24 Wege nach Hause - Jenny Fagerlund - E-Book
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24 Wege nach Hause E-Book

Jenny Fagerlund

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Beschreibung

Mitten in einem Schneesturm kommen Petra und ihre elfjährige Nichte Charlie in Nyponviken an, einem kleinen Dorf im südschwedischen Schonen. Ihr Leben in Stockholm haben sie hinter sich gelassen. Nach dem Tod von Petras Schwester, Charlies Mutter, brauchen sie dringend einen Neuanfang. In dem Ort gibt es einen Hof mit kleiner Gärtnerei, wo sie hoffen, Zuflucht zu finden. Viveca, die Eigentümerin, empfängt die beiden mit offenen Armen und bietet Petra eine Stelle an. Eines Morgens steht ein mysteriöser Adventskalender vor ihrer Tür. Er enthält eine Geschichte – über das Dorf und die ehemals dort ansässige Künstlerin Lilly. Jedes Türchen enthüllt ein neues Detail aus ihrem Leben und weist außerdem den Weg zu einem besonderen Ort in Nyponviken. Petra erkennt bald, dass der Kalender noch viel mehr zu erzählen hat. Unterdessen taucht auf einmal ihr Ex-Freund Nick wieder auf und stellt alles auf den Kopf … Jenny Fagerlunds neues Buch handelt davon, wie schön es sein kann, nach Hause zu finden – und zu erkennen, wohin und zu wem man gehört.

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Mitten in einem Schneesturm kommen Petra und ihre elfjährige Nichte Charlie in Nyponviken an, einem kleinen Dorf im südschwedischen Schonen. Ihr Leben in Stockholm haben sie hinter sich gelassen. Nach dem Tod von Petras Schwester, Charlies Mutter, brauchen sie dringend einen Neuanfang. In dem Ort gibt es einen Hof mit kleiner Gärtnerei, wo sie hoffen, Zuflucht zu finden. Viveca, die Eigentümerin, empfängt die beiden mit offenen Armen und bietet Petra eine Stelle an.

Eines Morgens steht ein mysteriöser Adventskalender vor ihrer Tür. Er enthält eine Geschichte – über das Dorf und die ehemals dort ansässige Künstlerin Lilly. Jedes Türchen enthüllt ein neues Detail aus ihrem Leben und weist außerdem den Weg zu einem besonderen Ort in Nyponviken. Petra erkennt bald, dass der Kalender noch viel mehr zu erzählen hat. Unterdessen taucht auf einmal ihr Ex-Freund Nick wieder auf und stellt alles auf den Kopf …

Jenny Fagerlunds neues Buch handelt davon, wie schön es sein kann, nach Hause zu finden – und zu erkennen, wohin und zu wem man gehört.

© Kajsa Göransson

Jenny Fagerlund wurde 1979 geboren und lebt mit ihrem Ehemann und vier Kindern in Stockholm. Sie arbeitet als freie Journalistin und hat bereits sechs Romane veröffentlicht, bei DuMont erschienen ›24 gute Taten‹ (2020) und ›Briefe an Moa‹ (2022).

Alina Becker studierte Anglistik, Skandinavistik und Literaturübersetzen. Sie übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Englischen, Schwedischen und Dänischen, u. a. von Karl Eidem, Jale Poljarevius und Sharon Falsetto.

Jenny Fagerlund

24 WEGE NACH HAUSE

RomanAus dem Schwedischen von Alina Becker

Von Jenny Fagerlund sind bei DuMont außerdem erschienen: 24 gute Taten Briefe an Moa

Die schwedische Originalausgabe erschien 2022unter dem Titel ›Den sista adventskalendern‹bei Norstedts, Stockholm.© Jenny Fagerlund 2022 by agreement with Enberg Agency

E-Book 2023 © 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Alina Becker Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagillustrationen: © Nastya Sklyarova /depositphotos und © Olya Haifisch /istockimages Satz: Angelika Kudella, KölnE-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN E-Book 978-3-8321-6081-4

www.dumont-buchverlag.de

Für Alexander, Isabelle, Vilhelm & Maximilian.Ihr macht jeden Tag ein bisschen heller.

1

DONNERSTAG, 24. NOVEMBER

Die Scheibenwischer quietschten auf höchster Stufe über die Windschutzscheibe, aber im Schneetreiben war es unmöglich, mehr als ein paar Meter weit zu sehen. Bei diesem Wetter mit einem Auto plus Anhänger bis nach Nyponviken zu fahren, war nicht die beste Entscheidung, die sie zuletzt getroffen hatte, zumal niemand wusste, dass sie auf dem Weg waren. Was, wenn sie irgendwo stecken blieben? Oder sich verfuhren? Petra umklammerte das Lenkrad so stark, dass ihre Knöchel hervortraten. Ich muss das jetzt durchziehen. Für Charlie, dachte sie und schielte zur Seite. Ihre Nichte hatte die Augen geschlossen, soweit sie das hinter dem wirren, lockigen Haar erkennen konnte. Vielleicht war es ganz gut, dass sie schlief. Seit sie Stockholm hinter sich gelassen hatten, war die Stimmung im Wagen ausgesprochen frostig gewesen. Charlie hatte kaum ein Wort von sich gegeben.

Petra wandte den Blick wieder nach vorn. Die Straße war unter der dichten Schneedecke kaum zu erkennen, und mehr als einmal wäre sie fast im Graben gelandet. Probeweise schaltete sie das Fernlicht ein, aber die Schneeflocken verwandelten sich im hellen Schein nur in eine einzige dichte Masse.

»So funktioniert das nicht.« Petra stellte den Motor ab, lehnte die Stirn gegen das Lenkrad und schloss die Augen. Ich schaffe das nicht, dachte sie und schniefte. Eine Bewegung auf dem Beifahrersitz ließ sie aufschrecken, und hastig fuhr sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht.

»Bist du wach?«, flüsterte sie, erhielt aber keine Antwort.

Nach einer Weile entspannte Petra sich wieder und warf einen Blick aus dem Seitenfenster. Vor ein paar Minuten war sie in eine Allee eingebogen, und wenn man dem Navi trauen konnte, sollte es nicht mehr allzu weit sein. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss. Ohne Erfolg. Der Wagen sprang nicht an. Frustriert versuchte sie noch ein paarmal, den Motor wieder zum Laufen zu bringen, bis sie einsah, dass es keinen Zweck hatte und sie das letzte Stück zu ihrem neuen Zuhause wohl oder übel zu Fuß zurücklegen mussten.

*

Ihre Stiefel hielten nicht dicht, und schon nach wenigen Metern klebte ihr die Jeans an der Haut. Petra rückte ihren Rucksack zurecht und streckte die Hand nach Charlie aus, die sie aber ignorierte.

»Ich verstehe nicht, warum wir unbedingt hierherziehen müssen«, murrte Charlie, während sie weiter durch den Schnee stapften.

»Es ist die beste Lösung«, erklärte Petra und bemühte sich, aufmunternd zu klingen. Sie wusste immer noch nicht, wie sie mit Charlies Wut und Traurigkeit umgehen sollte. Obwohl sie immer wieder versuchte, ihrer Nichte die Situation begreiflich zu machen, hatte sie das Gefühl, gegen eine Mauer zu reden. »Ich weiß, dass du nicht umziehen wolltest, aber wir sollten Nyponviken eine Chance geben.«

»Wir wissen doch noch nicht mal, ob das Haus wirklich hier ist.«

»Es gibt auf jeden Fall einen Hof. Mit mehreren Gebäuden und einer Gärtnerei.«

Das zumindest hatte Alice ihr erzählt. Die Erinnerungen an die letzten Tage im Leben ihrer Schwester flackerten wieder auf. Alice war todkrank gewesen, hatte unter starken Schmerzen gelitten und hätte eigentlich ins Krankenhaus gehört, doch sie hatte darauf bestanden, bis zum Schluss zu Hause im Kreise ihrer Liebsten zu bleiben. Die Geschichte über den geheimnisvollen Hof hatte sie stückchenweise erzählt. Zuerst war Petra davon ausgegangen, dass ihre Schwester halluzinierte, aber nach der Beerdigung war sie in Alice’ Kleiderschrank auf eine Kiste gestoßen und hatte nun die Gewissheit, dass es wirklich einen solchen Hof gab. Sie hatte nicht nur den Schlüssel zu dem Haus gefunden, das Alice zufolge einst ihren Eltern gehört hatte und nun ihres sein sollte, sondern auch Fotos, die ein hellgelbes Gebäude mit weißen Zierleisten zeigten, das nun Petras sein sollte.

»Mir ist kalt.«

Charlies Stimme riss Petra aus ihren Gedanken, und sie musterte ihre Nichte in der dünnen Jacke.

»Willst du meinen Pullover haben?«

»Das geht doch nicht.«

»Doch, kein Problem. Ich habe noch ein T-Shirt darunter an.«

»Nein, danke.« Charlie wandte den Blick ab.

»Wir können ein bisschen schneller gehen, damit uns warm wird.« Tatsächlich war es gar nicht so einfach, im Schnee das Tempo zu erhöhen. »Eigentlich kann es nicht mehr weit sein.« Sie hoffte wirklich, dass sie damit recht hatte, denn lange würden sie nicht mehr durchhalten können. Als sie im Radio von starken Niederschlägen gesprochen hatten, war Petra davon ausgegangen, dass es in Südschweden eher regnen als schneien würde, und sie bereute es, den Wetterbericht nicht ernst genommen zu haben.

In einiger Entfernung meinte sie, ein blinkendes Licht zu erkennen. Sie kniff die Augen zusammen. Waren sie am Ziel? Das Licht bewegte sich, irgendjemand war dort im Schneegestöber unterwegs.

»Hallo!«

Die Lichtquelle blieb einen kurzen Moment stehen und bewegte sich dann langsam in ihre Richtung.

»Ich bin mit dem Auto und dem Anhänger stecken geblieben, die Straße ist komplett zugeschneit, und …« Petra schrie erschrocken auf, als ein riesiger Bernhardiner auf sie zusprang.

»Sitz!«, sagte eine schroffe Stimme. Der massige Hund kam abrupt zum Stehen, wedelte einmal mit dem Schwanz und stürmte dann wieder los.

»Verdammt, ich geb’s auf. Dieser Hund lernt es einfach nicht.« Eine ältere Frau in einem übergroßen Parka bahnte sich ihren Weg durch den Schnee. »Was in aller Welt haben Sie hier draußen verloren?«

»Ich konnte nicht mehr weiterfahren, der Wagen ist im Schnee stecken geblieben, und …«

Die Frau wedelte mit einer Hand, die in einem dicken Fäustling steckte, und unterbrach Petras Erklärung. »Ja, aber was wollen Sie hier? Am Ende der Straße gibt es nur eine Gärtnerei und ein paar Privathäuser.«

»Ich weiß«, sagte Petra und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Wir suchen eine Viveka.«

»Ach ja?« Die Frau hob die Augenbrauen. »Was wollen Sie von ihr?«

»Also, ich …« Petra verstummte und überlegte, ob sie der Fremden den Grund ihres Besuchs anvertrauen sollte, aber als sie sah, wie Charlie fröstelnd die Schultern zusammenzog, wurde ihr klar, dass sie zuerst ins Warme kommen mussten. Glücklicherweise schien die Frau dasselbe zu denken, denn sie machte kehrt und marschierte in die andere Richtung davon.

»Hier können wir jedenfalls nicht stehen bleiben. Kommen Sie mit, bevor wir noch alle erfrieren!«

2

Zu Petras unendlicher Erleichterung tauchte bald ein hell erleuchtetes Haus im Schneegestöber auf. Als sie sich ihm näherten, zeichneten sich die Umrisse weiterer Gebäude ab. Petra umklammerte die Träger ihres Rucksacks und holte tief Luft.

»Hatten Sie eine weite Reise?«, fragte die Frau und steuerte das einzige Haus an, in dem Licht brannte.

»Wir kommen aus Stockholm.« Petra schaute sich nach Charlie um. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Eine dumme Frage, denn Charlie bot definitiv keinen Anblick, den man mit den Worten ›in Ordnung‹ hätte beschreiben können. Sie schien den Tränen nahe.

»Mir geht’s gut.«

»Bist du sicher? Wenn du irgendetwas brauchst …«

»Ich bin mir sicher! Nerv nicht.«

»So, da wären wir«, unterbrach die Fremde ihre Auseinandersetzung und bat sie in die Diele des Hauses. »Herzlich willkommen.«

Petra rang sich ein Lächeln ab und ließ ihre Gastgeberin und Charlie durch den großen Flur vorangehen. Sie fing die Jacke ihrer Nichte auf, bevor sie auf dem Boden landete, und achtete darauf, dem Hund nicht zu nahe zu kommen.

»Rufus tut nichts. Kinder sind immer ganz begeistert von ihm.«

Die Frau musterte Petra, bevor sie sich abwandte und ihren Parka an einen Haken hängte. Ihre Bewegungen wirkten etwas steif, als fühlte sie sich in dieser Situation nicht ganz wohl. Aber wen würde es nicht stören, wenn zwei Fremde so spät in der Nacht auftauchten und nach Aufmerksamkeit verlangten?, überlegte Petra und rieb die eiskalten Hände aneinander.

»Er sieht nett aus«, murmelte Charlie und streckte dem großen Hund die Hand entgegen, der ihr kurz über die Finger leckte.

Petra betrachtete die nassen Kleider ihrer verfrorenen Nichte und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen, weil sie Charlie bei diesen Temperaturen durch das halbe Land geschleppt hatte. Mit dem Anhänger hinter dem Auto hatte sich die Fahrt zudem länger hingezogen als erwartet.

»Ich mache uns eine heiße Schokolade«, verkündete die Frau, während sie ihre Stiefel auszog. »Aber zuerst besorge ich trockene Kleidung zum Wechseln.«

»Wir haben welche in unseren Rucksäcken«, sagte Petra und hoffte, dass diese den kurzen Weg über dicht geblieben waren.

»Gut. Das Gästezimmer finden Sie am Ende des Flurs, wenn Sie sich umziehen möchten. Das Badezimmer ist direkt daneben. Ich warte dort in der Küche.« Die Frau deutete auf eine weitere Tür.

»Danke.«

Mit einem knappen Nicken ließ ihre Gastgeberin sie allein.

»Gehen wir?«, fragte Charlie und machte sich auf den Weg in Richtung des Gästezimmers.

Die Holzdielen knarrten unter ihren Füßen, und für einen kurzen Moment fühlte Petra sich in ihr Elternhaus in Norrtälje zurückversetzt, in dem es überall geächzt und geknarzt hatte, als ob das Haus versucht hätte, mit seinen Bewohnern zu sprechen. Petra spürte, wie erneut Traurigkeit Besitz von ihr ergriff. Wenn sie das Haus nach dem Tod ihrer Eltern behalten hätten, stünden sie und Charlie heute nicht hier.

»Kommst du?«, fragte Charlie von der anderen Seite des langen Flurs. Petra nickte und folgte ihrer Nichte. Sie kam an einer Wand voller Fotos und Gemälde vorbei, die ihr Gefühl verstärkten, sich wie ein Eindringling Zugang zum Heim einer Fremden verschafft zu haben. Am besten wäre es, wenn sie schnellstmöglich mit dieser Viveka sprach und das Haus, das nun ihr gehören sollte, fand. In welchem Zustand es wohl sein mochte? Soweit sie wusste, waren ihre Eltern seit über dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Was, wenn Alice sich geirrt hatte? Sie besaß nicht einmal Unterlagen, mit denen sie belegen konnte, dass ihrer Familie ein Haus in Nyponviken gehörte. Alles, was sie hatte, waren ein Schlüssel und ein Foto.

Aus dem Gästezimmer drang ein Geräusch, und Petra beeilte sich, um ihre Nichte nicht zu lange allein zu lassen. In dem Moment, als sie das Zimmer betrat, verschwand Charlie allerdings im angrenzenden Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab.

Petra stieß einen leisen Seufzer aus und schaute sich um. Das Zimmer war wirklich einladend. Das große Bett in der Mitte des Raumes wurde durch eine Sitzgruppe mit zwei Sesseln am Fenster ergänzt. Petra zog sich um, ließ ihre nasse Kleidung neben der Badezimmertür auf den Boden fallen und machte es sich in einem der Sessel bequem. Draußen schneite es noch immer heftig. Zum ersten Mal an diesem Tag konnte sie sich entspannen, und sie schloss für einen Moment die Augen, während sie sich den steifen Nacken massierte. Nur kurz ausruhen, dachte sie. Nur, bis Charlie im Bad fertig ist.

*

»Petra?« Charlies Stimme ließ Petra aufschrecken, und sie schaute sich verwirrt um, bis ihr langsam wieder dämmerte, wo sie sich befand.

»Ich bin wohl eingenickt.« Sie gähnte. »Bist du fertig im Badezimmer?«

»Mhm«, gab Charlie zurück und schaute auf ihr Handy.

»Okay, dann hänge ich nur noch schnell unsere Klamotten auf.«

»Ist schon erledigt.«

»Alles klar … danke.« Charlie wandte den Blick nicht mal eine Sekunde von ihrem Smartphone ab.

Auf dem Weg zur Küche zerbrach sich Petra den Kopf darüber, wie sie zu Charlie, die jeden Kontaktversuch brüsk abwies, durchdringen könnte. Keine Frage, ihr Verhalten war absolut nachvollziehbar. Petra kämpfte gegen ihre Schuldgefühle an. Wenn sie sich mehr Mühe gegeben hätte, wären sie vielleicht nicht gezwungen gewesen, ihr ganzes Hab und Gut einzupacken und hier in Nyponviken Zuflucht zu suchen. Aber sie hatte einfach keinen anderen Ausweg gesehen: Nichts, was sie anstellte, schien irgendetwas zu bewirken – als säße jemand anderes am Steuer und ihr bliebe keine Wahl, als dabei zuzusehen, wie alles um sie herum den Bach hinunterging.

In der Küche empfing sie eine wohlige Wärme, und der große Bernhardiner klopfte zur Begrüßung mit dem Schwanz auf den Boden. Das war es allerdings nicht, weshalb Petra und Charlie, die ihr gefolgt war, wie angewurzelt stehen blieben und große Augen machten. Der ganze Raum war vollgestopft mit Kartons, aus denen kleine Wichtelfiguren, Weihnachtsschmuck und Strohböcke quollen.

»Ich habe diese Woche eine Lieferung bekommen, und weil in der Gärtnerei Land unter war, habe ich erst einmal alles hier abgeladen«, erklärte ihre Gastgeberin lächelnd. Sie holte drei Emailletassen mit aufgemalten Tannenbäumen aus einem der Küchenschränke. »Wir wollen in einem der Gewächshäuser einen kleinen Weihnachtsmarkt einrichten.«

»Das sieht aus, als wären wir direkt in der Werkstatt des Weihnachtsmanns gelandet«, flüsterte Charlie und nestelte an einem Wichtel herum, der auf dem Boden stand und ihr bis zur Taille reichte.

»Toll, nicht wahr?« Die Frau füllte die Tassen mit heißem Kakao und gab ein paar Marshmallows dazu. »Wenn ihr die Kartons dort zur Seite schiebt, können wir uns an den Tisch setzen.«

Petra folgte ihrem Rat und ließ sich dann auf einem der Stühle an dem großen Holztisch nieder. Als Charlie mit der Begutachtung der Wichtel fertig war, setzte sie sich auf einen Hocker an der Stirnseite des Tischs.

»Jetzt will ich aber wissen, was euch hierher verschlagen hat.« Ihre Gastgeberin schaute aufmerksam zwischen ihnen hin und her.

»Meinen Eltern gehört hier ein Haus … Und Charlie und ich, wir wollen dort einziehen«, erklärte Petra. Sie hoffte inständig, dass das kein dummes Missverständnis war. Falls doch, was sollte sie dann tun?

»Hier auf dem Hof?«

»Wir haben hier gewohnt, als ich noch klein war. Bis vor etwa dreißig Jahren.«

»Ach ja?«

»So hat meine Schwester es mir gesagt. Sie hat uns von dem Haus erzählt, bevor sie starb, und da Charlie und ich jetzt als Einzige übrig sind und … ähm … einen Neuanfang brauchen, sind wir hierhergefahren.« Wie absurd das klang! Petra nippte an ihrem Kakao. Er schmeckte göttlich, und die Wärme breitete sich sofort in ihrem ganzen Körper aus.

»Und Sie sagten, Sie suchen nach Viveka?«, fragte die Frau.

»Alice – das ist meine Schwester – hat mir den Namen genannt. Ich hätte mich melden sollen, bevor wir hier einfach so aufkreuzen. Vielleicht lebt diese Viveka ja gar nicht mehr?«

Ihre Gastgeberin starrte sie eine Weile an, bevor sie sich räusperte. »Ich bin Viveka.«

»Sie sind das?« Petra spürte, wie eine Last von ihr abfiel. »Kannten Sie meine Eltern? Ann-Louise und Daniel Nilsson. Sie sind schon seit ein paar Jahren tot, und …«

»Es ist schon spät, und die Kleine sieht aus, als gehörte sie ins Bett.«

Viveka stand auf und stieß auf dem Weg zur Anrichte versehentlich mit dem Fuß gegen den Hundenapf. Das Wasser schwappte über und verteilte sich auf dem Holzboden. »Verdammt noch mal.«

»Ich helfe Ihnen«, bot Petra an und schnappte sich einen Lappen aus dem Spülbecken.

»Ist schon in Ordnung.« Viveka schob Petra zur Seite. »Das Haus, das Sie meinen, gibt es noch, aber ich fürchte, Sie werden heute dort nicht übernachten können.«

»Nicht?«

»Bleiben Sie erst einmal hier. Und dann … sehen wir weiter.«

Petra musterte Viveka prüfend, aber die ältere Dame wandte den Blick ab und nahm einen großen Schluck von ihrem Kakao.

»Wenn Ihnen das nichts ausmacht. Ich meine, Sie kennen uns ja gar nicht.«

»Das ist schon in Ordnung. Sie können das Gästezimmer haben. Mein Schlafzimmer ist oben im ersten Stock.«

3

FREITAG, 25. NOVEMBER

Um halb sieben wachte Petra auf, überrascht, dass sie die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Sie warf einen Blick auf Charlie, die noch tief und fest schlummerte, und setzte sich dann auf. Die Anspannung und der Stress der letzten Tage forderten ihren Tribut, und sie fühlte sich, als wäre sie von einem Bus überrollt worden.

Vorsichtig, um ihre Nichte nicht zu wecken, schlug Petra die Decke zur Seite. Sie erschauderte, als ihre Füße die kalten Holzdielen berührten, und huschte schnell zum Sessel, auf dem sie ihre Kleider abgelegt hatte. Sie zog sich an, schlüpfte in ihre Wollpantoffeln und drehte ihre langen Haare zu einem Knoten ein. Ein Blick durch die Terrassentür zeigte ihr, dass der Himmel nach dem gestrigen Schneesturm strahlend blau war. Der Garten lag unter einer dicken Schneedecke verborgen. Wie auf einer Postkarte, dachte Petra. Jenseits der Hecke, die den Garten begrenzte, war das spiegelglatte Meer zu erkennen. Der Gegensatz zu den Menschenmassen und dem Großstadtverkehr in Stockholm konnte nicht größer sein. Petra musste schlucken. Wie sehr sie ihr altes Leben vermissen würde! Zu Fuß zur Arbeit zu schlendern, während die Leute an ihr vorbei zur U-Bahn oder zum Bus hasteten, irgendwo für ein schnelles Mittagessen oder einen Kaffee einzukehren und zusammen mit Alice eine Kleinigkeit zu essen. Hier war es einfach … verlassen und still.

Ihr Handy gab ein leises Brummen von sich. Als sie den Namen des Anrufers las, erstarrte sie. Nick hatte seit ihrer Abreise aus Stockholm einige Nachrichten geschickt und mehrmals versucht, sie anzurufen, aber Petra hatte nicht darauf reagiert. Das war feige, aber sie schaffte es einfach nicht, mit ihm zu reden. Nicht jetzt. Langsam griff sie zum Telefon und starrte auf das blinkende Display. Dann drückte sie den Anruf weg. So war es für alle am besten.

Sie steckte das Handy in die Tasche und schlich zurück zum Bett. Charlie war noch nicht aufgewacht, und Petra wollte sie schlafen lassen. Vorsichtig strich sie ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sie das Gästezimmer verließ, um Viveka zu suchen. Hoffentlich würde sich Zeit finden, um ihrer Gastgeberin all die Fragen über ihre Eltern und das Haus zu stellen, die ihr auf der Seele brannten.

Im Flur blieb sie einen Augenblick stehen. Bei Tageslicht sah es hier ganz anders aus. Sie betrachtete erneut das Durcheinander aus Bildern und Fotos an der Wand. Es wirkte, als hätte jemand einfach hier und dort ein Bild aufgehängt, wo gerade Platz war, ohne sich auch nur im Ansatz Gedanken darüber zu machen, ob die Motive oder Rahmen zusammenpassten.

Ein Aquarell erregte ihre Aufmerksamkeit. Es strahlte eine Intensität aus, die es ihr unmöglich machte, den Blick abzuwenden. Die Frau auf dem Bild wirkte fast lebendig, wie sie mit halb abgewandtem Gesicht dastand und auf einen blühenden Garten hinausschaute.

»Du musst die Wahrheit sagen!«, ertönte in diesem Moment eine dunkle Stimme aus der Küche, und Petra zuckte zusammen.

»Die Wahrheit ist nicht immer angebracht. Zumindest ist sie es jetzt nicht«, erwiderte Viveka und klapperte mit einigen Töpfen herum. »Manchmal schadet sie mehr, als dass sie nutzt.«

Stuhlbeine kratzten über den Boden. »Das ist doch Wahnsinn. Du hast …«

Petra war drauf und dran, sich wieder zurück ins Gästezimmer zu schleichen, als der Hund laut bellend verriet, dass sie im Flur stand. Zögernd betrat sie die Küche.

»Guten Morgen. Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Guten Morgen!« Viveka lächelte freundlich und warf dann dem Mann, zu dem die Stimme gehören musste, einen warnenden Blick zu. »Keine Sorge. Holger ist nur vorbeigekommen, um zu fragen, warum ich nicht beim Frühstück aufgetaucht bin.«

»Ich habe …«, setzte der Mann an.

»Viel zu tun, ja, ich weiß. Aber wie ich eben sagte, kümmere ich mich jetzt erst mal um Petra und Charlie. Kannst du vielleicht heute nach der Gärtnerei sehen? Ich komme ein bisschen später.«

Vivekas Besucher sah aus, als wollte er widersprechen, stand aber auf und fuhr sich mit der Hand durch sein buschiges graues Haar. Er nickte Petra kurz zu und verschwand im Flur. Erst als die Haustür zuschlug, schien sich die Stimmung im Raum zu entspannen.

»Manchmal kann Holger ein wenig mürrisch sein. Er hat ein Herz aus Gold, aber wenn nicht alles so läuft, wie er es gewohnt ist, wird er zickig«, erklärte Viveka und schaufelte Pfannkuchen auf eine Platte. »Wo ist Charlie?«

»Sie schläft noch. Ich wollte sie nicht wecken.« Petra zog sich einen der Küchenstühle heran. »Ich habe doch hoffentlich wirklich nicht gestört?«

»Ach, nicht doch. Holger hat sich wegen einer Lieferung an die Gärtnerei aufgeregt. Die Hälfte dessen, was wir bestellt haben, ist unbrauchbar. Er meint, dass wir sie reklamieren müssen, und ich finde, wir sollten nicht so viel Aufhebens machen, nicht so kurz vor Weihnachten.« Viveka schob Petra den Teller mit den Pfannkuchen hin. »Bitte sehr.«

Petra bediente sich. Sie hatte zwar nur einen Bruchteil des Gesprächs mit angehört, konnte Holgers Bedenken aber verstehen. Minderwertige Ware konnte ein Geschäft ruinieren. Aber natürlich stand es ihr nicht zu, sich darin einzumischen, wie Viveka die Gärtnerei führte. Und überhaupt, was hätte sie beizutragen? Nichts allzu Wertvolles, wenn man bedachte, dass sie es geschafft hatte, ihr eigenes Geschäft in den Ruin zu treiben.

»Das mit der Lieferung tut mir leid«, sagte sie nach einem Moment der Stille.

»Es ist, wie es ist.« Viveka wirkte plötzlich müde. »Habt ihr wenigstens gut geschlafen?«

»Wie die Murmeltiere. Charlie und ich waren beide völlig platt.«

»Das hört man doch gern.«

»Danke, dass wir hier im Gästezimmer übernachten durften.« Petra gab einen Klecks Erdbeermarmelade auf einen Pfannkuchen und rollte ihn ein.

»Gern geschehen.« Viveka goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Tisch. »Gestern hast du gesagt, dass deine Eltern verstorben sind. Ist das schon lange her?«

Petra schaute überrascht auf. Die plötzliche Frage erstaunte sie. »Sieben Jahre.«

»Mein Beileid. Ich habe sie nicht oft getroffen, fand sie aber sehr nett. Wie ist es passiert?«

»Sie hatten im Urlaub in Italien einen Autounfall auf einer sehr schmalen Straße. Der andere Fahrer wurde von der Sonne geblendet und hat sie nicht gesehen.«

Ihre Eltern hatten sich so sehr auf die Reise gefreut, die erste nach der Pensionierung ihres Vaters. Petra hatte kurz mit ihnen telefoniert, bevor sie zum Flughafen Arlanda aufgebrochen waren. Hätte sie gewusst, dass es ihr letztes Gespräch sein würde, hätte sie sich mehr Zeit dafür genommen. Petra blinzelte ein paarmal und schaute hinunter auf die Tischplatte.

»Das tut mir wirklich sehr leid«, sagte Viveka mit sanfter Stimme. »Hattet ihr ein gutes Verhältnis?«

»Ein sehr gutes. Meine Eltern hatten beide keine Geschwister, also bestand unsere Familie nur aus uns dreien, meiner Schwester und Charlie.«

»Und deine Schwester ist jetzt auch gestorben?«

»Vor neun Monaten. Charlie ist meine Nichte.«

Am besten wäre es wohl, wenn sie Viveka die ganze Geschichte erzählte, aber im Moment konnte Petra sich nicht dazu durchringen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Pfannkuchen.

»Es wird euch hier gefallen«, sagte Viveka, als hätte sie gemerkt, dass Petra gerade nicht nach Gesprächen über die Vergangenheit zumute war. »Eure Wohnung ist wirklich schön.«

»Eine Wohnung? Ich dachte, es wäre ein Haus?«

»Ist es auch, aber im Erdgeschoss befindet sich ein Café.«

»Oh, das wusste ich nicht.« Petra lag die Frage auf der Zunge, ob ihnen nicht eigentlich das ganze Haus gehörte, aber sie war sich nicht sicher, ob sie angebracht war. Immerhin war sie gerade erst hier angekommen. Was, wenn Viveka glaubte, sie wolle dem Café den Raum streitig machen?

»Euer Auto war ja ziemlich vollgepackt, ihr wollt wohl länger bleiben?«, fragte Viveka und nahm einen Schluck Kaffee.

»Ähm, das ist der Plan, ja. Bisher der einzige, den wir haben. Wir mussten einfach weg aus Stockholm. Und jetzt … Müssen wir schauen, wie es weitergeht. Ich brauche einen Job, und Charlie muss erst mal online mit ihrer alten Klasse lernen. Nach den Weihnachtsferien kann sie vielleicht hier zur Schule gehen.«

»Das klingt vernünftig. Da kann sie sich ganz in Ruhe an das Dorf und die Umgebung gewöhnen. Wenn ihr in der Wohnung die Decke auf den Kopf fällt und sie keine Lust mehr hat, zu lernen, kann sie jederzeit im Café oder in der Gärtnerei vorbeischauen.«

Petra legte ihre Gabel zur Seite. »Wir könnten also sofort in die Wohnung einziehen? Sie steht doch bestimmt schon jahrelang leer, oder nicht?«

»Eigentlich ist sie über die Sommerzeit immer vermietet. Die Einnahmen haben wir in den Erhalt und die Renovierung des Hauses gesteckt.«

»Ach so?«

»Deine …« Viveka zögerte. »Das war der Wunsch deiner Eltern.«

»Verstehe.« Petra rang nach Worten. »Entschuldige, dass ich so viele Fragen stelle, aber keiner von ihnen hat jemals Nyponviken erwähnt. Alice wusste auch nicht viel, sie meinte nur, es habe irgendwelche Streitigkeiten gegeben.« Kurz kam ihr der Gedanke, dass Viveka sie möglicherweise gar nicht hier haben wollte.

»Ach, darüber ist längst Gras gewachsen. Manchmal sind wir Menschen einfach stur und schaffen es nicht, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.«

»Weißt du, was passiert ist?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich …«, setzte Viveka an, wurde aber durch ein schrilles Klingeln aus dem Flur unterbrochen. »Das muss einer meiner Lieferanten sein. Ich würde dir gerne mehr erzählen, aber ich muss mich zuerst darum kümmern.« Sie sprang auf. »Ruht euch nach dem Abenteuer gestern erst mal aus. Im Brotkorb dort drüben findet ihr ein wenig Luciagebäck, falls die Pfannkuchen nicht reichen. Sagt Bescheid, wenn ihr so weit seid und die Wohnung sehen wollt. Ich bin oben in meinem Büro.« Petra schaute ihr nach, als sie die Küche verließ. Sie hatte zwar keine Antworten auf ihre Fragen erhalten, aber Viveka brachte ihr ehrliche Freundlichkeit entgegen. Alice hatte gesagt, dass sie ihr helfen würde, aber so viel Herzlichkeit hatte sie nicht erwartet. Und auch nicht, dass man ihr einfach so ein Bett und ein Frühstück anbieten würde und ihr half, Ordnung in die Dinge zu bringen. Petras Blick fiel auf die Pappkartons, die sich in der Küche stapelten. Vivekas Heim erinnerte sie an das Haus ihrer Eltern. Chaotisch, warm und gemütlich. Wenn sie doch nur auch so ein Zuhause für Charlie schaffen könnte! Einen sicheren Ort, an dem sie nicht ständig von Sorgen erdrückt zu werden drohten.

*

Die Kälte biss ihnen in die Wangen, als sie den Hof überquerten, und Petra vergrub die Hände tief in den Taschen. Sie hoffte inständig, dass es in der Wohnung, die den ganzen Herbst über leer gestanden haben musste, nicht allzu frostig war.

»Da vorn liegt die Gärtnerei«, erklärte Viveka und deutete auf drei große Gewächshäuser.

»Betreibt ihr dort auch einen Laden?«, fragte Petra.

»Genau. Einen Teil der Fläche nutzen wir für den Anbau, den Rest für den Kundenverkehr.«

»Und was wird so am meisten gekauft?«

»Hyazinthen gehen eigentlich immer gut weg. Amaryllen und Christrosen sind aber auch beliebt.« Viveka gestikulierte in Richtung der Straße. »Am Ende der Allee gibt es einen Kundenparkplatz, aber die Leute aus dem Dorf kommen meistens zu Fuß oder mit dem Fahrrad, wenn sie nicht gerade einen Großeinkauf planen. Manche verbinden den Einkauf mit einem Cafébesuch. Meine Mutter Berit führt das Café seit … na ja, irgendwie schon immer. Nächstes Jahr wird sie fünfundachtzig, deswegen habe ich eine Aushilfe eingestellt.«

»Dass deine Mutter das noch schafft!«

»Sie behauptet, dass alles den Bach heruntergehen würde, wenn sie nicht mehr die Zügel in der Hand hält. Aber im Moment sitzt sie meistens auf einem Stuhl und dirigiert Maja herum.«

»Backt sie selbst?«, fragte Charlie, die kein Wort gesagt hatte, seit sie Vivekas Haus verlassen hatten.

»Ja, vor allem zu Weihnachten göttliche Plätzchen und weiche Pfefferkuchen mit Zuckerguss. Solange ich denken kann, versuchen die Leute, ihr das Rezept abzuluchsen.« Viveka wies auf das Haus gegenüber den Gewächshäusern. »Das ist das Café. Eure Wohnung liegt im ersten Stock.«

Petra betrachtete das gelbe Haus. Es sah genauso aus wie auf den Fotos, die Alice ihr hinterlassen hatte. Die Fenster im Erdgeschoss waren weihnachtlich dekoriert, und in den Auslagen stapelten sich Kuchen und Gebäck. Kaum vorstellbar, dass Mama und Papa hier gewohnt haben, dachte sie und musterte die Veranda im amerikanischen Stil, die jemand großzügig mit Grüngewächsen und Töpfen voller Zierpflanzen dekoriert hatte. Um das Verandadach war eine Lichterkette gewickelt, und zwischen den Pflanzen standen Laternen in unterschiedlichen Größen.

»Die kommen aus dem Obstgarten hinter dem Haus.« Viveka zeigte auf einen Korb mit roten Äpfeln.

»Dann gehören euch auch die Felder hinter den Gewächshäusern?«

»Ein Teil davon. Der Rest gehört einem Mann namens Jönsson, auch die Felder auf der anderen Seite des Baches.« Viveka öffnete die Tür zum Haus. »Ihr seid bestimmt gespannt auf euer neues Zuhause.«

»Können wir uns auch das Café anschauen?«, fragte Charlie.

»Natürlich, aber lieber danach. Ich muss erst noch meine Mutter vorwarnen.«

»Wieso das?«

»Sie tut sich mit Veränderungen ein wenig schwer und muss sich wahrscheinlich erst daran gewöhnen, dass jetzt jemand dauerhaft im ersten Stock wohnt. Wie gesagt, normalerweise haben wir dort höchstens Sommergäste.« Viveka zeigte ihnen die Treppe. »Dort hinauf.«

Petra schaute die Stufen hoch zur Wohnungstür. Nick würde es hier gefallen, dachte sie, bevor sie sich jeden weiteren Gedanken verbat. Es hatte keinen Sinn mehr. Sie musste ohne ihn weitermachen, egal, wie sehr es schmerzte.

»Willst du nicht aufschließen?«, fragte Charlie und knuffte sie in den Rücken.

»Doch.« Petra verdrängte Nick aus ihren Gedanken und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er passte perfekt. Langsam drehte sie den Knauf und stieß die Tür auf.

4

Das sollte also von nun an ihr Zuhause sein. Petra schaute sich in dem geräumigen Flur um. Eine eingebaute Garderobe mit einigen Kleiderhaken erstreckte sich über eine Wand, an der gegenüberliegenden stand eine altmodische Kommode.

»Modern ist die Wohnung nicht«, sagte Viveka, die ihnen die Treppe hinauf gefolgt war, »wir haben hier nichts verändert, sondern nur Kaputtes ersetzt. Vielleicht wollt ihr neue Betten haben? Die könnt ihr euch von IKEA liefern lassen.«

»Es ist …«, setzte Petra an.

»Schrecklich!«, platzte Charlie heraus und musterte bestürzt den Flickenteppich auf dem Boden.

»Ich finde es gemütlich«, versuchte Petra die Stimmung zu heben.

»Wenn du nicht alles verbockt hättest, müssten wir nicht hier sein! Das ist alles deine Schuld!«

»Bitte, Charlie, lass uns doch erst mal den Rest der Wohnung anschauen.«

»Warum hast du nicht einfach Nick gefragt, ob er uns hilft? Wir hätten bestimmt bei ihm wohnen können!«

»Darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Er …« Weiter kam Petra nicht, denn Charlie stürmte aus der Wohnung und trampelte die Treppe hinunter.

»Ich gehe ihr mal nach«, sagte Viveka und legte eine Hand auf Petras Arm. »Schau dir in Ruhe die Wohnung an und überleg dir, was du behalten willst und was du noch brauchst.«

Petra wollte widersprechen, aber da sie ohnehin nicht wusste, was sie zu Charlie sagen sollte, gab sie schließlich nach. Ihre Nichte hatte nicht unrecht: Wenn sie nicht so kläglich versagt hätte, wären sie in Stockholm geblieben. Was Nick anbelangte, irrte sie sich allerdings. Vielleicht hätte er sie aus Höflichkeit bei sich wohnen lassen, aber begeistert wäre er nicht davon gewesen. Nicht wirklich.

Als sich die Tür hinter Viveka geschlossen hatte, ging Petra ins Wohnzimmer. Es roch ein bisschen muffig, aber das lag wahrscheinlich daran, dass sie seit dem Sommer leer stand. Dafür war der Raum wunderbar hell und der Blick auf den Apfelgarten sicher fantastisch, wenn erst die Bäume in voller Blüte standen. Petra strich mit der Hand über den Wohnzimmertisch und wirbelte die feine Staubschicht auf, die sich darauf gelegt hatte. Die gemusterten Kissen auf dem Sofa würde sie austauschen, genau wie die lila Vorhänge. Ihr Blick blieb an drei kleinen Bildern hängen. Sie zeigten den Hof und seine Umgebung und strahlten die gleiche Intensität aus wie das Aquarell in Vivekas Flur.

Widerstrebend wandte Petra sich von den kleinen Kunstwerken ab und begutachtete stattdessen den Balkon. Vor ihrem inneren Auge entstand eine gemütliche Sitzecke mit vielen Kissen und Laternen, die Charlie gefallen würde. Beim Gedanken an ihre zwölfjährige Nichte krampfte sich Petras Magen zusammen. Sie starrte aus dem Fenster. Egal, wie wütend Charlie war: Sie sah keine andere Möglichkeit, als hier zu wohnen, wenn sie weiterhin zusammenbleiben wollten.

Mit einem resignierten Seufzer setzte Petra die Wohnungsbesichtigung fort. Es wird schon alles gut, wiederholte sie im Geiste wie ein Mantra. Das muss es. Alles, was mir jetzt noch fehlt, ist ein Job. Sie fragte sich, ob Viveka vielleicht eine Aushilfe in der Gärtnerei brauchte. Allerdings hatte sie nicht viel Ahnung von Pflanzen. Eigentlich gar keine. Die einzige Hobbygärtnerin in der Familie war ihre Mutter gewesen. Sie hatte sich hingebungsvoll um das Rosenbeet vor ihrem Fenster gekümmert, hatte mit einer Pinzette die Blattläuse von den Blumen gepflückt und war den Schädlingen mit Seifenwasser zu Leibe gerückt. Petra und Alice hatten nie Interesse an der Gartenarbeit gezeigt, und nun fragte sich Petra, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihrer Mutter mal zugehört oder ihr beim Umgraben der Beete und Blumenpflanzen geholfen hätte. Dann hätte sie Viveka eine Hilfe sein können.

Für Alice wäre das kein Problem gewesen. Sie hätte keine Sekunde gezögert, Viveka zu fragen, ob es Arbeit in der Gärtnerei für sie gab, und im Zweifel alles gelernt, was es zu lernen gab.

»Wie soll ich das alles ohne dich schaffen?«, flüsterte Petra.

»Was?«

Erschrocken wandte sie sich um und sah sich Charlie gegenüber, die sie fragend musterte.

»Ich habe gar nicht gemerkt, dass du zurückgekommen bist.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Viveka meinte, ich sollte raufgehen und mit dir reden. Sie hat gesagt …« Charlie unterbrach sich. »Also bleiben wir jetzt hier?«

»Fürs Erste.« Petra wählte ihre Worte mit Bedacht. »Ich glaube nicht, dass wir für immer hierbleiben. Vielleicht ziehen wir irgendwann wieder zurück nach Stockholm, aber im Moment …«

»Ist es die einzige Möglichkeit. Ja, das hast du schon hundertmal gesagt.«

»Ich weiß.« Petra zog eine Grimasse. »Aber ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit du dich hier wohlfühlst. Und du darfst dir dein Schlafzimmer aussuchen.«

»Ist mir egal, welches ich kriege.«

»Schau dir die Zimmer doch erst einmal an.« In der Befürchtung eines erneuten Ausbruchs hielt Petra den Atem an, aber wider Erwarten folgte Charlie ihr an das andere Ende der Wohnung.

»Ich nehme das Zimmer hier«, erklärte Charlie, als sie sich kurz umgesehen hatte. »In dem anderen Zimmer steht ein Doppelbett. Wäre doch dämlich, wenn ich das bekäme und du in diesem kleinen Bett hier schlafen müsstest.«

»Ach, das ist mir ganz egal. Ich passe schon hinein.«

Charlie trat ans Fenster. »Von hier aus kann man über den Hof und die Gärtnerei sehen. Auf der anderen Seite gibt es nichts als einen Haufen Bäume.«

»Das stimmt«, gab Petra ihr recht. Ihr brannte die Frage auf der Zunge, ob Charlie glaubte, dass es ihr hier gefallen würde, aber sie wollte nicht riskieren, ihre Nichte wieder zur Weißglut zu bringen. »Wenn du willst, kaufen wir dir ein paar neue Sachen für dein Zimmer. Und wenn wir erst alles aus dem Anhänger hier hochgeschafft haben, sieht die Wohnung schon ganz anders aus.«

Jetzt war Petra froh, dass sie nicht alle Möbel verkauft, sondern ein paar behalten hatten, die sie an ihre Eltern und Alice erinnern würden.

Charlie strich mit der Hand über den Nachttisch und rümpfte die Nase, als der Staub um sie herumwirbelte. »Ich glaube, wir sollten erst putzen, oder?«

»Stimmt, hier ist erst mal Großputz angesagt. Und Lebensmittel sollten wir auch einkaufen.«

Charlie nickte und sah sich nachdenklich um. »Warum haben Oma und Opa nie von dieser Wohnung hier erzählt?«

»Keine Ahnung, wirklich nicht.«

»Sollen wir mal Viveka fragen?«

»Ja, aber lass mich das besser tun«, sagte Petra.

»Wieso?«

»Es könnte eine heikle Angelegenheit sein.«

»Hm«, machte Charlie und setzte sich auf die Bettkante. »Aber findest du es nicht seltsam, dass Oma und Opa nie hier waren?«

»Vielleicht haben sie die Wohnung ja nur als eine Art Investition gehalten oder so«, gab Petra zu bedenken, obwohl sie ihrer Nichte insgeheim zustimmte. Es sah ihren Eltern nicht ähnlich, etwas zu verschweigen – erst recht nicht etwas so Großes wie eine Eigentumswohnung.

5

Der Duft von Tannenzweigen und Hyazinthen schlug ihnen entgegen. Petra spürte, wie sich ihre Schultern entspannten. Sie steuerte auf einen Tisch mit einigen Holzkisten zu, die Amarylliszwiebeln enthielten.

»Bei Mama stand immer eine Vase mit solchen Blumen auf dem Küchentisch«, sagte Charlie und strich über eine der Kisten.

»Das war fast schon Tradition«, antwortete Petra. »Deine Oma hat damit angefangen. Sie hat immer Töpfe mit Amaryllen im ganzen Haus verteilt. Und sie hat sogar für unsere Nachbarn Blumenschmuck angefertigt.«

»Kann ich euch irgendwie helfen?« Holger, der Mann aus Vivekas Küche, lugte zwischen einigen Grünpflanzen hindurch.

»Wir wollten uns nur ein wenig umsehen und Viveka sagen, dass wir das Auto holen und einkaufen fahren«, sagte Petra und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie Holgers grimmiger Blick verunsicherte. Obwohl er nicht unbedingt unfreundlich klang, gab er ihr das Gefühl, vor einem strengen Lehrer zu stehen, der nur darauf wartete, dass sie einen Fehler machte.

»Viveka ist nicht da.«

»Ach so.« Stille breitete sich aus, und Petra überlegte, was sie noch sagen könnte.

»Es ist wirklich sehr schön hier.«

»Hm.«

»Sie sind also für die Gärtnerei zuständig?«

»Für die Pflanzen, ja.«

Petra nickte und suchte vergeblich nach möglichen Gesprächsthemen. Charlie kam ihr zu Hilfe.

»Arbeiten Sie schon lange hier?«

Holger runzelte die Stirn und zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Fast mein ganzes Leben lang.«

»Das muss wirklich eine lange Zeit sein.«

Petra warf Charlie einen entsetzten Blick zu und stammelte dann: »Also, sie meint, äh …«

»Ein paar Jahre sind schon zusammengekommen«, unterbrach Holger sie. Seine Mundwinkel zuckten.

»Und Sie wollten nie irgendwo anders arbeiten?«

»Nie! Das hier ist mein Leben.«

»Und was machen Sie genau?«

»Wir sollten Holger keine Löcher in den Bauch fragen. Wir …«, setzte Petra erneut an, doch der ältere Mann unterbrach sie erneut.

»Alles Mögliche, saisonabhängig.«

»Gerade wahrscheinlich viel Weihnachtskram, oder?«, fragte Petra, die sich zwar nicht in das Gespräch einmischen wollte, aber neugierig war.

»Richtig, das ist eine sehr wichtige Saison für uns. Pass auf, die sind spitz.«

Petra folgte Holgers Blick und bemerkte, dass Charlie gerade ein paar Kakteen untersuchte.

»Sind die gefährlich?«, fragte sie.

»Nicht im Geringsten, aber gestochen zu werden, ist trotzdem nicht schön.« Holger ging zu Charlie hinüber und nahm eine der stacheligen Pflanzen in die Hand. »Es gibt fast zweitausend Kakteenarten, und je nachdem, wie viel Wasser sie bekommen, wachsen oder schrumpfen sie.« Er reichte den Kaktus an Charlie weiter. »Hier, der ist für dich. Der macht sich bestimmt gut in deinem Zimmer, und allzu viel Pflege braucht er auch nicht.«

»Darf ich?« Charlie sah Petra fragend an.

»Natürlich. Der wird toll in deinem Zimmer aussehen. Wenn du möchtest, können wir noch mehr Pflanzen kaufen.«

»Ihr zieht also wirklich in die Wohnung oben ein?«, fragte Holger.

»Das hatten wir vor, ja.«

Holger nickte, sagte aber nichts mehr.

»Vielleicht kannten Sie meine Eltern?«, fragte Petra.

Holger schob die Kakteen hin und her. »Ich glaube, ich bin ihnen mal über den Weg gelaufen.« Er nickte in Richtung des Eingangs. »Die Gärtnerei öffnet gleich. Wenn Sie Viveka suchen, schauen Sie mal im Café.«

»Also, ich … Wir können uns gern duzen.« Holger nickte kurz und wandte ihnen dann den Rücken zu. Er steuerte auf den Durchgang zum nächsten Gewächshaus zu. Als er verschwunden war, warf Petra Charlie einen Blick zu und zuckte die Schultern. »Ich schätze, er hatte wohl keine Lust mehr, mit uns zu reden.«

»Ich glaube, er wollte nicht von dir verhört werden.«

»Du hast recht, wir haben zu viele Fragen gestellt.«

Charlie betrachtete die aufgereihten Pflanzen mit gelangweilter Miene. »Gehen wir jetzt, oder was?«

»Sofort«, sagte Petra nachdenklich. Holger hatte einen ziemlich barschen Ton an sich, aber vielleicht war das einfach seine Art? Ach, verflixt, hör auf, alles zu zerdenken, dachte sie und versuchte, sich auf ihre bevorstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Wenn sie heute alles schaffen wollten, was sie sich vorgenommen hatten, war es höchste Zeit, sich auf die Suche nach Viveka zu machen.

*

Das Café war genauso ausgestorben wie die Gärtnerei, abgesehen von Viveka, einer alten Dame, bei der es sich um Berit handeln musste, und einer Frau in den Dreißigern, die vermutlich die Aushilfe Maja war.

»Das sind Petra und Charlie«, verkündete Viveka, als die beiden sich näherten. »Meine Überraschungsgäste. Kommt, setzt euch.«

Petra begrüßte die anderen beiden Frauen und kam der Einladung nach. Sie fragte sich, was Viveka erzählt haben mochte und was die anderen davon hielten, dass Charlie und sie die Wohnung beziehen wollten. Was, wenn sie nicht in die Hofgemeinschaft passten? Was, wenn Charlie in der neuen Schule keine Freunde fand? Was sollten sie dann tun?

»Kaffee?«, unterbrach Viveka ihre Gedanken und stellte eine Tasse auf den Tisch, ohne eine Antwort abzuwarten. »Und für dich vielleicht ein Glas Saft?«, fragte sie an Charlie gewandt.

»Hm«, machte Charlie, ohne den Blick von ihrem Handy zu nehmen. Petra überlegte, ob sie ihre Nichte zurechtweisen sollte, doch angesichts ihrer angespannten Beziehung verzichtete sie darauf, um keine weitere Szene zu provozieren.

»Ich bin Maja, ich arbeite hier mit Berit zusammen«, sagte die junge Frau und streckte die Hand aus.

»Wir sind froh, dass wir Maja haben«, fügte Viveka hinzu. »Ich hatte euch ja schon erzählt, dass Mutter über vierzig Jahre lang den Laden ganz allein geschmissen hat. Aber jetzt wird es langsam Zeit, dass sie auch mal jemand anderes an den Backofen lässt, nicht wahr?« Sie tätschelte Berits knorrige Hand.

»Als hätte ich eine Wahl«, murmelte Berit und starrte Petra grimmig an. »Und was habt ihr hier verloren?«

»Petra muss uns nicht sofort alles über sich erzählen. Sie und Charlie sind doch gerade erst dabei einzuziehen«, sagte Viveka.

»Hier oben?«, fragte Maja.

»Ja, genau.«

»Ach, und wo willst du arbeiten?«, fragte Berit. »Hast du überhaupt irgendetwas gelernt?«

»Petra hatte einen Friseursalon in Stockholm«, sagte Charlie, und Petra warf ihr einen erstaunten Blick zu.

»Du bist also Friseurin?«, fragte Berit.

»Das war ich jedenfalls. Jetzt weiß ich noch nicht so recht, was ich machen soll.«

»Wieso nicht?«

»Ich brauche erst mal eine Auszeit.« Petra musste an den Tag denken, als sie das letzte Mal mit Nick im Salon gestanden hatte. Die Verzweiflung, als sie mit ansehen musste, wie die Stühle abgebaut und weggetragen wurden, und wie sie vergeblich zu verstehen versucht hatte, wie alles so komplett den Bach runtergegangen war. Das alles kochte wieder in ihr hoch.

»Petra hat einer Kundin die Haare versaut.«

Petra sah Charlie entsetzt an. »Das war ein Versehen.« Aber versaut hatte sie es. Sie hatte einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen und nicht daran gedacht, dass die Strähnchen der Kundin schon viel zu lange einwirkten. Das hatte dazu geführt, dass die Haare der Frau kreideweiß geworden waren. »Es war ein Versehen«, wiederholte sie und hätte sich beim Gedanken daran am liebsten in einer dunklen Ecke verkrochen.

»Kommt vor«, sagte Viveka. »Ich habe mal versehentlich ein paar frisch gepflanzte Apfelbäume umgehauen.«