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Wie können wir Orientierung finden in immer komplexeren und unübersichtlichen Zeiten? Wie unser Leben meistern, wenn alles um uns herum einem steten Wandel unterliegt? Und wie können wir zur Ruhe kommen, um uns zu orientieren, wenn alles um uns herum von höchster Unruhe geprägt ist? Der Leadership-Experte und studierte Philosoph und Sprachwissenschaftler Jörg Hawlitzeck weiß: Wer andere führen will, muss zuerst sich selbst führen. Und das ist nur durch Selbsterkenntnis möglich. Von der Suche nach dem Glück bis zur Kraft des revolutionären Denkens: In seinem Buch präsentiert er 30 Erkenntnisse, die unser Leben besser machen.
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Seitenzahl: 316
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jörg Hawlitzeck
30 Erkenntnisse, die dein Leben besser machen
Effizient. Einfach. Lebensnah.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
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Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotiv: © Mananya Kaewthawee / GettyImages
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara
ISBN Print 978-3-451-60168-2
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83955-9
Vorwort
1 Das Streben nach Glückseligkeit
2 Die Negativitätsfalle
3 Die Illusion der Wirklichkeit
4 Das Wunder der Kommunikation
5 Die Spaltung der Gesellschaft
6 Das Verschwinden der Wahrheit
7 Kritisches Denken
8 Realistischer Optimismus
9 Die Macht der Einstellung
10 Werde zum Cortegiano!
11 Der Wert der Bildung
12 Digitale Diktatur
13 Spirituelle Heimatlosigkeit
14 Das Geheimnis der Enthaltsamkeit
15 Im Zeitalter der Polykrisen
16 Zukunftsoptimismus
17 Der Mut zu entscheiden
18 Die Veränderung von Organisationen
19 Die Magie der Motivation
20 Die Natur des Menschen
21 Die Verpflichtung zur Solidarität
22 Die Kraft der Toleranz
23 Der Einfluss der Emotionen
24 Der Umgang mit Konflikten
25 Ethik und moralisches Handeln
26 Die Freiheit des Willens
27 Das Geschenk der Schönheit
28 Das Geheimnis der Kreativität
29 Der Zauber des Alters
30 Der Sinn des Lebens
Literatur
Über den Autor
Über das Buch
Liebe Menschen,
wir leben in einer Zeit, in der täglich, stündlich, ja minütlich Gewissheiten über Bord gehen. Politisch, gesellschaftlich und auch in unserem eigenen Leben. Trennung, Jobverlust oder ein guter Freund, der plötzlich Verschwörungstheoretiker geworden ist. Wenn im Außen die Sicherheiten schwinden, die uns über Jahre oder Jahrzehnte getragen haben, ist es umso wichtiger, Sicherheit in uns zu finden. Doch wie kann das gelingen in einer uneindeutiger und komplexer gewordenen Welt? Wie können wir feste Wurzeln der Gewissheit in uns selbst schlagen, wenn sich draußen alles immer schneller um uns herum bewegt? Wie sollen wir unsere Sicherheit in unseren Lebensentscheidungen zum Ausdruck bringen, um greifbar für unsere Mitmenschen zu sein?
Ich fand es an der Zeit, Ordnung zu schaffen: In dem, was momentan in der Welt passiert, in gesellschaftlichen Entwicklungen, die manchen überfordern, in unserer Diskurs- und Kommunikationskultur, die in meinen Augen zu oft unterirdisch ist. Und damit in letzter Konsequenz in den Möglichkeiten, die jeder von uns selbst hat, überhaupt Einfluss auszuüben. Die 30 Erkenntnisse beruhen auf meiner über 20-jährigen Tätigkeit als Mentor für Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen. Im Leadership lässt sich eine Sache lernen: Wer andere führen können will, muss sich selbst führen können. Das bedeutet, sich selbst gut zu kennen und sich bewusst darüber zu sein, was einen bewegt. Zu erkennen, was meist unbewusst die Kommunikation und den Umgang mit anderen steuert, um das eigene Leben aktiv in die Hand zu nehmen. Alle Beispiele aus Coachingsituationen sind anonymisiert und so sehr verfremdet, dass sich niemand wiedererkennen dürfte. Falls doch, gehen an der Stelle herzliche Grüße raus, verbunden mit einem aufrichtigen Dankeschön!
Wollen wir als Einzelne unsere Zukunft aktiv gestalten, ist ein Blick in die Vergangenheit höchst hilfreich. Die philosophische Tradition ist voller Denkanstöße, die auch heute noch wertvolle Wegweiser sind. Um die wichtigsten lebensphilosophischen Fragen zu beleuchten, habe ich mich von meinen Vordenkern, von den Griechen bis in die Gegenwart, inspirieren lassen. In einer postfaktischen Epoche, in der viele unserer Mitmenschen sich in digitalen Filterblasen verlieren und in der Folge im öffentlichen Diskurs der Meinungsaustausch nur noch polarisierend oder vorurteilsbeladen stattfindet, scheint es mir von besonderer Aktualität, die Antworten auf die Frage danach, was wir überhaupt wissen können, auf ein solides Fundament zu stellen. Und in einer Zeit, in der viele unserer Mitmenschen Selbstentwicklung ausschließlich als Selbstoptimierung zum eigenen Vorteil begreifen, scheint es mir von besonderer Dringlichkeit, die Frage danach, wie wir handeln sollten, auf ein solides ethisches Fundament zu stellen.
Ich erlaube mir, dich als Leser zu duzen. Schließlich geht es um sehr persönliche Fragestellungen. Auf das Gendern habe ich aus stilistischen Gründen verzichtet, was eine ästhetische und keine politische Entscheidung ist. Wann immer du also ein Wort wie „Leser“ findest, sei versichert, dass alle angesprochen sind, egal woher sie kommen, wen sie lieben, als wen sie sich definieren, wie alt oder jung sie sind oder wie viel sie können. Wir sind alle Menschen!
„Glücklich ist, wer richtig urteilt.“
Seneca
Meine Freundin Kerstin jagt, seitdem wir uns kennen, dem Glück hinterher. Schon in der Grundschule war sie diejenige, die alles, was ihr nicht passte, veränderte. In Kunst wurde gehäkelt? Dann bitte keine langweiligen Schals oder Mützen. Sie häkelte kurzerhand ein Stofftier. Beim Völkerball war sie dem „falschen“ Team zugeordnet? Sie stahl sich durch den Geräteraum, und wie durch Zauberhand befand sie sich im „richtigen“ Team. Kerstin überließ nichts dem Zufall. Sie machte sich ihre Welt, wie sie ihr gefällt. Bekanntschaften, die erste Liebe, Urlaubseinladungen … Kerstin schien immer auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Wir bewunderten sie für ihr Geschick. Sie lachte und sagte: „Das Leben sorgt schon für uns!“
Kerstin plagte sich nicht mit lästigen Fragen der Berufswahl und womit man wohl später die besten Aussichten auf eine gute Anstellung hätte. Sie studierte einfach das, was ihr Freude bereitete – Literatur und Theaterwissenschaften –, und fand dann auch immer Jobs, manche davon prekär, manche sehr lukrativ. Im Leben ging sie nach dem Motto vor: Was mich nicht glücklich macht, wird so lange verändert, bis ich zufrieden bin. Diese Haltung brachte sie durch unzählige Jobs und so manche leidenschaftliche Beziehung. Nomadenhaft zog sie um, wenn sich irgendwo eine bessere Chance auftat. Ihre Neugierde machte weder vor neuen Ländern noch vor fremden Kulturen halt. Kerstin ist wirklich nicht die Stetigste gewesen in den vergangenen Jahrzehnten!
Vor einem Jahr unterhielten wir uns anlässlich des 50. Geburtstags eines gemeinsamen Freundes über das Leben und unsere Zufriedenheit nach einem halben Jahrhundert auf diesem Planeten. Kerstin sagte: „Es stimmt schon. Ich habe immer mein Ding gemacht. Und so richtig glücklich war ich – wenn überhaupt – nur in wenigen Momenten. Komisch eigentlich.“
Wir Menschen streben nach Glück. Die Suche nach der Kunst des guten Lebens ist so alt wie die Menschheit. Schon seit Jahrtausenden stellen sich Menschen aller Kulturen Fragen nach einem glücklichen und erfüllten Leben: Was möchte ich erreichen im Leben? Was ist mir wirklich wichtig? Welchen Stellenwert hat die Familie für mich? Welchen die Arbeit? Wie möchte ich meine Beziehung leben? Welche Rolle spielt Wohlstand? Ist mir Geld wichtiger als Zeit? Wie kann ich mit Misserfolgen umgehen? Ist das gute Leben eine Sache der Verfolgung von Zielen oder der Hingabe an den Augenblick? Wie kann ich Sinn in meinem Leben schaffen?
Es gibt nicht DIE eine Regel für ein geglücktes Leben. Und während wir unser Leben vorwärts leben müssen, werden wir es doch erst in der Rückschau verstehen. So formulierte es zumindest der dänische Philosoph Søren Kierkegaard in seinem Tagebuch. Es ist wie beim Lesen eines guten Romans: Einzelne Kapitel erschließen sich erst nach der Lektüre des gesamten Werks in ihrem vollen Umfang. Wir können erst in Kenntnis des Ganzen einzelne Details wirklich verstehen, so lautet das Prinzip der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen. Genauso verhält es sich im Leben. Manches, was im Moment des Erlebens null Sinn ergeben hat, erscheint in der Rückschau vollkommen logisch.
Der legendäre Apple-Gründer Steve Jobs nannte dieses Phänomen in seiner berühmten Stanford-Rede 2005 „connecting the dots“. Er selbst habe im Studium einen Kalligrafiekurs gemacht, bevor er es abbrach. Diese historische Art, schön zu schreiben, habe damals keinerlei praktische Relevanz gehabt. Als er jedoch zehn Jahre später den Macintosh entwickelt habe, habe ihn seine Kalligrafieerfahrung dazu veranlasst, kreative Schriftarten im Textverarbeitungsprogramm einzubauen. Dies sei ein entscheidender Wettbewerbsvorteil gegenüber Windows gewesen und habe einen großen Teil des Erfolgs von Apple in den frühen Jahren ausgemacht. In der Rückschau sei es einfach, diese Punkte zu verbinden. In der Vorausschau jedoch sei dies unmöglich.
Wir treffen ständig kleine und große Lebensentscheidungen, von denen wir im Moment der Entscheidung nicht wissen können, wie sie sich auf unser Leben auswirken. Wie aber können wir in Unkenntnis des großen Ganzen unterwegs die „richtigen“ Entscheidungen treffen? Worauf unsere Entscheidungen im Alltag gründen? Woran sich orientieren, um Vertrauen in die eingeschlagene Richtung zu gewinnen? Und wie vermeiden, dass wir am Tage unseres Scheidens aus dieser wundervollen Welt ein qualvolles Bedauern empfinden?
Lange Zeit boten die großen Weltreligionen wertvolle Orientierung bei der Beantwortung dieser lebenspraktischen Fragen. Für manche von uns taugen sie auch heute noch. Allerdings scheinen Religion und Spiritualität besonders in westlichen Gesellschaften weitestgehend abgemeldet zu sein. Für die meisten ist Gott als Leuchtstern des eigenen Lebens gestorben. Kirchen bleiben sonntags leer und dienen allenfalls noch als Stätten für Konzerte oder Kulturveranstaltungen. Und Benediktinerklöster haben eine neue Daseinsberechtigung als Eventlocations für gestresste Manager gefunden.
Heutzutage laufen stattdessen große Scharen Sinnsuchender in die Arenen der Fulfillment-Industrie, um Sicherheit für ihre eigenen Entscheidungen zu bekommen und zumindest einen Hauch von Sinn für ihr Leben. Deren Propheten versprechen ihrer Gemeinde – je nach Ausrichtung des eigenen Geschäftsmodells – Glück, Zufriedenheit, Erfolg, den Traumkörper oder finanzielle Unabhängigkeit. Das Ganze in Nullkommanichts und ohne großen Aufwand: „Ihr müsst nur nach unten scrollen und auf den Link klicken …“ Doch so simpel ist es mit der schnellen Erfüllung nicht! Oft folgt nach einer kurzen Phase der Euphorie die Ernüchterung: So zügig lässt sich der Traumbody dann doch nicht verwirklichen, die Millionen sind auch noch nicht auf dem Konto, und das Versprechen eines unbeschwerten Lebens als Influencer auf Bali erweist sich als Horrortrip.
Derartige Quick-and-dirty-Angebote zur Verwirklichung unserer Glückseligkeit beruhen auf einem gravierenden Denkfehler: Wir glauben glücklich zu werden, wenn nur alle unsere Bedürfnisse möglichst sofort erfüllt würden. „Instant Fulfillment“ lautet das Mantra der kapitalistischen Religion. Gerade im Westen leben wir in einer Gesellschaft des Überflusses. Wir haben alles und davon mehr als genug. Das digitale Zeitalter hat uns in eine Welt der Bequemlichkeit katapultiert, in der wir in Echtzeit Waren ordern, einen neuen Job finden oder Sex haben können. Wir haben verstanden, unser Leben nach unseren egoistischen Bedürfnissen auszurichten. In der Logik der saturierten Wohlstandsgesellschafen gilt nunmehr: Aus dem Streben nach Glück ist ein Anspruch auf Glück geworden.
Wirkliche Zufriedenheit entsteht allerdings nicht dadurch, dass unsere Bedürfnisse und Erwartungen immer möglichst schnell erfüllt würden. Denn die Halbwertzeit dieses Erfüllungsgefühls sinkt ständig. Am Ende war der Wunsch nämlich reizvoller als dessen Erfüllung. Stattdessen könnten wir beim Ausrichten unseres Lebens nach unseren eigenen Wünschen nachhaltig vorgehen, indem wir uns nicht nur auf uns selbst fokussieren, sondern auch unsere Mitmenschen berücksichtigen. Hierfür benötigen wir einen lebensphilosophischen und ethischen Überbau, um unterwegs gute Entscheidungen treffen zu können. Es ist notwendig, über unsere Lebensziele nachgedacht und für uns Werte definiert zu haben, wie wir diese erreichen wollen. So vermeiden wir, uns in einer Abwärtsspirale der oberflächlichen, egozentrischen Bedürfniserfüllung zu verlieren, weil wir uns stärker auf Ziele fokussieren, die mehr mit dem Sein als mit Haben zu tun haben. Diese versprechen langfristige Erfüllung, weil sie nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Nächsten zufrieden machen.
Und das ist „nur“ die halbe Miete! Denn im Leben dürfen wir auch lernen, unseren Frieden mit denjenigen Dingen, Menschen und Situationen zu schließen, die unseren Erwartungen zuwiderlaufen. Wir dürfen erkennen, dass wir nicht alles kontrollieren können. Wir dürfen verstehen, dass nicht immer alles nach unseren Vorstellungen laufen kann. Und wir werden das Unvermeidliche akzeptieren lernen. Es gibt sie, die sogenannten Schicksalsschläge: Schwere Krankheit, der plötzliche Tod eines nahestehenden Menschen oder traumatische Trennungen. Ich kenne niemanden – wirklich niemanden –, dem diese Erfahrungen im Leben erspart geblieben wären. Häufig kommen sie unerwartet. Sie erwischen uns auf kaltem Fuße, was den Umgang mit ihnen so schwierig macht. Dann braucht es längere Phasen der Trauer, in denen wir hadern, leugnen, mit dem Schicksal feilschen, wütend oder depressiv werden, bevor sich schließlich Akzeptanz einstellt. So machen wir die Erfahrung, dass wir als Menschen nicht allmächtig sind. Ein Gefühl der Demut stellt sich ein.
Der stoische Philosoph Epiktet schreibt in seinem Handbüchlein der Moral: „Über das eine gebieten wir, über das andere nicht.“ Das ist ein pragmatischer Ansatz. Fokussieren wir uns doch auf die Dinge, die wir tatsächlich verändern können, und packen diese mutig an, anstatt zu jammern. Nehmen wir meine Freundin Kerstin als leuchtendes Beispiel dafür, was wir alles nach unseren Vorstellungen im Leben gestalten können. Und akzeptieren wir mit heiterer Gelassenheit alles das, was sich nicht so einfach verändern lässt, wozu vom annullierten Urlaubsflieger über den Verlust des Arbeitsplatzes bis zu schweren Schicksalsschlägen vieles im Leben gehören kann. Diese einfache Faustregel Epiktets sorgt für erstaunlich nachhaltige Zufriedenheit im eigenen Leben.
Die griechische Philosophie bietet vielfältige Anregungen für ein erfülltes Leben. Je nach Schule fallen die Antworten höchst unterschiedlich aus. Für den Epikureer liegt der Schlüssel zur Glückseligkeit – griechisch Eudaimonia – im Genuss, für den Skeptiker darin, sich des Urteils zu enthalten, für den Zyniker in der inneren und äußeren Freiheit und für den Stoiker im Leben im Einklang mit sich selbst beziehungsweise der Natur. Wir erkennen diese Ansätze unter unseren Zeitgenossen wieder: Der joviale Genussmensch, der keine Party auslässt und sämtlichen sinnlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen ist. Der Weise, der stets bemüht ist, sich des Urteils über andere zu enthalten, und daher besonnen lächelt, während andere leidenschaftlich diskutieren. Der Asket in sportlich ausgemergeltem Körper, der freiwilligen Verzicht übt und für den Reichtum bedeutet, möglichst wenig zu brauchen. Oder der Öko, der hinaus aufs Land gezogen ist, um sein eigenes Gemüse anzubauen und die Welt die Welt sein lässt.
Es gibt nicht DAS eine Rezept für ein erfülltes Leben. Wir sind tatsächlich auf uns selbst zurückgeworfen. Ja, du hast richtig gelesen: An dir selbst führt an dieser Stelle kein Weg vorbei! Herzlich willkommen in deinem Abenteuer, dir selbst zu begegnen. Es gilt, deine eigene Lebensphilosophie zu entwickeln, um dann in Übereinstimmung mit deren Werten zu denken, zu fühlen und zu handeln. Lass dich dabei inspirieren von den Werken all jener Philosophen und Weisheitslehrer, die du auch heute noch für kleines Geld in deiner Buchhandlung vor Ort finden kannst, anstatt für großes Geld Veranstaltungen zu buchen, wo im Chor lauthals „Tschakka!“ gerufen wird.
Was auch immer du als deine Lebensziele definierst und wie auch immer du diese verfolgen willst, ist deine persönliche Entscheidung. Die Wahrscheinlichkeit langfristiger Zufriedenheit in deinem Leben wird steigen, wenn du dabei nicht nur an dich, sondern auch an deine Mitmenschen denkst. Welchen Weg auch immer du einschlägst, der Probierstein für dich müssen auf jeden Fall sein: deine innere Zufriedenheit, deine Glückseligkeit und erfüllte Beziehungen zu deinen Mitmenschen.
Selbstführung beginnt mit Selbsterkenntnis! Nimm dir also Zeit für dich, am besten in einer ruhigen Stunde mit einem jungfräulichen Blatt Papier vor dir und einem Füller in deiner Hand (wahlweise geht natürlich auch dein iPad mit One Note und einem Apple Pencil). Denk über dein Leben nach und über das, was bisher gut gelaufen ist, und das, was du künftig verändern kannst und willst. Notiere, woran du definitiv – auch emotional – einen Haken machen möchtest. Schreib auf, was du im Moment des Sterbens auf jeden Fall erreicht haben willst. Mach eine Löffelliste. Definiere deinen Leuchtstern, deine Lebensziele, deine Kernwerte und deine persönliche Ethik und richte dein moralisches Handeln danach aus. Realisiere eine gesunde Balance aus deinen eigenen Wünschen und denen deiner Mitmenschen. Dies gibt dir Orientierung und Energie, mutig ins Handeln zu kommen. Und bei alledem: Vergiss nie, dass das Leben im Fluss ist und es also stets anders kommen kann als gewünscht. Nimm dich also selbst nicht zu wichtig und erlaube dir, über dich selbst zu schmunzeln!
„Wir bedenken selten, was wir besitzen, stets was uns fehlt.“
Arthur Schopenhauer
Ralf Kleinjohann war Abteilungsleiter für Produktion. Er machte seinen Job seit Jahrzehnten verlässlich. War er im Hause, lief der Laden wie ein Uhrwerk. Schließlich kannte er seine Abteilung mit über 150 Mitarbeitern wie seine Westentasche. Doch so unzweifelhaft seine Verdienste um einen perfekt organisierten und pünktlichen Ausstoß von Produkten in bester Qualität waren, desto einiger waren sich alle Kollegen darin, dass der Umgang mit ihm schwierig sei.
Er war der notorische Nörgler und hatte stets eine Ausrede parat, wenn etwas nicht funktionierte. Es ständen zu wenig Mitarbeiter zur Verfügung, weil der Krankenstand derzeit so hoch sei. Das liege gar nicht in seiner Verantwortung, sondern sei Sache der Personalabteilung. Deren Recruiting sei prinzipiell eine Katastrophe. Schuld waren sowieso immer die anderen: die Geschäftsführung mit ihren falschen strategischen Entscheidungen, die unfähige Entwicklung mit ihren spinnerten Ideen oder der unzureichend arbeitende Vertrieb, von dem man eigentlich gar nicht wüsste, wofür er bezahlt würde. Sein Bereich hingegen laufe ja! Dummerweise gaben die Zahlen ihm oft genug recht. Ganz abenteuerlich wurde seine Haltung dann, wenn es um anstehende Neuerungen ging: Das könne so nicht gehen. Denn man habe das ja bereits 1987 probiert und es habe schon damals nicht funktioniert. Seine Gegenargumente leitete er besonders gern mit der Floskel „Ja, aber …“ ein, weswegen er im Unternehmen auch der Jaberer genannt wurde. Manchmal traf er eigene Entscheidungen, nur um sich im Nachgang bitterlich über deren Konsequenzen zu beschweren. Kein Wunder, dass das nicht funktioniere. So könne man das ja auch nicht machen. Wer sich denn so einen Unfug ausgedacht habe. Die Jammerei ging dann so lange, bis ein Kollege ihm erfolgreich in Erinnerung rufen konnte, dass es ja ursprünglich seine Entscheidung gewesen sei.
Seine Kollegen schätzten seine fachliche Kompetenz und seine Zuverlässigkeit, während seine notorisch negative Einstellung zunehmend zur Bremse für Innovationen und damit für die weitere Unternehmensentwicklung wurde. Hinter vorgehaltener Hand behaupteten böse Zungen, im Controlling sei Kleinjohann mit seiner Einstellung besser aufgehoben gewesen. Sehnsüchtig sahen alle Beteiligten seiner Verrentung entgegen und zählten die Jahre bis dahin rückwärts. Es war nicht verwunderlich, dass wichtige Zukunftsprojekte schon jetzt an ihm vorbeigeplant wurden. Alles in allem bedauerten seine Kollegen, dass Kleinjohann – obwohl sehr erfahren – sich Neuem gegenüber so wenig aufgeschlossen zeigte und mit seiner Einstellung viele Kollegen, besonders Jüngere, regelrecht nervte. Der so wichtige Wissenstransfer zur nächsten Generation litt erheblich unter seiner Haltung. Je älter er wurde, desto verhärmter wurde seine Einstellung, bis das Unternehmen ihn schließlich in die Frührente entließ.
Wir alle haben eine kleine Prise „Kleinjohann“ in uns! Negatives Denken ist Teil unseres evolutionären Schutzprogramms. Skepsis gegenüber Neuem und Veränderungsscheu sicherten einst unser Überleben. Auf dem Weg von Köln nach Düsseldorf liegt rechtsrheinisch das Neandertal. Im Neanderthal Museum in Mettmann gibt es Steinzeit zum Anfassen. Beim Gang durch die Evolution lässt sich sehr gut nachvollziehen, dass der Fokus auf dem Negativen in unserer Existenz als Jäger und Sammler Voraussetzung für das eigene Überleben war. Eine falsche Bewegung bei der Jagd, und das Mammut war über einen hinweggetrampelt. Eine gerissene Achillessehne, und die Stammesgenossen ließen einen zurück. Eine von der Gemeinschaft geächtete Verhaltensweise, und man wurde verstoßen, allein nicht mehr überlebensfähig. Das Leben strotzte nur so vor Gefahren. Wer die Gefahr nicht früh genug erkannte, dem drohte, sie auch in Zukunft nicht mehr erkennen zu müssen. Denn der Fehler hatte einen bereits das Leben gekostet.
Unser Überlebenstrieb ist auch heutzutage noch tief in unserem neurophysiologischen und hormonellen System verankert. Bei Kritik unserer Mitmenschen schalten die meisten intuitiv auf Verteidigung. Die Amygdala sorgt dafür, dass Stresshormone wie Kortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet werden. Und wir beginnen verbal zu kämpfen, als stünde der Säbelzahntiger vor uns. Wir rechtfertigen uns, als ginge es ums Überleben. Wir wollen um jeden Preis recht behalten, als liefen wir Gefahr, vom Stamme verstoßen zu werden. Doch was einst sehr positive Konsequenzen hatte, gereicht uns heute zum Nachteil. Wir verstricken uns in unseren Ausflüchten, die Argumentation entgleist uns, und schlimmstenfalls finden wir uns in einer hässlichen diskursiven Negativspirale wieder: Das Vorwurfskarussell wird angeworfen, und wir schmeißen dem anderen seine Fehler an den Kopf. Schon ganze Freundschaften sind über solche Streitigkeiten zerbrochen. Und manche langjährige Beziehung zeichnet aus, dass sich die Partner nur noch im Streit verbunden fühlen. Am Ende hilft dann nur noch die Scheidung.
Auch der begeisterte Optimist kann nicht leugnen, dass negative Ereignisse einen größeren Einfluss auf uns haben als positive. Sie graben sich aufgrund der mit ihnen verbundenen Emotionen wie Angst, Wut, Enttäuschung, Neid, Missgunst und manchmal sogar Hass stärker in unser Gedächtnis ein als positive. Wer von demjenigen, den er einmal über alles liebte, massiv hintergangen und betrogen wurde, weiß ein Lied davon zu singen, dass die Achterbahngefühle der Eifersucht und des Misstrauens das himmelhochjauchzende Hochgefühl des anfänglichen Verliebtseins ausradieren wie ein Tsunami die Küstenlandschaft. Dieses Phänomen heißt Negativitätsverzerrung (negativity bias): Negatives fesselt unsere Aufmerksamkeit schneller als Positives und lässt uns in der Folge das Positive weniger deutlich erkennen. Der negativity bias ist einer der häufigsten Denkfehler und treibt uns in merkwürdigste Verhaltensweisen.
Wir gucken uns die Hausaufgaben unserer Kinder an. Es war ein Deutschaufsatz über Büchners Woyzeck zu verfassen, der per se nicht zu den Lieblingsthemen pubertierender Jugendlicher gehört. Uneheliche Kinder, Erbsendiät und der Mord an der Geliebten sind alles andere, als was in dem Alter interessiert. Unser Sprössling hat sich mächtig ins Zeug gelegt, sich mit dem vermeintlich Uninteressanten beschäftigt und darüber sechs Seiten verfasst. Alles in allem ordentliche Gedanken, geschrieben in verständlichem und korrektem Deutsch. Und wie sieht unsere Reaktion darauf aus? Uns springt der Orthografiefehler direkt im zweiten Absatz an: „Avancen“ wurde klein geschrieben! Und das Erste, was wir sagen, lautet: „Wann lernst du endlich, Nomen großzuschreiben?“ Wir sind Opfer des negativity bias geworden und zerstören ganz unbewusst die intrinsische Motivation unserer Kinder.
Auch Führungskräfte unterliegen gerne diesem Denkfehler. Das Digitalisierungsprojekt ist Bombe gelaufen und wird der Buchhaltungsabteilung viele Vorteile und dem Unternehmen großes Einsparpotenzial bringen. Allerdings ist das Budget um zwölf Prozent überschritten worden, wegen der vielen notwendigen Schnittstellen zu verschiedenen anderen Programmen. Wie sieht die Reaktion des verantwortlichen Managers aus? Egal, wie sehr die Mitarbeiter sich ins Zeug gelegt haben und wie viele Vorteile das Projekt auf lange Sicht bringen wird, es kommt die Frage: „Warum ist das Budget gerissen worden?“ Oder: „Warum habt ihr nicht früher Bescheid gegeben?“ Anerkennung für den geleisteten Einsatz? Fehlanzeige! Stattdessen wird gemanagt nach dem Motto: „Nicht gemeckert ist genug gelobt.“
In der Beziehung zu unseren Mitmenschen verführt uns die Negativitätsverzerrung zu einem übertrieben harten Umgang miteinander. Deren Schrullen und charakterliche Mängel fallen uns nämlich stärker ins Auge als die eigenen, weil wir im blinden Fleck unserer selbst leben. Haben wir dem anderen erst einmal etwas Negatives zugeschrieben, beispielsweise dass er die Spülmaschine „falsch“ einräumt, sehen wir logischerweise nur noch das, was in dieses Bild passt. Er ist eben einfach komplett nachlässig und so füllen wir das Horrorbild des hoffnungslosen Chaoten weiter an. So lange, bis unser Gegenüber überhaupt gar keine Chance mehr hat, uns zur Korrektur unseres Bildes zu bewegen. Schließlich kapituliert er und wird tatsächlich nachlässig, weil wir seine Bemühungen ja sowieso nicht wahrnehmen. Unser Bild wurde zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Schließlich unterstellen wir ihm gar schlechte Absichten: „Du machst das nur, um mich zu ärgern.“ Wir werden paranoid, auf dass sich unsere eigene Vorstellung aufs Neue bestätigen möge!
Auch uns selbst gegenüber schlägt die Negativitätsfalle zu. Wir sehen nur noch die Speckröllchen auf der Hüfte, unsere Schwierigkeiten mit dem Spanischen, unsere vermeintliche Dyskalkulie, unsere zwei linken Hände beim Handwerken oder sonstige charakterliche Mängel. Dies führt zu einem verzerrten negativen Selbstbild. Wir verallgemeinern und schließen daraus, dass wir zu überhaupt gar nichts taugen. Unser Selbstwertgefühl gerät in Mitleidenschaft, und wir vermeiden fortan Risiken oder die Auseinandersetzung mit Neuem. So bringen wir uns selbst um die Chance, zu lernen und persönlich zu wachsen. Beliebt ist bei einigen auch der desaströse Tages-, Wochen- oder Jahresrückblick. Die Negativitätsverzerrung zwingt uns dazu, nur noch das zu sehen, was beschissen gelaufen ist. Wir krönen uns zum König der Misserfolge. Und sind dann Weltmeister darin, diese Unfähigkeiten mithilfe unseres katastrophalen Denkens in die Zukunft zu projizieren!
In welch absurde Verhaltensweisen uns die Negativitätsfalle sonst noch gerne treibt, zeigt das Thema Umgang mit Verlusten … Wer von uns schon einmal an der Börse spekuliert hat, kennt das Phänomen. Wir kaufen eine Aktie bei 80 Euro. Sie fällt um zehn Prozent, und bei 72 Euro reden wir uns ein, die Aktie komme schon wieder. Anstatt sie zu verkaufen und einen überschaubaren Verlust zu realisieren, gucken wir dem Chart munter hinterher. Bei 40 Euro kaufen wir nach, um den Einstiegskurs zu „verbilligen“. Schließlich steht das Papier bei 19 Euro. Wir verkaufen endlich. Macht einen Verlust von 75 Prozent. Jetzt bräuchten wir 300 Prozent Gewinn, um wieder bei unserem Kaufpreis rauszukommen. Und warum haben wir nicht früher verkauft und das verbliebene Kapital besser investiert? Warum haben wir uns mental so lange betrogen? Weil wir Verluste nicht gerne haben. Wir fürchten den Schmerz, den uns der Verlust kostet.
Lottospielen ist dasselbe Phänomen mit umgekehrten Vorzeichen: Wir füllen einen Lottoschein aus und bezahlen dafür 14,40 Euro. Es treibt uns die Hoffnung, den Jackpot zu knacken! Doch diese Wahrscheinlichkeit liegt bei 1 : 140 Millionen. Schlüge uns hingegen jemand vor, mit einer Wahrscheinlichkeit von 140 Millionen : 1 den beträchtlichen Betrag von 14,40 Euro zu verlieren, würden die meisten von uns diesen Deal getrost ablehnen und den Dealmaker für verrückt erklären. Beim Lottospielen aber sind wir selbst verrückt. Die Aussicht auf Gewinne lockt, und wir gehen ein höheres Risiko ein. Ein erlittener oder zu erleidender Verlust schmerzt, und wir sind vorsichtiger.
Dieses irrationale Verhalten nennt man Verlustaversion. Wir bewerten Verluste stärker, als wir Gewinne wertschätzen. Es ist absurd und zugleich wissenschaftlich erwiesen, dass ein Verlust emotional etwa doppelt so schwer wiegt wie ein Gewinn in derselben Größe. Verlieren wir 100 Euro, dann kostet uns dieser Verlust mehr Glückseligkeit, als wir gewinnen würden, wenn uns jemand 100 Euro schenken würde. Rein objektiv ist die numerische Größe der Zu- bzw. Abnahme gleich, doch unsere Perspektive führt zu einer völlig unterschiedlichen Bewertung der Situation. Verlustaversion ist auch verantwortlich für das, was man die Illusion der versenkten Kosten (sunk cost fallacy) nennt: In Projekten, von denen klar ist, dass sie scheitern werden, sind wir unfähig, die Reißleine zu ziehen. Lieber werfen wir gutes Geld dem schlechten hinterher. Oder wir verharren in einer Beziehung, die sich lange überlebt hat, und machen uns gegenseitig den Alltag zur Hölle, während wir uns selbst einreden, das bekannte Unglück sei besser als das unbekannte Glück. Verlustaversion kann uns lähmen und uns daran hindern, zügig zu entscheiden und klug zu handeln. Machen wir uns bewusst: Die Opportunitätskosten des Nichthandelns sind auf jeden Fall höher als die des Handelns, auch wenn wir bisweilen eine falsche Entscheidung treffen.
Im Alltag ist eine negative Einstellung die absolute Bremse für Lernen, Kreativität und Innovationskraft. Schnappt die Negativitätsfalle erst einmal zu, werden unsere Handlungsspielräume entscheidend eingeschränkt: Negativitätsverzerrung, Verlustaversion oder sunk cost fallacy treiben uns in unbewusste oder irrationale Verhaltensweisen, die völlig negative Konsequenzen haben können. Und sie vergiften die Beziehungen zu unseren Mitmenschen.
Sei dir also bewusst über die wichtigsten Denkfehler und mentalen Vorurteile (biases), um sie künftig vermeiden zu können. Vermeide eine Haltung des „haben wir schon immer so gemacht“ oder „geht nicht, weil …“, womöglich verbunden mit dem Totschlagargument „ja, aber …“. So sorgst du für eine Generalüberholung deines von Natur aus auf Negativität geeichten Wahrnehmungsfilters und öffnest stattdessen das Tor zur Chancenintelligenz. Sollte dir dann tatsächlich einmal ein Mensch vom Typ Ralf Kleinjohann begegnen, dann meide den Umgang mit ihm. Menschen, die notorisch negativ eingestellt sind, passen besser ins Neandertal als in dein Leben.
„Denn an sich ist nichts weder gut noch schlecht, das Denken erst macht es dazu.“
William Shakespeare
„Perspective is reality“, sagte der Rinpoche zu mir und lächelte dabei weise. Ich konnte es nicht fassen. Dafür war ich 1200 Kilometer durch halb Europa bis in die Auvergne gereist, hatte zwei Tage still vor mich hin meditierend in meinem Kämmerchen verbracht, mich von veganer Rohkost ernährt und war ohne mein Handy ausgekommen? Um diese Plattitüde zu hören? Wut kochte in mir hoch, hatte ich mir doch von meinem zehntägigen Retreat bei den Buddhisten mehr erhofft als bereits bekannte Banalitäten. Doch Rinpoche gab mir eines dieser unendlich gütigen Dalai-Lama-Lächeln (Wer konnte ihm da böse sein?), das mir zuflüsterte: „You will understand.“ Und war dann auch schon wieder durch die Tür. So kurzweilig waren hier also die Konsultationen mit den Profis.
Wieder auf mich allein gestellt, begann es in mir zu arbeiten. Wie konnte es sein, dass Rinpoche sagte, meine Sichtweise sei die Wirklichkeit? Wo doch offensichtlich die Realität in Form einer Meditationsbank, einer Pritsche und eines Buddha auf einer kleinen Konsole vor mir stand. Dies waren unzweifelhaft keine Illusionen, sondern reale Dinge. Ihre Existenz hing auch nicht von meiner Perspektive ab, denn sie waren ja da. Was konnte er also gemeint haben? Mein Verstand räsonierte und versuchte, das Rätsel zu knacken, verfing sich bei dem Unterfangen allerdings mehr und mehr in einer Endlosschleife. So beschloss ich, mich stattdessen lieber in Geistesruhe zu üben. Konzentration auf den Atem, einatmen, ausatmen, Pause. 21 Zyklen lang, dann wieder von vorne. Wanderte der Verstand ab und verzählte sich oder vergaß, bei welcher Wiederholung ich angekommen war, begann der Zyklus von vorne. So hatte ich schon vor meiner Abreise in die Auvergne gelernt, den Verstand zur Ruhe zu bringen. Allerdings machte ich das zu Hause maximal 20 Minuten am Tag, und hier im Retreat gab es ja außer Meditation und gemeinsamem Rezitieren von Mantras nichts Weiteres zu tun. Zeit kann ganz schön lang werden und sich dehnen wie Kaugummi, wenn sonst nichts los ist!
Und plötzlich dämmerte es mir … Könnte es das sein, was Rinpoche gemeint hatte? Die Zeit ist ja rein objektiv immer gleich lang. Eine Minute bleibt eine Minute und eine Stunde eine Stunde. Unser Empfinden allerdings, wie lang wir einen bestimmten Zeitraum wahrnehmen, ob wir gestresst sind oder uns langweilen, unser Empfinden und damit unsere Bewertung der sogenannten Realität scheint mehr von uns selbst als von den tatsächlichen Verhältnissen abzuhängen. Unsere Perspektive scheint die Realität, die wir wahrnehmen, ganz entscheidend zu prägen. Könnte also Rinpoches Aussage eine überspitzte Formulierung dieses Phänomens sein, um mich aus der Komfortzone meiner Wirklichkeit, die ich natürlich gerne bei allen meinen Mitmenschen bedingungslos voraussetzte, herauszukatapultieren?
Nach allem, was wir wissen, bedingen sich die Phänomene, denen wir begegnen, und unser Geist wechselseitig. Hierin sind sich östliches Denken wie der Buddhismus und westliche Erkenntnistheorie erstaunlicherweise einig. Erkenntnis entsteht also sowohl durch die Dinge, die uns umgeben, als auch durch unseren Verstandesapparat, der die Wahrnehmungen mit Begriffen belegt, die ihrerseits wieder die Grundlagen für komplexere Urteile bilden. Das leuchtet im konkreten Fall eines Tisches mit vier Stühlen ein. Meine Vorstellung davon rührt sowohl vom Vorhandensein des Tisches und der Stühle her als auch von einem gespeicherten mentalen Bild von den Konzepten „Tisch“ und „Stuhl“, das dann wieder die Begriffe Tisch und Stuhl mit dem verknüpft, was ich sehe. Doch wie sieht es mit komplexeren Realitäten aus? Nehmen wir an, die Schwiegermutter kommt über die Feiertage zu Besuch. Dieser Umstand kann bei verschiedenen Menschen zu sehr unterschiedlichen Vorstellungen, Begriffen und Urteilen führen, von „Wie schön, endlich mal Zeit für die Familie zu haben“, bis zu „Jetzt müssen wir den Drachen für mehrere Tage im eigenen Hause aushalten“. Manchmal schwanken unsere Bewertungen ein- und desselben Phänomens auch je nach persönlicher Stimmungslage.
Und spätestens hier wird es Zeit, dir den Zahn zu ziehen, den Rinpoche mir vor mehr als zehn Jahren gezogen hat. Unsere Welt ist nämlich keineswegs objektiv. Wir sehen die Welt nicht so, wie die Welt ist. Sondern wir sehen die Welt so, wie wir sind. Unsere Welt besteht aus unseren Sichtweisen, Vorstellungen und Urteilen (manchmal – oder oft genug – auch Vorurteilen) über die Welt. Jeder von uns kann gar nicht anders, als alles, was ihm begegnet, durch die je eigene Brille seiner Lebenserfahrung wahrzunehmen. Uns steht also keine wirkliche Welt gegenüber, sondern wir haben eine Wirklichkeitsauffassung der Welt. Unser Wahrnehmungsfilter ist dabei geprägt von unseren Erfahrungen, unserer Erziehung, unseren Werten und Überzeugungen, unserem Glauben, unseren Erwartungen, unseren Enttäuschungen, ja selbst von so banalen Dingen wie der Qualität des morgendlichen Kaffees, des herbstlichen Schmuddelwetters draußen, unseres desolaten Kontostandes oder davon, mit welchem Bein wir aufgestanden sind. Das führt dazu, dass verschiedene Menschen ein- und dieselbe Sache unterschiedlich wahrnehmen und folglich anders bewerten.
Auch wir selbst sehen und beurteilen die Dinge in verschiedenen Situationen unterschiedlich. Wir kennen das Phänomen aus unserem eigenen Lebensverlauf. Manche persönliche, politische oder gesellschaftliche Frage haben wir vor zehn, 20 oder 30 Jahren anders bewertet als heute. Wir positionieren uns heute dementsprechend anders dazu als vor Jahrzehnten. Unsere eigene Wirklichkeitsauffassung ist also wandelbar.
Doch wie steht es jetzt um „die Realität“? Es gibt doch messbare Eigenschaften der Dinge, denen objektive Geltung zugesprochen wird. Wenn wir mithilfe von empirischen Versuchen wiederholbare Ergebnisse erzielen, wie im Falle des Phänomens der Schwerkraft, dann besitzt die Sache doch objektive Gültigkeit, oder etwa nicht? Selbstverständlich, und diese Wirklichkeit erster Ordnung, die sich messen, berechnen und wiederholbar bestätigen lässt, wird begleitet von einer Wirklichkeit zweiter Ordnung, wie der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick sie nennt: Nehmen wir das Beispiel Gold, um uns diesen Zusammenhang zu verdeutlichen. Dessen physische Eigenschaften sind uns bekannt: hellgelber Glanz, hohe Dichte, Korrosionsbeständigkeit. Sein Wert allerdings wird täglich beim sogenannten Goldfixing in London festgelegt. Er ist volatil, obwohl die physischen Eigenschaften beständig sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Realität. Die Wirklichkeit erster Ordnung wird überlagert von einer Wirklichkeit zweiter Ordnung, die aus unserem eigenen Wahrnehmungsfilter, unserer Wirklichkeitsauffassung besteht und die den Dingen, Phänomenen und auch Menschen bewusst oder unbewusst einen Wert zuschreibt. Die sogenannte Realität sieht also für jeden von uns anders aus. Deswegen spricht die Erkenntnistheorie hier von Konstruktivismus.
Ist uns dieser Unterschied zwischen den beiden Wirklichkeiten nicht bewusst, leben wir in der intuitiven und naiven Annahme, die Welt sei so, wie wir sie sehen. Wir setzen dann voraus, dass unsere Mitmenschen die Welt genauso sehen und bewerten müssten wie wir selbst. Tun sie nur dummerweise nicht. Und wir setzen dann alles daran, sie von unserer „richtigen“ Sichtweise zu überzeugen. Alle Grundprobleme in der zwischenmenschlichen Kommunikation erwachsen daraus, dass wir stillschweigend unsere eigene Wirklichkeitsauffassung beim anderen voraussetzen und in der Folge seine Wirklichkeitsauffassung zu korrigieren versuchen. Viele Missverständnisse lassen sich allein dadurch klären, dass wir erkennen, dass unsere eigenen Sichtweisen, Vorstellungen, Meinungen oder Überzeugungen nicht das Maß aller Dinge sind. In der Folge steigt die Bereitschaft, die eigene Weltsicht infrage zu stellen. Dies ist die notwendige und zwingende Voraussetzung, um sich überhaupt erst für die Perspektive der anderen öffnen zu können. Das Ergebnis dieses Prozesses nennt man Empathie.
Rinpoche hatte mich zu Beginn meines Retreats geärgert und damit herausgefordert. Die restlichen acht Tage verbrachte ich hauptsächlich damit, mich in buddhistischer Meditation und Mitgefühl zu üben. Diese Erfahrung hat mir vor allem eines klar gemacht. Neben unserem Verstand und unseren Gefühlen gibt es eine weitere Instanz in uns, die in der Lage ist, sowohl unsere Gedanken als auch unsere Gefühle wertfrei zu beobachten, nennen wir sie unseren Geist. In der Meditation lernen wir, unseren Geist so sehr zur Ruhe zu bringen, dass er einer spiegelglatten Wasseroberfläche ähnelt. Kein äußerer oder innerer Einfluss kann den Geist in diesem Zustand in Wallung bringen. Dieser absolut ruhige Geist beobachtet unsere Gedanken und Gefühle, und zwar ohne sie zu beurteilen. Dies eröffnet die Möglichkeit, bewusster mit unserem Denken und Fühlen umzugehen. Wir können einen Gedanken wahrnehmen, bevor er in Form einer verletzenden Bemerkung unsere Lippen verlässt und wir uns dann auf die Zunge beißen müssen. Oder wir nehmen wahr, wie das Blut in unseren Adern kocht, bevor wir einen Tobsuchtsanfall erleiden, und können gegensteuern.
Geistestraining hilft also, mit unseren Gedanken und Gefühlen konstruktiver umzugehen. Und hierin liegt ein enormer Hebel für unsere Selbstwirksamkeit. Wir haben gesehen, wie sehr unser Überlebenstrieb uns dazu verleitet, die Dinge übertrieben negativ zu bewerten. Genau hier können wir ansetzen: Sobald also ein negativer Gedanke, begleitet von negativen Gefühlen der Enttäuschung, der Wut oder der Missgunst, unseren Verstand durchkreuzt, können wir gegensteuern, indem wir in diesem Moment sehr bewusst nach positiven Aspekten suchen. Das heißt nicht, dass dies immer einfach ist, und es geht auch nicht darum, sich die Welt rosarot zu malen, sondern sich ehrlichen Herzens zu fragen: „Was ist positiv am Besuch der Schwiegermutter?“
Alles im Leben hat zwei Seiten: Auf die Ebbe folgt die Flut, nach der Nacht folgt ein neuer Tag, nach einem langen Winter kommt der Frühling … So wechseln sich auch in unserem Leben Phasen der absoluten Zufriedenheit ab mit Phasen, in denen nichts zu gelingen scheint. Neben absoluten Glücksmomenten erleben wir auch Schockmomente: Trennungen, den Verlust uns nahestehender Menschen, schwere Krankheit oder vielfältige Enttäuschungen. Wir können nicht immer beeinflussen, was uns widerfährt. Wir können allerdings immer darüber entscheiden, wie wir mit dem, was uns widerfährt, umgehen. Und in jeder Krise – auch Lebenskrise – steckt eine Chance, gestärkt daraus hervorzugehen. Ob wir daran zerbrechen oder daran wachsen, hängt von uns selbst ab. Wir können, anstatt in die Negativitätsfalle zu tappen, die Notbremse ziehen und einen Perspektivwechsel auf die Dinge, Situationen und Menschen vornehmen. Wir können uns fragen: Was ist positiv daran? Welche Chance liegt darin? Was gefällt mir an ihm oder ihr?
Haben wir erst einmal eine andere Perspektive auf die Situation oder den Menschen eingenommen, dann tun sich erstaunlich oft Lösungen auf, an die wir vorher gar nicht haben denken können. So mancher Konflikt lässt sich entschärfen. Oder wir leiden weniger unter bestimmten Situationen. Das bedeutet im Klartext: Durch eine Veränderung der Wirklichkeit zweiter Ordnung, die wir ganz einfach selbständig durch einen positiveren Blickwinkel vornehmen können, verändert sich die Wirklichkeit erster Ordnung. Die Schwiegermutter ist dann kein Drachen mehr. Oder wir sind dankbar für die erfahrene Kündigung, weil sie uns die Tür zu einer ganz neuen beruflichen Perspektive geöffnet hat, an die wir vorher gar nicht gedacht haben. Diesen Perspektivwechsel können wir vornehmen, ohne uns selbst in die Tasche zu lügen oder einem naiven Optimismus anheimzufallen, demzufolge alles schon gut werde, solange man nur daran glaube.
