2084 - Alpha O'Droma - E-Book

2084 E-Book

Alpha O&apos, Droma

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Beschreibung

Lehmann ist der letzte analoge Mensch. Er kocht selbst mit echten Lebensmitteln und bezahlt mit Bargeld. Das wird ihm zum Verhängnis, denn es ist nicht im Sinne von BlackRock, dem die bis in den letzten Winkel globalisierte Welt beherrschenden Konzern.   

Die Abschaffung des Bargeldes, die 2019 begann, führte zur totalen Transparenz des Konsumenten, doch schien sich niemand der Konsequenzen bewusst zu sein.

2084 ist die orwellsche Vision Wirklichkeit geworden. O’Dromas dystopischer Berlin-Roman zeigt uns in beklemmender Weise auf, was geschieht, wenn wir unsere Daten aus Bequemlichkeit, Ignoranz oder für irgendeine Payback-Punkte-Prämie aus der Hand geben.

Dennoch darf gelacht werden. Vorsicht, Satire!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Alpha O'Droma

2084

Lehmanns Welt

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Inhalt

 

 

 

 

 

 

 

Gewidmet allen Menschen, die die Freiheit lieben

 

 

 

 

Alpha O'Droma

 

 

2084

 

 

Lehmanns Welt

 

Copyright Alpha O'Droma 2016-2019

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Lehmann                                    

Die Russenstadt                      

Nachtwölfe                             

Dimi                                          

Die Herrscher der Welt          

Scharade mit Sheherazade    

Kafka                                       

Das Verhör                             

Das andere Verhör                 

Dinner for One                       

Déjà-vu                                   

Mise en Place                         

Knalleffekte                           

Warzone                                 

Verhandlungssache               

Wolf im Wolfspelz     

Abendmahl           

Epilog                                     

 

 

 

 

 

 

 

  

Lehmann

Was? Sie kennen Lehmann nicht?!

Lehmann ist weltberühmt!

Selbstverständlich nur im Kreise enger Freunde, das muss man zugeben, doch sollte dies seinem Weltruhm keinen Abbruch tun.

 

Lehmann war der letzte Mensch, der noch mit Bargeld bezahlte.

 

Möglich war dies nur aufgrund einer albernen Gesetzeslücke. Anfang der Zwanziger Jahre hatte man weltweit begonnen, sämtliches Bargeld abzuschaffen. Bereits 2019 wurden in der EU die Fünfhunderter mit der Begründung eingestampft, sie dienten nur dem Transport von Schwarzgeld und dem organisierten Verbrechen. Da die meisten Geschäfte zu diesem Zeitpunkt längst keine Fünfhunderter mehr annahmen, hatte das Volk gemeinhin mit den Schultern gezuckt und es akzeptiert.

Nur in den Tempeln der Steuerhinterzieher, der Gebrauchtwagenhändler und des Rotlichtgewerbes, jenen drei tragenden Säulen des Kultes der Spießer, waren lautstarke Proteste zu hören gewesen.

Als die EZB nach Abschaffung des Zweihunderters und des Hunderters 2032 auch die kleinen Scheine digitalisieren wollte, regten sich in Frankreich, Deutschland und Skandinavien Bürgerproteste, die jedoch fast allerorts im Sande verliefen. Nur der oberspießige Deutsche, der ein auf Haptik basierendes erotisches Verhältnis zu seinem Geld pflegte, schaffte es mithilfe einer rot-rot-grün-brauen Zweidrittelmehrheit im Bundestag, eine Grundgesetzänderung zu bewirken und sich das Recht auf Bargeld in die Verfassung zu meißeln. Kam direkt hinter Tempo 300 auf deutschen Autobahnen als garantiertes menschliches Grundrecht.

Schon 2036 war Deutschland der einzige kleine Punkt auf dem Globus, an dem man Bargeld als Zahlungsmittel akzeptieren musste. Banken waren gesetzlich verpflichtet, dem Kunden sein Guthaben auf dessen Wunsch sogar in bar auszuzahlen.  

Doch das tat bald kaum noch jemand. Die internationalen Großkonzerne setzen unter der Führung von BlackRock global ihre No-Cash-Policy durch. Durch den heiligen Gral der Handelsfreiheit: Niemand, der nicht auf ihre Geschäftsbedingungen - wie die digitale Zahlung - einging, vermochte ihre Produkte zu kaufen. Wer nicht bis an sein Lebensende verbindlich den Haken unter ihre AGBs setzte, der bekam weder ein Produkt, noch eine Dienstleistung.

Und so fand jeder Handel, jede Zahlung über die Chipkarte, Onlinebanking und Paypal statt. Alles war vernetzt. Völlig egal, ob man mit Karte oder Wrist-PC latzte, per Implantat oder Bioscan.

Schrullige alte Damen in Berlin Wilmersdorf zahlten ihr Gedeck von Kännchen, Amaretto, dem gefülltem Bienenstich und frisch geschlagener Sahne vereinzelt noch mit immer bröseliger werdenden Fünfzig-Euro-Scheinen. Wahrscheinlich gedachten sie dabei früherer Zeiten, als sie selbst noch knuspriger, saftiger und voller Schlagsahne lustwandelten, jetzt, da sie so bröselig geworden waren wie die Scheine, mit denen sie im Café am Ku'Damm ihre Rechnung beglichen.

Drogen, Nutten und Gebrauchtwagen bekam man noch mit echten Fuffies. Und geklaute Elektrogeräte. Das wars. Man konnte auf dem Wochenmarkt nicht eine einzige Zwiebel ohne digitale Sofortüberweisung erwerben, davon abgesehen, dass es keine Wochenmärkte mehr gab. Selbstverständlich galt auch für die Zwiebel der Paypal-Käuferschutz, für den Fall, dass der Gemüsehändler - meist ein Extremist mit Migrationshintergrund - einem die Zwiebel selbst nach Bestätigung der digitalen Überweisung nicht aushändigte oder sie gar durch einen Koran ersetzte.

Lehmann wurde genau in dem Moment, da diese Geschichte hier sich zu entblättern beginnt wie eine üppig gebaute Milf vor ihrer Webcam, der Zeuge eines derartigen Vorfalls:

Im Geschäft eines türkischstämmigen Gemüsehändlers in der Marzahner Chaussee, stocherte er gerade prüfend in einem Korb frischer Steinpilze herum, als sich direkt neben ihm folgender Dialog zwischen dem Händler und einem Kunden entspann.

 

Gegenstand des Disputs: Der Kauf einer Zwiebel.

 

"Hastu gesagt BIBEL"

"Nee, ick sachte ZWIEBEL!"

"Zawibel 99 Cent, Lan, Koran normal 2.99 als E-Book! Brüder in meine Moschee geben billiger, Alder, hassetu zawei Euro geschepart, Lan, aber machst mir Schtaress wegen Zawiebel, aber komm, beim Propheten, gebisch dir Zawibel für nur 50 Cent, weil ich ein friedlicher Mann bin, bei Allah!"

"Na jut, komm, ick überweise nochmal 99 Cent und nehm dafür denn zwee Zwiebeln, ok Mehmet?"

"Zawei Zawibeln! Kosten 1.98, du Kartoffel, willst meine Gutmenschischkeit ausnützen, Lan?!"

"Mensch, Kacke, Mehmet, jetzt habick schon jeklickt ..."

"Ich dich nur verarscht, hier, nimm zawei Zawibeln, du ungläubiger Hurensohn. Isch ficke disch!"

"Isch ficke disch auch. Hau rein, Mehmet!"  

 

Charme kann nicht lernen.

Lehmann liebte es, gebürtiger Berliner zu sein.

 

"Tach, Mehmet!"

"Leeehmann, Alder, was geht?"

"Läuft. Ein Pfund Steinpilze, zwei Zwiebeln, genau, die Gemüsezwiebeln da und dann noch ein Glas von den wundervollen getrockneten Tomaten, die deine bezaubernde Ehefrau macht. Worin legt Aische die ein? Verrat es mir, Mehmet!"

"Kannischnisch, Alder! Killtsiemisch, Alder!"

"Zu schade. Und einen Apfel, das war‘s"

"Macht 18.90"

"Stimmt so"

"Zawanziger, immer kommstu mit Zawanziger, Lehmann. Was soll isch mit Bargeld! Binnisch kein Krimineller?"

"Bring sie zur Bank, die lädt dir die 20 auf dein Implantat"

"Alder, einzige Bank, die annimmt Schein, ist Zoo. Mussisch jedes Mal zum Zoo, wenn du kaufst verkackte Zwiebel deinetwegen, Lan!"

"Musst du gar nicht, Mehmet. Sei nicht so tight! Versteck meine Scheine vor deiner bezaubernden Ehefrau und geh, wie du es ohnehin jeden Donnerstagabend machst, zu Sheherazade, um deinen alten Brennstab zu entsorgen. Bei ihr nehmen alle jungen Damen Cash - Problem gelöst und du bist viel entspannter. Und wenn du mir verrätst, wie deine bezaubernde Ehefrau die Tomaten einlegt, verspreche ich dir, wird sie nie erfahren, wohin du jeden Donnerstag gehst, wenn du angeblich mit uns Poker spielst ..."

"Krass ey! Bistu voll das Kumpelschawein, Lehmann!"

"Ich bin das Kumpelschwein, das dir auch in Zukunft jeden Donnerstag ein Alibi verschaffen wird!"

"Du gewinnst, Lan. Also nimm Pfund getrocknete Tomaten, vier Zehen Knofi, ein Bund Basil, ein Bund Petersil, handvoll scharfes Paprikapulver, etwas Oregano dann alles anmachen mit Weißweinessisch und aufgießen mit kalt gepresst Oliv-Öl in Weckglas"

"Hmm, das ist nicht alles, das war eine von den fünf Varianten, die ich schon selbst ausprobiert habe. Etwas fehlt!"

"Bistu voll der Checker, Lehmann, fehlt Geheimzutat!"

"Und die ist ....?"

"Drei Sardellen klein gehackt"

 

In Lehmann kämpfte die Euphorie des Erpresser-Triumphes beim Erhalt des Lösegeldes - Mehmet kam allein und da waren auch nirgendwo Bullen -  mit seiner Abneigung gegen Meeresfrüchte, die ihm sein wundervolles Tomatenrezept zu vermiesen drohte. Sardelle? BÄH! Hätte er bloß nicht gefragt!

Doch Lehmanns unstillbare Neugier auf das Universum hatte ihn gelehrt, dass der Preis für jede Erkenntnis ein fetter Sack voll unliebsamer Wahrheiten war, der, obwohl nie bestellt, jedoch stets mitgeliefert wurde. Wie diese verkackte Luftpolsterfolie!

 

Davon handelt dieses Buch.

 

"Meine Lippen sind für immer versiegelt", schwor Lehmann, verstaute seinen Einkauf in dem Armeerucksack, den er stets trug, und lächelte den Gemüsehändler an: „Sag mal, Mehmet, ich weiß, du liest Hegel, Popper und ich sah sogar mal einen Hölderlin hier rumliegen. Wieso sprichst du eigentlich dieses furchtbare Türkdeutsch?“

Mehmet sah sich vorsichtig um, doch da kein Kunde in Sicht war, beugte er sich vor und flüsterte mit Verschwörermiene: „Die Menschen bestellen Lebensmittel nur noch, die wenigen, die echtes Gemüse kaufen, lassen es sich per Drohne liefern. Es geht um das Einkaufserlebnis. Wer in einen Gemüseladen geht, will einen authentischen Kanaken, die finden das pittoresk…“

Die Türglocke bimmelte und Mehmet zuckte zusammen: "Isch ficke disch, Lehmann!"

"Dir auch noch einen schönen Tag, Mehmet!"

Lehmann wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Aische, Mehmets bezaubernde Ehefrau, den Laden betrat und sich laut gestikulierend näherte.

Irgendeine Naturkatastrophe, ein Erdbeben oder ein Tsunami hatte sich ereignet, oder vielleicht saß ihr auch nur wieder mal irgendeine Flatulenz quer, Lehmann wollte das gar nicht wissen. Zeit, sich zu verabsentieren! Er nutzte den Moment ihrer Ankunft, um in einer eleganten Halbpirouette, erst Mehmet zuzuzwinkern, in der Drehung laut vernehmlich "Wir sehn uns Donnerstag beim Pokern!" zu rufen, freudig überrascht zu tun, als er des in Rage verzerrten Antlitzes der bezaubernden Ehefrau angesichtig wurde und sogar blitzschnell noch ein betrübtes Lächeln abzufeuern, dass er zum eigenen Bedauern in Eile sei.

Und schon war er dem Drama, das da dräute, entkommen, verließ Mehmets Gemüseladen und flanierte entschlossenen Schrittes in Richtung Allee der Kosmonauten.

Nur in Lehmanns amüsiertem Lächeln hätte man lesen können, dass sich vor seinem geistigen Auge eine archetypische Filmszene abspielte, in der Lehmann zu den rotzigen Klängen schmutziger E-Gitarren-Riffs der Kamera entgegen sprintete und sich in Superzeitlupe mit einem gewaltigen Hechtsprung in Deckung warf, während hinter ihm Mehmets Gemüseladen explodierte und den gesamten Häuserblock in einen lodernden Feuerball verwandelte.

Lehmanns Tagträume spielten in 3D, und so baute er der Dramaturgie halber noch ein Dutzend Gemüsespieße ein, die dem Zuschauer kurz nach der Explosion so dicht an den Ohren vorbeipfiffen, dass das gesamte Publikum sich reflexartig duckte, würde diese Szene jemals verfilmt.

 

So war Lehmann.

Wie dieser Lehmann aussah, wollen Sie wissen?

 

Lehmann sah in jeder Hinsicht gewöhnlich aus. Seine Erscheinung war derart durchschnittlich, dass es völlig unsinnig wäre, Ihnen zu beschreiben, wie er aussah.

Selbst wenn ich Lehmann hier minutiös beschriebe, hätten Sie als Leser die Beschreibung binnen weniger Minuten vergessen.

 

Wozu also die Mühe?

 

Stellen Sie sich Lehmann einfach so vor, wie Sie es für richtig halten.

 

 

 

 

Die Russenstadt

 

Vor Lehmann lag die Festung der Russenstadt, seine Heimat. Gemächlich schlenderte er die Allee der Kosmonauten entlang, die hier am S-Bahnhof Springpfuhl als dreifache Brücke die Märkische Allee überspannte. Unter ihm surrten zwei S-Bahnen heran, eine von Norden, eine von Süden. Die beiden eitergelben Aluglasröhren hielten direkt unter ihm und spuckten hunderte Menschlein aus, die sich durch das Nadelöhr zweier Rolltreppen nach oben quetschten, um dort ihrer Bestimmung schweren Atems entgegen zu hasten oder in ein E-Cab zu springen und sich ihr leise summend und vollklimatisiert zu nähern. Die meisten wollten in die Russenstadt.   

Eigentlich war ja ganz Marzahn-Hellersdorf Russenstadt, doch DIE Russenstadt nannte man jene Festung in ihrem Zentrum. Eine sechs Meter hohe und drei Meter dicke Karbonbetonmauer umgab das Gebiet, dessen westliche Grenze die Märkische Allee und dessen nördliche die Landsberger Allee darstellte. Im Osten und Süden folgte der Schutzwall den eleganten Kurven der Allee der Kosmonauten, bis diese wieder die Märkische Allee kreuzte, hier am Haupttor, das Lehmann zu durchschreiten im Begriff war.

Einwohner, Besucher, Roboter und Lieferanten wurden getrennt kontrolliert.

Jeder war gechipt. Der normale Chip wies die biometrische ID aus, war ein Internetbankkonto, überwachte die Biofunktionen des Trägers und leitete sie an die zentrale medizinische Datenbank seiner Krankenversicherung weiter, wo eine Diagnosesoftware sie auswertete und bei Bedarf ein Medi-Hub vorbeischickte. Wenn man erster Klasse versichert war, kam bei schweren medizinischen Notfällen oft sogar ein Arzt!

Der Chip sicherte zudem den Wrist-PC, den es entweder als multifunktionales Armband mit normalem Holodisplay gab oder, wenn man etwas tiefer in die Tasche griff, einem subkutanen Touchscreen. Der letzte Schrei, dafür wurde einem der PC nebst einem Netz von nanometerdünnen Glasfaserkabeln in die Haut unter dem linken, bei Linkshändern unter dem rechten Handgelenk implantiert.

 

Lehmann fand das schwachsinnig. Es führte dazu, dass er auf der Straße fast nur noch Idioten sah, die Hamlet zu rezitieren schienen. Wenn Lehmann diesem evolutionären Rückschritt ins meist feiste Antlitz blickte, wie er einen imaginären Totenschädel in der linken Hand hoch vor sich hertragend, durch eine virtuelle Welt wanderte, ohne die reale Welt um sich wahrzunehmen, dann murmelte er oft vor sich hin: "Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:

Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?"

Die Hamletzombies nahmen ihn nicht wahr, denn sie kraulten in ihrem ewigen Nichtsein wie besessen imaginäre Vogelspinnen, die scheinbar auf ihren Unterarmen hockten.

 

Lehmann besaß kein Implantat. Ok, er hatte den gesetzlich vorgeschriebenen ID-Chip, jedoch keinen Wrist-PC, keinerlei Internet im oder am Körper. Jeder andere Mensch auf der Erde benutzte zumindest Intelligent Ware, also Kleidung mit Touchscreens oder Holodisplays, aus modischen Gründen oder wegen des Wetters, doch Lehmann trug nur Jeans und bunte T-Shirts. Zudem war Lehmann stolzer Eigentümer einer 120 Jahre alten Lederjacke aus schwerem Rindsleder, die stets gut gefettet worden und daher in hervorragendem Zustand war. Sollte es also mal kalt sein, fühlte er sich gerüstet. Pullover waren für Muschis. Entweder es war warm, dann trug man keine Jacke, oder es war kalt, dann trug man eine.

Warum mussten die Menschen immer alles so unnötig komplizieren?

Ok, Quantencomputer waren kompliziert, die Marsmissionen waren kompliziert, aber der Rest? Alles Kinderkacke, fand Lehmann.

 

Die Wachen kannten ihn. Eine russische Sicherheitsfirma, alles Georgier, die für die Nachtwölfe arbeiteten. Wohnten auch auf dem Gelände, man kannte sich. Dennoch wurde Lehmanns linkes Handgelenk zweimal von Lasern gescannt, die seine Anwesenheit registrierten. Die Nachtwölfe wussten zu jedem Zeitpunkt, wer sich in der Festung befand und wer nicht. Doch übertrugen sie diese Daten nie ins Internet, sondern in ihre eigene Steuerzentrale. Die Russenstadt verfügte über ein Inselnetz, das nur auf speziell modifizierten und codierten Rechnern lief. Internet existierte nur kabellos, jedoch unmöglich auf diesen Geräten, sie waren von außen absolut unhackbar.

Diese Zentrale lag irgendwo tief unten im Atombunker des Putin Towers. Von dort regulierten die Nachtwölfe die gesamte Infrastruktur der Russenstadt. Die Verteidigungssysteme, das Heiz-Kraftwerk, das Krankenhaus, die Gewächshäuser, Beleuchtung, Sonnenkollektoren, Ladestationen und die Wasserversorgung.

Dieses Inselnetz der Russenstadt stellte das einzige System dar, mit dem Lehmann Kontakt hatte.

Die Schleuse erteilte ihm die Freigabe und gab den Weg durch Thors Hammer frei. So wurde das Monstertor von Thyssen-Krupp genannt, in dessen Zentrum zwei glatte Durostahlwürfel von neun Metern Kantenlänge wie in einer gigantischen Briefwaage gegeneinander aufgehängt waren. 2400 Tonnen auf der inneren und 2400 Tonnen auf der äußeren Seite des Tors. Sie bildeten - perfekt in Waage - den neun Meter breiten, neun Meter hohen und 18 Meter langen Tunnel durch Thors Hammer. Diese 18 Meter zu durchqueren, war immer spooky, denn im Falle einer Bedrohung schlug Thors Hammer zu.

Der innere Durostahlwürfel schnellte mittels starker Hydraulik blitzschnell hoch, während der äußere Würfel in eine 9 Meter tiefe Grube fiel.

Zweimal in fünfzig Jahren hatte Lehmann diesen unverwechselbaren Ton vernommen.

Es schien einem, als schlüge Thor seinen Hammer mit voller Wucht gegen eine Glocke von der Größe des Eiffelturms, die Erde bebte kurz, Kaffeetassen fielen um, manch einer machte unter sich, andere wurden spontan religiös wie sonst nur beim Liebesspiel.

Beim ersten Mal, so um 2040, war Lehmann noch ein kleiner Junge gewesen und hatte irgendwie gedacht, dass da wohl ein Vietnamese mit superfettem Soundsystem Werbung für seinen Nudelsuppentempel machte. GONG!

Das zweite Mal blieb ihm heftiger in Erinnerung. Es geschah am 18. Juni 2074, also genau an Lehmanns vierzigstem Geburtstag und er stand auf seinem Balkon im 25. Stock. Der ging nach Westen raus, so dass man von dort oben stets die zweispurige Ameisenstraße beobachten konnte, die sich durch Thors Hammer bewegte, jedoch ohne einen Mucks zu hören.

Ein Ronny auf Drogen, der längst auf der schwarzen Liste stand, meinte - auf Drogen - es sei vielleicht eine gute Idee mit einem geklauten Truck durchzubrechen. Warum wusste nur er, man munkelte hinterher, er hätte dringend seinen Dealer sprechen wollen.

Der Typ kam - voll auf Drogen! - mit Anlauf, boxte alle E-Cabs vor ihm beiseite wie ein wütendes Kind im Bällebad und durchbrach die ID-Schleuse. Da sich am Ende des Tunnels noch ein E-Cab befand – darin zwei geclearte Einwohner der Russenstadt -  schlug Thors Hammer nicht sofort zu, sondern wartete, bis das E-Cab den Tunnel verlassen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Ronny - sowas von auf Drogen! - den halben Tunnel durchquert und raste auf den Tunnelausgang zu.

 

Dann schlug Thors Hammer die Glocke.

Es folgte eine Minuten lange Stille, bis das Turbinendonnern der E-Harleys aus der Tiefgarage des Putin Towers anschwoll und hinauf drang.

Eine weitere Minute später standen gut einhundert Nachtwölfe vor dem Tor, allerlei panzerbrechende Waffen im Anschlag. Und natürlich waren sämtliche Luftabwehrgeschütze auf den Dächern ebenfalls feuerbereit, denn sie konnten auch gegen Bodenziele eingesetzt werden. Lehmann hörte die Lafette direkt über seinem Balkon. Das elektrische Sirren der Servomotoren erklang und die Läufe schwerer MGs, die Schächte der Guided Missiles und Granatwerfer thronten etwa fünf Meter über Lehmanns Grill. Sie neigten sich hinunter in Richtung Thors Hammer, dass Lehmann meinte, sie berühren zu können, wenn er denn nur die Hände ausstreckte.

Die Lafette sah aus wie eine dieser lustigen Böller-Heuler-Raketen-Kombinationen, die man noch während seiner Kindheit an Sylvester hochgejagt hatte, Ein länglicher, nach oben offener Pappkarton mit einer fetten Lunte, der dann für 60 Euro ganze 30 Sekunden lang buntes Feuerwerk gen Himmel schoss, dass es eine Pracht war, und danach stank wie eine versengte Sau.

Lehmann brachte seine Grillwürste auf einem Teller in Sicherheit, wagte jedoch nicht, den Balkon zu verlassen, vielmehr winkte er seine Geburtstagsgäste nach draußen, verteilte die Thüringer Rostbraterzeugnisse und man starrte gebannt nach unten, in der Linken ein Bier und in der Rechten einen ordentlich gegrillten Phosphatschlauch.

Sollte die Lafette feuern, gäbe das gewiss einen heftigen Tinitus, bemerkte einer, ein anderer befürchtete gar, man könne so dunkel gegrillt werden wie Lehmanns Thüringer.

Doch Angst und Bedenken sind dem Berliner im Angesicht einer Sensation stets fremd und so lautete der unausgesprochene Konsens auf Lehmanns Balkon "Scheiß drauf!"

 

Die Thor-Crew - das schlechteste Wortspiel seit Tech-Nick - signalisierte Entwarnung. Der Drogen-Ronny war ein Einzeltäter, auf den äußeren Straßen blieb alles ruhig, nur die E-Cabs und einige Lieferfahrzeuge stauten sich.

Thors Hammer öffnete sich ganz leise. Langsam ließ die Hydraulik die beiden Durostahlwürfel wieder in ihre Balance zurückkehren, der äußere hob und der innere senkte sich neun Meter, bis die ebene Durchfahrt wieder hergestellt war. Von dem LKW war nichts zu sehen. Unglaublich.

"Los, das schaun wir uns an!", brüllte Lehmann und stürmte, eine angebissene Rostbratwurst wie eine Monstranz vor sich wedelnd, durch seine Wohnung in den Flur und zum Aufzug.

 

Sie waren die ersten Zivilisten, die sich der Stellung der Nachtwölfe näherten, welche johlend und feixend ihre Waffen in die Luft reckten und sich gegenseitig vor Lachen auf die Schultern schlugen. Erst als Lehmann dem Tor auf 40 Meter nahe gekommen war, erblickte er den Grund für die Belustigung:

Thors Hammer hatten den LKW wenige Zentimeter platt gemacht. Wie ein dünn ausgerollter Nudelteig klebte er an der Decke, ein Umstand, der an sich schon bizarr genug war, doch was die Nachtwölfe dazu brachte, sich derart zu bepissen, war der Unterarm des Ronnys, der wohl aus dem Seitenfenster des Trucks gehangen haben musste oder herausgeschleudert worden war.

Die Fahrertür war ganz nach außen gewalzt worden und mit ihr der Unterarm, der fast unversehrt erst aus ihr zu winken schien, doch sich nun langsam senkte. Gespannt wartete man, ob er herabfallen würde, doch er blieb senkrecht an der Decke hängen wie ein australisches Sieg-Heil. Typisch Ronny!

 

"Ok, Leute, bleibt in Deckung!" rief Dimitry Spermjankow, der Anführer der Nachtwölfe, und hob ein Mittelschweres MG deutlich sichtbar in die Luft. Dann richtete er es gen Tunneldecke auf den LKW-Pfannkuchen und begann zu feuern.