7 Morde - 50 Jahre Haft - 1 Leben danach - Felix Hutt - E-Book
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7 Morde - 50 Jahre Haft - 1 Leben danach E-Book

Felix Hutt

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Beschreibung

Kein Häftling saß länger ein in Deutschland und kam wieder frei: der »Mittagsmörder« Klaus G. Zwischen 1960 und 1965 erschoss er bei zwei Banküberfällen und drei Raubverbrechen fünf Menschen – zwei weitere Morde, die ihm zur Last gelegt wurden, bestreitet er. Hunderte Beamte waren ihm auf der Spur, über 50 000 Personen wurden überprüft, ein immenses Kopfgeld ausgesetzt. Im Juli 1967 wurde er für seine Taten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Heute, 50 Jahre später, ist er wieder auf freiem Fuß und muss sich in einer radikal veränderten Welt zurechtfinden...

Dem Kriminalitätsexperten und »Stern«-Journalisten Felix Hutt gelingt – auch mittels der selbstverfassten Erinnerungen des »Mittagsmörders« – eine ungemein mitreißende Rekonstruktion der Verbrechen und ein einzigartiger Blick in das Innenleben eines Mörders.

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DAS BUCH

Kein Häftling saß länger ein in Deutschland und kam wieder frei: der »Mittagsmörder« Klaus G. Zwischen 1960 und 1965 erschoss er bei zwei Banküberfällen und drei Raubverbrechen fünf Menschen – zwei weitere Morde, die ihm zur Last gelegt wurden, bestreitet er. Hunderte Beamte waren ihm auf der Spur, über 50000 Personen wurden überprüft, ein immenses Kopfgeld ausgesetzt. Im Juli 1967 wurde er für seine Taten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Heute, 50 Jahre später, ist er wieder auf freiem Fuß und muss sich in einer radikal veränderten Welt zurechtfinden…

Dem Kriminalitätsexperten und Stern-Journalisten Felix Hutt gelingt – auch mittels der selbstverfassten Erinnerungen des »Mittagsmörders« – eine ungemein mitreißende Rekonstruktion der Verbrechen und ein einzigartiger Blick in das Innenleben eines Mörders.

DER AUTOR

Felix Hutt, geboren 1979, studierte Journalismus in den USA und ist seit 2009 Redakteur beim Stern. Felix Hutt wurde bereits mehrfach für den „Deutschen Reporterpreis“ nominiert und hat den „European Press Prize“ gewonnen. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist das Thema Kriminalität. Felix Hutt lebt und arbeitet in München.

Felix Hutt

7 MORDE

50 JAHRE HAFT

1 LEBEN DANACH

Der »Mittagsmörder« Klaus G.

Die wahre Geschichte eines Serientäters

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Bertram

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © Eva Slevogt/Nürnberger Nachrichten (links) sowie zweier Fotos von © Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth (Mitte und rechts)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-21091-5V002

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 – Zu Besuch bei feinen Leuten

Kapitel 2 – Der alte Mann und die Freiheit

Kapitel 3 – Die Wurzeln und der erste Banküberfall

Kapitel 4 – Ochenbruck

Kapitel 5 – Neuhaus an der Pegnitz

Kapitel 6 – Die Suche nach dem Mittagsmörder

Kapitel 7 – Der Doppelmord im Waffengeschäft

Kapitel 8 – Markusine und die Bundeswehr

Kapitel 9 – Im Kaufhaus

Kapitel 10 – Das Ende des Mittagsmörders

Kapitel 11 – »Hängt ihn auf!«

Kapitel 12 – Der Prozess

Kapitel 13 – Straubing

Kapitel 14 – Haftjahre

Kapitel 15 – Der Kampf um die Freiheit

Kapitel 16 – Die Entlassung

Ich wünsche Dir, mein lieber Junge, daß Du groß, stark und kräftig zur Freude Deiner Eltern aufwächst. Ich wünsche Dir ein tapferes, edles Herz. Ich wünsche Dir einen starken schöpferischen Geist. Ich wünsche Dir ein arbeitsreiches, erfolgreiches, gesegnetes Leben. Ich wünsche Dir, mein lieber Klaus Günter, daß Dein Leben ein einziger Sonntag ist.

Erwin G., Hauptmann der Wehrmacht, in einem Brief von der Front zur Geburt seines Sohnes Klaus Günter G. am 1. September 1940

Vorwort

Zwei Fragen wurden mir während der Entstehung dieses Buches immer wieder gestellt: Hast du Angst vor Klaus G., wenn du ihn triffst? Darf man einem ehemaligen Schwerverbrecher wie ihm die Möglichkeit geben, sein Leben in einem Buch auszubreiten?

Um meine Antworten darauf besser verstehen zu können, hilft es zu wissen, wie ich Klaus G. kennengelernt habe. Anfang Februar 2015 las ich im Internet und in Tageszeitungen die ersten Artikel über seine bevorstehende Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt Straubing. »Mittagsmörder kommt nach 50 Jahren frei« oder »Haftentlassung des Mittagsmörders« lauteten die Überschriften.

Mittagsmörder?

Der Begriff sagte mir nichts. Ich bin 1979 geboren, da saß Klaus G. bereits seit 14 Jahren im Gefängnis. Ich fand heraus, dass er Anfang der 1960er-Jahre im Raum Nürnberg bei Raubmorden sieben Menschen umgebracht haben sollte. Dass er Mittagsmörder genannt wurde, weil er seine Taten meist gegen 12 Uhr mittags begangen hatte. Der Mittagsmörder Klaus G., erfuhr ich, war einer der meistgesuchten Verbrecher Deutschlands, bevor er schließlich 1965 verhaftet und am 27. Juli 1967 vom Landgericht Nürnberg-Fürth zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde.

Bei seiner Haftentlassung am 26. Februar 2015 war Klaus G. 74 Jahre alt und hatte ein halbes Jahrhundert durchgehend im Gefängnis verbracht. Ich stieß bei meinen Recherchen auf keinen vergleichbaren Fall. Noch nie hatte ein Serienmörder so lange in einem deutschen Gefängnis gesessen und war wieder freigekommen. Straftäter, die, wie Klaus G., wegen mehrfachen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt werden, sterben oft im Gefängnis, ohne dass die Öffentlichkeit Notiz davon nimmt.

Mich interessierten Klaus G.’s kriminelle Vergangenheit und seine Persönlichkeit, die möglicherweise dafür verantwortlich war, dass er kaltblütig gemordet hatte und nicht früher entlassen worden war. Ich wollte mit ihm über seine Taten, die Vergänglichkeit von Schuld, Reue und Vergebung sprechen. Ich wollte erfahren, ob ihn die Haft gebrochen habe, und wenn nicht, wie er es geschafft hatte, dies zu vermeiden.

Aber ebenso faszinierte mich der Gedanke, in Klaus G. einem Menschen zu begegnen, der eingesperrt worden war, als Gefängnisse in Deutschland noch Zuchthäuser hießen, als Ludwig Erhard Bundeskanzler war und noch kein Mensch den Mond betreten hatte. Nach seiner Haftentlassung musste Klaus G. sich in einer für ihn völlig fremden Welt zurechtfinden. Dabei wollte ich ihn beobachten, wollte sehen, wie dieser Dinosaurier sich im Zeitalter von Smartphones und sozialen Medien zurechtfand.

Klaus G.’s Lebensgeschichte besteht in Wahrheit aus drei Geschichten, die mich alle gleichermaßen interessierten:

seinem kriminellen Leben,seinem Leben im Gefängnis,seinem neuen Leben in Freiheit.

Klaus G. sollte am 1. März 2015 freikommen, wurde aber ein paar Tage früher entlassen, weil man ihm ersparen wollte, vor dem Gefängnistor der JVA Straubing von neugierigen Reportern bedrängt zu werden. Man wollte ihm die Möglichkeit geben, sich in seinem neuen Alltag zu akklimatisieren. Er sollte anonym leben dürfen, solange er dies wünschte.

Ich schrieb ihm Briefe. Brauchte Geduld, bis er sich meldete. Erst ein Jahr nach seiner Entlassung rief Klaus G. an. Niemand dürfe seinen Wohnort erfahren oder sein Gesicht fotografieren, sagte er. Es klang wie ein Befehl. Er wirkte misstrauisch, unsicher, als er seine Bedingungen für eine persönliche Begegnung diktierte.

Wir trafen uns dann in einem Münchner Wirtshaus. Ich hatte von einem seiner engen Freunde erfahren, dass er leicht reizbar sei, toleranzunfähig, launisch, unberechenbar. Ich hatte ihm in einem meiner Briefe meine Visitenkarte mit meiner Büroadresse geschickt. Klaus G. sagte nach der Begrüßung, er habe auf dem Stadtplan nachgesehen und festgestellt, dass ich sehr zentral in München arbeitete. Ich war skeptisch. Immerhin war Klaus G. ein verurteilter Serienmörder. Und man hört immer wieder von Schwerststraftätern, die rückfällig werden. Ich konnte anfangs nicht einschätzen, wie gefährlich er noch war.

Klaus G. trank ein Bier. Im Gefängnis ist Alkohol verboten. »Es schmeckt gut, aber kommen wir gleich zur Sache«, sagte er. Lange Vorreden und Höflichkeitsfloskeln schienen ihm nicht zu liegen. Seine Stimme hatte eine altdeutsche Färbung. »Noch ein Bier«, sagte er zum Kellner.

Klaus G. holte einen blauen Herlitz-Ordner aus seiner Umhängetasche und legte ihn auf den Tisch. Er habe in den ersten Monaten nach seiner Entlassung seine Biografie geschrieben, ob man daraus ein Buch machen könne? Ihm sei wichtig, dass seine Sicht auf die Dinge nicht vergessen werde.

Klaus G. erzählte. Für ihn gab es von der ersten Begegnung an nur ein Thema: Klaus G. Seine Opfer und deren Angehörige kamen in seiner Welt nicht vor.

Wir verabschiedeten uns, und ich nahm das Manuskript mit nach Hause. Es war mit Maschine geschrieben, einer Triumph Gabriele 35, die ihm seine Mutter vor vielen Jahren ins Gefängnis gebracht hatte.

Klaus G. beschrieb seine Morde aus der Perspektive des Täters, der sieht, wie die Kugeln in die Körper seiner Opfer einschlagen. An Geschichten über Mörder mangelt es nicht. Was man eher selten findet, sind Geschichten von Mördern. Und wenn, dann wurden sie von Ghostwritern überdramatisiert oder weichgespült.

Klaus G. schilderte sein Leben, als habe er die ganze Zeit eine Kamera auf dem Kopf getragen, deren Film man nun zu sehen bekam. Er schrieb, wie er sprach – kurz und prägnant:

Vielleicht sah der Sparkassenangestellte im Lauf ein silbernes Glitzern. Das Geschoss. Die Kugel, die für ihn bestimmt war. Vielleicht bemerkte der Überfallene den Druck, den ich auf den Revolverabzug ausübte.

Klaus G.’s Beschreibungen waren zum Teil zu krass und abstoßend, um sie zu verwenden – ohne jegliche Empathie für seine Opfer. Er hielt sich nicht immer an die Fakten, offenbar um seine Vergangenheit für ihn erträglich zu machen. Einige seiner Taten ließ er unerwähnt.

Ich erklärte Klaus G., er müsse zulassen, dass ich in seiner Vergangenheit recherchiere, bat ihn, sich mir zu öffnen und über sein Leben zu sprechen und dabei die Wahrheit zu sagen.

Klaus G. überlegte ein paar Tage und willigte dann ein.

Seitdem trafen wir uns regelmäßig. Dabei ging es nicht jedes Mal um die Recherchen für das Buch, aber immer um Klaus G.

Das nun vorliegende Buch rekonstruiert einen der spannendsten Kriminalfälle, den es in Deutschland je gegeben hat. Ich habe mich durch viele Seiten Artikel, Urteile und Gutachten gelesen, habe mit Klaus G., mit Zeitzeugen und Wegbegleitern gesprochen. In den kursiven Einschüben begegnet der Leser dem O-Ton Klaus G.’s, erfährt, was in ihm vorging. Nicht nur während der Verbrechen.

Klaus G. spricht sich von jeder Verantwortung frei. Er entschuldigt sich nicht. Er argumentiert manchmal hanebüchen und irrational. In seinen Schilderungen wirkt er zugleich naiv wie ein Kind und abgebrüht wie ein Mörder. Ohne sich zu verstellen. Klaus G. schreibt, wie er ist. Mehr als 50 Jahre nach seinen Taten macht er oft den Eindruck eines uneinsichtigen alten Mannes. Und er weiß, dass er den Schatten seiner Taten nicht mehr loswerden wird.

Hatte und habe ich Angst vor Klaus G.? Nein. Je besser ich ihn im Laufe unserer Begegnungen kennenlernte, umso klarer wurde mir, dass seine Härte nicht mehr bedrohlich ist. Er versucht heute, nicht zu sehr an all die Jahre zu denken, die er verpasst hat, sondern die zu genießen, die ihm noch bleiben. Würde er rückfällig, beginge er wieder eine Straftat, müsste er zurück ins Gefängnis und diesmal für immer. Doch Klaus G. hängt zu sehr an dem, was ihm von seinem Leben noch geblieben ist, um seine Freiheit abermals zu riskieren.

Klaus G. hat vielen Menschen sehr viel Leid zugefügt. Er hat dafür mit seiner Freiheit bezahlt.

Darf man das Leben von Klaus G. erzählen? Ja. Wer an Vergebung und Resozialisierung glaubt, der kann einem Straftäter nicht verwehren, seine Geschichte aufzuschreiben. Manche mögen Klaus G. das Recht absprechen, sich überhaupt zu äußern. Doch dieses Recht steht auch jemandem zu, der einmal der Mittagsmörder war.

Felix Hutt, Januar 2017

Kapitel 1Zu Besuch bei feinen Leuten

Beim ersten Mal mordete er nicht mittags.

Überhaupt, Mittagsmörder. Klaus G. konnte mit dem Begriff noch nie etwas anfangen. Als ob er sich bei seinen Überfällen nach der Uhrzeit gerichtet hätte. Er war kein Frühaufsteher, trödelte morgens gerne, brauchte ein bisschen länger, bis er in Fahrt kam. Deshalb kam er vor Mittag nicht dazu, seine Dinger zu drehen. So einfach war das. Aber irgendein windiger Journalist kam mit dem Begriff Mittagsmörder daher. War sicher furchtbar stolz auf seine Wortschöpfung. Und die Leute plapperten es nach. Mittagsmörder klang spektakulär. Die Zeitungen berichteten in reißerischen Überschriften über Klaus G.’s Taten. »Der Mittagsmörder hat wieder zugeschlagen« oder »Die Suche nach dem grausamen Mittagsmörder«. Dabei war Klaus G. die Tageszeit egal. Hauptsache, die Beute stimmte. Hauptsache, sie erwischten ihn nicht. Taten sie ja auch nie, weil er alles perfekt geplant hatte. Wenn sich die Überfallenen einfach nur an seine Anweisungen und Befehle gehalten hätten, dann hätte auch niemand sterben müssen.

Am Anfang seiner kriminellen Karriere, als die Zeitungen noch lange nicht über einen Mittagsmörder schrieben, stand ein blasser Jüngling, 19 Jahre alt, vor einer Wohnungstür im ersten Stock eines Hauses in der Tuchergartenstraße 3 in Nürnberg und war nervös, weil er gleich seinen ersten großen Überfall begehen wollte. Ein paar kleine Diebstähle waren ihm bereits geglückt, Gaunereien, aber er hatte noch nie jemandem eine Waffe vor das Gesicht gehalten und Geld gefordert.

In diesem Viertel zwischen Maxtorgraben und Stadtpark wohnte, wer sich große Eigentumswohnungen leisten konnte, Wohnungen mit vielen Zimmern, mehreren Bädern, mit Köchen, Zugehfrauen und Kindermädchen. Draußen sorgten an diesem Abend Straßenlaternen für fahle Beleuchtung, ansonsten lag Dunkelheit über Nürnberg. Hinter den Vorhängen des viergeschossigen Jugendstilhauses brannte Licht. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen.

Klaus G. wohnte bei seiner Mutter Annemarie in einer Arbeitersiedlung in Hersbruck, rund 40 Kilometer östlich von Nürnberg, und teilte sich ein kleines Zimmer mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Peter. Sein Vater, Erwin G., war 1945 nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Klaus’ Wünsche waren schon als Heranwachsender teurer als das, was die Familie sich leisten konnte. Er liebte Autos, Motorräder, Waffen. Deshalb brauchte er Geld.

Nach seiner Verhaftung Jahre später würde Klaus G. in mehreren Vernehmungen zunächst bestätigen, dass er dieser Jüngling war, der aufgeregt vor der Tür in der Tuchergartenstraße gestanden hatte. Er würde als Gefangener mit Handschellen um die Handgelenke den Tatort besichtigen und den Polizisten schildern, wo und wie er gemordet hatte, bevor er sein Geständnis einige Zeit danach widerrufen würde. Klaus G. bestreitet bis heute, diesen ersten Doppelmord begangen zu haben, obwohl seine damaligen Aussagen und mehrere Indizien eine andere Sprache sprechen. Die Polizei ging damals von folgenden Tathergang aus.

War es wirklich Klaus G.?

Es war der 22. April 1960, ein Freitag, kurz nach acht Uhr abends, als Klaus G. klingelte. »Rupprecht« stand auf dem Namensschild neben der Klingel, darunter hing die Firmentafel »Eheanbahnungs-Institut«. Klaus G. hatte im Telefonbuch nach reichen Leuten gesucht und herausgefunden, dass hier die Witwe eines Bankdirektors wohnte. Er vermutete, dass solche feine Herrschaften immer einige Tausend Mark zu Hause horteten, als Reserve für schlechte Zeiten, oder weil es ihnen ein gutes Gefühl gab zu wissen, dass sie jederzeit Zugang zu ihrem Vermögen hatten. Der alten Dame würde schon kein Zacken aus der Krone brechen, wenn er sich bei ihr bediente, schließlich blieben ihr ja noch ihre Bankkonten. Auch ihre Klunker würde Klaus G. ihr lassen, er wollte nur Bares. Und später sollte ihm bitte bloß keiner mit schlechtem Gewissen oder so etwas in der Art kommen. Da würde er nur laut lachen. Klaus G. nahm, was seiner Ansicht nach entbehrt werden konnte, das gehörte von Anfang an zu seinen Prinzipien.

In der Wohnung befand sich an diesem Abend die Eigentümerin Hedwig Rupprecht, 58, die hier wohnte und nebenbei die Zweigstelle eines Eheanbahnungs-Instituts betrieb. Nicht weil sie das finanziell nötig gehabt hätte. Aber nach dem Tod ihres Mannes hatte sie eine Beschäftigung gesucht, die sie erfüllte, und sie im Glück anderer Paare gefunden. Außerdem: ihre Schwiegermutter Eugenie, 87 Jahre alt, blind und an den Rollstuhl gefesselt; die Putzfrau Renate Löber, 55, die in einem der hinteren Zimmer bügelte; Valeska Eder, 46, eine hübsche Werkstattgehilfin mit kurzen, schwarzen Haaren und braunen Augen, die ein Zimmer zur Untermiete bewohnte; und Eders Verlobter Enrique Hering, 54, den Hedwig Rupprecht gerne zu Besuch kommen sah – ein Mann mit Menjoubärtchen, exzellenten Manieren, stets in Anzug, Weste und Krawatte, der regelmäßig im Zimmer seiner Zukünftigen übernachtete, wenn sein Beruf als Versicherungsvertreter dies zuließ. Die Verlobten wollten bald heiraten.

Rupprecht öffnete die Tür. Vor ihr stand ein junger Mann mit dunkelblonden, nach hinten gekämmten Haaren. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte, eine lange Stoffhose und eine braune James-Dean-Jacke, die vorne mit Wildleder besetzt war und deren Ärmel aus beiger Wolle gestrickt waren.

»Sind Sie Frau Rupprecht?«, fragte er barsch.

»Ja, kommen Sie herein«, erwiderte die Angesprochene.

Sie dachte, dass es sich um eine Heiratsangelegenheit handele. In ihrem Beruf war sie es gewohnt, dass Leute sie zu Unzeiten besuchten. Die Liebe und die Probleme, die sie mit sich brachte, kannten keinen Feierabend. Vielleicht war seine Verlobte mit einem anderen durchgebrannt. Oder er hatte seine Zukünftige betrogen und sie ihn daraufhin rausgeworfen, und jetzt wusste er nicht weiter.

Doch der Besucher zog plötzlich eine Pistole und hielt sie ihr vor das Gesicht.

»Geld her oder das Leben!«, rief er. Rupprecht wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Der junge Mann sah nicht aus wie ein Gangster, eher wie ein Student. War das Ganze ein verspäteter geschmackloser Aprilscherz? Nein, dafür war der Blick des Unbekannten zu kalt. Sie wich ein paar Schritte zurück, rief ins Zimmer ihrer Untermieterin, das auf der linken Flurseite lag: »Herr Hering, Herr Hering, kommen Sie!« Hering war der einzige Mann im Haus. Er würde sicher die richtigen Worte finden und den Kerl besänftigen.

Hering kam. Er sah den Fremden, der mit der Pistole auf Rupprecht zielte und sie nun auf ihn richtete, als er in den Flur trat. Die Wohnungstür im Rücken des Eindringlings stand offen. Sicher würden die Nachbarn den Vorfall jeden Moment bemerken und diesen unverschämten Menschen überwältigen.

»Was soll das?«, fragte Hering. »Tun Sie doch das Ding weg, Sie sind ja verrückt.« Er ging an Rupprecht vorbei und langsam auf Klaus G. zu, versuchte ihn zu beschwichtigen, indem er ihn ruhig aufforderte, ihm die Pistole zu geben, die Klaus G. in der rechten Hand hielt.

Klaus G. zögerte nicht. Er richtete die Pistole auf Herings Kopf. Drei Schüsse. Dann zielte er auf Eder, die mittlerweile aus ihrem Zimmer gekommen war und hinter ihrem Verlobten im Türrahmen stand. Klaus G. richtete die Pistole auf sie. Zwei Schüsse. Sie fiel nach hinten, stürzte und riss dabei fast Hedwig Rupprecht zu Boden, die hinter ihr stand. Es waren gezielte Schüsse gewesen. Klaus G. wollte niemanden nur verletzen und außer Gefecht setzen, mit einem Schuss ins Knie oder in die Schulter. Er wollte töten. Dabei wirkte er abgeklärt, als habe er so etwas schon oft gemacht.

Die leblosen Körper von Valeska Eder und Enrique Hering lagen in einer roten Lache am Boden. Blut floss aus den Schusswunden. Die Gesichter der beiden Verlobten waren nach unten gewendet.

Rupprecht schrie irgendetwas Unverständliches, hielt sich die Hände vors Gesicht, weil sie den Anblick nicht ertrug.

Enrique Hering, das würde die Obduktion ergeben, erlitt einen Kopf-, Bauch- und Oberarmschuss. Valeska Eder tötete der Mörder mit einem Lungenschuss, der zugleich ihr Herz traf, der zweite Schuss streifte sie am rechten Handgelenk. Bis vor wenigen Augenblicken war ihre Zukunft ein Traum gewesen. Jetzt war sie Vergangenheit. Alles war vorbei. Auf dem Tisch in Eders Zimmer lagen noch die Karten des Spiels, das die beiden unterbrochen hatten.

Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, und in diesen wenigen Sekunden hatte Klaus G. mit seinen ersten beiden Morden zwei Leben ausgelöscht. Andere an seiner Stelle wären in Panik verfallen oder durchgedreht. Er blieb ruhig.

»Was haben Sie da gemacht?«, schrie Rupprecht ihn an und fuchtelte ihm mit den Armen vor dem Gesicht herum.

Klaus G. ignorierte ihre Frage. »Geld her!«, forderte er sie erneut auf, während er die Pistole auf ihre Stirn richtete. Sie reagierte nicht. Erstarrte. Er drückte den Abzug durch. Klick. Kein Schuss löste sich. Klick. Wieder nichts. Klick. Nichts. Er wollte auch sie niederstrecken. Aber etwas klemmte. Ladehemmung! Klaus G. würde die Pistole nie wieder benutzen, aber was half ihm das jetzt? Sollte er nachladen? Zum Magazinwechsel hatte er keine Zeit. Rupprecht zitterte. Die Putzfrau erkannte die Situation. Sie realisierte, dass der Mörder gerade nicht schießen konnte. Renate Löber rannte an Klaus G. vorbei ins Treppenhaus, stürzte nach unten auf die Straße, schrie: »Hallo, Hilfe, bitte Hilfe! Ein Einbrecher hat auf zwei Menschen geschossen, holen Sie die Polizei!«

Für Klaus G. war hier nichts mehr zu holen. Das Geld konnte er vergessen. Bald wäre die Polizei hier. Er musste verschwinden. Er drehte sich um und rannte los. Ins Treppenhaus, aus der Haustür raus. Der Putzfrau hinterher, aber es war sinnlos, sie zu verfolgen.

So plötzlich wie er gekommen war, war er auch wieder weg. Hinaus in die Nacht, in Richtung Maxtorgraben. Bald hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.

Unmittelbar nachdem Klaus G. ihre Wohnung verlassen hatte, rief Rupprecht die Polizei. Die ersten beiden Streifenwagen waren binnen Minuten in der Tuchergartenstraße. Kurz darauf, um 20:18 Uhr, ging der Notruf an alle Polizeieinsatzkräfte in Nürnberg. »Doppelmord in der Tuchergartenstraße! Täter auf der Flucht!«

Straßensperren wurden errichtet. Polizeiautos mit Blaulicht und heulenden Sirenen durchkämmten die Stadt. Eine Großfahndung startete. Die Ausfallstraßen zum Hauptbahnhof und zum Flughafen Nürnberg wurden von der Polizei kontrolliert und gesperrt. Die Polizisten klingelten bei den Nachbarn, suchten in Wirtschaften, Gasthäusern, Absteigequartieren und Bahnhöfen. Mehr als 40 Nürnberger Polizeibeamte jagten in dieser Nacht den Mörder. Vergeblich. Klaus G. war wie vom Erdboden verschluckt.

Emmeram Daucher, leitender Ermittler der Nürnberger Mordkommission, hatte 39 Grad Fieber und kurierte im Bett seine Erkältung aus, als es um 20:30 Uhr an der Tür klingelte. Seine Frau öffnete. Ein Polizist. »In der Tuchergartenstraße hat man zwei Leute erschossen. Daucher soll sofort kommen …«, sagte der Beamte. Der leitende Ermittler zog sich an und stieg in den Polizeiwagen.

Daucher war ein kleiner, drahtiger Mann mit nach hinten gekämmten schwarzen Haaren, der nicht rauchte und selten trank, und wenn, dann nie so viel, dass er die Kontrolle verlor. Er kam immer rasiert, nie zu spät oder ohne Krawatte zum Dienst. Er war ein zäher Hund, wie sie ihn in Nürnberger Polizeikreisen anerkennend nannten, der nicht abließ von den Straftätern, bis er sie gefunden hatte. In seiner Freizeit pflegte er ein einziges Hobby: die Jagd. Obwohl Daucher mit seinen 39 Jahren noch am Anfang seiner Karriere bei der Mordkommission stand, hatte er bereits einige Trophäen an der Wand hängen und sich den Respekt seiner Kollegen und Vorgesetzten verdient. Er hatte zwei mysteriöse Prostituiertenmorde aufgeklärt, den »wilden Toni«, einen Zigeuner und berüchtigten Amokschützen, zur Strecke gebracht und Kurt Niemeyer überführt, der ein Ehepaar überfallen, den Gatten ermordet, die Frau schwer verletzt und das Verbrechen anschließend lange geleugnet hatte.

Daucher war der Mann für die komplizierten Fälle. Wie einen ehrgeizigen Sportler reizte ihn die Herausforderung, die gar nicht groß genug sein konnte. Je schwieriger die Ermittlungen, desto mehr steigerte er sich hinein. Er versank in Details und tauchte erst wieder auf, wenn er einen Ansatz gefunden hatte, der den Fall der Aufklärung näher brachte. Bisher waren seine Ermittlungen meist von Erfolg gekrönt gewesen.

Daucher konnte nicht ahnen, dass die Suche nach dem Täter diesmal anders ablaufen würde als alles, was er bisher erlebt hatte. Sie sollte ihn viele Jahre und sehr viel Energie kosten. Sie sollte ihn so sehr beanspruchen und belasten, dass er fast keine Zerstreuung mehr finden würde.

Daucher und Klaus G.

Daucher gegen Klaus G.

Ihre Leben waren von diesem Abend an miteinander verbunden, ohne dass sie voneinander wussten. Sie lieferten sich fortan ein Fernduell. Der eine kämpfte auf der Seite des Gesetzes, der andere im Schatten seiner Verbrechen. Die dunkle Seite hatte den Vorteil, dass niemand wusste, wer sie war.

Als Daucher in der Tuchergartenstraße ankam, standen schon die Pressefotografen vor dem Haus. Die Blitzlichter ihrer Kameras erhellten die Dunkelheit. »Zur Seite, gehen Sie zur Seite«, rief Daucher, während er sich einen Weg ins Haus bahnte. Seine Erkältung war wie weggeblasen. So ging das immer bei ihm: Gab es Arbeit, einen Fall zu lösen, ordnete er dem alles unter, sogar seine Gesundheit. Auch seine Frau und sein Sohn mussten dann auf ihn verzichten. Daucher kam nur zum Schlafen nach Hause, war nur noch körperlich anwesend.

Die Nachbarn hingen in den Fenstern, wollten einen Blick auf die Wohnung erhaschen, die nun ein Tatort war. Daucher hastete über die Treppe nach oben. Die Spurensicherung hatte bereits mit der Arbeit begonnen. Ein Polizeifotograf dokumentierte den grauenhaften Anblick.

Daucher sah die Leichen und wusste sofort, dass er nach einem Killer würde suchen müssen. Das hier war das Werk eines Profis. Der Mörder hatte gewusst, was er tat. Und er war ein geübter Schütze. Nur fünf Schüsse, aber zwei Tote. Hedwig Rupprecht hatte Glück gehabt. Sie wäre sicher sein drittes Opfer geworden, wenn die Pistole keine Ladehemmung gehabt hätte. Verbrecher von diesem Schlag machten keine Gefangenen. Ein Polizeibeamter hielt Daucher die aufgeregte Frau vom Leib. Der Ermittler würde sich ihr später auf dem Revier in Ruhe widmen.

Daucher wusste, wenn sie den Mörder nicht bald nach der Tat fassten, wenn es ihm gelänge unterzutauchen, dann würden die Ermittlungen langwierig und schwierig werden. Deshalb ermittelte er mit seinen Kollegen von der Mordkommission von Anfang an auf Hochtouren. Aber weder in dieser Nacht noch am nächsten Tag stießen sie auf irgendeine Spur, die sie zu dem Flüchtigen geführt hätte.

Die Nürnberger Kripo richtete eine Sonderkommission ein. In den Wochen nach dem Doppelmord verfolgten die Beamten Hunderte von Spuren. Sie gingen 329 Hinweisen aus der Bevölkerung nach und überprüften die 1174 Personen in der Kartei von Rupprechts Heiratsvermittlung. Vielleicht war der Täter ein enttäuschter Liebhaber oder ein betrogener Ehemann? Sie luden Verdächtige vor, die sie aber jedes Mal wieder gehen lassen mussten, weil sie ein Alibi hatten oder die Spuren vom Tatort nicht zu ihnen passten. Sie schalteten Interpol ein, weil Enrique Hering sich jahrelang in Argentinien aufgehalten hatte. Wer wusste denn schon, welche Feinde er sich da vielleicht gemacht hatte? Per Fernschreiben wurde die Beschreibung des Mörders an Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet weitergeleitet. Fahndungsplakate wurden aufgehängt, auf denen der Flüchtige folgendermaßen beschrieben wurde:

Der Täter trug eine braune, sogenannte James-Dean-Jacke, die vorne mit Wildleder besetzt ist und beige Wollärmel hat. Vermutlich hat die Jacke einen Reißverschluß. Außerdem trug er ein helles Hemd, einen dunklen Binder und eine dunkle Hose. Der Täter, darauf wird besonders hingewiesen, sprach schriftdeutsch mit leicht süddeutschem Einschlag und wird auf 25 Jahre geschätzt. Er ist etwa 1,74 Meter groß, schlank, hat hellblonde, leicht gewellte, nach hinten gekämmte Haare, ein volles rundes Gesicht, blasse Gesichtsfarbe.

Wer kennt einen Mann, auf den diese Beschreibung zutrifft, der im Besitz einer solchen Jacke ist und sie nicht mehr trägt? Wo wird seit dem 22. oder 23. April ein Mann vermißt, der im Besitz der abgebildeten Kleidung war?

Die Kriminalpolizei bittet alle Personen, die zur Klärung dieser Fragen beitragen können, sich zu melden. Mitteilungen, die auf Wunsch vertraulich behandelt werden, nimmt die Mordkommission der Nürnberger Kriminalpolizei, Ludwigstraße 36, Telephon 2911, Nebenstelle 325, entgegen. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, hat das Polizeipräsidium 2000 DM Belohnung ausgesetzt.

Aber Hinweise, die zum Täter führten, eine Spur, die Daucher Hoffnung gemacht hätte, dass man ihm nahe war, blieben aus. Der Doppelmord in der Tuchergartenstraße 3 ließ sich nicht so schnell aufklären. Die Hauptzeugin, Hedwig Rupprecht, erwies sich durch den Schock des Erlebten als wenig nützlich. Das Phantombild, das mit ihrer Hilfe erstellt worden war, sah Klaus G. nicht ähnlich. Sie irrte sich auch, als sie sein Alter auf 25 Jahre schätzte. Damit kam eine andere Zielgruppe infrage als die, in der die Ermittler Klaus G. hätten finden können. Der Gesuchte war weder Student noch Jungarbeiter, sondern besuchte noch die Oberschule.

Auch keiner der Hinweise aus der Bevölkerung führte zu verwertbaren Ergebnissen. Die erfolglose Fahndung nagte an Daucher. Er nahm solche Fälle persönlich. Sie verfolgten ihn bis in den Schlaf.

Der Mörder blieb ein Phantom, das Verbrechen ein Rätsel. Wieso war der Kerl ohne Beute getürmt? Warum hatte er sofort geschossen?

Der Täter schien unauffindbar. Die Bevölkerung war verunsichert. In Aufruhr. Ein Unbekannter erschießt in einem feinen Nürnberger Viertel zwei Menschen, und niemand findet ihn? Ein bewaffneter Killer läuft in Nürnberg frei herum und könnte jederzeit wieder zuschlagen, weil die Ermittler keine Ahnung haben, wer oder wo er ist? Daucher spürte den Erwartungsdruck, der mit jedem Tag, an dem er kein Ergebnis vorzuweisen hatte, zunahm.

Die Ballistiker von der Kriminaltechnik hatten mittlerweile mithilfe von drei Hülsen und zwei Projektilen, die am Tatort gefunden worden waren, festgestellt, dass der Mörder mit einer belgischen Selbstladepistole FN (Fabrique Nationale), Kaliber 7,65 mm, geschossen hatte.

Es sollten Jahre vergehen, bevor dieses Detail zur Lösung des Rätsels beitragen würde.

Kapitel 2Der alte Mann und die Freiheit

Die Gesellschaft »draußen« gefällt mir besser als die Gesellschaft »drinnen«, die eigentlich gar keine richtige Gesellschaft ist. Man könnte sie allenfalls als Parallelgesellschaft bezeichnen, die krankhaft ist bzw. krank macht. Erst jetzt, nachdem ich wieder in einer Gesellschaft mit Frauen und Kindern lebe, in einer kompletten menschlichen Gemeinschaft, fühle ich mich bedeutend besser. Warum das alles in meinem Leben so war und sein sollte – ich finde keine Antwort drauf. Gott allein weiß, wieso und warum.

Klaus G. lebt seit seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt Straubing am 26. Februar 2015 in einem Wohnheim auf dem Lande, ein paar Kilometer südöstlich von München. Nach fast 50 Jahren, die er ununterbrochen im Gefängnis verbringen musste, darf er sich hier wieder wie ein freier Mensch fühlen.

Das ehemalige Bauernhaus steht auf einer Anhöhe neben einer Kirche, versteckt in einem kleinen Wald, der von Feldern, Äckern, einem Bach und mehreren Seen umgeben ist. Es besitzt einen großen Garten, in dem Kräuter und Gemüse angebaut werden, und einen durchgehenden Balkon im ersten Stock, von dem man bei klarer Sicht bis auf die Kampenwand blicken kann. In der Abgeschiedenheit der Natur sollen die Bewohner zu sich finden.

Im Haus leben neun Männer, vier Frauen, eine mit ihrer kleinen Tochter, und das Ehepaar, welches das Wohnheim betreibt. Die beiden arbeiten seit Langem als Seelsorger in Gefängnissen und kümmern sich in dem Wohnheim um ehemalige Strafgefangene, psychisch Kranke und Drogenabhängige. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, sozial Ausgegrenzten ein Dach über dem Kopf zu bieten und ihnen eine Zukunft aufzuzeigen, auch wenn viele, die bei ihnen landen, die Hoffnung darauf aufgegeben haben. Sie setzen bei ihrer Arbeit auf die Eigenverantwortung ihrer Mitbewohner und die Hilfe Gottes. An der Wand auf der Terrasse hängt ein großes braunes Holzkreuz. Die Mitglieder der Wohngemeinschaft sitzen jeden Abend nach dem Essen zusammen und singen christliche Lieder, die der Heimleiter auf der Akustikgitarre begleitet. Anschließend beten alle das Vaterunser. Dieses Ritual ist verpflichtend.

Klaus G. sagt, dass es ihm nicht schwerfalle, sich im Kollektiv zu arrangieren. Wer das im Knast nicht lerne, der überlebe ihn nicht.

Klaus G. war 24 Jahre alt, als er verhaftet und eingesperrt wurde. Heute ist er 76 Jahre alt. Er hat mehr als zwei Drittel seines Lebens im Gefängnis verbracht, zusammen mit anderen Schwerverbrechern, ausschließlich Männern. Das hat seine Umgangsformen geprägt, was ab und zu durchschimmert, vor allem, wenn ihn jemand aufregt. Der oder die verdiene ein paar aufs Maul, schimpft Klaus G. dann, belässt es aber bei verbalen Ohrfeigen. Er nennt sein Zimmer Stube, wie seine Zelle, kann seine Gefängnis-Sozialisation nicht immer ablegen. Ist er erkältet, schnäuzt er sich in ein kariertes Stofftuch, das er aus der JVA Straubing mitgenommen hat. In roter Schrift ist seine letzte Häftlingsnummer darauf gedruckt: 522/96.

Klaus G. wurde als junger, durchtrainierter Mann, der die 100 Meter unter 12 Sekunden sprinten konnte, inhaftiert und musste sich dann in seinem Zellenspiegel dabei zusehen, wie die Zeit im Gefängnis ihm nicht nur seine besten Jahre, sondern fast sein ganzes Leben raubte, bevor er als alter Mann wieder entlassen wurde. Klaus G. bestieg bei seiner Verhaftung 1965 eine Zeitmaschine, die ihn als Jüngling aufnahm und als Senior wieder ausspuckte.

Heute hat er lichte weiße Haare, die er zu einem Scheitel frisiert, helle, blassblaue Augen, deren harter Blick durch eine Hornbrille gemildert wird.

Klaus G. kleidet sich nicht anders als die Rentner, neben denen er bei seinen Ausflügen bayerische Sehenswürdigkeiten bestaunt: kariertes Hemd, Cargohose, Sonnenhut. Manchmal trägt er die rotbraunen Lederschuhe mit den schwarzen Schnürsenkeln, die er 1963 kaufte und die während all der Jahre im Gefängnis in der Kleiderkammer verwahrt wurden, weil Häftlinge nur Anstaltskleidung tragen dürfen. Sie seien immer noch schick, findet Klaus G., der sie putzt, bürstet, poliert, wichst und hütet wie einen Schatz.

Klaus G. hört schlecht, lispelt, wenn er sich aufregt. Er spricht keinen fränkischen Dialekt, obwohl er in Hersbruck in Mittelfranken aufwuchs, in Nürnberg lebte, bevor er ins Gefängnis kam. Klaus G. spricht Hochdeutsch wie ein General. Barsch, etwas autoritär, mit hartem »T« und rasselndem »R«. Er verschwendet kein Wort, antwortet zackig und ohne Höflichkeitsfloskeln. Er verfügt über eine militärisch anmutende Disziplin, ohne die er seiner Ansicht nach die Zeit im Gefängnis nicht überstanden hätte. Er kommt stets pünktlich, darauf legt er Wert.

Klaus G. lässt sich nicht gehen, auch nicht jetzt, in Freiheit. Er isst und trinkt mit Maß, obwohl er nach Jahrzehnten der Gefängniskost jede Mahlzeit genießt. Seine Nägel sind geschnitten, seine Haare gekämmt, seine Hemden gebügelt. Von einer Arthrose im linken Knie abgesehen, die ihn ab und zu schmerzt, hat er keine gesundheitlichen Beschwerden.

Klaus G. ist 1,80 Meter groß und wiegt etwas zu viel, weil ihm das bayerische Bier schmeckt, aber da ist er mit sich großzügig. Er gönnt sich ein, zwei Halbe, wenn ihm danach ist. Schließlich hat er seiner Leber bisher nicht viel zugemutet. Alkohol ist im Gefängnis tabu. Vom Selbstgebrannten einiger Mithäftlinge ließ Klaus G. die Finger. Er achtete auf seinen Körper, trieb viel Sport.

Klaus G.’s Zimmer im ersten Stock des Wohnheims ist 15 Quadratmeter groß. Die Einrichtung besteht aus einem Bett, Kleiderschrank, Schreibtisch und Fernseher. Bad und Toilette liegen am Ende des Gangs. Er muss sie mit den anderen Mitbewohnern teilen, aber das stört ihn nicht. Klaus G. hat sich all die Jahre mit seinen Mithäftlingen waschen und duschen müssen. Immerhin darf er das Bad benutzen, wann und so oft er will. Im Gefängnis stand nur einmal die Woche das Gemeinschaftsduschen für alle Insassen an.

Sein Zimmer hat einen Zugang zum Balkon. Von hier oben bestaunt er im Winter die Schneefelder und nachts den Großen Wagen. Im Gefängnis wurden die Zellenfenster mit gelbem Licht bestrahlt, wenn es dunkel wurde, damit es den Wärtern nicht entging, wenn ein zum Ausbruch entschlossener Häftling an den Gitterstäben sägte. Klaus G. musste sich in seiner Zelle auf einen Schemel stellen, um aus dem Fenster sehen zu können. Er schaute nicht in die Natur, sondern jahrzehntelang nur in den Innenhof der Justizvollzugsanstalt.

Die Sterne hat er vermisst. Er steht nachts draußen, starrt in den Himmel, kann sich gar nicht sattsehen an den Gestirnen. Dennoch trauert er seit seiner Entlassung der verpassten Zeit selten hinterher, vielmehr empfindet er die Jahre, die er jetzt noch in Freiheit leben darf, als Geschenk. Er genießt diese Bonuszeit seines Lebens.

Im Gegensatz zu früher braucht Klaus G. heute viel weniger, um glücklich zu sein. Die Sterne. Einen Waldspaziergang. Ein kaltes Bier. Eine Tür, die er mit seinem eigenen Schlüssel öffnen und schließen, durch die er sein Zimmer betreten und verlassen kann, wann er möchte. Er hat so lange auf so viel verzichten müssen, weshalb er sich über Kleinigkeiten freut, die andere für selbstverständlich erachten und nicht zu schätzen wissen.