20XX - Philipp Röding - E-Book

20XX E-Book

Philipp Röding

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Beschreibung

Claudia fährt mit Jan in ein Wellnesshotel irgendwo im Grenzgebiet zwischen Österreich und Liechtenstein. Man hat sie zu einer literaturwissenschaftlichen Tagung eingeladen, dabei ist ihr Roman schon vor zwei Jahren erschienen und erwartungsgemäß von der Kritik ignoriert worden. Nicht mal Jan hat ihn gelesen. Sie verbringen die Tage mit merkwürdigem Sex und noch merkwürdigeren Mahlzeiten. Julius sucht seine Schwester Nora über soziale Netzwerke, er hat sie vor Jahren aus den Augen verloren, jetzt will er ihr vom Tod der Mutter berichten, die im Gefängnis unter ungeklärten Umständen verstorben ist. Nora lebt wohlstandsgelangweilt mit Karim zusammen, sie hat viel Geld mit Weinboutiquen gemacht, er mit Computerspielen. Hast du Lust ein bisschen zu schießen? fragt sie Julius. Der hätte eigentlich lieber ferngesehen … Rödings Figuren bewegen sich durch eine gefährlich surrende Gegenwart, sie sind gleichermaßen überspannt wie kontrolliert. Man sieht viel fern, das Internet ist überall. Während im Hintergrund schon wieder irgendein Nahost-Konflikt lautlos über den Bildschirm zieht, versucht man sich verzweifelt in unverbindlicher Kommunikation. Alles ist existenziell, nichts ist wichtig. 20XX ist gleichermaßen erschreckend komisch wie grandios traurig und die Held*innen sind umsponnen von einer virtuos entworfenen Verlorenheit.

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Claudia fährt mit Jan in ein Wellnesshotel irgendwo im Grenzgebiet zwischen Österreich und Liechtenstein. Man hat sie zu einer literaturwissenschaftlichen Tagung eingeladen, dabei ist ihr Roman schon vor zwei Jahren erschienen und erwartungsgemäß von der Kritik ignoriert worden. Nicht mal Jan hat ihn gelesen. Sie verbringen die Tage mit merkwürdigem Sex und noch merkwürdigeren Mahlzeiten. Julius sucht seine Schwester Nora über soziale Netzwerke, er hat sie vor Jahren aus den Augen verloren, jetzt will er ihr vom Tod der Mutter berichten, die im Gefängnis unter ungeklärten Umständen verstorben ist. Nora lebt wohlstandsgelangweilt mit Karim zusammen, sie hat viel Geld mit Weinboutiquen gemacht, er mit Computerspielen. Hast du Lust ein bisschen zu schießen? fragt sie Julius. Der hätte eigentlich lieber ferngesehen …

Rödings Figuren bewegen sich durch eine gefährlich surrende Gegenwart, sie sind gleichermaßen überspannt wie kontrolliert. Man sieht viel fern, das Internet ist überall. Während im Hintergrund schon wieder irgendein Nahost-Konflikt lautlos über den Bildschirm zieht, versucht man sich verzweifelt in unverbindlicher Kommunikation. Alles ist existenziell, nichts ist wichtig. 20XX ist gleichermaßen erschreckend komisch wie grandios traurig und die Held*innen sind umsponnen von einer virtuos entworfenen Verlorenheit.

PHILIPP RÖDING, * 1990 in Stuttgart, wuchs in Süddeutschland auf. Studium der Filmtheorie in Wien, Frankfurt am Main und an der University of Illinois. Lebt in Frankfurt am Main.

Bei Luftschacht erschienen:

20XX (Roman, 2020)

Die Möglichkeit eines Gesprächs (Roman, 2017)Die Stille am Ende des Flurs (Erzählungen, 2013)

Philipp Röding

20XX

Roman

© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuß – matthiaskronfuss.at

Satz: Luftschacht

gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: Finidr s.r.o.

Papier: Munken Print Cream 100 g/m2, Geltex glatt 115 g/m2,

Surbalin glatt 115 g/m2

ISBN: 978-3-903081-39-0

ISBN E-Book: 978-3-903081-74-1

Tief unter der oberen Halbinsel von Michigan windet sich eine tausend Meilen lange Antenne. Aufgrund ihrer enormen Länge kann diese Antenne extrem niederfrequente Radiowellen (Extremely Low Frequencies – ELF) erzeugen. Anders als gewöhnliche Radiowellen können diese Signale von Unterseeboten auf Tauchfahrt empfangen werden, was die Navy in die Lage versetzt, mit ihren Trident-Booten im Feld zu kommunizieren, ohne zu riskieren, dass diese beim Auftauchen entdeckt werden. Aus diesem Grund erachtet die Navy ELF als wesentlichen Bestandteil ihrer Strategie der nuklearen Abschreckung.

Das System ist leider nicht ohne Unzulänglichkeiten. ELF-Signale haben eine äußerst geringe Übertragungsrate und es kann Tage dauern, selbst eine einfache Nachricht zu übermitteln. Problematischer indes ist die „außergewöhnlich subtile“ Qualität des Signals. Nur wenige, besonders fähige Spezialisten sind in der Lage, das schwache Pochen eines ELF-Signals von den submarinen Umgebungsgeräuschen – Fischschwärmen, unterseeischen Vulkanen, Geräuschen aus dem Inneren des Bootes selbst – zu unterscheiden. Tatsächlich sind die Instrumente, die benötigt werden um ELF-Signale zu empfangen, derart sensibel, dass die Funker immer wieder versehentlich die Aufzeichnungen ihres eigenen Herzschlags an das Dekodierungsbüro weiterleiten.

VERNON FISHER – ELF *

* Der Text ELF war ursprünglich Teil einer Kunst-Installation des amerikanischen Künstlers Vernon Fisher im Dallas Museum of Art (1987); er wurde von ihm nochmals verwendet als Teil einer Installation im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington, D.C. (1988) und tauchte in Folge in einigen Malereien und Arbeiten auf Papier wieder auf. Darüber hinaus ist der Text Teil einer Sammlung von Short Stories, die unter dem Titel Navigating by the Stars bei Landfall Press, Santa Fe, New Mexico erschienen ist.

Der Abdruck des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Vernon Fisher.

Übersetzung: Philipp Röding

Inhalt

2001

20XX

JULIUS

KARIM

NORA

JULIUS

Im Gegenteil, erklärte die Hypnotiseurin, ihre Fähigkeit fühle sich für sie ganz natürlich an. Es ist so einfach, wie das Ladekabel in die Ladebuchse eines iCubes zu stecken. Sie schwieg und sah in den Raum hinein. Manchmal merke sie gar nicht, erzählte sie, dass sie gerade dabei war, jemanden zu hypnotisieren. Sie schaue ihr Gegenüber an und gebe spontan eine Suggestion. Sie bitte die Leute zum Beispiel, sich eine Blumenvase vorzustellen, oder dass sie mit einem Mal fliegen können. Manchmal gebe sie auch überhaupt keine Suggestion, sondern ließe ihr Gegenüber einfach eine Weile in dem ausgeleerten Schwebezustand der Trance verweilen. Es sei schön, den Menschen, die man liebt, ein solches Geschenk machen zu können. Für sie selbst sei es oft unklar, wo das Gespräch endet und die Suggestion anfängt. Sie sei da alles andere als dogmatisch. Während ihres Vortrags lief die Hypnotiseurin auf der Bühne auf und ab und zerrte dabei das Kabel des Mikrofons hinter sich her. Jan konnte sich gut vorstellen, wie sie auf dem WC ihrer 1-Zimmer Wohnung hockte, nachdenklich an den Fingernägeln kauend. Das Leben musste ihr rätselhaft erscheinen. Vollkommen rätselhaft. Er schaute zu Claudia rüber. Ihr Mund war leicht geöffnet und sie hatte die Augen geschlossen, wie immer, wenn sie sich konzentrieren musste. Hatte die Hypnose bereits begonnen zu wirken?

Zuweilen, fuhr die Hypnotiseurin fort, käme es vor, dass sie sich selber in Trance versetzen würde. Dann falle sie durch die Dunkelheit des Raums und erwache oft erst Stunden später mit einem unglaublichen Gefühl der Entspanntheit. Als Kind sei ihr das häufig passiert, sie habe sich so sehr auf ein Comicbuch konzentriert, dass sich die Zeit um sie herum staute und sie darin verloren ging. Ein solches Verhalten war nicht ungefährlich. Man drohe den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren. Wie ein Ultraleichtflugzeug, sagte sie, das auf einem Planeten ohne nennenswerte Schwerkraft ungebremst ins Bodenlose stürzt. Sie hielt einen Moment inne, so als erlebe sie die von ihr beschriebene Situation mit einem Mal wirklich. Dann fasste sie sich und fuhr fort. Mit der Zeit habe sie gelernt, diese besondere Fähigkeit als Teil ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren und ihren Nutzen zu erkennen. Sie sei als Mensch eher introvertiert, außer wenn sie betrunken sei, dann gerate sie völlig außer Rand und Band. Die Hypnose helfe ihr dabei, ihre Schüchternheit zu überwinden und auch im Alltag oder auf Partys besser mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen, ohne dazu die Hilfe von Alkohol oder anderen Drogen in Anspruch nehmen zu müssen. Für das Programm heute Abend hätte sie sich überlegt, ausgewählte Freiwillige auf eine hypnotische Reise mitzunehmen. Niemand von Ihnen wird diesen Raum heute Abend verlassen, sagte sie mit gespielter Dramatik, und doch werden Sie ganz woanders sein. An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit. Das „Ziel“ dieser Reise könne vorher ausgewählt werden. Sie habe mehrere „Destinationen“ zur Auswahl. Je nach Belieben könne sie die Person zu einem Ort ihrer Kindheit begleiten oder in ein japanisches Zen-Kloster oder auf eine Raumstation. Einige dieser Reisen habe sie auf Schulungen erlernt, andere, wie die Raumstation, habe sie selbst entworfen. Man könne auch selber einen Vorschlag machen, allerdings laufe die Reise dann Gefahr, etwas undeutlich zu werden, da sie sozusagen improvisieren müsse. Man solle sich indes keine Sorgen machen, sie würde zu jedem Zeitpunkt der Reise anwesend sein und dafür sorgen, dass die Freiwilligen keine verschütteten Erinnerungen aufspüren würden. Sie werde ihr Bestes geben, die Reise zu einem durch und durch angenehmen Erlebnis zu machen. Auch werde sie dem oder der Freiwilligen vorher ein geheimes Stoppwort ins Ohr flüstern. Einmal ausgesprochen würde dieses Wort die Trance abrupt beenden. Dann beschirmte sie die Augen mit der Hand und sah sich im Raum um, bis ihr Blick auf den von Claudia traf.

Als sie eigentlich schon überhaupt nicht mehr konnten, erreichte Claudia die Einladung zu einer literaturwissenschaftlichen Tagung. Die Tagung befasste sich mit Tendenzen der zeitgenössischen Literatur und Claudia war eingeladen worden, in diesem Zusammenhang über ihren Roman zu sprechen. Das Ganze sollte in einem Wellnesshotel stattfinden, irgendwo im Grenzgebiet zwischen Österreich und Liechtenstein. Der Einladung war eine Wegbeschreibung angefügt. Die Kosten würden für sie und ihre Begleitung für die gesamte Dauer der Tagung vollumfänglich übernommen. Vollumfänglich übernommen, las Claudia vor und sah Jan an, der gerade in einem Gedichtband von Christian Kracht blätterte. Huh, machte Jan. Sie konnten es beide nicht fassen.

Das Hotel lag fernab befahrbarer Straßen, und sie hatten den Wagen auf einem Parkplatz im Tal stehen lassen müssen. Die parkenden Autos machten den Eindruck, als hätten ihre Besitzer irgendwo in den umliegenden Wäldern den Verstand verloren. Einer der Kombis sah so aus, als stünde er schon seit Jahren hier. Die Windschutzscheibe war vom Schmutz blind geworden und im Inneren konnte man ausgebleichte Verpackungen ausmachen und durcheinander geratenes Campingmaterial. Ein Singvogel mit zitronengelbem Gefieder benutzte die Dachträger eines Geländewagens als Singwarte und flog auf, als sie vorbeikamen. Wahrscheinlich eine Art Zeisig, dachte Jan. Aber um diese Jahreszeit und so spät am Tag?

Der Aufstieg verlief ereignisarm. Sie konzentrierten sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und gleichmäßig zu atmen. Anderen Wandergruppen begegneten sie nicht. Sie waren noch immer einigermaßen gut in Form, dachte Jan, obwohl ihre Jugend mittlerweile etwas zurücklag. Wie weit lag sie in Wahrheit zurück, fragte er sich. Sicherlich etwas weiter als sie dachten. Die Mitgliedschaft im Fitnessstudio, die sie einander zu ihrem zehnten Jahrestag geschenkt hatten, zahlte sich jedenfalls aus.

Sie hatten zweifellos ein Jahr der Angst hinter sich gebracht. Ein Jahr, in denen ihnen nach und nach jede Gewissheit über ihr eigenes Leben abhandengekommen war und in dessen Verlauf sie misstrauisch und vorsichtig geworden waren. Jan konnte sich nicht mehr erinnern, ob es jemals anders gewesen war als jetzt. Diese immer häufiger auftretenden Regenstürme zum Beispiel, die zum Teil wochenlang andauerten und von denen Claudia dann sagte, sie erinnerten sie an bestimmte Szenen in Sherlock Holmes Geschichten, die Jan nie gelesen hatte und Claudia vermutlich auch nicht. Hatte es die schon immer gegeben?

Er dachte darüber nach, was die Einladung, an der Tagung teilzunehmen, in Claudia ausgelöst hatte. Ihr Roman war bereits vor zwei Jahren erschienen und war erwartungsgemäß von der Kritik ignoriert worden. Die wenigen Preise, für die man das Debüt nominiert hatte, gewannen letztlich andere. Bereits nach wenigen Wochen war der außergewöhnlich umfangreiche Band wieder von der Theke mit den Neuerscheinungen verschwunden. Auch Jan hatte den Roman nie gelesen, oder zumindest nicht vollständig. Sie hatte ihn nie darum gebeten und er hatte keinen Anlass gesehen, es zu tun. Das Wenige, was er wusste, war, dass es sich um einen historischen Roman handelte, dessen Geschichte im zweiten Weltkrieg angesiedelt und deren Hauptfigur ein mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteter Landser war. Einmal hatte er in einem Moment voller Scham eines der Autoren-exemplare aus dem Regal in Claudias Arbeitszimmer genommen und an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen. Den namenlosen Landser hatte es in ein Gebiet „weit östlich der Wolga“ verschlagen. Es folgten seitenlange, wenig elegante Schilderungen einer trostlosen Landschaft, die ganz offensichtlich von Tolkien inspiriert waren. Irgendwann trifft der Landser, der zu diesem Zeitpunkt bereits halb verhungert und dem Wahnsinn nahe ist, „inmitten dieser baumlosen Steppe“ auf eine Gruppe Eingeborene. Die Geisterseherin der Gruppe, die seine paranormale Begabung sofort erkennt, nimmt sich seiner an. Es kommt zu einer langen, detailliert beschriebenen Phase unerbittlichen psycho-physischen Trainings à la Krieg der Sterne, nach dessen Abschluss der Landser in der Lage ist, durch die Luft fliegende Handgranaten allein mit der Kraft seiner Gedanken zum Feind zurückzuschicken. Während der Übungen entwickeln sich zwischen dem Landser und der Geisterseherin langatmige Gespräche über die politische Philosophie des Nationalsozialismus und die Frage des freien Willens. Die Geisterseherin klärt den Landser über die Anwesenheit der Toten auf. Die Toten, sagt sie, seien jederzeit anwesend. Sie beobachten uns und beeinflussen zum Beispiel die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen. Die Toten lieben die Sprache, sagt die Geisterseherin, sie wohnen in ihr wie in einem Haus. Nachts schreckt der Landser aus entsetzlichen Visionen auf, in denen er gezwungen wird, aus einem Luftschiff heraus über einer brennenden Stadt abzuspringen, in der der Leser das Los Angeles der Zukunft erkennt. Gegen Ende des Romans kommt es vor den Toren von Berlin zu einem telepathischen Showdown zwischen dem Landser und einer sowjetischen Scharfschützin, deren Geschichte man in kurzen Zwischentexten erfährt und deren Spezialfähigkeit darin besteht, für einige Augenblicke die Zeit anzuhalten. Wenn er ehrlich war, erinnerte Jan das Ganze sprachlich und stilistisch an bestimmte Videospiele aus der Wolfenstein-Reihe, von denen er wusste, dass Claudia sie mit geradezu unheimlichem Eifer und oft die ganze Nacht hindurch spielte.

Die Einladung war ein deutliches Signal gewesen, dachte er jetzt, eine Art Aufruf zum Kampf. Alles, so glaubte er, würde sich nun bald wieder normalisieren. Er vermutete, dass auch Claudia sich freute, wovon sie sich indes überhaupt nichts anmerken ließ. Andererseits war ihm schon oft aufgefallen, wie sich Claudia durch diese zur Schau gestellte Gleichgültigkeit zu schützen versuchte. Ich glaube, es bedeutet nichts, hatte sie ihm am Tag der Abreise gesagt und eine Falte ihrer Shorts inspiziert. Sie waren dabei gewesen, das Auto zu beladen. Was auch immer sie sich von mir erwarten, es bedeutet nichts. Jan hatte nicht gewusst, was er sagen sollte und genickt.

Warum nickst du, fragte Claudia.

Die Konferenz begann. Jan hatte nichts zu tun und ging vormittags, während Claudia an den Workshops teilnahm, in den umgebenden Wäldern spazieren. Einmal kam ihm auf einem dieser Spaziergänge ein Paar entgegen, etwas älter als er selbst. Der Mann trug eine Jogginghose von Nike und einen grauen Sweater, der mit dem Namen einer amerikanischen Eliteuniversität bedruckt war. Auf die Kleidung der Frau achtete er nicht besonders, denn ihr ganzes Gesicht und zum Teil auch ihre Haare, waren mit einem weißen, klebrigen Gel verschmiert. Ihre Wimpern und Lider waren dermaßen verklebt, dass sie nicht mehr in der Lage war, die Augen zu öffnen, weswegen der Mann sie führen musste wie eine Blinde, und als die beiden vorüberkamen grüßte der Mann und die Frau streckte die Arme aus und fragte, wer da sei, und der Mann sagte: ach, nur so eine Schwuchtel, die hier im Wald spazieren geht, und lächelte Jan an, und Jan sagte nichts, sondern suchte in der Innentasche seiner Jacke nach einer Marlboro, bis ihm einfiel, dass er schon seit zwei Jahren nicht mehr rauchte. Als er ins Hotelzimmer zurückkehrte, lag Claudia in einem Bademantel, auf dessen Brusttasche das Logo des Hotels samt fünf kleiner, roter Sterne eingestickt waren, auf dem Doppelbett und sah sich im Fernsehen die Nachrichten an. Offensichtlich hatte sie sich gerade geduscht, vielleicht war sie auch direkt nach der Nachmittagssitzung ein paar Bahnen geschwommen, jedenfalls lagen ihre Haare auf dem Kopfkissen ausgebreitet wie die Strahlen einer Glorie, was Claudia deshalb tat, weil die Haare sich dann beim Trocknen leicht lockten. Jan begrüßte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und einen auf ihr rechtes Augenlid und einen auf den feuchten Haaransatz, der nach den Fruchtsäuren des Conditioners roch. Claudia versuchte an seinem Kopf vorbei auf den Fernseher zu schauen, offensichtlich interessierten sie die Nachrichten sehr. Irgendwo im nordöstlichen Atlantik war ein U-Boot verlorengegangen. Vor vier Tagen hatte die USS Virginia Woolf das letzte Mal einen Funkspruch abgesetzt. Der erste Offizier hatte vom Wetter gesprochen, von einer gigantischen, ambossförmigen Kumulonimbuswolke, die sich über dem Nordatlantik aufgetürmt hatte wie das Mutterschiff einer außerirdischen Invasionsarmee, und von der vorherrschenden Dünung und dem (geheimen) Kurs, auf dem sie sich befanden. Außer einem kleinen Defekt in einer der Batterien seien Schiff und Besatzung wohlauf und einsatzbereit. Man mache sich bereit zum Tauchen, um dem aufziehenden Sturm zu entkommen. Seitdem galt die Woolf als verschollen. Jan ging dann selbst ins Bad, um sich zu duschen, und unter der Dusche erschien ihm wieder das Gesicht der Frau, das ausgesehen hatte, als hätte jemand in mühevoller Kleinarbeit mehrere Schichten Zuckerglasur aufgetragen, und wie sie gefragt hatte, wer da sei und die Arme vor sich ausgestreckt hielt, als hätte sie Angst, vornüber in die Finsternis zu stolpern. Diese Frau, dachte Jan, war auf der Suche nach mir. Sie hat mich gesucht, damit ich sie fortbringe von hier. Auf dem Pullover des Mannes hatte in graublauer Blockschrift das Wort STANFORD gestanden. Als Jan aus dem Bad kam, nackt, denn er hatte seinen eigenen Bademantel schon am ersten Abend im Saunabereich liegen lassen, sah er, dass Claudia am Telefon war, was ihn panisch machte, und nachdem sie aufgelegt hatte, fragte er sie, wer denn das gewesen sei, und sie sagte: die Rezeption, wir sollen zum Abendessen runterkommen, und nach einer kleinen, delikaten Pause fügte sie hinzu: aber ich hätte wahnsinnige Lust zu vögeln, ich dachte mir, wir könnten vielleicht noch rasch vögeln, bevor wir runtergehen, wenn du nichts dagegen hast, und Jan hatte nichts dagegen und er näherte sich langsam dem Bett, so als hielt ihn ein Dickicht aus unsichtbaren Rosenranken zurück, während Claudia den TV mit der Fernbedienung auf lautlos stellte.

Zum Abendessen wurde an diesem Tag zur Vorspeise erst frischer Vogerlsalat mit Speckwürfeln, Eierspalten und Sauerrahmdressing sowie Pastinaken-Schaumsuppe mit Pesto gereicht, als Zwischengang ein rotes Johannisbeer-Sorbet mit Winzersekt und zum Hauptgang ein im Ganzen gebratenes Rinderfilet mit Kartoffelgratin und buntem Frühlingsgemüse. Zum Nachtisch gab es Walderdbeeren auf Vanillecreme, Valrhona-Schokoladenmousse, Apfelstreuselkuchen, Joghurt-, Pfirsich-, Sacher- und Himbeerschnitten, Zwetschken-Marillenstrudel sowie lokale Käsespezialitäten mit Frucht-Senfsaucen.

Als sie den Zwischengang abwarteten, fragte Jan, ob sie bereits Gelegenheit gehabt habe, über ihren Roman zu sprechen. Sie schüttelte den Kopf. Noch nicht, antwortete sie und schaute sich im selben Moment nach einem Kellner um. Das Personal war an diesem Abend wenig aufmerksam.

In der Nacht träumte Jan, dass er sich in einem Einkaufszentrum verlaufen hatte. Er wusste, dass Claudia dieses Einkaufszentrum entworfen hatte und dass er im Begriff war, sie zu verlieren, und dass die Architektur des Einkaufszentrums einen Versuch ihrerseits darstellte, genau dies zu verhindern. Sie selbst hatte nichts geträumt und überhaupt kaum geschlafen, sondern sich im Fernsehen Stanley Kubricks Meisterwerk 2001: A Space Odyssey angesehen und danach noch jeweils mehrere Folgen von Heidi Klums: Germany’s Next Top Model sowie Rach, der Restauranttester.

Zum Frühstück gab es an diesem Morgen Birchermüsli aus Dinkelflocken, hausgemachte Marmelade, Honig aus dem Ort, Frischmilch, Biojoghurt, Bio-Fruchtjoghurt, einen Apfelkorb, die Käsespezialitäten vom Vorabend mit Frucht-Senfsaucen, Karree- und Bauchspeck, Birne und Rohschinken, Bura-Omelette, Rührei, geräucherten Nussschinken, Gewürzschinken, Biosalami, Rauchsaftschinken, Essiggemüse, Extrawurst, Landjäger, Kaminwurzen, geräucherte Bachforellen mit Sahnekren, eingelegte Felchenfilets, Lammsülze, Lumpensalat, Bärlauch-Hüttenkäse, gemischte Salate, verschiedene hausgemachte Aufstriche, Käsesuppe mit Croutons, Wälder-Hühnchen, Lammragout, Kalbsrahmgulasch, buntes Gemüse, Bratkartoffeln, Serviettenknödel, Butterspätzle, Kuchenvariationen, einen Osterzopf, Fruchtsalat, Kaiserschmarren, Riebel, Apfelmus und Zwetschkenröster. Zum Trinken gab es Milchkaffee, Espresso, heiße Schokolade, verschiedene Tees sowie einen Taittinger Jahrgangssekt. Claudia, der an diesem Morgen übel war, nahm nur einen Americano zu sich und eine halbe Scheibe verbrannten Toast.

Als Jan an diesem Vormittag im Wald spazieren ging, begegnete ihm niemand. Nur eine kleine Blindschleiche schlängelte zwischen dem Laub umher und ihre Perspektive auf die Welt war mit der von Jan sicher nicht zu vergleichen und ihre Wahrheit und ihre Krisen mussten andere sein. Gegen Mittag begann dichter Nebel aufzuziehen, und weil es Jan unheimlich zumute war, beschloss er, nicht wie sonst bis zum alten Brunnen zu gehen, sondern sich früher als gewöhnlich auf den Rückweg zu machen. In der Lobby des Hotels kam ihm die Empfangsdame entgegen und teilte ihm mit, die Konferenzteilnehmer würden heute für sich zu Mittag essen, man könne jedoch jederzeit, falls er dies wünsche, in der sogenannten „Bauernstube“ auftragen lassen, einem vis-à-vis der Rezeption gelegenen, mit unbehandeltem Fichtenholz vertäfeltem Raum, der am Abend als Bar fungierte. Jan mochte es auf den grob gezimmerten, niedrigen Bänken der Bauernstube zu sitzen. An den Wänden des Raums hatte das Management nichtssagende Kunst aufgehängt, die ihm sehr gut gefiel. Es handelte sich um romantische Ansichten von toskanischen Villen, bukolische Softcore-Szenen mit braunäugigen Hirtenmädchen, die sich an einsamen Brunnen über die Börsenkurse unterhielten und die nicht bemerkten (oder es war ihnen einfach egal), dass ihnen ihre Tuniken und Leibchen von den Schultern gerutscht waren, Rehlein im Walde, deren Rast auf einer Lichtung von einer für den Betrachter unsichtbaren Präsenz unterbrochen wurde, ein Wandersmann, der in sich gekehrt ein über dem Hochgebirge aufziehendes Unwetter registriert, verfinsterte Landschaften und Highways, oder endlose Lavendelfelder in der Provence. Was es denn gäbe, fragte Jan die Empfangsdame. Zur Vorspeise eine Steinpilzsuppe, als Hauptgang Spaghetti Milanese und zum Nachtisch Pistazieneis oder geeisten Espresso, gab diese zur Antwort und ob man auftragen solle, und als Jan bejahte, quittierte sie dies mit einem Knicks was Jan manieriert und anachronistisch fand und gleichzeitig sehr wohlfeil und sexy. Neben Jan befand sich nur ein älterer Herr in der „Bauernstube“, offensichtlich ein Dauergast des Hotels, der aussah, als habe er den Großteil seines Lebens an der monegassischen Rennstrecke zugebracht und der sich schon morgens mit Weißwein betrank und die Bar oft erst in den späten Abendstunden wieder verließ. Jan vermutete einen vereinsamten Salonlöwen, dem am Ende seines Lebens alle Freundinnen abhandengekommen waren und der nicht mehr wusste, was das alles sollte und warum er überhaupt noch am Leben war. Während er in seinen Spaghetti herumbohrte, spürte Jan eine Beklemmung in sich, die umso schmerzhafter war, als er wusste, dass es unmöglich sein würde, sie Claudia später mitzuteilen. Eine Gefühlslage, die unsinnig war und ihm die Kehle zuschnürte und die ihn stets nur auf sich selbst zurückwarf, ihn untröstlich zurücklassen würde und die wohl nur ihm alleine galt oder höchstens noch dem einsamen Playboy, der wie gewohnt an der Bar stand und seinen Riesling schlürfte und der einen seiner Wildleder-Slipper ausgezogen und vor sich auf den Tresen gelegt hatte, als hätte er dem Barmann vorher anhand des Schuhs irgendetwas verdeutlichen wollen, eine bestimmte Konstellation zwischen zwei Fahrern, einen erotischen Kniff, eine sich Wort für Wort bis in die lichtlose Stille des interstellaren Raumes ausbreitende Anekdote, während der Barkeeper wie ein lebender Toter in Jans Richtung starrte, der nur mit Mühe gegen Übelkeit und Tränen kämpfte.

Nach dem Mittagessen ging Jan zurück aufs Hotelzimmer, wo er sofort den Fernseher anmachte und sich aufs Bett legte. Er beschloss zu warten, bis Claudia von der Konferenz käme und ihr dann, bevor sie Gelegenheit hätte, selbst etwas zu sagen, vorzuschlagen, auf das Abendessen zu verzichten und stattdessen die ganze Nacht lang Liebe zu machen und fernzusehen. Nachdem er sich fünfzehn Minuten lang eine Folge von Das perfekte Dinner angesehen hatte, schlief er ein. In seinem Traum unterhielt er sich mit dem Parteivorsitzenden einer linksradikalen Partei. Gemeinsam diskutierten sie, ob Jan sich der Partei anschließen solle. Der Vorsitzende war gut gelaunt, trank Rotwein aus einem kleinen Kelch aus glasiertem Steingut und ließ ihn wissen, dass sein Zögern in diesem Moment bedeutungslos sei, früher oder später würden sich sowieso alle ihrer Sache anschließen. Jan wachte erst wieder auf, als Claudia mit ihrer Schlüsselkarte die Tür zum Hotelzimmer öffnete. Sie ging ohne sich die Schuhe auszuziehen ins Bad und urinierte bei offener Türe ausgiebig und schweigend. Als sie aus dem Bad kam, fragte sie ihn, ob er jemals das Verlangen gespürt hatte, mit einer Frau ins Bett zu gehen, die wesentlich älter war als er selbst. Wieviel älter, fragte Jan und Claudia antwortete: 25 Jahre älter. Eine gestandene Dame. So wie Anne Bancroft in Die Reifeprüfung. Im Fernseher stolperte ein Androide einen Korridor entlang und eine Sirene heulte. Keine Ahnung, sagte Jan, er habe zwar schon oft darüber nachgedacht, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Außerdem sei er ja jetzt mit ihr zusammen. Claudia sah an sich runter mit einem Blick, den Jan nicht deuten konnte. Wir bleiben uns selbst ein Rätsel, solange wir leben. Wir begreifen uns nicht und wir zweifeln an uns. Claudia, sagte Jan. Sie zog einen Fussel aus ihrem Bauchnabel. Dann legte sie sich neben Jan aufs Bett und so schauten sie eine Weile lang den Abenteuern des Androiden im Fernseher zu, ohne auch nur ansatzweise zu verstehen, worum es da gehen sollte. Als sie sich fürs Abendessen fertig machten, fragte Claudia, ob er es gut fände, wenn sie hin und wieder mal einen Tanga tragen würde, und Jan antwortete: Ja, aber dass sie so etwas für sich entscheiden müsste.

Zum Abendessen gab es zur Vorspeise einen Hummersalat à la française, eine pfannengeröstete Fois-gras-Muschel an einer Passionsfruchtsauce, in Kartoffelsplittern gewendete Rotbarbe, als Zwischengang ein Beaujolais-Sorbet und als Hauptgang in der Kasserolle gegarte Kalbsleber sowie Kalbskoteletts à la bourgeoise, geschmortes Kalbsbries an Elfenbein Sauce sowie ein Täubchen im Blätterteigmantel mit jungem Kohl und zum Nachtisch frische und gereifte Käse sowie eine Auswahl von verschiedenen Schokoladen. Nach dem Abendessen vögelten sie noch einmal mit einer rücksichtslosen und beinahe menschenverachtenden Gier miteinander und kurz darauf schlief Jan völlig erschöpft ein, während Claudia die Nacht damit zubrachte, sich Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom in voller Länge auszusetzen.

Mitten in der Nacht wurde Jan plötzlich wach. Er hatte schlecht geträumt, aber sobald er zu sich gekommen war, hatten die Bilder sich aufgelöst und nur die Furcht war übriggeblieben, wie Ruß in einer Fensterscheibe oder wie bei einer überfluteten Landschaft, die, nachdem sich das Wasser zurückgezogen hat, nur langsam und schwerfällig zur Normalität zurückfindet. Es war eiskalt im Zimmer, weil Claudia wegen ihres Asthmas immer bei offenem Fenster schlief. Er fürchtete, dass die entsetzlichen Wesen aus seinem Traum ihm in die Wirklichkeit gefolgt waren. Erst als draußen der Morgen graute, schlief er wieder ein, und als er ein paar Stunden später erneut aufwachte, war die andere Hälfte des Bettes verlassen und kalt. Auf dem Nachtkasten lag ein Bogen Briefpapier, auf dem Claudia ihm mitteilte, dass sie bereits vor dem Frühstück ins Schwimmbad gehen wolle und er entweder im Zimmer bleiben und auf sie warten oder sie im Speisesaal antreffen solle.