Das Kartengeheimnis - Jostein Gaarder - E-Book

Das Kartengeheimnis E-Book

Jostein Gaarder

4,8

Beschreibung

Wer sind wir? Woher kommen wir? Als sich der 12-jährige Hans-Thomas mit seinem Vater aufmacht, seine Mutter Anita zu suchen, gelangt er auf mysteriöse Weise in den Besitz eines winzigen Buches. Es birgt ein großes Geheimnis und gibt ihm Rätsel auf. Doch das Sichwundern über die Welt und die unglaublichen Dinge, die darin möglich sind, stehen am Anfang eines jeden Philosophierens. Dies ist die Geschichte einer gleich dreifachen Reise: einer wirklichen nach Griechenland, einer phantastischen auf eine Insel, wo auf geheimnisvolle Weise ein Kartenspiel zum Leben erwacht, und einer gedanklichen in die Philosophie. Jede für sich wäre abenteuerlich genug - zu einer raffinierten Romanhandlung verwoben, werden sie zu einem Leseerlebnis der besonderen Art.

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Hanser eBook

Jostein Gaarder

DasKartengeheimnis

Mit Bildern vonQuint Buchholz

Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 1990

unter dem Titel Kabalmysteriet

bei Aschehoug & Co. (W. Nygaard) in Oslo.

ISBN 978-3-446-24239-5

©Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo 1990

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München Wien 1995/2013

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

INHALT

PIK

Pik As... da radelte ein deutscher Soldat über die Landstraße...

Pik Zwei... daß Gott im Himmel sitzt und darüber lacht, daß die Menschen nicht an ihn glauben...

Pik Drei... ein bißchen seltsam, so weit weg von aller Welt den Waldboden zu schmücken...

Pik Vier... was ich in Händen hielt, war ein Büchlein...

Pik Fünf... und hörte den Alten auf dem Dachboden herumgehen...

Pik Sechs... eine Limonade, die mehr als tausendmal besser ist...

Pik Sieben... ein geheimnisvoller Planet...

Pik Acht... als wäre ich in einen Wirbelwind aus einem fremden Land geraten...

Pik Neun... und glaubte immer, seltsame Dinge zu sehen, für die alle anderen blind waren...

Pik Zehn... wie ferne Inseln, die ich mit dem Segel dieses Bootes nicht erreichen konnte...

Pik Bube... Augen wie Kastanien...

Pik Dame... das Geräusch der Schmetterlinge war wie Musik...

Pik König... eine Begegnung der vierten Art...

KREUZ

Kreuz As... genau solche Symbole, wie man sie auf Spielkarten findet...

Kreuz Zwei... er schwenkte zwei Fahrscheine...

Kreuz Drei... ein schweres Kreuz...

Kreuz Vier... eine riesige Lotterie, bei der nur die Gewinnerlose sichtbar sind...

Kreuz Fünf... es war schwieriger geworden, Karten zu spielen...

Kreuz Sechs... als müßte er sich davon überzeugen, daß ich ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut war...

Kreuz Sieben... daß in meinem Mund Emaille und Elfenbein wuchsen...

Kreuz Acht... wenn unser Gehirn so einfach wäre, daß wir es verstehen könnten...

Kreuz Neun... einen glitzernden süßen Saft, der schwach perlt oder braust...

Kreuz Zehn... ich konnte nicht begreifen, wie etwas aus nichts entstehen konnte...

Kreuz Bube... wenn die Welt ein Zauberkunststück ist, dann muß es auch einen Zauberkünstler geben...

Kreuz Dame... er hätte das Meisterwerk wenigstens noch schnell signieren können...

Kreuz König... es quälte ihn ganz schrecklich, daß er nicht mehr über das Leben und die Welt wußte...

JOKER

Joker... er schlich sich wie eine giftige Schlange ins Dorf...

KARO

Karo As... ein gerechter Mann, der die ganze Wahrheit wissen wollte...

Karo Zwei... alter Meister empfängt wichtige Nachricht aus Heimat...

Karo Drei... sie wurde von ihrem eigenen Spiegelbild angezogen...

Karo Vier... ihr Händchen war kalt wie der Morgentau...

Karo Fünf... besonderes Pech war, daß der Inhalt meines Glases süß und lecker schmeckte...

Karo Sechs... ab und zu stiegen sie herab zur Erde und mischten sich unter die Menschen...

Karo Sieben... ein großer Karneval, in dem sich alle als Spielkarten verkleiden mußten...

Karo Acht... wir werden herbeigezaubert und wieder weggejuxt...

Karo Neun... wir sind alle vom selben Geschlecht...

Karo Zehn... einen kleinen Wicht, der hinter einem Zeitungskiosk hervorlinste...

Karo Bube... seine ganze Eitelkeit hing damit zusammen, daß er ein Joker sein wollte...

Karo Dame... dann brach der kleine Clown weinend zusammen...

Karo König...daß wir eine Glocke um den Hals tragen mußten...

HERZ

Herz As... ich drehte sie um, und es war – Herz As...

Herz Zwei... sie steht wohl an einem großen Strand und blickt übers Meer...

Herz Drei... eine aufgetakelte Frau mit einem breitkrempigen Hut...

Herz Vier... auch wir wissen nicht, wer die Karten austeilt...

Herz Fünf... es war jetzt wichtig, eiskalt zu sein und keine Vorschußlorbeeren zu verteilen...

Herz Sechs... so wahr wie die Sonne und der Mond...

Herz Sieben... Brötchenmann ruft in magisches Rohr...

Herz Acht... ein so phantastisches Wunder, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll...

Herz Neun... so lange ist die Welt noch nicht reif, von Frodes Patiencekarten und der magischen Insel zu hören...

Herz Zehn... es geht ein Narr durch die Welt, dem der Zahn der Zeit nichts anhaben kann...

Herz Bube... einen kleinen Mann, der sich auf dem Rücksitz zu schaffen machte...

Herz Dame... dann sahen wir eine ältere Dame aus dem Wirtshaus kommen...

Herz König... und die Erinnerungen sich weiter und weiter von dem fortbewegen, was sie einst geschaffen hat...

Vor sechs Jahren stand ich vor den Ruinen des alten Poseidon-Tempels auf Kap Sounion und blickte auf die Ägäis. Vor bald anderthalb Jahrhunderten kam der Bäcker-Hans auf die seltsame Insel im Atlantik. Und vor genau zweihundert Jahren erlitt Frode unterwegs von Mexiko nach Spanien Schiffbruch.

Ich muß so weit zurückgehen, um zu begreifen, warum Mama nach Athen durchgebrannt ist...

Ich würde so gern an etwas anderes denken. Aber ich weiß, daß ich versuchen muß, alles aufzuschreiben, solange noch etwas von dem Kind in mir übrig ist.

Ich sitze vor dem Wohnzimmerfenster auf Hisøy und sehe zu, wie draußen das Laub von den Bäumen fällt. Die Blätter segeln durch die Luft und legen sich wie eine lockere Decke über die Straßen. Ein kleines Mädchen stapft durch die Kastanien, die zwischen den Gartenzäunen herumhüpfen und zerplatzen.

Nichts scheint noch zusammenzuhängen.

Wenn ich an Frodes Patiencekarten denke, scheint es mir, als wäre die ganze Natur aus den Fugen.

PIK

PIK AS

... da radelte ein deutscher Soldat über die Landstraße...

Unsere große Reise ins Heimatland der Philosophen begann in Arendal, einer alten Hafenstadt in Südnorwegen. Wir setzten auf der Bolero von Kristiansand nach Hirtshals über, und über die Fahrt durch Dänemark und Deutschland gibt es nicht viel zu erzählen. Abgesehen von Legoland und dem riesigen Hamburger Hafen sahen wir im Grunde nur Autobahnen und Bauernhöfe. Erst, als wir die Alpen erreichten, passierte wirklich etwas.

Wir hatten eine Abmachung, mein Vater und ich. Ich durfte nicht sauer sein, wenn wir lange fahren mußten, ehe wir irgendwo zum Übernachten haltmachten, und er durfte im Auto nicht rauchen. Dafür beschlossen wir, viele Zigarettenpausen einzulegen. Diese Zigarettenpausen sind mir von der ganzen Fahrt in die Schweiz am besten in Erinnerung.

Sie fingen immer damit an, daß mein Vater einen kleinen Vortrag über etwas hielt, was er sich unterm Fahren überlegt hatte, während ich auf dem Rücksitz Micky Maus las oder Patiencen legte. Meistens ging es um etwas, das mit Mama zu tun hatte. Wenn nicht, verbreitete er sich über irgendeins von seinen Lieblingsthemen.

Seit er nach vielen Jahren auf See an Land gegangen war, interessierte er sich zum Beispiel für Roboter. Das wäre noch nichts Besonderes gewesen, aber bei ihm war damit lange nicht Schluß. Er war nämlich überzeugt, daß es der Wissenschaft eines Tages gelingen würde, künstliche Menschen herzustellen. Damit meinte er nicht solche bescheuerten Metallroboter, die mit roten und grünen Lämpchen leuchten und mit hohler Stimme reden. Nein, mein Vater glaubte, daß die Wissenschaft eines Tages richtige denkende Menschen, so wie uns, herstellen würde. Und das war noch nicht mal alles: Er hielt im Grunde alle Menschen jetzt schon für solche künstlichen Figuren.

»Wir sind quicklebendige Puppen«, sagte er oft, und besonders gern, wenn er ein oder zwei Gläschen intus hatte.

Als er in Legoland versonnen vor den vielen Legomenschen stand, fragte ich ihn, ob er an Mama denke, aber da schüttelte er nur den Kopf.

»Stell dir vor, das alles würde plötzlich lebendig, Hans-Thomas«, sagte er. »Stell dir vor, all diese Figuren liefen plötzlich zwischen den Plastikhäuschen herum. Was würden wir dann machen?«

»Du spinnst«, sagte ich bloß, denn ich war mir sicher, andere Väter, die mit ihren Kindern Legoland besuchten, redeten keinen solchen Stuß.

Ich beschloß, ihn um ein Eis zu bitten. Ich wußte nämlich schon, daß ich ihn am besten dann um etwas bat, wenn er mit seinen verschrobenen Ideen anfing. Ich glaube, er hatte ein bißchen ein schlechtes Gewissen, weil er mir ständig mit solchen Themen kam, und wer ein schlechtes Gewissen hat, neigt bekanntlich zur Freigebigkeit. Gerade wollte ich den Mund aufmachen, da sagte er: »Im Grunde sind wir selber solche lebendigen Legofiguren.«

Mein Eis war gesichert: Mein Vater kam endgültig ins Philosophieren.

Wir wollten nach Athen, aber nicht um normale Sommerferien zu machen: In Athen – oder jedenfalls irgendwo in Griechenland – wollten wir Mama suchen. Es stand nicht fest, ob wir sie finden würden, und wenn, stand nicht fest, ob sie mit uns nach Norwegen zurückkommen würde. Aber wir mußten es versuchen, sagte mein Vater, denn weder er noch ich konnte den Gedanken ertragen, für den Rest unseres Lebens ohne Mama auskommen zu müssen.

Mama war von Vater und mir weggegangen, als ich vier Jahre alt war. Deshalb nenne ich sie wohl immer noch »Mama«. Meinen Vater hatte ich nach und nach besser kennengelernt, und eines Tages war es mir nicht mehr richtig vorgekommen, ihn »Papa« zu nennen.

Mama wollte hinaus in die Welt, um sich selber zu finden. Mein Vater und ich sahen sogar ein, daß es für die Mutter eines vierjährigen Jungen allmählich Zeit wird, sich selber zu finden, und bestärkten sie in ihrem Vorhaben. Ich konnte nur nie begreifen, warum sie dazu fortgehen mußte. Warum konnte sie das nicht zu Hause in Arendal in Ordnung bringen – oder sich wenigstens mit einem Ausflug nach Kristiansand begnügen? Ich rate allen, die sich selber finden wollen, an Ort und Stelle zu bleiben. Sonst ist die Gefahr groß, daß sie sich endgültig verirren.

Mama war vor so vielen Jahren weggegangen, daß ich nicht mal mehr richtig wußte, wie sie ausgesehen hatte. Ich wußte nur noch, daß sie viel schöner war als alle anderen Frauen. Das sagte jedenfalls mein Vater. Er meinte auch, daß es für eine Frau desto schwieriger wird, sich selber zu finden, je schöner sie ist.

Ich hatte Mama seit ihrem Verschwinden überall gesucht. Jedesmal, wenn ich über den Marktplatz von Arendal ging, glaubte ich sie plötzlich zu sehen, und wenn ich Großmutter in Oslo besuchte, hielt ich ständig nach ihr Ausschau. Aber ich sah sie nie. Ich sah sie erst, als mein Vater diese griechische Modezeitschrift anschleppte. Dort war Mama – auf dem Titelbild und innen im Heft. Die Bilder zeigten ziemlich deutlich, daß sie sich noch immer nicht gefunden hatte. Denn es war nicht meine Mutter, die da abgebildet war: Sie versuchte ganz offensichtlich, einer anderen zu ähneln. Mein Vater und ich hatten schreckliches Mitleid mit ihr.

Die Modezeitschrift hatte meine Großtante aus Kreta mitgebracht. Dort hatte sie mitsamt den Bildern von Mama an jedem Zeitungskiosk gehangen. Man brauchte nur ein paar Drachmen über den Tresen zu schieben, schon hatte man sie. Ich fand diesen Gedanken fast ein bißchen komisch. Hier hatten wir jahrelang nach Mama gesucht, und da unten lächelte sie in aller Öffentlichkeit von einer Titelseite.

»Wo zum Henker ist sie denn da reingeraten?« fragte Vater und kratzte sich am Kopf. Trotzdem schnitt er die Bilder aus und hängte sie im Schlafzimmer auf. Lieber Bilder von einer, die Mama ähnlich sah, als gar keine, fand er.

Und dann beschloß er, daß wir nach Griechenland fahren müßten, um sie zu suchen.

»Wir müssen versuchen, sie wieder nach Hause zu schaffen, Hans-Thomas«, sagte er. »Ich habe Angst, daß sie sonst in diesem Modeabenteuer ertrinkt.«

Ich verstand nicht ganz, wie er das meinte. Ich hatte schon gehört, daß man in einem weiten Kleid ertrinken konnte, aber ich wußte nicht, daß das auch in Abenteuern geht. Heute weiß ich, daß alle Menschen sich davor in acht nehmen müssen.

Als wir bei Hamburg auf einem Autobahnrastplatz hielten, fing Vater an, über seinen Vater zu erzählen. Ich kannte die ganze Geschichte schon, aber hier, wo die vielen deutschen Autos an uns vorüberbrausten, war es doch etwas anderes. Es ist nämlich so, daß mein Vater ein Deutschenkind ist. Es macht mir jetzt nichts mehr aus, das zu sagen, denn inzwischen weiß ich, daß Deutschenkinder genauso in Ordnung sein können wie alle anderen Kinder. Aber ich habe gut reden. Ich habe nicht am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie es ist, in einer kleinen Stadt in Südnorwegen ohne Vater aufzuwachsen.

Sicher sprach mein Vater gerade jetzt über meine Großeltern, weil wir in Deutschland waren.

Alle wissen, daß es nicht so leicht ist, sich im Krieg etwas zu essen zu besorgen. Das wußte auch meine Großmutter, als sie mit dem Rad nach Froland fuhr, um Preiselbeeren zu pflücken. Sie war damals erst siebzehn. Das Problem war, daß sie eine Reifenpanne hatte.

Dieser Preiselbeerausflug gehört zu den allerwichtigsten Ereignissen meines Lebens. Es hört sich vielleicht seltsam an, daß das vielleicht wichtigste Ereignis meines Lebens mehr als dreißig Jahre vor meiner Geburt gelegen haben soll; aber wenn meine Großmutter an diesem Sonntag keine Panne gehabt hätte, wäre mein Vater nie geboren worden. Und wenn er nicht geboren worden wäre, dann hätte ich auch keine Chance gehabt.

Was also passierte, war, daß meine Großmutter mit einem Korb voller Preiselbeeren oben in Froland eine Reifenpanne hatte. Sie hatte natürlich auch kein Flickzeug bei sich, und selbst wenn sie das beste Flickzeug der Welt dabeigehabt hätte, hätte sie ihr Rad kaum allein flicken können.

Und da radelte ein deutscher Soldat über die Landstraße. Obwohl er ein Deutscher war, war er nicht besonders kriegerisch. Er war sogar sehr höflich zu der jungen Frau, die ihre Preiselbeeren nicht nach Hause schaffen konnte. Außerdem hatte er Flickzeug.

Wäre mein Großvater einer der gemeinen Rüpel gewesen, für die wir alle deutschen Soldaten, die damals in Norwegen waren, gerne halten, hätte er einfach an Großmutter vorbeifahren können. Aber darum geht es natürlich nicht. Vielmehr hätte Großmutter den Kopf in den Nacken werfen und sich weigern müssen, von der deutschen Besatzungsmacht Hilfe anzunehmen.

Das Problem war, daß der deutsche Soldat die junge Frau, der das Unglück passiert war, schließlich gern hatte. Na ja, und an ihrem größten Unglück war er dann auch schuld. Aber das war erst einige Jahre später.

Wenn er an diesem Punkt angekommen ist, steckt sich mein Vater immer eine Zigarette an. Es war nämlich so, daß meiner Großmutter der Deutsche auch gefiel. Das war das Blöde an der Sache. Sie bedankte sich nicht nur bei meinem Großvater, weil er ihr Fahrrad repariert hatte, sie war auch bereit, mit ihm zusammen nach Arendal zu fahren. Sie war ungehorsam und dumm, das steht fest. Aber das allerschlimmste war, daß sie bereit war, sich auch weiter mit dem Unteroffizier Ludwig Meßner zu treffen.

So verliebte sich meine Großmutter in einen deutschen Soldaten. Leider können wir es uns nicht immer aussuchen, in wen wir uns verlieben. Aber sie hätte beschließen müssen, sich nicht wieder mit ihm zu treffen, als sie noch nicht in ihn verliebt war. Das tat sie nicht, und dafür mußte sie büßen.

Meine Großeltern trafen sich heimlich. Hätten die Leute von Arendal erfahren, daß Großmutter sich auf Rendezvous mit einem Deutschen einließ, wäre sie aus der guten Gesellschaft ausgestoßen worden. Die normalen Leute hatten damals nur eine Möglichkeit, die Deutschen zu bekämpfen: nichts mit ihnen zu tun zu haben.

Im Sommer 1944 wurde Ludwig Meßner nach Deutschland zurückgeschickt, um das Dritte Reich an der Ostfront zu verteidigen. Als er sich in Arendal in den Zug setzte, verschwand er aus Großmutters Leben. Sie hörte nie wieder von ihm – auch nicht, als sie viele Jahre nach Kriegsende versuchte, ihn ausfindig zu machen. Schließlich war sie ziemlich sicher, daß er im Kampf gegen die Russen gefallen war.

Die Radtour nach Froland und alles, was darauf folgte, wäre womöglich in Vergessenheit geraten, wenn Großmutter nicht schwanger geworden wäre. Das muß unmittelbar vor der Abreise meines Großvaters an die Ostfront passiert sein, aber sie wußte es erst viele Wochen später.

Was danach passierte, nennt mein Vater menschliches Teufelszeug – und hier steckt er sich dann wieder eine Zigarette an. Mein Vater wurde unmittelbar vor der Befreiung im Mai 1945 geboren. Sowie die Deutschen kapituliert hatten, wurde Großmutter von Norwegern festgenommen, die alle Norwegerinnen haßten, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten. Leider gab es nicht wenige solche Frauen, und am allerschlimmsten hatten die zu leiden, die mit einem Deutschen ein Kind hatten. Die Wahrheit war, daß meine Großmutter mit meinem Großvater zusammengewesen war, weil sie ihn liebte – nicht, weil er Nazi war. Und er war auch gar kein Nazi. Ehe sie ihn am Schlafittchen packten und nach Deutschland schickten, hatten er und Großmutter Pläne geschmiedet, nach Schweden zu fliehen. Was sie davon abhielt, waren Gerüchte, daß die schwedischen Grenzposten deutsche Deserteure erschossen, wenn sie versuchten, die Grenze zu überqueren.

Die Leute in Arendal fielen über Großmutter her und schoren sie kahl. Sie schlugen und traten sie, obwohl sie doch gerade erst ein Kind bekommen hatte. Man kann mit gutem Gewissen sagen, daß Ludwig Meßner sich besser benommen hatte.

Ohne ein einziges Haar auf dem Kopf mußte Großmutter zu Onkel Trygve und Tante Ingrid nach Oslo fahren. In Arendal war sie nicht mehr sicher. Weil sie kahl war wie ein alter Mann, mußte sie selbst bei warmem Frühlingswetter eine Mütze tragen. Ihre Mutter wohnte weiterhin in Arendal, und fünf Jahre nach Kriegsende ging meine Großmutter mit Vater wieder dorthin zurück.

Weder meine Großmutter noch mein Vater wollten entschuldigen, was in Froland geschehen ist. Das einzige, was wir kritisieren dürfen, ist das Strafmaß. Es ist zum Beispiel eine interessante Frage, über wie viele Generationen ein Verbrechen bestraft werden sollte. Großmutter trägt natürlich ihren Teil Schuld an ihrer Schwangerschaft, und das hat sie auch nie abgestritten. Schon schwieriger finde ich zu entscheiden, ob es auch richtig war, das Kind zu bestrafen.

Ich habe darüber ziemlich viel nachgedacht. Mein Vater kam durch einen Sündenfall auf die Welt – aber können nicht alle Menschen ihre Wurzeln bis zu Adam und Eva zurückverfolgen? Ich weiß natürlich, daß dieser Vergleich hinkt. Im einen Fall ging es um Äpfel, im anderen um Preiselbeeren. Aber ein Fahrradschlauch sieht schließlich ähnlich aus wie die Schlange, die Adam und Eva in Versuchung führte.

Wie auch immer, jedenfalls wissen alle Mütter, daß sie sich nicht ihr Leben lang Vorwürfe wegen eines Kindes machen können, das schon geboren ist. Und dem Kind durfte man nun wirklich keine Vorwürfe machen, finde ich. Ich finde, daß auch ein Deutschenkind das Recht hat, sich seines Lebens zu freuen. In diesem Punkt hatten mein Vater und ich allerdings einige kleine Meinungsverschiedenheiten.

Mein Vater wuchs also als Deutschenkind auf. Die Erwachsenen in Arendal hatten zwar aufgehört, »Deutschendirnen« zu verprügeln, aber ihre Kinder schikanierten die Deutschenkinder weiter. Kinder äffen die Gemeinheiten der Erwachsenen nämlich nur zu gern nach. Das bedeutet, daß mein Vater eine harte Kindheit hatte. Und mit siebzehn hielt er es nicht mehr aus. Obwohl er Arendal so liebte wie alle anderen, fuhr er als Schiffsjunge zur See. Erst sieben Jahre später kam er nach Arendal zurück, da hatte er in Kristiansand schon Mama kennengelernt. Sie zogen in ein altes Haus auf Hisøy; dort wurde ich am 29. Februar 1972 geboren. So gesehen habe natürlich auch ich meinen Teil der Schuld für die Ereignisse auf Froland zu tragen. Und das nennen wir Erbsünde.

Nach einer Kindheit als Deutschenkind und vielen Jahren auf See hatte mein Vater schon immer eine Schwäche für geistige Getränke. Ein bißchen zu sehr, finde ich. Er behauptete zu trinken, um zu vergessen, aber genau in diesem Punkt irrte er sich. Denn gerade wenn er trank, fing er an, sich über meine Großeltern und sein Leben als Deutschenkind zu verbreiten. Ab und zu weinte er dann auch. Ich glaube, mit Hilfe der geistigen Getränke erinnerte er sich nur um so besser.

Nachdem er mir auf der Autobahn bei Hamburg noch einmal seine Lebensgeschichte erzählt hatte, sagte er: »Und dann ist Mama verschwunden. Als du in den Kindergarten kamst, bekam sie ihre erste Stelle als Tanzlehrerin. Später fing sie an, als Model zu arbeiten. Sie mußte öfter nach Oslo und zweimal auch nach Stockholm, und eines Tages kam sie nicht wieder nach Hause. Wir bekamen nur einen Brief, in dem stand, daß sie einen Job im Ausland hätte und nicht wüßte, wann sie zurückkommt. So was sagen Leute, die ein oder zwei Wochen wegbleiben wollen. Und jetzt ist sie schon über acht Jahre weg...«

Auch das hatte ich schon oft gehört, aber diesmal fügte Vater hinzu: »In meiner Familie hat immer irgendwer gefehlt, Hans-Thomas. Immer hat irgendwer sich verirrt. Ich glaube, das ist ein Familienfluch.«

Als er das mit dem Fluch sagte, bekam ich zuerst einen leichten Schrecken. Ich dachte darüber nach, als wir wieder im Auto saßen, und kam zu dem Schluß, daß er recht hatte.

Zusammen fehlten meinem Vater und mir ein Vater und ein Großvater, eine Frau und eine Mutter. Und mein Vater muß noch an etwas anderes gedacht haben. Als Großmutter noch klein war, wurde ihr Vater beim Holzfällen von einem umstürzenden Baum getroffen und starb. Auch sie ist also ohne richtigen Vater aufgewachsen. Vielleicht bekam sie deshalb ein Kind von einem deutschen Soldaten, der zum Sterben in den Krieg geschickt wurde. Und vielleicht heiratete dieses Kind deshalb eine Frau, die nach Athen ging, um sich selber zu finden.

PIK ZWEI

... daß Gott im Himmel sitzt und darüber lacht, daß die Menschen nicht an ihn glauben...

An der Schweizer Grenze hielten wir an einer geheimnisvollen Tankstelle mit nur einer Zapfsäule. Aus einem grünen Haus kam ein Mann, der so klein war, daß er ein Zwerg oder so etwas sein mußte. Vater breitete eine große Autokarte aus und erkundigte sich nach dem besten Weg durch die Alpen nach Venedig.

Der Zwerg antwortete mit piepsiger Stimme und zeigte auf eine Straße. Er konnte nur Deutsch, aber Vater übersetzte für mich: Der kleine Mann empfahl uns, in einem kleinen Ort namens Dorf zu übernachten.

Während er sprach, starrte er mich die ganze Zeit an, als ob er in seinem Leben noch kein Kind gesehen hätte. Ich glaube, er mochte mich, weil wir genau gleich groß waren. Als wir wieder losfahren wollten, gab er mir eine kleine Lupe in einem grünen Etui.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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