo auf der ganzen Welt besaß einen Panda. Sollte es Bill gelingen, einen zu fangen, wäre das eine Sensation. In Scharen würden die Leute herbeiströmen, und Bill würde berühmt werden. Das hätte er verdient. Er repräsentierte eine neue Generation von Abenteurern. Warum noch Tiere abschießen, wenn sie sich lebend studieren ließen? Dagegen sahen Großwildjäger mit ihren Trophäen traurig aus.

»Ich wünsche dir so sehr, dass du es schaffst«, sagte Ruth. »Und wenn der Panda erst hier ist, soll es ihm an nichts fehlen. Dafür werde ich sorgen.«

»O ja. Mit Waldorfsalat wirst du ihn füttern, bis er kugelrund ist.«

Bill lachte, dann beschrieb er die Route, die er nehmen wollte. Offensichtlich war seine Planung bereits weit fortgeschritten. Erneut würde Ruth Abschied nehmen müssen und mit ihrer Sehnsucht und Sorge um ihn in New York zurückbleiben. Das würden wieder schwere Monate werden, und sie würde versuchen, sich abzulenken, indem sie in der Stadt die Stellung hielt, noch schönere Kleidung entwarf und weiterhin ihre legendären Partys ausrichtete. Was wäre das Nachtleben der Stadt schließlich ohne Ruth Elizabeth McCombs? Wenn Bill dann auf dem Rückweg wäre, könnte sie ihm entgegenreisen und ein paar Tage in Shanghai verbringen. Dort sollte es fantastische Jazzbars geben.

Wie lange brauchte ein Brief nach China? War auf dem Konto noch genug Geld für den Unterhalt der Wohnung? Viele Fragen schwirrten Ruth durch den Kopf, aber da Bill noch immer vor ihr kniete, besann sie sich auf das Wichtigste.

»Formidabel, Liebling«, sagte Ruth. Ihr Atem ging schneller und verriet ihre Aufregung. »Das klingt wirklich wunderbar. Aber du wirst lange fort sein, nicht? Wir könnten doch vorher heiraten.«

Schnee auf Federn

New York, 19. Februar 1936

Schnee fiel in dichten Flocken herab, und aus Richtung des Empire State Building zogen noch dunklere Wolken auf. Zitternd krümmte Ruth die kalten Zehen in den Pumps und wickelte sich die Stola ein zweites Mal um den Hals. Seit fünfzehn Minuten wartete sie vor dem Haus nun schon auf ein Taxi. Normalerweise war Manhattan voll von ihnen. Sollte sie hineingehen und den Concierge um Hilfe bitten? Aber möglicherweise würde just in diesen Sekunden eines vorbeifahren.

Ruth stellte sich dichter an den Bordstein, hob den linken Arm, um auch von den Fahrern gesehen zu werden, die die Straße kreuzten, und winkte mit der behandschuhten Rechten durch die großen Fenster der Lobby. Augenblicklich erschien der Concierge in der Tür.

»Wie kann ich helfen, Mrs. Harkness?«

»Oh, Frankie, was ist nur los? Kein Wagen weit und breit. Dabei brauche ich dringend Häppchen vom Brevoort für meine Cocktailparty. Könnten Sie bitte in der Zentrale anrufen?«

»Wird gemacht.«

»Sie sind ein Engel, Frankie.«

»Das trifft heute ja eher auf Sie zu.« Frankie lächelte unter seinem altmodischen grauen Schnurrbart. »Denn wenn Ihr Rock nicht himmlisch ist, dann weiß ich auch nicht.«

»Ach, der.«

Ruth machte eine Geste, als habe sie nach dem Aufstehen einfach zum Nächstbesten gegriffen. Natürlich stimmte das nicht. Der Rock war ihre neueste Kreation, ein Traum aus Samt, Satin und weißen Federn, die Frankie wohl an Engelsflügel erinnerten.

Immer noch kein Taxi! Ruth schüttelte Schnee von ihrer Stola. Ob es gerade auch auf Bills Schultern hinabschneite? Seine letzte Nachricht war schon Wochen alt, und das musste Gutes bedeuten. Eineinhalb Jahre war er nun fort, und vielleicht hatte er es endlich geschafft, den anstrengenden Weg ins tibetische Hochland anzutreten. In diesem Moment könnte er einen schmalen Pfad entlangstapfen, den Blick ins Unterholz gerichtet.

»Mrs. Harkness?« Frankie stand wieder in der Tür. »Man bedauert, aber die Strecke lohnt nicht, um extra jemanden aus Queens zu schicken. Sie sollen warten, bis ein Taxi auf dem Rückweg einer Tour vorbeikommt.«

»Ach! Bis dahin bin ich hingelaufen.«

Was Ruth noch nie getan hatte. Die Entfernung zum Café Brevoort betrug mindestens eine Meile.

»Ich kann die Häppchen abholen lassen«, sagte Frankie.

Ruth bürstete den Schnee von ihren Rockfedern.

»Nein, ich will selbst sehen, was heute da ist. Ich gehe zu Fuß. Sollte ich nicht zurückkehren, füttern Sie bitte die Taube für mich.«

»Na, ich weiß nicht, Mrs. Harkness.«

Als Ruth ein paar Meter gegangen war und Frankie sie außer Hörweite glaubte, hörte sie: »Drecksviech. Scheißt mir die ganze Fassade voll.«

Wie würde der Concierge erst fluchen, wenn er wüsste, dass es gar nicht mehr die ursprüngliche Taube war, die zu Ruths Fenstersims flog? Das Tier mit den Stummelkrallen hatte einen Partner gefunden und Nachwuchs bekommen. Von den drei Küken hatte eines bis zum Flugalter überlebt. Die Taubenmama hatte dem Kleinen noch die Futterquelle gezeigt, dann war erst sie und kurz darauf der Täuberich verschwunden. Vielleicht waren die Alten Giftködern zum Opfer gefallen. Das Juniorvögelchen aber beehrte Ruth weiterhin, landete auf ihrer Hand und ließ sich über den Rücken streicheln. Hoffentlich würde es auch einmal die nächste Generation anlernen.

Mit kleinen Schritten – große ließ der Rock nicht zu – spazierte Ruth Richtung Fifth Avenue, vorbei an zehnstöckigen Wohngebäuden und dem Siegel-Cooper-Kaufhaus. Unter einem Mülleimer kauerte eine Katze mit räudigem Fell. Als ein Polizist vorbeiritt, flüchtete sie vor dem Hufgetrappel in einen Hauseingang.

»Hey, Taz.« Ruth bückte sich und versuchte, das Tier zu locken. »Bist du hungrig? Ich bringe dir Hühnchen mit, versprochen.«

Die Katze maunzte kläglich. Wäre es möglich, würde Ruth alle leidenden Kreaturen retten. Aber ihre Wohnung besetzte seit letztem Herbst Buster, ein hinkender, ehemaliger Streuner, der dank Ruths Fürsorge kräftig geworden war und seinen Platz im Delikatessenparadies fauchend und kratzend gegen weitere tierische Gäste verteidigte. Kamen Freundinnen mit ihren Schoßhunden zu Besuch, sperrte Ruth Buster mit Cheddar-Häppchen ins Schlafzimmer.

Eine halbe Stunde brauchte Ruth, um das Lokal an der Ecke von Fifth Avenue und 11th Street zu erreichen. Der Schneefall ließ etwas nach, dafür kam Wind auf. Ruths Schienbeine in den Seidenstrümpfen schmerzten vor Kälte. Und es fuhren ja doch Taxis! Aus der entgegengesetzten Richtung, vom Washington Square Park her, steuerte eines das Café an, rumpelte auf den Gehweg und entließ seine Fahrgäste unter der gestreiften Markise.

Mit einer energischen Handbewegung hielt Ruth das Taxi auf. In ihrer Erschöpfung wäre sie auch bereit gewesen, sich auf die Motorhaube zu werfen. Doch das war nicht nötig. Der Fahrer stieg aus, um die Tür für sie zu öffnen. Ruth drückte ihm zwei Dollar in die Hand.

»Guter Mann, Sie sind meine Rettung. Ich besorge nur schnell ein paar Kleinigkeiten, und Ihre Wartezeit bezahle ich selbstverständlich.«

Wenig später befand sich Ruth wieder in der Behaglichkeit ihrer Wohnung. Taz hatte unterwegs Futter bekommen, und Buster schlief vor dem Kamin. Im Kühlschrank lagerten Lachskanapees, Wachteleier, Lebermousse in Himbeeraspik und Zitronentörtchen, dazu Wein, Champagner und Gin. Bis zur Ankunft der Gäste blieb noch Zeit. Ruth griff zur New York Times. In der Post waren heute nur Rechnungen gewesen, die würde sie nächste Woche begleichen. Vielleicht wusste sie dann schon Neues von Bill. Seine Briefe ließen Ruth nie an einem guten Ausgang der Reise zweifeln. Bill klang stets heiter und optimistisch, sogar aus Rückschlägen machte er das Beste. Für die Gegend, in die sie vorstoßen wollten, brauchte es eine Reihe von Genehmigungen, die schwer zu bekommen waren. Eine Zeit lang hatte es danach ausgesehen, als würde Bill von den Behörden ignoriert.

Dann kommst du eben jetzt schon nach Shanghai, und wir vertreiben uns gemeinsam die Wartezeit, schrieb er. Die Stadt wird dir gefallen!

Ruth besaß bereits ein Set eleganter Koffer. Nun wollte sie von Bill nur noch wissen, auf welchem Ozeandampfer sie buchen sollte. Es müsste nicht der schnellste sein, Hauptsache, das Essen und vor allem die Drinks waren gut. Bis jetzt hatte Bill noch nicht wieder geantwortet. Ruth versuchte, es leicht zu nehmen. Anscheinend waren die Genehmigungen doch noch ausgestellt worden, woraufhin Bill zum sofortigen Aufbruch geblasen hatte. Sicher würde er ihr bald berichten.

Um sich ihrem Mann nahe zu fühlen, las Ruth die Zeitung, wie er es tun würde.

STEILERANSTIEGDERMASERNFÄLLE

Nein, Krankheiten interessierten Bill nicht.

FLORENCEEASTONSINGTDIEBRÜNNHILDE

Bill würde zwar weiterblättern, Ruth zur Premiere aber begleiten.

JOSEDESCAPRILESGEWINNTFECHTTITEL

Ja, den Sportteil würde er sich vollständig zu Gemüte führen, aber Ruth legte ihn trotzdem weg. Die Überschriften verrieten doch schon alles.

GEWALTIGERRIESENMANTAGEFANGEN

Na, das wäre nach Bills Geschmack! Halblaut würde er die Meldung durchgehen und die entscheidende Stelle wiederholen: »Fischer aus Miami harpuniert viertausend Pfund schweres Monster.«

Wieder ein Tier, das als Trophäe endete. Obwohl Bill so etwas auch nicht guthieß, würde er beeindruckt die Zeitung sinken lassen und aus dem Fenster sehen, ehrfürchtig angesichts dieser Leistung und im gleichen Moment abwägend: Könnte ich das auch?

Konkurrenz lag in der Natur der Männer. Ständig mussten sie sich messen und aus allem einen Wettkampf machen. Aus Bills Briefen wusste Ruth, wie viele Herren aus aller Welt inzwischen nach Pandas suchten. Jeder wollte der Erste sein, der ein lebendiges Exemplar fing. Derweil entdeckte auch die Presse das Thema. Für viele Amerikaner waren die letzten Jahre entbehrungsreich gewesen, und sie sehnten sich nach Ablenkung vom tristen Alltag. Sogar die Cousine von Ruths Freundin Margaret, eine Schweinezüchterin, die zu Besuch in New York war und sonst in einem öden Kaff lebte – »mitten im Nichts, kein Bahnhof, kein Kino, keine Bücherei« –, hatte dort schon vernommen, was Bill in Asien trieb. Sie betrat Ruths Wohnung am frühen Abend zusammen mit ihrer großstädtischen Verwandten, zog das Kopftuch von der frischen Dauerwelle, überreichte Ruth Dosenwurst, äußerte sich bewundernd über die Tiffany-Lampe im Flur und platzte übergangslos heraus: »Was machen die Pandas? Hat Ihr Mann schon welche?«

Ruth lächelte geheimnisvoll. An ihrer Stelle antwortete Margaret.

»Wenn es so wäre, dürfte Ruth es nicht verraten.« Sie überprüfte ihren Lippenstift im Spiegel. »Bill will nicht mal, dass man weiß, warum er in China ist. Wenn Ruhm und Geld im Spiel sind, kann man niemandem trauen. Außerdem wimmelt es in Shanghai von Gangstern.«

»Oh, wirklich?«

Die Cousine schien beeindruckt. Nach und nach trafen weitere Damen ein. Gelächter klang durch das Wohnzimmer, die Luft roch nach Parfüm und der schweren Süße eines Hyazinthen-Straußes. Die Damen saßen zu Tisch und prosteten einander mit Champagner zu. Erwartungsvolle Stille trat ein. Alle warteten auf Neuigkeiten von Bill. Ruth zuckte mit den Schultern.

»Ich kann auch nur spekulieren«, sagte sie. »Anscheinend ist Bewegung in die Sache gekommen. Die Männer, mit denen Bill losgezogen ist, haben längst aufgegeben, aber er nicht. Wenn er mir das nächste Mal schreibt, ist er bestimmt schon mit zwei oder drei Pandas zurück an der Küste.«

»Ein Jäger und eine Modedesignerin – was für eine glückliche Verbindung das ist.« Margarets Cousine blinzelte aufgeregt. »Wenn Bill genug Tiere erlegt, können Sie das teuerste Kleid der Welt machen, oder?«

»Wie?«

»Na, mit Pandafellkragen.« Die Cousine strahlte.

Heftig setzte Ruth ihren Champagnerkelch ab. »Bill wird sie ganz sicher nicht töten! Die Ära des Herumballerns ist vorüber. Mein Bill fängt die Tiere lebend ein. Kein Haar wird ihnen gekrümmt.«

»Und dann?«, fragte die Cousine. »Sind Pandas nicht so groß wie Grizzlys? Und mindestens so gefährlich? Wird es nicht spätestens im Trubel des Hafens ein Unglück geben?«

»Nein, weil sie nicht bösartig sind«, sagte Ruth trotzig. »Wild natürlich, das schon, und vielleicht auch schreckhaft. Aber mit meiner Hilfe werden sie Vertrauen fassen. Es braucht nur viel Liebe und Geduld.«

Sie tranken und aßen, mischten Cocktails an der Hausbar und rauchten Lucky Strikes in eleganten Zigarettenspitzen. In ihren weiteren Gesprächen mieden sie den abwesenden Ehemann, und als ihnen die Themen ausgingen, legten sie die Grammofonplatte auf, die Margaret mitgebracht hatte, und tanzten in Strümpfen. Das letzte Stück wechselte zwischen Dur und Moll und ging Ruth seltsam ans Herz. Es war einer dieser Abende, die endlos schienen, aber nach und nach verabschiedeten sich die anderen doch, glücklicherweise auch die Cousine. Nur Margaret blieb, zurückgehalten von Ruth, die quer in einem Sessel lag, die Beine über einer Armlehne, den Kopf auf der anderen, das schwarze Haar wie ein Fransenvorhang über dem Leder hängend.

»Trinken wir noch was, hören wir’s noch mal!«

»Du bist unverwüstlich, Ruthie.«

»Und du meine Komplizin.«

Glas klirrte, Margaret rührte die frischen Drinks um und tänzelte zum verstummten Grammofon. Die Musik setzte wieder ein, aber diesmal spielte ein helles Instrument mit, ein Xylofon, nein, das Telefon im Nebenzimmer. Sein Klingeln passte gar nicht in den Rhythmus. Margaret stellte die Gläser auf dem Tisch ab und eilte hinüber. Kurz darauf kam sie mit schnellen Schritten zurück.

»Ruth?«

»Nicht mehr tanzen, Marge, meine Füße …«

»Ein Telegramm für dich.« Margaret berührte ihren Arm. Ihre Hand war kalt und zitterte. »Sie haben es mir vorgelesen.«

Ruth setzte sich auf. Schlagartig fühlte sie sich nüchtern.

Eine neue Kamera

Shanghai, 19. Februar 1936

Richard baute seine Großformatkamera in der Lobby des Astor House auf. Einst hatte das Hotel zu den berühmtesten der Welt gezählt, doch sein Prestige bröckelte, seit in der unmittelbaren Nachbarschaft das Cathay eröffnet hatte. Es lag ebenfalls am Bund, der Uferpromenade des Huangpu-Flusses, und lockte mit italienischem Marmor und einer Klimaanlage. Viele der Angestellten des Astor hatten sich abwerben lassen, und jene, die geblieben waren, schleppten sich durch ihre Schichten wie angezählte Boxer, die nur noch standen, weil sie zu erschöpft waren, um aufzugeben. Richard fühlte mit ihnen. Auch er wäre jetzt lieber im Cathay. Gestern hatte er dessen Eigentümer, Victor Sassoon, hoffnungsvoll seine neue Kamera präsentiert, dieses kompakte Schätzchen, das in eine Jackentasche passte.

»Eine Leica II, Mr. Sassoon, die ist erst seit vier Jahren auf dem Markt. So eine Kleinbildkamera bietet ganz neue Möglichkeiten. Lange Vorbereitungen sind passé, ich kann sie zücken, wann immer sich ein reizvolles Motiv bietet, in Sekunden scharfstellen und …«, er bediente sich der Jägersprache, »einen Schnappschuss machen.«

Um zu zeigen, was er meinte, reichte er Mr. Sassoon ein Foto, das er in der Jazzbar des Cathay aufgenommen hatte. Der Klarinettist spielte gerade ein Solo, und seine Bandkollegen lauschten mit geschlossenen Augen. Richard hatte in dem Moment geknipst, in dem der Saxofonist über einen musikalischen Witz schmunzelte. Wäre das Bild nicht hervorragend geeignet, um in der Zeitung für die Bar zu werben? Doch Mr. Sassoons Miene blieb abschätzig.

»Ich belästige mit meiner Arbeit niemanden«, sagte Richard. »Die Kamera verschließt extrem leise.«

»Ist mir bekannt, ich habe selbst eine.« Mr. Sassoon deutete auf das Foto. »Diese Spitzlichter von der Tischlampe irritieren ein wenig, finden Sie nicht?«

Damit hatte das Gespräch ein Ende gefunden.

Aus Mangel an Aufträgen kam Richard auf ein vages Angebot des Assistenten des Astor Managers zurück. Bei einem Drink hatte der einmal erwähnt, dass sie neue Broschüren drucken wollten, und wenn Richard gute Bilder liefere, werde er die seinem Boss auf den Schreibtisch legen. Über Geld war nicht gesprochen worden, trotzdem ging Richard nun in Vorleistung.

Um den höhlenartigen Empfangsbereich des Astor vernünftig abzulichten, brauchte es die Großbildkamera. Filmblätter für dieses Modell waren teuer, und Richard besaß nur noch vier davon. Kniend zog er den Faltenbalg der Kamera auseinander und betrachtete das über Kopf erscheinende Bild auf der Mattscheibe. In dieser Perspektive wirkten die kassettierten Deckenbögen wie Ruderboote, die unter einem Himmel aus leeren Schaukelstühlen lagen. Jemand müsste in ihnen sitzen, am besten diese berühmte Reisejournalistin mit ihrem Äffchen – stieg die nicht oft hier ab? Doch wie man hörte, war sie seit Kurzem mit Mr. Sassoon liiert. Vermutlich bevorzugte inzwischen auch sie den Komfort seines Hauses.

Jemand klopfte, und Richard sah hoch. Monsieur Houle? Richtig, der Kanadier kam die Treppe herunter, den Kopf seiner Tabakpfeife gegen das Geländer schlagend. Wie ein ruheloses Kind trommelte, pochte und schnalzte Monsieur Houle gegen Wände, Möbel oder seine blecherne Tabakdose, und das wahrscheinlich in jeder wachen Minute des Tages, wenn er nicht gerade wilden Tieren auflauerte. Kürzlich hatte Richard ihn mit einem erlegten Tiger fotografiert. Das Tier sollte in Shanghai präpariert werden, doch Monsieur wollte zusätzlich Fotos haben, »für den Fall, dass der Ausstopfer es versaut«. Mangels Kühlung hatte bereits die Verwesung eingesetzt, so hatten sie die Aufnahme draußen machen müssen.

»Der Herr Fotograf«, grüßte Monsieur Houle. »Wie gut, dass ich Sie treffe.«

»Guten Morgen.« Richard stand auf. »Wie geht es Ihrer Frau? Hat sie sich von der Grippe erholt?«

»Ja, so weit alles bestens.« Monsieur Houle klopfte gegen das Kamerastativ. »Hören Sie, das Foto vom Tiger gefällt ihr nicht. Wir möchten es zurückgeben.«

»Aber Sie haben es bezahlt und mir gedankt.«

»Schon, doch wenn meine Frau es zu Hause nicht aufhängen will … Sie sagt, der Tiger wirkt leblos.«

Fassungslos reckte Richard das Kinn. »Er war ja auch tot.«

»C’est ça, das war er.«

Mit dem Pfeifenkopf klopfte Monsieur Houle an Richards Schulter, verschwand wieder, kam mit dem gerahmten Bild zurück und drückte es Richard in die Hand.

»Ich hatte Ausgaben für das Material und habe einen Tag lang daran gearbeitet.« Richards Stimme hallte in der leeren Lobby. »Sie bekommen kein Geld zurück.«

»Den Rahmen können Sie ja wiederverwenden.« Der Kanadier klopfte an das Mahagoniholz. In die schmalen Seiten waren Verzierungen aus Kupfer eingesetzt.

»Monsieur Houle, ich muss auch leben.«

Richard lehnte das Bild gegen das Stativ. Den Tiger mochte er nicht mehr sehen. Schon beim Fotografieren hatte das Wesen ihn gedauert. In einen Hinterhof hatten sie es geschleppt, vor eine mit Stoff abgehängte Wand. Gegen ein kleines Trinkgeld hatte ein Junge immer wieder die Fliegen verscheucht. Richard würde zu gern einmal einen lebenden Tiger beobachten. Er stellte sich vor, dass sie einen weichen Gang und einen stechenden Blick hatten. Porträtierte Richard Menschen, gelang es ihm mühelos, dass sie die Kamera und ihn irgendwann vergaßen und sich nicht mehr verstellten. Eine ehemalige Geliebte hatte Richard im Streit vorgeworfen, er sei so langweilig, dass man durch ihn hindurchsehe. Bei der Arbeit mit Tieren könnte ihm das nutzen.

»Erlassen Sie mir siebzig Prozent vom Preis, und ich behalte es wegen des Rahmens«, sagte Monsieur Houle.

Lächerlich. Außerdem hatte Richard den Verdienst längst ausgegeben.

»Gegenvorschlag«, sagte er. »Ich begleite Sie beim nächsten Mal und fotografiere die Jagd. Mit meiner Leica ist das möglich. Man will sie sogar bei den Olympischen Spielen einsetzen. Wenn ich mich auf einem Baum verstecke und warte, bis ein Tier kommt, und das dann in der Bewegung auf Zelluloid banne …« Richards Ärger verflog. Was für eine geniale Idee. »Dann müssen Sie ja gar nicht mehr schießen!«

Monsieur Houle schüttelte umgehend den Kopf. »Nee. Wo bleibt denn da der Spaß?«

Sportkameraden

New York, 15. März 1936

Alle Besucherinnen der vergangenen Wochen waren in einem engen Zeitfenster zwischen vierzehn und achtzehn Uhr erschienen und hatten Blumen oder Essen mitgebracht. Sie wollten Ruth wohl weder wecken noch sie davon abhalten, früh zu Bett zu gehen. Dabei schlief sie seit Bills Tod nur noch stundenweise.

Der Morgen war neblig. Ruth hatte das Fenster aufgerissen und lag auf dem Boden des Schlafzimmers, Arme und Beine ausgestreckt wie ein Seestern. In den ersten Trauertagen war der Schmerz überwältigend gewesen. Jetzt klang er ab und nahm alle anderen Gefühle mit. Das Einzige, was Ruth noch spürte, war die Kälte. Ihre Hände und Füße wurden klamm. Wenn sie lang genug so läge, würde das eisige Blut zum Herzen fließen, es anhalten, und dann wäre Ruth endlich auch tot. Sie wartete eine Weile. Das Telefon klingelte. Margaret, die vorübergehend im Gästezimmer wohnte, nahm ab und meldete sich im Ton einer fidelen Krankenschwester.

»Bei Harkness? Danke, Frankie, einen guten Morgen auch Ihnen … Mr. Russell, sagen Sie? Augenblick, ich frage nach …« Wenig später klopfte es an der Schlafzimmertür.

»Ruth, könntest du jemanden sehen? Unten ist ein Freund von Bill. Gerald Russell, sie kennen sich aus China.«

Von alten Gewohnheiten gesteuert, stand Ruth auf. Sie war New Yorks beste Gastgeberin und würde einen weit gereisten Besucher natürlich empfangen.

»Soll hochkommen«, rief Ruth.

Einigermaßen präsentabel war sie ja. Das Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und zu einem straffen Zopf gebunden. Ihren schwarzen Kaschmirpullover hatte sie gestern gar nicht ausgezogen. Ruth ging ins Wohnzimmer, nahm auf dem Sofa Platz, zupfte ihre Kleidung zurecht und bemerkte erst in diesem Moment, dass sie noch Bills Tennishose trug. Lang und weiß war sie und vom Schlafen darin zerknittert. Margaret würde mitfühlend lächeln, doch von einem Fremden wollte Ruth nicht in diesem sentimentalen Aufzug gesehen werden. Zu spät, schon erklangen Schritte auf dem Flur. Mr. Russell musste statt des Aufzugs die Treppe genommen haben. Rasch drapierte Ruth eine Decke über ihrem Schoß. Damit wirkte sie nun allerdings wie ein greises Mütterchen. Sie hörte Margaret öffnen, winkelte in letzter Sekunde die Beine auf dem Polster an und bedeckte sie bis zu den Füßen. Margaret tauchte im Durchgang zum Wohnzimmer auf und machte dem Besucher Platz.

Mr. Russell war groß, sehnig und trug einen wuchernden Bart. An der Art, wie er hereinstürmte, erkannte Ruth: ein Sportkamerad. Viele von Bills Freunden fielen in diese Kategorie. Sie schleuderten einander Sprüche entgegen und begrüßten sich mit einem Ritual aus Schulterklopfen und Grimassen. Mr. Russell brachte eine Flasche Wein und ein bemaltes Kästchen mit.

»Mah-Jongg«, erklärte er. »Habe ich auf dem Schiff gelernt. Wir …«

Suchend sah er sich um. An den Kondolenzkarten auf dem Sekretär blieb sein Blick hängen.

Er weiß es noch nicht, dachte Ruth. Wahrscheinlich wollte er der Ehefrau vorgestellt werden und Bill für eine Runde um die Häuser entführen.

Margaret machte ein betretenes Gesicht. Sie hatte es versäumt, den Besucher zu warnen.

»Bill ist vor vier Wochen verstorben«, sagte sie. »In einem Krankenhaus in Shanghai.«

Das Kästchen rutschte Mr. Russell aus der Hand. Bunte Spielsteine prasselten auf den Boden. Der Reflex, zu helfen, ließ Ruth zucken, aber dann besann sie sich der Hose. Außerdem kniete Margaret schon neben Mr. Russell und sammelte mit ihm die Steine ein.

»Ich war eine Weile unterwegs.« Mr. Russell betrachtete die Spielsteine in seiner Hand, als stünde auf ihnen eine Chronologie der Ereignisse. »Von Bill konnte ich mich in China nicht verabschieden. Er war mal wieder verschwunden. Plötzlich unterzutauchen, war sein Markenzeichen, und nach unserem Misserfolg hat er es noch öfter gemacht, wissen Sie?«

»Eigentlich weiß ich wenig. Ich wollte hinfahren und ihn zurückbegleiten, und dann hätte er mir schon alles erzählt, dachte ich.« Unter der Decke wackelte Ruth mit den Zehen. Ihre Füße drohten einzuschlafen. »Was war das für ein Misserfolg?«

Alle Steine waren aufgehoben. Mr. Russell legte das Kästchen auf einen Beistelltisch und drückte Margaret die Flasche in die Hand. Sein Gastgeschenk war ihm nun offenbar peinlich.

»Bill hat einiges für sich behalten«, sagte er.

»Öffnen wir den Wein«, entschied Ruth. »Sie haben doch etwas Zeit, Mr. Russell?«

Der Mann nickte. »Bitte nennen Sie mich Gerry.«

Margaret ging Korkenzieher und Gläser holen, während Gerry in einem der Sessel Platz nahm und Ruth ihm ebenfalls das Du anbot. Innerhalb einer Viertelstunde brachten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand.

»Tumore«, erklärte Ruth knapp. »Im Hals und im Torso. Bill wurde mehrfach operiert, doch davon habe ich erst durch das Krankenhaus erfahren. Er war wohl vorher schon in Behandlung, und der Doktor hatte ihm Ruhe befohlen. Darauf hat Bill nicht gehört.«

Hätte sie ihm doch beistehen können! Warum hatte Bill seine Sorgen nicht mit ihr geteilt? Und wieso war er so leichtsinnig gewesen, entgegen der Warnungen loszuziehen?

Ruth schlug die Augen nieder. »Er ist ganz allein gestorben.«

Schweigend tranken sie. Buster schlich herbei, sprang auf das Sofa und stieg über Ruths Unterschenkel. Sie fühlte die Berührung seiner Pfoten wie durch Watte.

Schließlich räusperte Gerry sich und begann seine Version der Geschichte mit einer Vorstellung. Durch die väterliche Linie hatte er einen britischen Adelstitel und war Cambridge-Absolvent. Seine Großmutter hieß Aimée Crocker, ob Ruth von ihr gehört habe? Genau, die Mystikerin, die Tätowierungen und Schlangen sammelte und in fünfter Ehe mit einem jungen russischen Prinzen verheiratet war. An Gerry hatte sie einen Narren gefressen, denn sein Forschungsfeld traf genau ihren exzentrischen Geschmack. Gerry war Kryptozoologe. Als solcher reiste er durch Afrika und Asien und suchte nach Tieren, deren Existenz bezweifelt wurde.

»Seeungeheuer, Affenmenschen, Yetis.« Er stützte die Unterarme auf die Knie. »Aber ich bin keiner, der mit fantastischen Geschichten von angeblichen Sichtungen zurückkommt. Ich will sie fangen und den lebenden Beweis erbringen.«

Bei diesem Stichwort kamen Ruth die Pandas wieder in den Sinn. Sie beugte sich vor. Es klang, als wäre auch Gerry skeptisch, so wie sie, als sie zum ersten Mal von ausgestopften Pandas gehört hatte. Als der Besucher fortfuhr, schien er ihre Gedanken auszusprechen.

»Felle oder Skelette können lügen, und präparierte Fälschungen gibt es zuhauf, was aber niemals gegen die Existenz von Pandas gesprochen hat. Es gibt sie, da bin ich mir sicher, und dein Mann, der hätte das Zeug dazu gehabt, einen zu fangen.« Versonnen nickte er. »Ich habe große Stücke auf Bill gehalten. Ihm wäre es nie eingefallen, einheimische Jäger für die harte Arbeit anzuheuern und sich hinterher in den Salons als Held aufzuspielen. Bill wollte selbst da raus.«

»Du hast erwähnt, er war untergetaucht.«

»So habe ich zuerst von ihm gehört. Die Zeitungen schrieben, Bill sei aus einem Zug verschwunden. In der Gegend gibt es oft Entführungen. Darum suchte die Polizei nach ihm.«

Ein Lächeln huschte über Ruths Gesicht. »Der Zug wird ihm einfach zu langsam gewesen sein. Also ist Bill rausgesprungen und gelaufen. Das hat er auch hier getan, wenn unser Taxi im Stau stand. Im Smoking ist er durch Manhattan gerannt wie ein übermütiger Junge. Wenn ich dann zu Hause ankam, hatte er schon Drinks gemischt.«

Gerry grinste. »Ja, das klingt nach ihm. Er wurde Tage später an der Bar des Palace entdeckt, einen Gin Fizz in der Hand. Mittlerweile waren auch die US-Marshals wegen ihm unterwegs. Bill fand es lustig, mit ihnen Versteck zu spielen. Wochen später hat er heimlich gepackt und in einem anderen Hotel unter falschem Namen eingecheckt. Als er aufflog, bekam er Ärger und sollte sich regelmäßig bei den Behörden melden. Das ging ihm natürlich gegen den Strich.«

»Dumme Streiche«, sagte Ruth. »Aber mit den Offiziellen hätte er sich gut stellen müssen. Wegen der Reisegenehmigungen.«

»Die wollte Smith ja beschaffen.«

»Floyd Smith?«

»Von dem hast du wohl schon gehört.«

»Oh, nicht nur einmal.«

Seine Briefe hatte Ruth in die unterste Schublade des Sekretärs gestopft. Smith listete Kosten für Ausrüstung, Unterbringung und Löhne auf, die Ruth tragen sollte. Der erste Brief war unverschämt früh in der Trauerzeit eingetroffen, und jeder weitere hatte Ruth mehr Kopfschmerzen bereitet. Was sollte sie antworten? Glücklicherweise war jetzt Gerry da. An den konnte sie das abgeben.

»Erzähl weiter!«, ermunterte sie ihn.

»Bill hatte sich mit Smith zusammengetan, weil der im Hochland Expeditionscamps unterhält. Ich finde den Alten etwas umständlich, aber er ist erfahren und steht angeblich auf gutem Fuß mit wichtigen Leuten. Smith versprach Bill, ihm alle nötigen Papiere zu beschaffen. Das dauerte. Gut für mich, denn ich hätte sie sonst verpasst. Als ich in die Stadt kam, konnte es gerade losgehen. Smith sagte, er habe alles geregelt, und Bill heuerte Männer an, unter anderem mich. Wir flogen nach Chengdu ins Sichuan-Becken. Westlich davon beginnt hinter einer Bergkette das tibetische Plateau. Doch wir kamen nur bis zum Fuß des Emei. Die letzte, entscheidende Genehmigung war nur vor Ort zu bekommen und wurde uns verwehrt. Fluchend kehrten wir um. Smith tat, als wäre das nur ein kleines Missgeschick, aber Bill wollte mir keine falschen Hoffnungen machen. Darum bin ich weitergezogen.« Entschuldigend fügte er hinzu: »Ich wusste ja nicht …«

»Nein, das wusste niemand von uns.«

Doch Bill hatte sich möglicherweise schon krank gefühlt und geahnt, dass es seine letzte Reise war. Die Zurückweisung an der Grenze musste sich für ihn endgültig angefühlt haben. Sein großer Traum war geplatzt. Ruth kämpfte gegen die Tränen an und spürte die Enttäuschung ihres Mannes. Wie hatte das passieren können? Wann war Bill je gescheitert? Sein Charme hatte ihm doch immer alle Türen geöffnet.

Um sich abzulenken, streichelte Ruth den Kater. Als sie sich wieder gesammelt hatte, setzte sie das Tier behutsam auf den Boden und schlug die Decke zurück. Tennishose hin oder her, sie würde Gerry die Briefe von Smith geben, dann könnten die Männer Bills Mission fortführen. Einer ihrer Füße knickte unter Ruth weg, und sie strauchelte.

»Hoppla!« Gerry war sofort da und bot ihr Halt.

»Nur ein eingeschlafenes Bein, das geht gleich wieder.« Ruth krümmte die Zehen. Sie konnte sie bewegen, aber nicht spüren, und war das nicht eine perfekte Beschreibung ihres Gesamtzustands? Während sie zum Sekretär humpelte, begann es in ihren Füßen zu kribbeln.

»Hier.« Sie zog die gestapelte Korrespondenz aus der Schublade. »Als seine Ehefrau erbe ich Bills Beteiligung an der Expedition. Smith will weitermachen, aber natürlich nicht mit mir.«

Sie wollte Gerry die Briefe geben, doch der steckte die Hände in die Taschen.

»Nimm meinen Anteil«, sagte Ruth. »Hol einen Panda nach New York.«

Sie tippte mit dem Stapel gegen Gerrys Hemd. Der weiße Leinenstoff war ungebügelt, genau wie die Tennishose.

»Du solltest mitkommen«, sagte Gerry.

Ungläubig lachte Ruth und zupfte an ihrer Hose. »Ich trage zwar den Dress, aber eine Sportkameradin bin ich nicht.«

»Dafür bist du Mrs. Harkness.« Gerry wirkte bestimmt. »Pandas zu finden und hierherzubringen, war Bills Lebenstraum. Mach für ihn weiter.«

»Nein. Wirklich nicht.«

Das erwachende Bein kribbelte lästig. Ruth wurde ärgerlich. Wenn Bill jetzt hier wäre, dem würde sie etwas erzählen! In seinen Briefen war immer alles gut gewesen, alles eitel Sonnenschein. Dabei hätte ihr Mann sie in China gebraucht. Wegen seiner angeblichen Kontakte hatte er diesen Smith ins Boot geholt? Ruth knüpfte Beziehungen wie keine andere. Sie hätte die richtigen Leute überzeugen können. Aber dafür war es jetzt zu spät. An Bills Seite wäre Ruth für ein Abenteuer bereit gewesen, doch allein? Wie stellte Gerry sich das vor? Er sollte sie damit in Ruhe lassen. Alle sollten sie in Ruhe lassen! Diese Wut, war das die nächste Phase der Trauer?

»Dann soll Smith meinen Anteil haben«, sagte Ruth. »Ich schreibe ihm noch heute.«

»Tu das nicht! Smith knallt ab, was ihm vor die Flinte kommt. Aber die Welt braucht nicht noch mehr ausgestopfte Pandas, nicht noch mehr Trophäen!«

Schon wieder schien Gerry ihre Gedanken auszusprechen. Das war unheimlich. Ob er unlautere Absichten verfolgte? War er am Ende ein Witwentröster? Aber sein Erschrecken über Bills Tod war nicht gespielt gewesen, und hinter Ruths Ersparnissen war er wohl auch nicht her. Seine Familie war reich.

»Bill wollte ein lebendes Tier«, sagte Gerry. »Und du willst reisen, Ruth. Das hat er mir erzählt.«

Ruth ließ die Briefe sinken. »Bill hat von mir gesprochen?«

Kaum zu glauben, dass in dieser Männerrunde Platz für Sentimentalitäten gewesen war.

»Jeden Abend«, sagte Gerry.

»Hat er gesagt, ich kann reiten und ein Lasso werfen?«

»Nein.«

»Na also.«

»Aber seltene Tiere fängt man nicht mit Lassos. Wir Kryptozoologen …« Gerry stockte. »Eigentlich kenne ich keine anderen Kryptozoologen. Jedenfalls setze ich auf Gespür. Man braucht Instinkte.« Er fuhr sich durch den Bart. »Zur Hölle, wer weiß schon, was man braucht? Klar ist nur, was nicht funktioniert.«

»Ich besitze nicht einmal Wanderschuhe, Gerry.«

»Okay, aber …« Offenbar suchte Gerry nach einem Argument. Plötzlich hellte sich seine Miene auf, und er deutete auf Buster. »Sieh dir diesen Miesepeter an, der ist bei dir handzahm. Mich dagegen funkelt er an, als wolle er mich töten.«

Wie um das zu bestätigen, drehte Buster den Kopf und fauchte in Richtung des ausgestreckten Fingers. Gerry zuckte zurück. Dann lachte er. Buster sprang auf den Boden und machte einen Buckel.

»Benimm dich«, sagte Ruth warnend.

Daraufhin verzog sich der Kater in eine Ecke.

»Du …«, begann Gerry.

Mit einem Knurren fiel der Kater ihm ins Wort.

»Buster!«, rief Ruth.

Das Knurren verstummte. Gerry senkte seine Stimme.

»Du kannst …«

Wieder knurrte der Kater. Gerry schlug die Hand vor den Mund und machte ein übertrieben angstvolles Gesicht. Nun lachte auch Ruth.

»Du kannst gut mit Tieren, und das ist die Hauptsache«, sagte Gerry schnell.

Da war vielleicht etwas dran. Zum ersten Mal seit Bills Tod wurden die unsichtbaren Gewichte auf Ruths Brust etwas leichter. In den letzten Tagen hatte sie sich ausgemalt, wie ihr Leben als Witwe aussehen würde: Ruth war nicht mehr ganz jung, sechsunddreißig schon. Andere hätten sich zu Verwandten zurückgezogen, aber das war nicht ihr Stil, hatte sie doch in den letzten Jahren mehr als genug bewiesen, wie gut sie allein zurechtkam. Nach einer Trauerphase würde sie wieder Verehrer in ihr Leben lassen – auf die könnte sie genauso wenig verzichten wie auf Drinks und schöne Kleider. Doch heiraten würde sie nicht mehr. Einen zweiten Bill konnte es nicht geben. Auf ihn hatte sie gewartet, und sie würde noch zehnmal länger warten, wenn ihn das zurückbrächte. Was ihr blieb, waren die gemeinsamen Träume: etwas von der Welt sehen, Wind um die Nase spüren, ein geheimnisvolles Tier finden. Indem Ruth Bills Abenteuer fortführte, würde sie sich ihm noch einmal nahe fühlen.

Über China wusste Ruth nicht viel, und über Tibet noch weniger. Doch wenn sie erst einmal dort wäre, täten sich vielleicht Wege in die Berge auf, die den Männern versperrt gewesen waren. Viele Herren hatten schon nach Pandas gesucht, aber noch keine Dame. Ruth würde Menschen kennenlernen, die sie unterstützten. Das war ihre Gabe: Sie konnte begeistern, und begeisterte Leute halfen gern. Außerdem traute Gerry ihr offenbar eine Expedition zu. Eigentlich hatte Ruth nichts zu verlieren. Wenn sie scheiterte, hätte sie wenigstens Shanghai gesehen.

»Warum denn nicht«, rief sie. »Ich fahre nach China.«

Action

Richard kauerte auf einem flachen Dach im chinesischen Viertel der Stadt. Eine halbe Stunde zuvor war er aus dem Dachfenster eines Teehauses geklettert, um mit seiner neuen Kamera eine Beerdigungsprozession aus der Vogelperspektive aufzunehmen. Nun ging der Tag in die Nacht über, und Richard nutzte die Dämmerung, um mit längeren Belichtungszeiten zu experimentieren. Hier, zwei Meter über dem Boden, fühlte er sich der Stadt enthoben. Aus mobilen Nudelküchen stieg aromatischer Dampf auf und vermischte sich mit Opiumrauch und dem gelegentlich vorbeiziehenden »Duft-Express«, einem Handkarren, der Kot abtransportierte.

Durch den Sucher seiner Kamera betrachtete Richard die gegenüberliegende Fassade. Das dunkle Holz eines Türrahmens kontrastierte reizvoll mit einem Stapel heller Stoffballen. Vorsichtig wechselte Richard in die Bauchlage, stützte die Ellenbogen auf und stellte scharf. Ihm blieben noch drei Bilder. Die Stoffballen gefielen ihm doch nicht. Zu massiv. Auf der anderen Seite der Tür baumelten Strohsandalen von einem Haken. Aber die wurden von darüberhängender Wäsche beschattet. Richard fokussierte auf die trocknenden Hemden und Laken. Bei der nächsten Windbö würden sie sich bauschen, dann konnte Richard ihre Bewegung einfangen. Er legte den Finger auf den Auslöser. Am unteren Rand des Bildausschnitts regte sich etwas. Ein Hut schob sich ins Bild, als der Mann, der neben der Tür stand, den Kopf hob und in Richards Richtung blickte. Als Nächstes hob er seine Hand, darin etwas Dunkles. Eine Pistole wurde auf Richard gerichtet.

Reflexhaft drückte Richard den Auslöser der Kamera und duckte sich. Sein Kinn und die Leica schlugen auf die Schindeln. Der Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. Richard wich zurück und riss sich an einem Nagel die Haut am Daumen auf. Von der Straße her ertönte ein Pfiff. Mit weichen Knien robbte Richard bis zum First. Auf der anderen Dachseite rutschte er hinunter, sprang in einen Hinterhof, überwand einen niedrigen Lattenzaun und rannte an Hühnern und spielenden Kindern vorbei durch das Gewirr der Gassen. Von seinen Fototouren der vergangenen Tage kannte er die Gegend und fand den Weg Richtung Internationales Viertel ohne Probleme. Erst in der Sicherheit seiner Lieblingsbar, mit dem russischen Türsteher zwischen sich und der Straße, wagte er zu verschnaufen. Es war Dinnerzeit, die Bar hatte gerade erst geöffnet, und bis auf Richard waren noch keine Gäste da. An einem Tisch nahe der Küche saß ein Musiker der Hausband und polierte seine Trompete. Richard setzte sich an den Tresen.

»Ein Stengah ohne Eis bitte, Feng.«

Beidhändig mischte der Barkeeper Whisky und Soda und stellte das Getränk vor Richard ab. Die Tür eines Hinterraums ging auf, und eine Gruppe Eintänzerinnen in identischen bodenlangen Kleidern schwebte heraus. Ihre Seidenröcke schwangen lautlos wie Eulenflügel. Sie verließen die Bar und verschwanden im Nachtclub gegenüber. Immer noch schwitzend, inspizierte Richard die Kamera. Sie war unbeschädigt. Den Kratzer an der Hand spürte er nicht mehr. Das Adrenalin und der Sprint hatten ihn euphorisiert. Er grinste.

»Guten Tag gehabt?«, fragte der Barkeeper.

»Schenk mir ein Lächeln, und ich bring dich in die Zeitung.« Richard nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Bald werden sich alle um meine Bilder reißen.«

Rinao

Ruth begann ihre große Reise mit einer Abschiedsparty. Von Freunden begleitet, bezog sie eine Kabine auf einem Linienschiff, das sie zunächst nach London bringen sollte, wo Gerry sie schon erwartete. Sie tranken, lachten, stimmten Seemannslieder an und übertönten damit das Läuten der Glocke. Erst als der Chefsteward auf seinem Kontrollgang vorbeikam und warnte, wer jetzt nicht das Schiff verlasse, müsse mitfahren, sprangen Ruths Gäste auf, umarmten sie und stürmten davon wie Kinder, die bei einem Streich erwischt wurden. Nur Margaret blieb noch für einen Moment zurück.

»Beim heiligen Christophorus, Ruthi.« Sie hob ein Kristallglas auf, das jemand achtlos auf dem Boden hatte stehen lassen. »Du machst es wirklich!«

Zwar hatte sie zugestimmt, Buster und die Wohnung zu hüten, doch an der Ernsthaftigkeit von Ruths Plänen hatte sie anscheinend bis zuletzt gezweifelt.

»Und ob.« Mit spitzen Fingern entfernte Ruth den glimmenden Stummel aus ihrer Zigarettenspitze und warf ihn in eine leere Champagnerflasche. »Sorg dich nicht, Liebes. Ich bin vorbereitet. Letzte Woche habe ich mir in Chinatown ein Horoskop erstellen lassen. Wir schreiben das Jahr der Ratte. Da werden Ziele in Angriff genommen. Die Wohnung ist abbezahlt, meine Ersparnisse reichen für Monate, und ich habe die Adressen einiger Amerikaner, die in Shanghai leben. Der Rest ergibt sich schon.«

Margaret schüttelte nachsichtig den Kopf. »Komm mir heil wieder, ja?«

»Ich schreibe dir, versprochen!«

Ruth klopfte auf ein Köfferchen. Es enthielt ihre neue Schreibmaschine, ein nachtschwarz lackiertes, tragbares Modell, gerade einmal so breit wie zwei Hände. An der Seite befand sich ein Schwengel. Wurde er betätigt, erhoben sich die Typenhebel aus der Versenkung und stellten sich in einen Halbkreis vor das Papier wie grazile Ballerinas, bereit, mit den Buchstaben zu tanzen.

Margaret drückte Ruth an sich, murmelte noch etwas Unverständliches und eilte davon. Das Kristallglas ließ sie zurück.

»Nun, dafür werde ich Verwendung finden«, sagte Ruth zu sich selbst.

Außer der Schreibmaschine führte sie ein Set aus vier handlichen Koffern mit. Die meisten der rund sechzig Passagiere hatten schrankgroße Kisten in den Schiffsbauch bringen lassen, doch Ruth hatte dem Steward erklärt, sie brauche alles in ihrer Kabine. Die Koffer enthielten Kleider, Schuhe, Schmuck und Hüte. Eine Reise war schließlich keine Entschuldigung für optische Langeweile. Zu jeder Mahlzeit wollte Ruth etwas anderes tragen.

Während der fünf Tage dauernden Überfahrt nach England erwarb sich Ruth einen Ruf als elegante, nimmermüde Cocktailtrinkerin, die mehr Mischungen kannte als sämtliche Barkeeper. In London ging sie stilecht in einem Tweet-Ensemble von Bord. Gerry holte sie vom Hafen ab, ohne ihr Outfit zu kommentieren, sehr zu Ruths Enttäuschung. Bevor sie nach China weiterreisten, unternahmen sie erst noch einen Abstecher zu seinen Eltern nach Frankreich. Die Russells lebten dort auf einem Anwesen im Rhonetal.

Zwischen malerischen Weinbergen und alten Mauern beschlichen Ruth erste Zweifel an ihrem Begleiter. Trotz des offensichtlichen Reichtums seiner Familie – Madame Russell trug auch wochentags Juwelen zum Dinner – war Gerry nicht liquide, und seine Eltern, das wurde sofort klar, hielten die Panda-Expedition für einen Spleen, den sie nicht unterstützen würden. Menschen, die ihr Vermögen geerbt hatten, dachten offenbar nur daran, es zusammenzuhalten. Ruth war ganz anders. Aus einfachen Verhältnissen hatte sie sich in Manhattan emporgearbeitet, mit Geschmack und Unternehmergeist. In ihrer Welt erreichte man Ziele, indem man riskant investierte. Dagegen war Gerry von seinen Eltern abhängig und würde ein Vermögen erben, zu dem er nichts beigetragen hatte. In Ruth sah er offenbar eine mütterliche Figur, die ihn auf der Reise durchfüttern würde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, doch um in China zurechtzukommen, brauchte sie ihn. Schließlich hatte sie keine Ahnung, wie sie diese Expedition – oder besser gesagt: jedwede Expedition – angehen sollte, und war bis jetzt nur für Abende in Bars ausgerüstet. Zähneknirschend gab sie daher die spendable Amerikanerin und bezahlte Gerrys Schiffsfahrkarte. Er kommentierte auch das mit keiner Silbe.

In Marseille gingen sie an Bord. Das Schiff steuerte Port Said in Ägypten an, fuhr durch den Suezkanal ins Rote Meer und von dort durch den Golf von Aden. Als sie den Indischen Ozean erreichten, zog es Ruth nachts hinaus an Deck. Oft blieb sie bis in die frühen Morgenstunden im warmen Wind sitzen und betrachtete die Sterne, die hier andere waren. Einmal gesellte sich der Kapitän für eine halbe Stunde zu ihr. Ruth ermunterte ihn, Geschichten vom Leben auf See zu erzählen, was er gern tat. Er schloss seufzend: »Doch einsam ist es.«