2084 - Noras Welt - Jostein Gaarder - E-Book

2084 - Noras Welt E-Book

Jostein Gaarder

4,4

Beschreibung

Wie es im Jahr 2084 auf der Erde aussieht, wenn wir so weitermachen wie bisher – das erlebt die 16-jährige Nora in ihren Träumen. Sie träumt von ihrer Urenkelin Nova, die ihr in einem Brief ihre Welt schildert: Der Meeresspiegel ist gestiegen, Klimaflüchtlinge ziehen umher, im Norden grasen Kamele, zahlreiche Arten sind ausgestorben. Im wirklichen Leben weiß Nora Bescheid über Ökologie, Klimawandel und Artensterben. Gemeinsam mit ihrem Freund gründet sie eine Initiative, um die Erdatmosphäre zu schützen. 20 Jahre nach „Sofies Welt“ stellt Jostein Gaarder in diesem spannenden Jugendbuch eine der drängendsten Fragen unserer Zeit: Können wir unsere Umwelt und das Klima retten?

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Aus dem Norwegischen

von Gabriele Haefs

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Anna – En fabel om klodens klima og miljø bei H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) in Oslo

ISBN 978-3-446-24422-1

© H. Aschehoug & Co., Oslo 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2013

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Umschlag: Marion Blomeyer, München | Umschlagzeichnung: Alessandro Gottardo, Milano | Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter: www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

1 Die Schlittenfahrt

2 Dr. Benjamin

3 Das Terminal

4 Blaulicht

5 Die Urgroßmutter

6 Die roten Kartons

7 Der Regenschirm

8 Öl

9 Dromedare

10 Das Archiv

11 Die Karawane

12 Die Roten Listen

13 Eine Winternacht

14 Das Welterbe

15 Die Luftballons

16 Das Schwimmbecken

17 Tulpen

18 Der Zündschlüssel

19 Das Wegelabyrinth

20 Die Berghütte

21 Klimazertifikate

22 Eine neue Chance

23 Die weißen LKW

24 Der Frosch

25 Die grünen Automaten

26 Gamification

27 Hübsche Ferienhäuschen

28 Aladins Ring

29 Der Internationale Klimagerichtshof

30 Die Fausthandschuhe

31 Der Tierpark

32 Identität

33 Der Planet

34 Der Brief auf dem Bildschirm

35 Ein logischer Fehler

36 Der Urgroßvater

37 Das Dorf

38 Ester

Nützliche Websites

DIE SCHLITTENFAHRT

Solange Nora denken konnte, waren die Familien aus dem Dorf zu Silvester mit dem Schlitten zu den Almhütten hinaufgefahren. Zur Feier des neuen Jahres striegelte und schmückte man die Pferde, und an den Schlitten wurden in der Dunkelheit Schellen und brennende Fackeln befestigt. In manchen Jahren fuhr eine Schneewalze voraus, damit die Pferde nicht im losen Schnee auf der Stelle traten, aber hinauf in die Berge ging es am Silvesterabend immer, und nicht auf Skiern oder mit dem Schneemobil, sondern mit Pferd und Schlitten. Die Weihnachtszeit hatte auch so ihren Zauber, aber die Schlittenfahrt zur Hütte in den Bergen war erst das wahre Wintermärchen.

Zu Silvester war alles anders. Zwischen Kindern und Erwachsenen ging es drunter und drüber, denn für diesen einen Tag im Jahr traten die gewohnten Familienregeln außer Kraft. Am Abend ging das alte Jahr ins neue über. Man überschritt eine unsichtbare Grenze zwischen dem, was gewesen war, und dem, was kommen würde. Ein glückliches neues Jahr! – Und vielen Dank für das alte!

Nora liebte den Silvesterabend und konnte sich nie entscheiden, was ihr besser gefiel: auf dem Weg hinauf zu sein, um den letzten Rest des alten Jahres zu feiern, oder, gut eingepackt in eine Wolldecke und im warmen Arm von Mama, Papa oder irgendjemandem aus dem Dorf, auf dem Weg hinunter, ins neue.

Doch zu Silvester des Jahres, in dem Nora zehn geworden war, war weder oben in den Bergen noch unten im Tiefland Schnee gefallen. Der Frost hatte sich längst in der Landschaft festgebissen, aber von ein paar Flecken hier und da abgesehen gab es keinen Schnee. Sogar die mächtige Schlucht lag schändlich nackt unter dem offenen Himmel und war ihres weißen Wintermantels beraubt.

Die Erwachsenen murmelten etwas von »globaler Erwärmung« und »Klimawandel«, und Nora prägte sich die für sie neuen Wörter ein. Zum ersten Mal in ihrem Leben ahnte sie, dass auf der Welt vielleicht nicht alles so war, wie es sein sollte.

Aber zu Silvester wollten sie trotzdem hinauf in die Berge, dann eben mit Treckern. Noch dazu musste der traditionelle Besuch auf der Hütte in diesem Jahr tagsüber stattfinden, denn ohne Schnee auf der Hochebene würde der Silvesterabend so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sah. Auch Fackeln würden da nicht viel helfen, ganz zu schweigen davon, dass Fackeln an einem Trecker oder Anhänger albern ausgesehen hätten.

Schon früh am Tag bewegten sich deshalb fünf Trecker mit Anhängern den Weg über die mit Birken bestandenen Hänge hinauf, und alle, die mitfuhren, hatten zu essen und zu trinken dabei. Schnee hin oder her – ein Prosit aufs neue Jahr und ein paar Spiele auf der gefrorenen Alm, dazu würde es ja wohl noch reichen.

Freilich wurde in diesem Jahr nicht nur über den fehlenden Schnee gesprochen. An den Tagen nach Weihnachten waren zweimal wilde Rentiere nahe bei den Höfen gesichtet worden, und obwohl alle scherzten, dass sie vielleicht der Weihnachtsmann nach der Bescherung am Heiligen Abend vergessen hatte, war Nora nicht entgangen, dass die Sache mit den Rentieren unheimlich und bedrohlich war. Nie zuvor waren wilde Rentiere in die Dörfer gekommen. Auf einem Hof hatten sie eins der verängstigten Tiere zu füttern versucht, und die Zeitungen hatten Bilder davon gebracht: »Wilde Rentiere fallen in die Dörfer ein …«

Am letzten Tag des Jahres war also ein ganzer Zug Trecker auf dem Weg hinauf in die Berge, und gleich auf dem ersten Anhänger saß Nora mit einer Handvoll anderer Kinder. Je höher sie kamen, desto gläserner wirkte die gefrorene Landschaft, also musste es unmittelbar vor dem Frosteinbruch geregnet haben, und die Kälte hatte alles erstarren lassen.

Als jemand am Wegrand einen Tierkadaver entdeckte, hielten die Trecker an. Das tote Tier war ein Rentier, starr vor Frost, und einer der Männer erklärte, es sei aus Mangel an Futter verendet.

Nora hatte das erst nicht ganz verstanden, aber wenig später erreichten sie die Hochebene, und sie sah, dass auch hier alles gefroren war. Kein Steinchen und kein noch so kleines Pflänzchen hätte sich aus dem harten Griff des Frosts herausbrechen lassen.

Beim See, dem Breavatnet, hielten die Trecker wieder an, und diesmal schalteten die Fahrer die Motoren aus. Es hieß, das Eis sei sicher, und Erwachsene und Kinder liefen freudig auf den See. Das Eis war glasklar, und der Jubel war groß, als sie entdeckten, dass man unter dem Eis Forellen schwimmen sah.

Bälle, Hockeyschläger und Rodelbretter wurden aufs Eis gebracht, aber Nora zog es vor, allein am Ufer entlangzugehen. Sie betrachtete das gefrorene Heidekraut und sah unter einer dünnen Eisschicht Moos und Flechten, Brombeeren und rote Krähenbeeren mit feuerroten Blättern. Es sah schön aus, fast so, als hätte man eine edlere, feinere Welt betreten. Doch dann fiel Noras Blick auf eine tote Maus … und dort lag noch eine. Und unter einer Zwergbirke lag ein toter Lemming. Nora wusste, was das bedeutete, und die märchenhafte Stimmung, die sie eben noch verspürt hatte, war verflogen. Sie wusste, dass Mäuse und Lemminge den Winter unter weichen Schneedecken zwischen Sträuchern und Gestrüpp verbrachten. Und wenn es keine weichen Schneedecken gab … dann wurde das Überleben für Mäuse und Lemminge schwer.

Nun wusste Nora auch, warum die wilden Rentiere ins Tiefland hinabzogen. Mit dem Weihnachtsmann hatte das nichts zu tun.

DR. BENJAMIN

Sechs Jahre später sitzt Nora mit ihren Eltern zu Hause in dem alten Holzhaus, das sie bewohnen. Draußen ist es schon seit Stunden dunkel, und Noras Vater hat alle Kerzen auf dem Kaminsims und der Fensterbank angezündet. Es ist der 10. Dezember, noch zwei Nächte bis zu Noras sechzehntem Geburtstag.

Ihre Eltern sitzen auf dem Sofa vor dem Fernseher. Sie sehen einen Film über den Stillen Ozean, ein Märchen für Erwachsene aus der Zeit der Segelschiffe. Oder ist es eine Dokumentation über einen der sagenumwobenen Kapitäne des 18. Jahrhunderts? Nora ist sich nicht sicher. Sie sitzt am Esstisch und schaut nur gelegentlich zum Fernseher hinüber. Sie hält eine große Schere in der Hand, mit der sie Artikel aus Zeitungen ausschneidet, die sich vor ihr auf dem Tisch stapeln …

Im August war Nora in die gymnasiale Oberstufe gewechselt, und schon nach wenigen Tagen auf der neuen Schule hatte sie Jonas kennengelernt, der eine Klasse über ihr war. Sie waren auf Anhieb gute Freunde geworden und hatten dann für eine Weile so getan, als wären sie ein Liebespaar. Es war ein Spiel, doch irgendwann war ihnen aufgegangen, dass es kein Spiel mehr war.

Nora saß mit einer großen Teetasse vor ihren Zeitungsausschnitten und lächelte. Seltsam, wie schnell sich das Leben verändern konnte!

Auf das, was heute passiert war, war sie allerdings gut vorbereitet gewesen. Sie hatte endlich Tante Sunnivas alten Ring bekommen. Dass der an ihrem sechzehnten Geburtstag in ihren Besitz übergehen würde, wusste sie schon lange, und nun hatten sie ihr den Ring schon heute überreicht, weil ihre Mutter am nächsten Morgen zu einer Tagung nach Oslo musste. Sie hatten schön zusammen gegessen, zum Nachtisch gab es eine Torte vom Konditor, die mit einer roten Marzipanrose geschmückt war, und nach dem festlichen Mahl hatten sie den Ring mit dem Rubin aus seiner alten Schatulle genommen. Seitdem steckte er an Noras Finger, und auch beim Ausschneiden musste sie sich das kostbare Stück immer wieder ansehen.

Der Ring war über hundert Jahre alt, und manche hielten ihn sogar für noch viel älter. Um das Familienkleinod rankte sich ein ganzer Schatz von spannenden Geschichten.

Außerdem hatte Nora zum Geburtstag das heiß ersehnte neue Smartphone bekommen. Aber so faszinierend es war, dass man nur einen kleinen Bildschirm berühren musste, um ins Internet zu kommen – an das wunderbare Erbstück reichte das kleine Wunderwerk der Technik nicht heran.

Es war ein seltsamer Herbst, und das Seltsamste war eine Reise nach Oslo Mitte Oktober gewesen. Der Grund für diese Reise war etwas, das Noras Umgebung schon seit dem Frühjahr ein wenig beunruhigte.

Nora hatte schon immer eine lebhafte Fantasie besessen. Wenn man sie fragte, woran sie gerade dachte, konnte sie schon als kleines Kind lange Geschichten aus dem Ärmel schütteln, und die Erwachsenen waren davon immer nur begeistert gewesen. Doch im Frühling dieses Jahres waren ihr plötzlich Geschichten in den Sinn gekommen, von denen sie glaubte, sie seien wirklich und wahrhaftig geschehen. Sie glaubte auch, dass sie diese Geschichten von irgendwoher empfing, dass sie vielleicht aus einer anderen Zeit, wenn nicht sogar aus einer anderen Wirklichkeit stammten.

Am Ende hatte sie sich überreden lassen, darüber mit einer Psychologin zu sprechen, und diese Gespräche hatten über den ganzen Herbst verteilt stattgefunden. Schließlich wollte die Psychologin Nora zu einem Psychiater in Oslo schicken, und Nora hatte keine Einwände. Sie fand nicht, dass sie sich wegen irgendetwas schämen müsste; es schmeichelte ihr sogar, dass sie von einem Psychiater untersucht werden sollte.

Sie verlangte nur, dass sie ohne Eltern hinfahren durfte, und Jonas bot an, sie zu begleiten. Als Noras Eltern darauf bestanden, dass einer von ihnen dabei sein müsse, kam es zu dem Kompromiss, dass Nora zwar mit Jonas fahren durfte, aber ihre Mutter in einem anderen Abteil desselben Zuges saß.

Es war früher Nachmittag, als die drei das Rikshospital in Oslo erreichten, wo Nora den Termin bei dem Psychiater hatte. Die anderen beiden durften nicht mit ins Sprechzimmer, und Nora merkte, dass ihre Mutter das als Niederlage erlebte. Sie wäre gern dabei gewesen, wenn die Seele ihrer Tochter erforscht wurde. Stattdessen musste sie wie Jonas im Wartezimmer ausharren.

Dr. Benjamin gefiel Nora vom ersten Augenblick an. Er war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und hatte seine langen, schon ein wenig grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. In einem seiner Ohrläppchen saß ein winzig kleiner veilchenblauer Stern, und aus der Brusttasche seines schwarzen Jacketts lugte ein roter Filzstift. Er hatte ein humorvolles Funkeln in den Augen und schaute Nora an wie jemand, der sich wirklich für sie interessierte.

Sie erinnerte sich noch gut an seine ersten Worte, nachdem er sie begrüßt und die Tür zum Wartezimmer geschlossen hatte. Er sagte ihr, sie hätten Glück, der Termin danach sei abgesagt worden, weshalb er jetzt besonders viel Zeit für sie habe.

Die Sonne schien in das Zimmer mit den weißen Wänden, und Nora sah die herbstlich roten und gelben Blätter der Bäume vor dem Fenster. Irgendwann im Laufe des Gesprächs entdeckte sie ein Eichhörnchen, das am Stamm einer Kiefer auf und ab huschte.

»Sciurus vulgaris«, rief sie, »das rotbraune Europäische Eichhörnchen. In England kommt es nicht mehr so häufig vor, da wird es gerade von den Grauhörnchen aus Amerika verdrängt.«

Der Psychiater schaute sie verwundert an, und Nora überlegte, ob er vielleicht von ihrem Wissen beeindruckt war. Als er sich in seinem Bürostuhl nach dem Eichhörnchen umdrehte, bemerkte sie das Foto einer schönen Frau. Es stand in einem roten Rahmen auf dem Schreibtisch. Eine Tochter oder seine Frau? Nora wollte ihn schon fragen, aber als er sich ihr wieder zuwandte und sein Schatten auf das Bild fiel, tat sie es nicht.

Nora hatte sich natürlich überlegt, wie so eine psychiatrische Untersuchung wohl ablief. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie der Psychiater es schaffen wollte, ihr in den Kopf zu sehen, aber sie hatte sich ausgemalt, dass er ihr vielleicht mit einem speziellen optischen Instrument in die Augen schauen würde. Vielleicht blickte er ihr auch durch die Augen hindurch ins Gehirn, oder durch die Nase und den Mund, schließlich war ein Psychiater, das wusste sie, ein richtiger Arzt und nicht nur ein Psychologe. Hätte man sie allerdings danach gefragt, dann hätte sie nicht sagen können, ob sie an solche Untersuchungsmethoden tatsächlich glaubte; es waren wohl eher Fantasien, die ihr wie schnelle Filmsequenzen kurz vor Augen gestanden und sich dann wieder verflüchtigt hatten. Wovor sie wirklich Angst hatte, war, dass der Psychiater sie hypnotisieren wollte, um zu den Geheimnissen ihrer Seele vorzudringen. Sie hoffte, das mit der Hypnose werde ihr erspart bleiben, denn ihr missfiel die Vorstellung eines Kontrollverlusts, bei dem sie womöglich alle ihre Geheimnisse preisgab. Da sollte ihr der Psychiater lieber mit irgendwelchen Instrumenten zu Leibe rücken.

Und dann hatten sie nur miteinander geredet! Der Psychiater stellte Nora viele interessante Fragen, und das Gespräch wurde bald so locker, dass sie den Mut fand, ihm ihrerseits Fragen zu stellen. Wie also stand es um Dr. Benjamin selbst? Fielen ihm manchmal auch merkwürdige Geschichten ein, die er dann seiner Familie und seinen Freunden erzählte? Träumte er manchmal auch, jemand anders zu sein als der, der er tatsächlich war? Waren seine Träume auch schon einmal wahr geworden?

Am Ende fasste Dr. Benjamin das Gespräch vorläufig zusammen.

»Nun, Nora«, sagte er, »ich kann bei dir keinerlei Anzeichen für eine psychische Erkrankung erkennen. Du besitzt eine ungewöhnlich ausgeprägte Fantasie und eine verblüffende Fähigkeit, dir Situationen vorzustellen, die du nicht selbst erlebt hast. Das mag dir bisweilen zu schaffen machen, aber krank bist du nicht.«

Damit hatte Nora auch nicht gerechnet. Sie war sich im Gegenteil ganz sicher gewesen, dass sie nicht krank war, und nur der Ordnung halber erinnerte sie den Arzt daran, dass sie manchmal fest an ihre Fantasien glaubte. Sie erklärte ihm, in solchen Fällen komme es ihr vor, als ob sie das, was ihr dann in den Sinn kam, eher empfange, als dass es irgendwo in ihrem eigenen Kopf entstehe.

Dr. Benjamin nickte nachdenklich.

»Ich glaube, das habe ich verstanden«, sagte er. »Deine Fantasie schießt manchmal übers Ziel hinaus, und wenn das geschieht, kann es gut sein, dass dir Dinge mehr als nur ausgedacht oder eingebildet erscheinen. Fantasie ist etwas, das allen Menschen eigen ist, es haben nur die einen mehr und die anderen weniger davon. Alle Menschen träumen, aber nicht alle wissen am nächsten Morgen noch, was sie geträumt haben. Vor allem in dieser Hinsicht scheinst du eine seltene Begabung zu besitzen. Du nimmst in den Tag mit, was du nachts geträumt hast …«

Sie legte jetzt ganz bewusst alle Karten auf den Tisch und sagte: »Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass die Träume aus einer anderen Wirklichkeit kommen, oder aus einer anderen Zeit.«

Wieder nickte der Psychiater.

»Auch solche Gefühle und Ahnungen sind tief in unserem Wesen als Menschen begründet. Die Menschen hatten zu allen Zeiten Erlebnisse, die sie den Kontakt zu übernatürlichen Mächten spüren ließen, ob es nun Götter waren, Engel oder Ahnen. Manche waren sich sogar sicher, solche Wesen mit eigenen Augen gesehen zu haben, oder behaupteten, sie seien ihnen leibhaftig begegnet. Auch das, was man unsere Glaubensfähigkeit nennen könnte, ist bei manchen Menschen höher entwickelt als bei anderen. Auch hier ist jeder Mensch anders. Einige sind nahezu dem ganzen Rest der Menschheit im Schach oder Kopfrechnen überlegen, andere übertreffen ihre Mitmenschen, was ihre Glaubensfähigkeit betrifft oder ihre Gabe zu fantasieren, und zu Letzteren zählt auch eine gewisse Nora Nyrud.«

Sie schaute wieder nach draußen, wo das Sonnenlicht in den bunten Blättern der Bäume spielte.

»Eine ernsthafte psychische Störung hättest du zum Beispiel, wenn du glaubtest, dass die Bienen und Hummeln zu Hause in eurem schönen Garten von der CIA gesteuert werden und dort nur herumschwirren, weil sie den Auftrag haben, dich zu bespitzeln …«

»Woher wissen Sie, dass wir zu Hause einen Garten haben?«, unterbrach sie ihn.

»Deiner Psychologin gegenüber hast du angeblich erwähnt, dass du keine Rentiere in eurem Garten haben möchtest.«

Nora lachte.

»Das mit den Rentieren hat sie falsch verstanden, aber es stimmt, wir haben einen Garten. Ich hab ihn sehr gern, und was die Bienen betrifft …«

»Ja?«

»Bienen sind ein Teil der Natur wie wir beide, und klar werden sie nicht von der CIA gesteuert, sondern von ihren Genen. Außerdem sind sie eine Art Botschafter, die uns sagen, wie es um Mutter Erde steht. Das glaube ich jedenfalls.«

»Genau wie ich«, sagte der Psychiater mit dem Pferdeschwanz. »Woran wir wieder sehen, dass man nichts von dem, was du mir erzählst, als Spinnerei abtun kann – und schon gar nicht als das, was wir in unserer Fachsprache ›bizarr‹ nennen.«

Während des ganzen Gesprächs hatte er gelegentlich einen Blick auf den Bildschirm seines Computers geworfen. Als er es jetzt wieder tat, ging ihr auf, dass er wahrscheinlich einen ausführlichen Bericht ihrer Psychologin vor sich hatte. Er fragte: »Gibt es etwas, wovor du dich fürchtest, Nora?«

Sie antwortete, ohne zu zögern.

»Die globale Erwärmung.«

Der nachdenkliche Psychiater schien kurz zusammenzuzucken. Er war offensichtlich ein erfahrener Arzt, aber dieses eine Mal schien er von ihrer Antwort überrascht.

»Wie war das?«

»Ich wollte sagen, dass ich Angst vor dem von uns Menschen verursachten Klimawandel habe. Ich habe Angst, dass wir heute Lebenden das Klima und die Umwelt ohne Rücksicht auf unsere Nachfahren in große Gefahr bringen.«

Dr. Benjamin überlegte kurz, dann antwortete er: »Was mir eine durchaus berechtigte Angst zu sein scheint, die ich dir aber leider nicht nehmen kann. Wenn du zum Beispiel Angst vor Spinnen hättest, wäre es etwas anderes. Bei Phobien, wie wir solche Ängste nennen, kann eine Therapie helfen, etwa eine schrittweise Gewöhnung an das, wovor ein Patient oder eine Patientin sich fürchtet. Die Angst vor der globalen Erwärmung können wir nicht behandeln.«

Nora schaute Dr. Benjamin in die Augen und dann auf den Stern in seinem Ohrläppchen.

»Wissen Sie, wie viel Tonnen CO2 die Menschheit während der letzten Jahrzehnte in die Atmosphäre geblasen hat?«

Zu Noras großer Überraschung antwortete der Psychiater wie aus der Pistole geschossen.

»Ich glaube, es gibt heute um die vierzig Prozent mehr CO2 in der Atmosphäre als vor der Zeit, in der wir ernsthaft begonnen haben, Öl, Kohle und Gas zu verbrennen, die Wälder abzuholzen und die heute übliche intensive Landwirtschaft zu betreiben. Es ist über 600000 Jahre her, dass das CO2-Niveau so hoch war wie heute, was darauf schließen lässt, dass wir Menschen unser heutiges Problem selbst verursacht haben.«

Nora war beeindruckt. Nach ihrer Erfahrung kannten sich nicht viele Menschen mit dieser wichtigen Materie so gut aus. Sie hob den Daumen und sagte: »Es sind schon so viele Klimagase freigesetzt worden, dass niemand weiß, welche Folgen das für das Klima und die Umwelt auf der Erde noch haben wird. Und es geht ja immer so weiter …«

Dr. Benjamin hatte die Hände flach auf den Schreibtisch gelegt. Er saß leicht vornübergebeugt und starrte für ein paar Sekunden auf die Tischplatte, bevor er wieder zu Nora aufblickte. Er sah jetzt fast ein wenig irritiert aus.

»Wir entfernen uns damit weit von dem, wofür ich als Arzt eigentlich zuständig bin, aber ich sage dir im Vertrauen, dass ich mir auch große Sorgen mache. Es liegt ja auf der Hand, dass wir zu viele fossile Brennstoffe verbrauchen, und da fragt man sich natürlich, was für schlimme Konsequenzen das für das Leben auf der Erde noch haben kann. So gesehen, könnten diese Dinge doch wieder in einer gewissen Beziehung zur Psychiatrie stehen …«

Als er kurz zögerte, sagte Nora: »Erzählen Sie weiter! Das klingt spannend.«

»Ich frage mich manchmal, ob wir nicht in einer Kultur leben, die solche grundlegenden Wahrheiten gezielt verdrängt. – Verstehst du, was ich meine?«

»Ich glaube schon. Wir finden manche Gedanken so schlimm, dass wir sie lieber vergessen oder gar nicht erst denken.«

»Genau, ja. So war es gemeint.«

Und plötzlich hatte Nora eine Eingebung. Sie hätte nicht sagen können warum, aber der Gedanke tauchte blitzartig auf, wie aus heiterem Himmel oder einer anderen Wirklichkeit als der, in der sie sich gerade befand. Der Gedanke war da, und sie hörte sich fragen: »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich Angst vor Arabern habe?«

Dr. Benjamin lachte herzlich.

»Dann würde ich wahrscheinlich vorschlagen, dass du dich hin und wieder mit arabischen Menschen triffst. Ich glaube, das wäre die wirkungsvollste Behandlung.«

»Hört sich gut an …«

»Aber wie ich schon sagte, die Angst vor der globalen Erwärmung behandeln wir Psychiater nicht. Die Frage wäre allenfalls, ob wir nicht eine Therapie gegen die fehlende Angst vor der globalen Erwärmung entwickeln sollten. Denn wir dürfen uns ja nicht an diese Bedrohung gewöhnen. Im Gegenteil! Wir müssen zusehen, dass es sie so bald wie möglich nicht mehr gibt.«

Dr. Benjamin sprach mit ihr wie mit einer Erwachsenen, und das gefiel Nora. Dennoch war sie verblüfft, als er sie jetzt fragte, ob sie Mitglied in einer Umweltorganisation sei. Im Sprechzimmer eines Arztes hätte sie das nicht erwartet. Andererseits war sie es, die das Thema Klimawandel aufgebracht hatte. Schließlich antwortete sie, da, wo sie wohne, gebe es so etwas nicht. Den Leuten dort gehe es eher um die Schule und die Arbeit, oder um Autos und Motorräder. Und am Wochenende natürlich um Partys und Besäufnisse.

»Der junge Mann draußen, ist das dein Bruder?«, fragte Dr. Benjamin.

»Nein, das ist Jonas. Er ist bloß mein Freund.« Nora lachte. Sie fand, »bloß mein Freund« klang gut.

Dr. Benjamin lachte mit. »Interessiert Jonas sich auch für solche Sachen?«, fragte er.

»Er ist eine Klasse über mir und hat Physik, Chemie und Biologie gewählt. Da lernt man so was natürlich …«

»Klar.«

»… und es ist ja auch keine Ansichtssache mehr. Was es mit dem Klimawandel auf sich hat, kann man wissen, oder man bleibt eben lieber dumm.«

»Ich glaube, da hast du leider recht. Es würde mich wundern, wenn auch nur einer von hundert unserer Landsleute wüsste, was es mit der Kohlendioxid-Bilanz auf sich hat.«

Nora gefiel dieser Psychiater immer besser. Über die komplizierte Sache mit der Kohlendioxid-Bilanz hatte sie erst kürzlich mit Jonas gesprochen, und dass sie sich damit auskannte, kam daher, dass sie in der Zehnten eine Hausarbeit über die globale Erwärmung geschrieben hatte.

»Wissen Sie es denn?«, fragte sie frech. »Könnten Sie’s erklären, wenn Sie wollten?«

Und tatsächlich versuchte es der sympathische Seelendoktor, während er den Computer ausschaltete und ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch zusammenschob. Er begann mit dem Kreislauf, den das Kohlendioxid in der lebendigen Natur durchmacht. Die Pflanzen nehmen das Kohlendioxid durch die Photosynthese aus der Luft und binden es an sich, also an lebende Organismen, während dasselbe Gas durch den Atem der Tiere und den Zerfall organischen Materials an die Luft abgegeben wird. Mit der Kohlendioxid-Bilanz meinte der Doktor dann vor allem das wunderbare Gleichgewicht zwischen der Menge Kohlendioxid, die durch Vulkanausbrüche in die Atmosphäre kommt, und der, die durch Wind und Wetter freigesetzt und am Ende in der Erdkruste gebunden wird. Diese Mengen waren über Hunderttausende von Jahren nahezu konstant, und weil die Menschen keinerlei Einfluss auf diesen Kreislauf hatten, brauchte er sie nicht zu interessieren.

»Das Kohlendioxid, das für Jahrmillionen in Öl, Kohle und Gas eingelagert war, war dem Kreislauf entzogen, und das haarfein austarierte Gleichgewicht …«

Nora sprach Dr. Benjamins Satz zu Ende: »… das haarfein austarierte Gleichgewicht haben die Menschen in Gefahr gebracht, als sie anfingen, Öl, Kohle und Gas zu verbrennen und damit zusätzliches CO2 in die Atmosphäre zu blasen.«

»So ist es, ja. Und obwohl das von uns Menschen zusätzlich freigesetzte CO2 nur ein kleiner Bruchteil dessen ist, was sich im natürlichen Kreislauf bewegt, entsteht eben doch ein Überschuss, den die Natur nun nicht mehr in der Erdkruste einlagern kann. Das ist der Grund, weshalb immer mehr CO2 in die Atmosphäre gelangt.«

»Wo es sich festsetzt«, sagte Nora.

»Genau, du kennst dich aus. Es ist im Grunde wie bei uns Menschen. Wenn wir jeden Tag ein paar Kalorien mehr zu uns nehmen, als unser Körper zum Leben braucht, setzen wir mit der Zeit Fett an. Die Atmosphäre setzt sozusagen CO2 an …«