Blutbuch - Kim de l'Horizon - E-Book
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Blutbuch E-Book

Kim de l'Horizon

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Beschreibung

Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem Schweizer Vorort, lebt sie nun in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie. Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

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Seitenzahl: 442

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Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.

Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Autorjfoto: Anne Morgenstern Make-up: Sebastian Ryser Outfit: Caroline Schöbi & Dilan Kuas

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt ›Blutbuch‹ versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u.a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Ein Auszug dieses Romans gewann den OpenNet-Wettbewerb der Solothurner Literaturtage. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. ›Blutbuch‹ wurde 2022 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung sowie dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und ist für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert.

Kim de l’Horizon

Blutbuch

Roman

Inhaltswarnung: Dieser Roman enthält explizite Darstellungen von Rassismus und ethnifizierten Stereotypen. Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können.

Zitatnachweis: Mani Matter, »Es git e Bueb mit Name Fritz« [1], [2] © Matter + Co. Verlag, Bern / Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

E-Book 2022

© 2022 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © ColoArt/Shutterstock

Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-8260-1

www.dumont-buchverlag.de

Wann immer wir denken, dass wir Erinnerungen produzieren, sind wir in Wirklichkeit mit Formen des Werdens beschäftigt.

Gilles Deleuze & Félix Guattari

We’re all born naked and the rest is drag.

RuPaul

Ich bin verwurzelt, aber ich fließe.

Virginia Woolf

Es ging nie darum, wie ich aussehe, Es ging immer darum, wie du dich fühltest. Du erträgst es nicht zu sehen: Wie ich mir hier in deiner Scham ein Zuhause eingerichtet habe.

Alok Vaid-Menon

Prolog

Beispielsweise habe ich »es« dir nie offiziell gesagt. Ich kam einfach mal geschminkt zum Kaffee, mit einer Schachtel Lindt & Sprüngli (der mittelgrossen, nicht der kleinen wie üblich), oder dann später in einem Rock zum Weihnachtsessen. Ich wusste, oder nahm an, dass Mutter es dir gesagt hatte. »Es«. Sie hatte »es« dir sagen müssen, weil ich »es« dir nicht sagen konnte. Das gehörte zu den Dingen, die mensch sich nicht sagen konnte. Ich hatte »es« Vater gesagt, Vater hatte »es« Mutter gesagt, Mutter muss »es« dir gesagt haben.

Andere Dinge, über die wir nie sprachen: Mutters riesiges Muttermal auf dem linken Handrücken, die Schwere, die Vater – wenn er von der Arbeit heimkam – ins Haus schleppte; wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch ins Haus schleppte; dein lautes Schmatzen, deinen Rassismus, deine Trauer, als Grossvater starb; deinen schlechten Geschmack, wenn es um Geschenke geht; die Liebhaberin, die Mutter hatte, als ich etwa sieben war, den silbrigen Ohrenring, den Mutter von ihrer Liebhaberin zum Abschied bekommen hatte, der wie eine lange Träne von Mutters Ohrläppchen bis fast an ihr Schlüsselbein reichte, als sie ihn noch anzog, um Vater zu provozieren; die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte – wenn ich mich unbeobachtet fühlte –, den Ohrenring von einer Hand in die andere gleiten zu lassen, den Ohrenring so in die Sonne zu halten, dass er flammende Muster an die Wände warf, meine unendliche Lust, diesen Ohrenring anzuziehen, meine unsägliche innere Stimme, die mir das verbot, meinen unendlichen Wunsch, einen Körper zu haben, Mutters unbändigen Wunsch, durch die Welt zu reisen. Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam. Wir sprachen nie darüber, dass du einen Bart gekriegt hast, als du mit Mutter schwanger warst, dass das »Hirsutismus« heisst, wir sprachen nie darüber, wie du das behandelt hast, ob du dich rasiert, gewachst oder die dunklen Haare mit der Pinzette ausgerissen hast, ob du Antiandrogene nimmst, um das Testosteron – das dein Körper »im Übermass produziert« – zu unterbinden, und wir sprachen nie darüber, wie du angeschaut wurdest, wie sehr du dich geschämt haben musst, wir sprachen sowieso nie über Scham, nie über den Tod, nie über deinen Tod, nie über deine wachsende Vergesslichkeit, wir sprachen sehr oft über die Familienalben und über jedes einzelne der Bilder darin, allerdings sprachen wir nie darüber, wie lächerlich Grossvater auf diesen Fotos aussieht, die er mit seiner Burschenschaft aufgenommen hat, wie komisch sie ihre Brust plustern und breitbeinig in die Kamera grinsen; wir haben nie über das Mädchen gesprochen, das bis zu einem gewissen Alter durch die Fotoalben geistert, meistens an deiner Hand, manchmal an einer der Hände deiner fünf Brüder, nein, wir haben nie darüber gesprochen, wohin diese jüngste Schwester namens Irma verschwunden ist. Wir sprachen nie darüber, ob es für andere Familien auch so anstrengend ist, so zu tun, als wären sie wie die anderen Familien, wir sprachen nie über Normalität, nie über Heteronormativität, Queerness, wir sprachen nie über Klasse, die sogenannte »Dritte« Welt und die geheimen Geflechte der Pilze, die viel grösser und feiner sind als in unserer Vorstellung, wir sprachen nie über all die Wege, die diese Welt bereithält, die sie uns bereithält, um vor uns selbst davonzulaufen, die gewundenen Wege, die im Schatten grosser Pappeln liegenden Wege, die öden, endlosen Wege, die diese Welt umspinnen, wie ein Faden einen Fadenknäuel umspinnt, aber wir sprachen über die Wege, die alle zusammen »Jakobsweg« heissen.

Vor einigen Wochen sassen wir auf dem Sofa, du hast mir eines der Fotoalben gezeigt. Ich habe mich gezwungen, dasselbe Interesse vorzutäuschen wie die letzten zehn Male, als du mir dieselben Fotos mit denselben Kommentaren erläutert hast. Wir schauten uns ein Foto deiner Mutter an, auf dem sie schwanger mit dir ist, ein Foto, das mich die ersten Male überrascht hat, weil da einfach eine nackte Frau zu sehen ist, in einem kleinbürgerlichen Familienalbum von 1935. Plötzlich hast du deinen Redefluss unterbrochen, mich angeschaut und gefragt: »Warum bist du eigentlich nie da?«

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin sechsundzwanzig, es wird langsam dunkel, es ist einer dieser Abende, die noch Winterabende sind, während mensch schon eine Vorahnung von Frühling riecht, ein samtiger Geruch: von Bodnant-Schneeballblüten, übertrieben süss und weissrosa; von Menschen, die wieder beginnen zu joggen und ihren Schweiss durch die viel zu sauberen Strassen tragen. Ich jogge nicht. Ich sitze hier und kaue meine Fingernägel, trotz des Ecrinal-Bitternagellacks, ich kaue, bis der weisse Rand abgekaut ist und noch weiter, ich dränge den weissen Rand beständig nach hinten. Vor einem halben Jahr habe ich diesen ultralangweiligen Job im Staatsarchiv angenommen, ich stecke den ganzen Tag zwischen Regalen tief unter der Erde, katalogisiere Krankenakten längst verstorbener Patient*innen, ich spreche mit niemenschem, bin zufrieden, bin unsichtbar, lasse meine Haare wachsen, gehe nach Hause und setze mich hierhin, an meinen Schreibtisch, von wo aus ich die Buche im Nachbargarten sehen kann, von wo aus mir die Erinnerungen an die Blutbuche kommen, unsere Blutbuche, die grosse, rotlaubige Buche in der Mitte unseres Gartens. Ich schreibe. Wenn meine Freund*innen Dina und Mo, die auch irgendwo sitzen und schreiben, mir schreiben: »Kommst du was trinken?«, dann schreibe ich nicht zurück. Ich versuche zu schreiben, und wenn ich nicht schreiben kann, wenn ich im Wattenmeer der Vergangenheit versinke, dann rasiere ich mich, dusche und fahre mit dem Fahrrad in die Aussenbereiche der Stadt, in die Aussenröcke, wie die Engländer*innen sagen, ich suche die Tankstellen und Fussballplätze ab, ich tigere vor den Gyms auf und ab, die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht der Agglomeration, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich brauche, die ich mich brauchen lasse, von denen ich mir hinter dem Fahrradhäuschen den Rock hochschieben lasse und die ich sich in mich hineinschieben lasse, schnell und gefühllos, ich habe ja genug Gefühle, ich brauche nicht noch mehr davon, ich brauche endlich mal einen harten cut von ihnen. Ich verschwestere mich mit dem rostigen Gitter des Vorort-Gym, an dem ich mich festkralle, beim nächsten Mal verschwestere ich mich mit dem Geländer des ausgestorbenen Tribünenaufgangs, das mir Halt gibt, und last, but not least pralle ich mit der Wange so lange an die Pausenraumtür des Securitas, bis ich von meinen Gefühlen zurück in mein Fleisch gestossen bin, dann gehe ich nach Hause, Samen noch in und Geruch von fremdem Mann an mir, ein warmes Gefühl in meiner leeren Mitte, das mich für die Dauer des Heimwegs auffüllt. Hier gehe ich aufs Klo, rasiere mich wieder, Achseln, Beine, Scham, ich fürchte mich immer vor der Möglichkeit, nachts aufzuwachen und nach jemensch anderem zu riechen, dann gehe ich noch mal aufs Klo, um auch den restlichen Samen aus mir zu entlassen, dann duschen, mit Bimsschwamm abrubbeln, eincremen. Meine Haut ist irritiert vom vielen Rasieren. Dann setze ich mich zurück an den Schreibtisch, in das Blickfeld der Buche, und ich merke erst jetzt, dass ich schon diese ganze Zeit an dich schreibe. Und wenn ich nicht schreibe, dann lese ich oder denke an die Möglichkeit, meinen Körper auf den Jakobsweg zu geben, ich denke an die Möglichkeit, zu gehen, bis ich an nichts mehr denke oder nach Santiago de Compostela gelange oder ans Meer, und ich denke an die Möglichkeit, das alles nicht zu tun.

Wir sprachen nie darüber, dass du eines Nachmittags nicht mehr nach Hause fandest und Mutter einen Anruf von der Polizei erhielt. Wir sprachen nie darüber, dich in ein Heim zu geben, und als du einen schlimmen Schub hattest vor einem Monat und in einem Rehazentrum aufgewacht bist und gefragt hast, wo denn der Balkon hin sei mit der Aussicht über Bern, da hat Mutter gesagt: »Aber den haben sie doch abgenommen, der war nicht mehr sicher.« Da hast du gesagt: »Ach ja, stimmt«, und hast etwas zu laut über dich selbst gelacht und dann von den Geranien auf dem Balkon gesprochen. Ich habe Mutter gehasst für ihre Feigheit, dir nicht die Wahrheit zu sagen, ich war erst genervt und dann gerührter von ihrer plötzlichen Sorge um dich, als ich es sein wollte. Plötzlich ist sie die caring daughter, aber ich nicht, dachte ich, mich kriegst du nicht zur caring daughter, Mutti, und habe mich noch kälter von Mutter verabschiedet als sonst. Wir sprechen nicht über die hohe Wahrscheinlichkeit, dass du in den nächsten sechs Monaten einen weiteren Schub machen wirst (»sie wird einen Schub machen« – diese Ärzt*innensprache, als würdest du das bewusst machen), und wir sprechen nicht über die hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieser Schub den Rest deines Erinnerungsvermögens tilgen wird.

Jetzt ist es Nacht, und ich stelle mir vor, wie auch du am Fenster deines Zimmers in der Reha stehst und der Nacht ins Gesicht schaust. Ich spüre, wie du langsam verschwindest. Liebe Grossmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus deinem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.

Ich möchte dir sagen können, dass ich mich vor dir fürchtete, dass beispielsweise ich damals das Glas Himbeermarmelade zerschlagen habe, die du frisch gemacht hattest und von dem du dachtest, dass Mutter es zerschlagen habe, und Mutter auch tatsächlich mich beschützt hat, die Schuld auf sich genommen hat und du sie aufs Gröbste zur Schnecke gemacht hast. Ich habe deswegen bis heute ein schlechtes Gewissen, euch beiden gegenüber. Ich möchte wissen, was mit meiner Grosstante Irma geschehen ist, mit dem Mädchen, das an deiner Hand durch das Familienalbum geht und dann verschwindet. Ich möchte verstehen, wie es war, du zu sein: eine gewöhnliche Frau des unteren Mittelstandes in der Schweiz des 20.Jahrhunderts. Ich möchte verstehen, wieso ich kaum Erinnerungen an meine Kindheit habe, und wenn, dann nur an dich. Ich möchte eine Sprache finden, in der ich dich fragen kann: »Wo sind die Meinigen?« Ich möchte wissen, wie diese Scheisse in unsere Adern kommt.

Du warst zu laut, zu fordernd, zu grob, du hast nie zugehört, du hast mir Geld geschickt und den Satz dazugeschrieben: »Du weisst, du kannst mich jederzeit besuchen.« Es tut mir leid, dass ich so ein schlechtes Grosskind bin. Ich bin zu fein, um fein zu sein.

Liebe Grossmutter. Wenn ich an dich denke, denke ich an all die Dinge, die wir uns nie sagen konnten und nie sagen können. Ich erinnere mich daran, dass du immer voller Stolz die Wörter gebraucht hast, die das Berndeutsche vom Französischen übernommen hat, und ich kann den Stolz zwar nachvollziehen, aber er ist mir auch höchst unangenehm. Denn das Französische wurde uns durch Napoleon gebracht, es war die Besetzungssprache, es war die Sprache der kultivierten, aber barbarischen Kriegstreiberjungs. Er hat uns die Sprache gebracht und einige Gesetze, und im Gegenzug hat er den in ganz Europa berüchtigten Staatsschatz Berns gestohlen. Einige Hundert Milliarden waren das, auf den heutigen Schweizer Franken (vom franc!) umgerechnet. Er tilgte damit seine Schulden und finanzierte seinen Ägyptenfeldzug. Ich weiss, das sind jetzt meine weissen Privilegientränchen, und wir sind ja selbst seit Ende des 19.Jahrhunderts Weltmeister*innen in Hochfinanzräubereien. Aber Napoleons Raubzug machte die Schweiz Anfang des 19.Jahrhunderts zu einem Land mit sehr hoher Emigrationsrate und hatte steuertechnische Auswirkungen bis ins 20.Jahrhundert: Zuvor wurden nämlich Berner*innen nicht besteuert. Es ist also komisch für mich, dass du stolz die Früchte des Mannes trägst, der eine Mitschuld an deiner Armut trägt.

Spuren Napoleons, die noch heute in deinem Sprachgebrauch zu finden sind:

dr Nöwö – der Neffe – le neveu

ds Fiseli – der Sohn – le fils

dr Potschamber – der Nachttopf – le pot de chambre

ds Gloschli – glockenförmiger Unterrock – von cloche

dr Gaschpo – der Blumenübertopf – le cache-pot

ds Lawettli – Waschtuch – von laver

Du hast von Madame DeMeurron erzählt, dem Berner Stadtoriginal: die erste Frau in der Schweiz, die ein Auto fuhr, eine Patrizierin, die sich fast nur in französischen Ausdrücken prononcierte, um zu zeigen, wie vornehm sie war. Die auch das R nicht rollte wie die Gerber aus dem lumpigen Mattequartier, sondern schön hinten aussprach, à la francaise. »Schaffed Iir no oder sid Iir scho öber?« Arbeiten Sie noch oder sind Sie schon jemand?, hast du sie zitiert, das R hinten ausgesprochen, völlig übertrieben, und du hast gelacht und deine Zähne gezeigt. Ich habe die Sentenz nicht verstanden. Wie soll mensch denn gesellschaftlich aufsteigen, wenn mensch nicht arbeitet? (Ich hatte noch nicht verstanden, dass fettes Kapital nur geerbt, nicht erarbeitet werden kann, entgegen der Tellerwäscher*innenmär, die wir einander mit dem Nestlé-Löffelchen reinbuttern.) Du beginnst, alles zu vergessen, was nicht vor deinem fünfzigsten Geburtstag geschehen ist. Du verschwindest. Das Französische aber bleibt dir. Ich denke daran, wie nahe ich mich dir fühle, wenn ich dir schreibe, und ich denke daran, wie fern ich mich dir fühle, wenn ich dich sehe. Wie du davon sprichst, einmal nach Santiago de Compostela zu gehen, wie glücklich das deine Mutter und Maria machen würde und wie du – nach dem langen, langen Weg – glückselig in den Atlantik springen würdest, mitsamt Kleidern. Ich denke daran, wie du ununterbrochen sprichst, von irgendetwas, von den Rabatten im Supermarkt Migros, von den Tagen, an denen es doppelte Cumuluspunkte gibt. Deine Angst vor der Stille. Ich erinnere mich daran, wie du mich – um nicht mit dem Verlust klarkommen zu müssen – ständig gehütet hast nach dem Tod von Grossvater. Nein, falsch, nicht ich erinnere mich. Das ist Mutters Erinnerung.

In der Sprache, die ich von dir geerbt habe, in meiner Muttersprache also, heisst »Mutter« MEER. Mensch sagt DIE MEER oder MEINE MEER, aus dem Französischen abgeschielt. Für »Vater« PEER. Für die »Grossmutter« GROSSMEER. Die Frauen meiner Kindheit sind ein Element, ein Ozean. Ich erinnere mich an die Beine meiner Mutter, ich erinnere mich daran, sie zu umarmen, an ihr hochzuschauen und zu sagen: DU BIST MEINE MEER. Ich erinnere mich an ein Gefühl des Daheimseins und an ein Gefühl des Vollkommenumgebenseins. Die Liebe der Meeren war so gross, mensch entkam ihr nicht, entkommt ihr nicht, mensch schwimmt ein Leben lang, um aus den Meeren herauszukommen.

In der Sprache, die ich von dir geerbt habe, in meiner Meersprache also, gibt es nur zwei Möglichkeiten, ein Körper zu sein. Das Aufwachsen im Gaumen der deutschen Sprache zwang mich stets in diese Kindergartenzweierreihe hinein.

In der Sprache, die ich von dir gelernt habe, in meiner MOTHER TONGUE, weiss ich nicht, wie ich von mir schreiben kann. Da sind Mutters Zunge drin und deine Augen und ich – meine – ich meine – mein Körper, meine Körper, meine Körperlichkeit? Da ist dieses schreibende Ich, und dann ist da das Kind, das ich war, das vor dem Zweierreihenzwang steht und noch hindurchmuss. Und ich bin durchdrungen vom Kind, so wie der Mond in seiner Gänze von der Erde handlos gehalten wird, aber im Schreiben muss ich zwischen uns unterscheiden, weil mich sonst die Kindheit, weil mich sonst der Kinderkörper, weil mich sonst die Flut aus Vergangenheit fortspült.

Ganz so einfach ist es aber auch in der Meersprache nicht: Es sind da nämlich kleine Umwege hineingetreten oder eher Abwege – die Frauen waren Gegenstände. Anstelle von MEER verwendeten alle Erwachsenen – selbst die Mütter – sächliche Artikel: das Mami, das Mueti, das Grossmami, das Grosi. Aber nicht nur die Mütter, alle Frauen waren sächlich: das Anneli, das Lisbeth, das Regini. Und auch die Kinder waren Gegenstände, süss und winzig wie Mokkalöffelchen: das Mineli, das Hänneli, das Hansli. Ich erinnere mich, dass mich diese Vergegenständlichung wütend machte. Ich wollte kein Gegenstand sein, ich wollte ein Mensch sein und gross; und gross zu sein, bedeutete, ein Geschlecht zu haben, ein männliches. Als Frau drohte einem, ein Gegenstand zu bleiben oder ein Ozean zu werden. Das wollte ich nicht.

Wenn ich an dich denke, Grossmeer, dann denke ich an das Migros-Restaurant, in das du mich immer eingeladen hast, wenn du mich in ein »Restaurant« einladen wolltest, ich denke an das Urmeer, dem die ersten Bakterien entsprangen, das ziemlich genau siebenunddreissig Grad Celsius warm war, ich denke an Meer und an das Leben, das sie für mich aufgegeben hat, und an das Leben, das du für Meer aufgegeben hast, ich denke daran, dass du gerade aus dem Rehazentrum entlassen wurdest, dass du vermutlich wieder auf deinem Balkon stehst und wütend auf die halb vertrockneten Geranien schaust, und ich denke an all die Texte, die ich dir nie geschrieben habe. In einem von ihnen geht eine bärtige Dame den ganzen Weg von Ostermundigen nach Santiago de Compostela. Auf halbem Weg trifft sie einen jungen Menschen, auch mit Bart, mit breiten Schultern, tiefer Stimme, Rock und Kajal, und sie sprechen über nichts, sie gehen schweigend nebeneinanderher in Richtung Meer, und zwischen ihnen treiben die Überbleibsel, das Schwemmgut ihrer langen, im Halbdunkel liegenden Spuren.

1

Die Suche nach Schwemmgut

Grossmeer, iss mich nicht.

Ich will das weibliche Geschlecht nicht, das mir bei der Geburt zugewiesen wurde. Ich will das männliche Geschlecht aber auch nicht, das die transsexuelle Medizin mir verspricht und das der Staat mir am Ende gewähren wird, wenn ich mich so betrage, wie es sich gehört. Ich will das alles nicht.

Paul B. Preciado

Die Binarität der Geschlechter ist wie ein Partygast,

di*er ankommt, bevor du überhaupt den Tisch gedeckt hast.

Alok Vaid-Menon

Die Wunde ist das Land der Heilung.

Tabita Rezaire

I think you have to take me for me.

Harry Styles

Grossmeers Hände

Grossmeers Hände waren Tiere. Sie bewegten sich unablässig. Sie waren Mäuse in ihrer Rastlosigkeit, haarlose Mäuse, mit Haut, so rau wie aufgeplatzter Asphalt. Sie waren Spinnen in ihrer Gestalt, aufgebuckelte Beingetüme; gefangen in ihrer rauen Haut suchten sie unentwegt einen Ausweg aus Grossmeer, tasteten wie Blinde, die noch nicht lange blind sind. Sie packen Erdäpfel und häuten diese gierig. Greifen sich das Mokkalöffelchen, um Zucker in die Kaffeetasse zu hieven – ja, die Bewegung ist ein Hieven. Es ist eine fremde Bewegung, die nicht zu diesem Gegenstand passt, als hätte Grossmeer das Ernten von Erdäpfeln direkt auf das Schaufeln von Zuckerkristallen übertragen. Die Hälfte der feinen Kristalle landet darum auch immer auf dem rot-weiss karierten Tischtuch. Das Mokkalöffelchen: ein Gegenstand in einer Fremdsprache für diese Hände. Die lächerlich schönen Verzierungen und Schnörkel an seinem Stiel. Überflüssig. Überfluss. Als ich in einem Disneyfilm eine behandschuhte Pariserin sah, die distinguiert zweifingrig (mit Daumen und Zeigfinger, der kleine Finger abgespreizt) ein Mokkalöffelchen zum Teetässchen führte, nahm ich den Abstand wahr. Die Lücke zwischen Grossmeer und der Welt, in die ich wollte. Grossmeer grapschte sich das Mokkalöffelchen wie eine Schaufel, mit der ganzen Faust. Die arthritisch verdickten Gelenke erinnerten mich immer an die verzauberte Dornenhecke im Disneyfilm Dornröschen. Diese knorrigen Verdickungen. Hundert Jahre Erstarrung.

Ich erinnere mich daran, dass Grossmeers Hände in mich hineinfassten. In meiner Erinnerung sind Grossmeers Hände so allein mit sich; die eine greift ständig nach der anderen, und dann krallt sich die andere die eine, sie suchen ununterbrochen, suchen etwas zum Halten, packen meine Kinderbeine und Kinderarme und streicheln sie unbarmherzig. Ich erinnere mich nicht an meine Kinderbeine und Kinderarme, ich erinnere mich nur an das Gefühl einer grossen Rauheit und an das Wissen, dass ich hinhalten muss, dass Grossmeer das braucht.

Grossmeers Füsse

»Ich habe Männerfüsse«, sagte Grossmeer immer, stolz, verteidigend, entschuldigend, undeutbar. Grossmeers Füsse waren riesig, der grosse Zeh war eine kleine Faust, und sie hatten diese seitlichen Schwellungen, die sie seufzend Hallux nannte. Ich hatte immer Angst, dass dort ein weiterer Zeh aus der Haut schlüpfen will. Ich lernte an Grossmeers Füssen, dass Körperteile Wesen sind, die gegen einen arbeiten, die nicht dasselbe sind wie mensch selbst, die ein anderes Geschlecht haben, eine andere Spezies sein können. Und dass die Gefühle, die mensch dem Körper gegenüber hat, vielleicht im Körper anfangen, sich dann aber im ganzen Raum ausbreiten.

Grossmeers Stoffe

Auf allen Möbeln lagen Tücher, Tischtücher, Läufer, Stoffe und Textilien irgendwelcher Art, und ständig verrutschten sie. Gehäkelt, gestrickt, bestickt. Das Sofa war von einem riesigen weissen, handgehäkelten Überwurf bedeckt. Grossmeers Stolz. Jedes Mal, wenn ich als Kind auf dem Sofa sass oder auch nur das Sofa berührte, musste Grossmeer den Überwurf neu richten. Er hatte perfekt zu sitzen. Grossmeer ging ständig von einem Zimmer ins nächste, um all die Tücher auf Tischen, Tischchen, Kommoden, Sekretären und Gestellen zurechtzurücken. Sie stimmten nie. Sie verdeckten die ganze Wohnung, und sie stimmten nie. Ich glaube, für Grossmeer waren diese Stoffe der ständige, lästige, lastenreiche Beweis, dass sie nicht mehr arm war. Aber ihre Hände waren immer noch viel zu grob, um diese feinen Deckchen zurechtzuzupfen.

Grossmeers Truckli

Ich erinnere mich an Grossmeers Kästchen: ihre TRUCKLI. Seit Grosspeer tot war, reiste Grossmeer um die Welt und sammelte kleine Kästchen aus Holz, Stein, Glas, Elfenbein, Plastik, Knochen, Draht, Stahl, Kupfer, Silber, Bernstein, Leder, Filz. Die Kästchen standen überall in ihrer Wohnung auf den Tüchern, und sie waren allesamt leer und geschlossen. Ihre Leere beunruhigte mich. Wenn Meer und Grossmeer zusammen Kaffee tranken, ging das Kind durch die Wohnung, auf einen Kontrollgang, ging an den Truckli vorbei, wie mensch an Leuten vorbeigeht, die einem etwas Böses wollen. Mensch geht schnell, ohne den Eindruck erwecken zu wollen, dass mensch schnell geht, und mensch schaut sie an, ohne dass sie sehen, dass mensch schaut. Die Truckli haben zurückgeschaut. Es zuckte mir in den Fingern. Ich spüre noch heute die Leere der Truckli in dieser feinen Wulst, wo die Nagelhaut zur Fingerhaut wird. Wenn ich mir die Nägel lackiere, übermale ich sie immer, obwohl das ja nicht zum guten Ton gehört, zum guten Lackierer*innenton, DER NAGELFALZ IST AUSZULASSEN, aber mir kommt dieser Falz oft wie eine Welle aus Vergangenheit vor, die sich in einer Bucht bricht. Eine Botin aus dem Zweistromland, die ich übertünchen möchte.

Als Kind war ich besessen von der Idee, heimlich Dinge in diese Truckli zu legen, egal, was: Kiesel, Blätter, Haare, einen abgebissenen Nagel – nur damit etwas darin läge. Aber ich wusste, dass das absolut verboten war, und ich wusste auch, dass die Grossmeer genau wüsste, wer das unausgesprochene Verbot missachtet hätte.

Ich spürte die Dinge, ohne sie zu verstehen. Ich spürte, dass die Truckli innere Räume der Grossmeer waren, die sie ausgelagert hatte. Die Truckli waren die Komplizinnen der Grossmeer; ich wusste, dass sie kleine Bröckchen ihrer Leere abgeschnitten hatte und diese darin aufbewahrte. Die Grossmeer trat freundlich auf, aber es galt, ihren grossen Schatz unter keinen Umständen anzufassen. »Eines Tages wirst du alles erben«, sagte sie, und das war stets eine Drohung.

Das Kind

Ich schreibe von »Grossmeer«, als wärst du eine Romanfigur, Grossmeer. Als wärst du nicht unentwegt in mir, als könnte ich eine Distanz zu dir herstellen. Aber ich brauche diese Haltung. Ich muss über dich verfügen können wie über eine Figur, sonst schreibe ich die Dinge nicht, deretwegen ich schreibe. Ich wollte in der Vergangenheit schreiben, aber die Bruchstücke rutschen mir in die Gegenwart und wieder zurück, verschwimmen.

Ich erinnere mich kaum an mich als Kind. Oder vielleicht meine ich: Ich erinnere mich kaum an den Körper des Kindes. In der Zeit, über die ich schreibe, habe ich noch keinen Körper. Viel eher als an einen Körper erinnere ich mich daran, eine Wahrnehmung zu sein, eine Feinheit unter den dräuenden Bäuchen, zwischen den Beinen der Erwachsenen wie zwischen Stämmen eines Urwalds umherirrend, eine Zartheit auf den rauen Dingen, dem Asphalt, Grossmeers Haut. Mich gab es nicht; es gab mein Rennen, aber es gab keine Beine; es gab den Wind, den mensch beim Rennen spürt, aber kein Gesicht und keinen Nacken, die diesen Wind fühlen können; es gab die jauchzende Freude, die das Rennen auslöst, nicht aber den Bauch, in dem sich das Jauchzen kräuselt. Körper, das hatten die anderen. Ich erinnere mich an Grossmeers unheimlichen, faltigen Körper, ich erinnere mich an Peers Oberschenkel und an seinen Penis, ich erinnere mich an Meers Brüste und an ihre Haare. Es ist, als hätte ich Zugriff auf einige Fotografien, nicht aber auf die Kamera, in deren Gehäuse die Fotografien lagen.

»In deren Gehäuse«. Was für eine doofe Metapher, diese Kamerasache. Ich merke, ich schleiche um die eigentlichen Dinge herum und greife auf bis auf den Stängel Abgelutschtes zurück. Und was ist das Eigentliche?

An meine Zähne erinnere ich mich, die Milchzähne, die sich jedoch wie Fremdkörper im Körper anfühlten und dann auch eines Tages zu wackeln begannen und die mensch sich entreissen konnte. Eine weitere Ausnahme sind die Zehen, die – wenn mensch nachts aufwacht – nicht ganz unter der Decke stecken und die mensch vor den Monstern, die unter dem Bett lauern, verstecken will. Das allnächtliche Dilemma: Entweder bringt mensch die Zehen in Sicherheit und zieht sie unter die Bettdecke zurück; wenn du das aber nicht langsam genug machst, dann kann es sein, dass die Monster auf deinen ganzen Körper aufmerksam werden und diesen fressen. Oder mensch lässt die Zehen draussen, dann fressen die Monster diese bestimmt, aber merken nichts von deinen restlichen Gliedern … Ein unlösbares Dilemma.

Beides – Zehen und Zähne – sind Körperteile, die ich verloren habe und die auf wundersame Weise nachgewachsen sind.

Grossmeers Mund

Grossmeers Mund war eine Landschaft in ständiger Bewegung, im Zeitraffer. Sie redete ununterbrochen, und wenn sie nicht redete – weil sie trank oder ass oder fernsah –, machte ihr Mund alle erdenklichen Geräusche, wie schmatzen, husten, räuspern, Luft scharf einziehen, prusten, geräuschvoll die Lippen lecken, mit der Zunge die Zahnzwischenräume abtasten und allfällige Essensreste herauspulen.

Grossmeer trug immer Lippenstift, eine Altfrauenfarbe zwischen Signalrot und Barbiepink, der auf die Zähne abfärbte, was sie sich mit einem Taschentuch aus weisser Baumwolle und präzisen, harten Bewegungen abwischte. Der Lippenstift verschwand, und sie trug ihn immer neu auf, aber er zog sich beständig zurück – ein Meer bei Ebbe. Die feinen Falten spalteten die Lippen: Risse in einer spröden Felswand. Das Kind fragte sich, wie so etwas kommt, es stellte sich vor den Spiegel, hielt sich mit beiden Händen die eigenen, glatten Lippen fest und war sich sicher, dass die Lippen der Grossmeer aus Unachtsamkeit zerrissen waren. Dies würde ihm nicht geschehen. Es würde achtgeben, dass seine Lippen nicht zerreissen, nie, es würde sie festhalten. Über Grossmeers Lippen waren kleine Löcher, wo die dunklen Barthaare gewachsen waren während ihrer Schwangerschaft mit Meer. Das Kind wusste: Was Grossmeer am Leben hielt, war ihr Mund, diese rastlose Maschine.

Grossmeers Zähne

Grossmeer warf nie ein Stück Brot fort. Sie kaufte frisches Brot, wenn das Kind zu ihr kam. Sie gab dem Kind das frische Brot. Sie selbst ass das harte. ES GIBT KEIN HARTES BROT, KEIN BROT IST HART. Das harte Brot krachte zwischen ihren Zähnen. Grossmeer war so stolz auf ihre Zähne. »Meine Eltern haben mit dreissig schon alle ihre Zähne verloren«, sagte sie – betonte sie, wann immer es um Zähne ging, um Essen, Krankheit, Hygiene oder um früher. »Meine Meer war so stolz, dass sie uns den Zahnarzt zahlen konnte, das kannst du dir nicht vorstellen«, erzählte sie mit einem unheimlichen Lächeln, das die Zähne entblösste. Das Kind fürchtete sich davor, dass das Brot ihre wertvollen Zähne zerbrechen könnte. Immer, bevor Grossmeer hartes Brot ass, sprach das Kind mit ihm. Es nahm seinen Zauberblick hervor und seine stille Stimme und sagte: »Liebes hartes Brot. Bitte sei nicht zu hart zu Grossmeers Zähnen. Sie ist so stolz auf sie. Hier, schau, wie weich ich bin, wie fein, nimm ein bisschen von meiner Feinheit in dich, bitte.« Das Kind spannte sich an, seinen Bauch, machte einen Zauber dort, in sich, sammelte seine Feinheit in seinem Blick und träufelte dem harten Brot die Feinheit durch seinen Blick ein.

Grossmeers Zähne waren gross und weiss, wie die Berge, und sie blitzten ständig, da Grossmeer immer redete. Wenn das Brot zu hart war, stand Grossmeer plötzlich auf, Zunge auf dem Zahnfleisch, machte einen Teller mit Milch und einen Teller mit Ei und Salz und Pfeffer parat. Während des Fotzelschnittenmachens sagte Grossmeer kein Wort. Es war vielleicht das einzige Schweigen, das sie hatte. Das Kind wusste, es war seine Schuld, dass das Brot zu hart war. Es hätte sich besser anstrengen sollen. Es nahm sich vor, seinen Blickzauber zu üben. Zu Hause suchte es einen Stein, ging in den Hühnerstall, setzte sich vor den Stein und gab ihm all seine Feinheit. Es war sehr streng mit sich.

Grossmeers Fotzelschnitten

Wenn Grossmeer die Fotzelschnitten machte, das Brot scheibenweise erst im Milchteller aufweichte, dann in den Eiteller tunkte und schliesslich in Butter anbriet, fuhr Grossmeers Zunge wie ein Katzenschwanz über das Zahnfleisch, das blutete vom harten Brot. Das Kind bekam immer die ersten Fotzelschnitten. Grossmeer stellte die mit Enzianen bemalte Zimtzuckerdose auf das rot-weiss karierte Tischtuch; die Dose war ein Erbstück ihrer Grossmeer, das sie schon sechs Mal geflickt hatte. Der Leim bildete gelbliche Narben, die die Enziane zerstückelten. Das Mokkalöffelchen im schon angemischten Zimtzucker. Obwohl Fotzelschnitten das einzige Essen war, bei dem sich das Kind selbst Zucker nehmen durfte, mochte es sie nicht. Das Kind konnte noch so viel Zucker auf die Fotzelschnitten hieven, der bittere Beigeschmack blieb: Die Fotzelschnitten waren hier, anstelle von all dem Brot, das Grossmeer gefehlt hatte. Aber noch weniger als die Fotzelschnitten mochte das Kind Grossmeer während der Fotzelschnitten. Ich erinnere mich, dass das Kind wegschauen musste. Ich erinnere mich, dass das Kind die Fotzelschnitten anstarrte. Ihre eiige, gelbliche Haut, die Zuckerkörner darüber. Und dann auch noch Grossmeers Geräusche. Das Herunterwürgen, obwohl die Fotzelschnitten noch viel zu heiss waren. Das Schlingen und Schlürfen und Japsen und Schnaufen. Das Balancieren eines zu heissen Bissens auf den Zähnen, das Entblössen der Zähne, die Lippen nach hinten gezogen, der Bissen seitlich auf den Zähnen eingeklemmt – weil die Zähne nicht so temperaturempfindlich sind –, das Ausatmen der heissen Luft; dieses Hissen, das Warten, bis der Bissen etwas abgekühlt ist und sie ihn augenblicklich hinunterwürgen kann. Der Hunger, der älter ist als Grossmeer.

Das Kind liess Grossmeer nie allein in ihrer Hungereinsamkeit. Obwohl es sie nur ertrug, wenn es magische Dinge dachte. Heile, heile Segen. Glitzern. Verwachsen. Hex Hex. Es verstand in seinem Bauch auch die Farbe der Fotzelschnitten: dieses glatte Gelb, das dasselbe Gelb war wie der Leim, der die Zuckerdose zusammenhielt. Diese Verschwisterung von Leim und Fotzelschnitte. Es nahm der Grossmeer übel, dass sie ihre Zusammengeleimtheit immer so auf den Teller brachte, dass die Wörter für die Fotzelschnitten-Gefühle aber immer fehlten, und das Kind deckte sich das Fotzelschnittengelb mit Zimtzucker vollkommen zu, ein braun-weißes Tuch. Es wollte der Grossmeer sagen, dass es Fotzelschnitten nicht mochte, aber es spürte, dass das nicht ging, weil Grossmeer zwischen sich und den Fotzelschnitten nicht unterschied, so wie sie zwischen ihrer Hand und den Beinen des Kindes nicht unterschied.

Überbleibsel

Was das Kind umgab, war nie ausserhalb von ihm, es hatte keine Haut; die Welt ging in ihm aus und ein. Manchmal tauchen da Dinge auf, von denen ich gelernt habe, dass mensch sie Kindheitserinnerungen nennt, die sich äusserst intim anfühlen, die aber unpersönlich, kollektiv sind:

Das Lernen des Zählens von eins bis zwanzig.

Das Dankesagen, immer, ständig, und das Entschuldigungsagen.

Das höfliche Beantworten der Fragen: »Wie alt bist du?« Und: »Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«

Das Spielen draussen, das Auf-dem-Rücken-Liegen im Gras, das Hoffen, dass es noch nicht dunkel wird, noch lange nicht dunkel wird, dass es nie dunkel wird, niemals, dass mensch immer durch dieses goldene Licht rennen kann, diese würzige Luft, in der der ganze Tag liegt wie ein Rosenkäfer in einer Pfingstrose.

Das Spielen von Spielen, von denen die Erwachsenen meinen, dass mensch sie mag und sie einem einen Gefallen tun, wenn sie diese mit einem spielen.

Das richtige Sprechen der Meersprache.

Das Schweigen, was Bravsein genannt wurde.

Die Angst vor Unbekannten, was Fremdeln genannt wurde.

Das Zurückhalten von Tränen, was Starksein genannt wurde.

Die Angst vor dem Schlafengehen; die Angst, nie mehr aufzuwachen, und die Angst, im Dunkeln das Augenlicht zu verlieren, ohne es zu merken (denn mensch sieht ja nichts). Dies wurde mühsam genannt.

Zum ersten Mal die Balance auf dem Fahrrad zu finden und das daraus resultierende Gefühl einer rasenden Euphorie, als wäre die ganze Welt aus Schokolade gemacht; das Gefühl, bis ans Ende der Welt fahren zu können, bis nach Amerika, um den Mond und zurück.

Weil ich diese Dinge erinnere, weiss ich, dass da mal ein Kind war, aber dieses Kind fühlt sich nicht an wie ich. Ich weiss nicht, ob die genannten meine Kindheitserinnerungen sind oder ob mir die jemensch erzählt hat und ich nicht mehr weiss, wer, oder ob ich die gelesen habe und nicht mehr weiss, wo. Ich versuche, über diese Zeit zu schreiben, die in mir fehlt, die in diesem Kind stecken geblieben ist. Vielleicht ist Heimat kein Ort, sondern eine Zeit.

Woran ich mich erinnere, am lebendigsten erinnere, ist Grossmeer. Es ist, als hätte sich mein Bewusstsein nicht so sehr darum gekümmert, mich festzuhalten, sondern Grossmeer. Meine Grossmeer heißt Rosmarie, und sie war ein Monster.

Körper: heute

Auch heute noch spüre ich meinen Körper nicht richtig, ich stosse mich andauernd, an Tischkanten und -beinen, offenen Türen und Schranktüren, ich werde angerempelt und remple an. Ich weiss nicht, wo ich anfange und wo ich aufhöre. Wenn ich koche, schneide ich mich oft, verbrenne mich und merke es zu spät. Wenn ich Käse oder Karotten raffle, raffle ich mich mit. Dann fehlt da Haut, fehlt Ich. Mein Körper, dieses Überbleibsel, transformiertes Uraltes, Materie, die schon unzählige andere Formen war: Steine, Erde, Pflanzen, Luft, Bakterien, Pilze.

Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt, die selbst errichteten Grenzen meines Körpers durchdringt und sich dahinter hinterlässt. Ich habe nicht primär das Bedürfnis, Schwänze in mir zu spüren, ich habe das Bedürfnis, mich zu spüren, jenen pulsierenden Mantel um die Schwänze. Dieser Körper ist in der Lage, ausserordentlich grosse Dinge in sich aufzunehmen, wenn er sich entspannt, ohne den geringsten Schmerz zu empfinden. Schmerzen entstehen, wenn mensch sich gegen das Eindringende wehrt oder es aus sich herausstossen will. Ich habe mich nie dagegen gewehrt, wenn sich andere Körper in mich hineindrängten.

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch und schreibe dir dies, Grossmeer, auf dem MacBook Pro, das ich mir vor acht Jahren mit deinem Weihnachtsgeld gekauft habe, ich sitze auf einem der Holzstühle, die du mir vermacht hast (du habest ja kaum je Gäste und brauchest nur zwei Stühle), ich sitze auf meinem Hintern, der vor einer halben Stunde von einem Mann penetriert wurde, den ich schon zum zweiten Mal getroffen habe, ein Mann, der knapp zwanzig sein dürfte und gemäss postkoitalem Small Talk Metzger ist, nach L.A. will, um Reggaeton zu machen.

Ich schreibe dir dies, Grossmeer, weil ich seit langer Zeit versuche, über meinen Körper zu verfügen, wie ich will: über ihn zu sprechen, wie ich will, ihn zu bewegen, wie ich will, und ihn zu geniessen, wie ich will. Zu sagen, dass es sich verdammt himmlisch anfühlt, gefickt zu werden, dass es sich teuflisch gut anfühlt, durch die Strassen zu gehen und zu spüren, wie das Sperma extrem langsam den Körper wieder verlässt, langsamer als Honig, langsamer als die Tannenzapfenmelasse, die du dir immer auf die letzte Fotzelschnitte träufelst. Dass es sich verdammt gut anfühlt, wenn der Samen, diese fremde Lust, zwischen die Pobacken rinnt und diese schambeladene Zone, diese nur in herabsetzender, gewaltvoller Weise benennbare Region unserer Körper spürbar macht. Wie unglaublich sanft und lebendig sich ein penetrierter Arsch anfühlt. Als wäre mensch ganz aus Seide gezimmert.

Ich schreibe dir dies, mit der Buche im Blick, und mir kommt wieder die Blutbuche, mir kommt eine ganz frühe Erinnerung, ich liege im Gras, du beugst dich über mich, und hinter dir der Himmel ist aus Blutbuchenlaub gemacht. Ich schreibe dir, um gegen die Verachtung anzuschreiben, die ich für diesen Körper empfinde, seit ich denken kann, und die vielleicht auch mitverantwortlich dafür ist, dass ich so wenige Erinnerungen an ihn habe. Wie ist etwas festzuhalten, das immer nachgibt, verschwimmt, zerfliesst? Ich schreibe dir dies, um gegen die body negativity anzuschreiben, die ich geerbt habe; vielleicht nicht von dir direkt, aber von der christlich-zentraleuropäischen Kultur. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, es geht darum, die Fäden aufzudröseln, die uns gewoben haben: die Fäden, die uns unter Männlichkeit Leidenden zusammenknoten, die jede*n von uns in einem Kokon aus Schweigen, Scham und Scheinheiligkeit gefesselt haben, zu entwirren. Es geht darum, sagen zu können: Sexualität – egal, ob penetrative oder nichtpenetrative – ist etwas Grossartiges, und es geht darum, zu fordern, dass penetrierte Körper genauso wie penetrierende und unpenetrierte Körper Körper sind. Wir sind keine Gegenstände, wir sind weder Teufel noch Engel, wir sind stinklangweilige Wesen der Dämmerung wie alle anderen auch.

Ich schreibe dir dies, weil ich als Kind Angst vor dir hatte, weil ich spürte, dass du nie einen Körper hattest, weil ich immer noch wütend bin, dass du mich gebraucht hast, meinen Körper; wütend, dass du mich gehütet hast, mich gehalten hast, mich gestreichelt hast, um deine unverarbeitete Geschichte in mir abzuladen, wie deine Meer deinen Körper gebraucht hat und ihre Meer deine Meer gebraucht hat. Ich schreibe dir, weil es mich nur durch deinen Körper gibt, weil ich deine Fortsetzung bin und weil ich gewisse Dinge nicht mehr fortsetzen will. Ich schreibe dir, weil ich – wie Meer und du – nicht über die Dinge sprechen kann, die mich wirklich beschäftigen, ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.

Grossmeers Himbeeren

Ihre Rubine. Ihr Schatz wuchs im hinteren Garten. Grossmeer trug einen formlosen weissen Hut und verschiedene Körbe, die Chrättli. »Die Himbeerernte!«, sagte sie und lachte zu laut. Grossmeers Hände krabbelten flink über die Stauden. Das Kind traute sich nicht, fortzulaufen, weil Grossmeer dann hätte denken können, es würde vor ihr davonlaufen. Grossmeer erzählte wie jedes Jahr, dass sie in diesem Garten aufgewachsen sei, in dem jetzt das Kind aufwachse. Dass ihr Peer arbeitslos war. Dass jeder Quadratzentimeter des Gartens bepflanzt war. Dass mensch das Essen aus jedem Fleck des grossen Gartens herausgedrückt hat wie den Saft aus einem Apfel.

Grossmeer pflückt systematisch. Die schönen Himbeeren kommen in ein Chrättli, die werden verkauft. Aus den überreifen Himbeeren wird Himbeergeist gemacht. Aus den zerdrückten Himbeeren wird Kuchen, Sirup oder Marmelade gemacht. Die runtergefallenen Himbeeren kommen in das letzte Chrättli zu den zerdrückten Himbeeren, wenn sie noch schön sind. Wenn sie nicht mehr »schön« sind, das heisst, wenn sie »nur noch Fetzen« sind, isst Grossmeer sie auf der Stelle. Grossmeer isst nur die schimmligen Himbeeren. Es könne sein, dass man im Winter sonst genau an diese Himbeeren denke, die man nicht gegessen habe, nur weil sie ein bisschen schimmelig gewesen seien, und dann verfluche man sich und habe ein Loch im Magen, und dieses Loch kriege man sein ganzes Leben lang nicht mehr voll, egal, wie viele Himbeeren man esse. Grossmeer erntet Himbeeren, bis sie sich selbst nicht mehr sieht. Ihre Fingerbeeren haben sich in Himbeeren verwandelt: rot vom Saft und geschwollen von den Stacheln. Ihre Augen sind rot von den vielen Himbeeren, die sie mit dem Blick gegessen hat, aus Angst, dass sie eine Beere übersieht. Grossmeer, warum hast du so ein grosses Maul?

Grossmeers Hände, zum Zweiten

Als ich nun deine Hände wieder sah, Grossmeer, wie sie die Himbeeren pflückten, wie sie »flink über die Stauden krabbelten«, sah ich deine Hände auch wieder beim Stricken, deine Zeige-, Mittelfinger und Daumen; diese ratternde, klappernde, klackernde Textilmaschine, die sich rastlos um sich selbst dreht, aus losen Fäden feste Gewebe hervorzaubert; diese Maschine, die wie ein von deinem Körper losgelöster Körper Fäden knüpft, die wie das Maulwerkzeug einer Spinne arbeitet; eine Spinne, die ihre Fäden zu einem engen Kokon um ihr Opfer spinnt, bevor sie dieses aussaugt. Wobei – nein, falsch, die Spinnen spinnen ihre Fäden doch mit ihrem Hinterteil, das Bild, das mir da gekommen ist, ist also schief. Oder hat es doch seine Berechtigung, waren deine Strickhände nicht tatsächlich ein zweiter, eigenständiger Körper, der gleichzeitig Maul und Hinterteil war, der gleichzeitig gefressen und produziert hat, während du die Tagesschau schautest, während du mich beobachtetest, während du mir dieses verbotest, jenes befahlst?

Gebannt hat mich dein Stricken. »Bestrickt«, Zwinkerzwinker, Subtilitätsalarm. Ich wollte unbedingt auch das Stricken lernen. Aber Meer wollte es nicht, konnte es nicht, sagte sie zumindest. »Das ist so eine Mädchenscheisse. Während die Jungs Sport hatten, mussten wir stundenlang Strickmuster üben. Und während die Männer die Welt machten, Entscheidungen fällten und alles Wichtige, mussten die Frauen zu Hause sitzen und die Männerkleider flicken. Ich habe das Stricken sofort nach der Schule verlernt, ich kann dir das nicht beibringen.« Deshalb hast du, Grossmeer, mir das Stricken beigebracht. Ich sitze auf deinem Schoss, deine Arme halten mich, deine Hände umschliessen meine Händchen, deine Finger ziehen, stülpen, knüpfen den Faden, er kommt von links und geht nach rechts, ich spüre den Faden unter meinen Fingerkuppen durchfahren, und wie ich dir das schreibe, auf dem Computer schreibe, spüren meine Finger das Stricken, sind sie ganz umgeben von deinen rohen, groben, harten Fingern, Spinnenbeinen, deinem Maulwerkzeug, deinen Hinter-, Vorder-, deinen Teilen, ich bin Teil von dir; im Stricken, im Schreiben – ohne Unterschied – bin ich mit dir verbunden.

Grossmeers Fernseher

Ich erinnere mich, dass nur Grossmeer einen Fernseher hatte. Ich erinnere mich an die Kämpfe des Kindes mit dem Peer. Dornröschen, Schneewittchen und Bambi versus Fussball, Skirennen und Leichtathletik. Ich erinnere mich an die Drohung: WENN MAN ZU LANGE FERNSEHEN SCHAUT, BEKOMMT MAN VIERECKIGE AUGEN. Für die Erwachsenen galt diese Gefahr nicht, ihre Augen erinnerten sich stets an ihre Form. Nach jedem Film rannte das Kind ins Bad. Es traute dem Spüren seiner Finger nicht, es musste die Rundheit der Augen im Spiegel überprüfen. Einmal, als es Die Schöne und das Biest schaut, wird ihm schlecht, und seine Augen beginnen zu schmerzen. Es ist sich sicher, dass dies die Verwandlung der Augen ist. Es setzt sich auf den Boden vor dem Fernseher und schaut in den Spiegel über dem Sofa. Der Spiegel ist rund, es schaut den Film über diesen Umweg. Mit diesem indirekten Schauen wähnt es sich in Sicherheit. Der indirekte Blick ist immer sicherer. Im Schreiben über die Grossmeer versteckt sich ein Schreibenwollen über die Meer.

Grossmeers Wohnung

Grossmeers Wohnung ist der Ort meiner Kindheit, der mir am klarsten in Erinnerung ist, klarer als das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und wo ich eigentlich mehr Zeit verbracht habe. Ich habe mich immer vor Grossmeers Wohnung gefürchtet. In ihre Wohnung zu gehen, war, wie in einen See zu steigen. Stumpfes, in dünnen Strahlen hereinfallendes Licht. Schichten vergangener Zeiten, die mensch aufwirbeln kann, aber nicht ablegen. Dicke Vorhänge und dunkle Möbel, Masken aus »exotischen« Ländern, mit echten Haaren und Kuhzähnen. Jedes Geräusch war gedämpft: Die Wohnung war voller dicker Teppiche, sogar an den Wänden. Und überall Kleider, vor allem Jacken, in jedem Zimmer war mindestens ein Kleiderständer, und sie hatte zwei Garderoben. Es war, als würde sie viele Leute erwarten, die sie einkleiden wollte. Aber es kam nie jemensch ausser uns.

Das Kind fand jeden Gegenstand in Grossmeers Wohnung fürchterlich, richtiggehend hässlich. Diese »exotischen« Masken an den Wänden, die Perserteppiche, die schweren Möbel aus dunklem Holz, die Truckli von überall auf der Welt, die wenigen Gemälde in pseudoimpressionistischer Manier. Heute denke ich, dass Grossmeer mit dieser Einrichtung ihren Klassenaufstieg kommunizierte. Sie war ein armes Bauernmädchen gewesen, hatte – je nachdem, ob mensch Irma mitrechnet – fünf bis sechs Geschwister, ihr Peer war arbeitslos gewesen und hatte in Ostermundigen – damals noch ein Dorf ausserhalb von Bern – eigenhändig das Haus gebaut, in dem Grossmeer, Meer und auch ich aufgewachsen sind. Grossmeer war eine schöne junge Frau gewesen, und sie war durch ihre Heirat aufgestiegen. Ich verstehe erst jetzt wirklich, wie sehr ihre Einrichtung markiert, wie viel und weit sie reisen konnte, welche Länder sie alle gesehen hat, welch kostbare Gegenstände sie dabei auch noch erwerben konnte. Dass das Kind die Einrichtung hässlich fand, tut mir jetzt sehr leid.

Nichtsdestotrotz, ihre Wohnung war für mich stets mit einer unerträglichen Leere aufgefüllt, als würde sie in einem ihrer Truckli leben.

Grossmeers Orte

Gewisse Orte und Räume verbinde ich mit Grossmeer. Die meisten davon sind Räume der aufstrebenden Mittelklasse, und viele von diesen sind durchdrungen vom grossen Credo ihres Lebens: zu sparen.

Altfrauencoiffeursalons mit einem bemühten Wortspiel als Name (z.B. Die vier Haareszeiten, Jacqueline’s Haarmonie Salon, Hairzig, Atmosphair, Schau Hair, Kamm back, Touch ma Haar), dem Geruch von billigem Haarspray in der Luft, mit biederen Heften für die Frau (Annabelle, Für Sie, Donna, Schweizer Illustrierte, Glückspost, Emma, Mein schöner Garten, Zeit für mich), Orchideen auf dem Fensterbrett und Trocknungshauben. Obwohl ich keine konkrete Erinnerung daran habe, Grossmeer begleitet zu haben, fühle ich mich ihr nahe, wenn ich einen solchen Coiffeursalon sehe. Sie hatte lange Jahre eine Dauerwelle.

Zölle. Über die Grenze gehen, um einzukaufen (»Es ist einfach alles so billig, weisst du, und auch gar nicht schlechter«), und dann beim Einreisen in die Schweiz die Mehrwertsteuer zurückerstattet bekommen.

Kioske, und genauer: der Lotterie-Stand. Die Hoffnung, einmal das grosse Geld zu machen. Obwohl sie keine finanziellen Nöte mehr litt. Das immer gleiche Personal dort: Leute, die in Cafés die Zuckertütchen von fremden Tischen mitnehmen.

Wohnungen, die in den Siebzigern gebaut oder eingerichtet wurden. Wie viele Familien, die zu ein wenig Geld kamen, leisteten sich Grossmeer und Grosspeer eine Ferienwohnung in den Bergen. Dunkles Holz, schwere, dunkelbraune Ledersessel mit Noppen, Nierentischchen, übergrosse Lampen mit einem langen, beweglichen Arm, den mensch über das Sofa ziehen kann beim Lesen, Tapeten oder Wand-Plättli in diesen Gelb-Orange-Braun-Tönen mit Kreismustern oder abstrahierten Blumenmustern. Das Orange von Ovomaltine-Verpackungen.

H & M-Filialen. Sie begleitete das Kind, und später den Jugendlichen, oft in diesen Laden, wenn es zu Besuch war. Sie wollte ihm etwas schenken. Ich weiss nicht, ob andere Kleiderläden zu teuer waren oder ob sie kaum andere Läden kannte, die Kinderkleider herstellten.

Friedhöfe. All die Male, die das Kind die Grossmeer zum Grab von Ehemann und Urgrossmeer begleitete. Das Grab ihres Sohnes Nico, der auf demselben Friedhof beerdigt war, besuchte sie nie.

Der Raum, der am meisten mit Grossmeer verbunden ist, ist der Supermarkt Migros. Ihr Leben drehte sich, auch wenn sie jetzt genug Geld hatte, hauptsächlich ums Essen, und sie ging fast täglich in die Migros. Sie schaute immer, wann Rabattaktionen anfingen, und ging dann am ersten Tag der Aktion gezielt auf die Jagd. Sie ging in die Migros, da diese billiger sei als ihre Konkurrentin Coop. Die grossen Einkäufe tätigte sie am Donnerstag, da es dann doppelte Cumuluspunkte gibt. Als mir ein Freund erklärte, dass diese Donnerstage eine Strategie seien, um die Wochenenden zu entlasten – und die einzige Gruppe, die donnerstags tagsüber einkaufen kann, ist natürlich die der Rentner*innen –, lachte ich zuerst, dann wurde ich traurig. Ich hatte das Gefühl, dass Grossmeer manipuliert wurde, ohne dass sie es merkte. Als ich sie fragte, ob sie wisse, weshalb es am Donnerstag doppelte Cumuluspunkte gebe, sagte sie: »Na ja, irgendwann muss es ja doppelte Punkte geben.«

Grossmeer ging mit dem Kind oft ins Migros-Restaurant. Es ging immer gerne mit. Es gab ihm ein Gefühl von Daheimsein. Das Essen ist nicht wirklich gut, dafür billig. Noch heute schaue ich immer gebannt in das Migros-Restaurant hinein, das in meiner Nähe steht. Die meisten Kund*innen sind Rentner*innen, Bauarbeiter*innen, Alkoholiker*innen. Ich ertrage es allerdings nicht, hineinzugehen, es erinnert mich zu sehr an Grossmeer. Ich habe mir vorgenommen, dass ich einmal dort essen gehe, wenn Grossmeer gestorben ist.

Vom Verkleiden

Grossmeer hatte einen ganzen Schrank voller Kinderkleider, Mädchenkleider. Es waren alte Kleider, weisse und rosa Röckchen, Rüschchen, bestickte Säume, Haarschleifchen, weisse Söckchen. Es gibt eine Phase, in der das Kind noch sehr klein ist – ich weiss nicht mehr, wie es angefangen hat –, eine Phase, in der es immer zu diesem Schrank geht und sich Kleider herauslegt, auf das grosse Bett der Grossmeer, ein Outfit zusammenstellt und anzieht, während die Grossmeer in der Küche wartet. Wenn das Kind zufrieden ist, geht es zur Küche, klopft an, die Grossmeer sagt: »Wer ist es?« Das Kind stolziert mit grossen Schritten hinein, wirft den Kopf zur Seite, als hätte es lange Haare, und die Grossmeer verwirft die Hände vor Bewunderung: »Wie schön du bist, nein wirklich, wie wunderwunderschön«, und das Kind dreht sich wie auf einem Laufsteg, zeigt sich, wirft verführerische Blicke und Kusshände, dann zieht es sich um, nächstes Outfit. Das geht etwa drei, vier Outfits so zu und her, dann sagt die Grossmeer, dass es Zeit für eine Geschichte sei. Ich glaube, das Kind war nie glücklicher als in diesen Momenten und liebte Grossmeer nie inniger, als wenn diese – vor Verzückung eine ganz hohe Stimme – die Schönheit des Kindes lobte. Wenn das Kind wieder seine ursprünglichen Kleider anzog, sagte die Grossmeer: »Das sagst du der Meer nicht, gell, das ist unser kleines Geheimnis, gell.« Sie zwinkerte dem Kind zu. Das Kind zwinkerte zurück.

Ich weiss nicht, wie lange diese Verkleidungsphase bei der Grossmeer ging, es könnte ein halbes Jahr gewesen oder nur zwei, drei Mal passiert sein. Ich erinnere mich, dass Grossmeer einmal, als das Kind in den Mädchenkleidern in die Küche kam, sehr grob sagte: »Zieh dich um, das sind Mädchenkleider, du bist doch kein Mädchen.« Da traf das Kind eine ungeheure Scham, die schon lange gewartet hatte vor den Fenstern, vor der Tür, die nun schäumend hereinbrach. Es zog sich aus, so schnell es konnte, es war, als hätte alles Augen, die Wände, die Lampe, der Spiegel, eine Welle aus Scham klatschte an seine Glieder, eine Scham, die es schon von Weitem gespürt hatte, die es nur so lange von sich hatte fernhalten können, weil dies alles in der Wohnung der Grossmeer geschehen war: ein Raum ohne festen Aufenthaltsort, ein Schiff. Das Kind begann da seinen Hass auf die Grossmeer. Jahre später die Frage: Wessen Kleider sind das eigentlich? Und wofür hob Grossmeer sie auf? Oder für wen?

Holzwege im Sand

Es hat eine Verschiebung stattgefunden, seit ich dir schreibe. Langsam, Grossmeer, erinnere ich mich auch an andere Dinge, nicht nur an dich. Freigeschaufelte Dinge. Ich aber bin noch immer nichts Festes. Bin eine Sandbank, tarne mich als Insel. Die Gezeiten tragen mich ab, die Ebbe zieht mich fort, löst mich. Die Flut schwemmt Neues an. In unserer Familie haben immer alle allen die falschen Namen gesagt. Aus Versehen wurden die Frauen bei den Namen ihrer Schwestern, Meeren, Freundinnen gerufen. Die Männer bei den Namen ihrer Peere, Cousins, Grosspeere. Meer hat sich immer zu Tode genervt, wenn du sie Ida-äh-Rosmarie-äh-Irma nanntest. Aber Meer selbst hat mich dann auch Nico-äh-Hans-äh-Kind genannt. Und ich habe auch schon damit begonnen, unwillentlich. Ich suche Wege in mich hinein, in das Körpergedächtnis. Ich habe diesen Text schon zigmal angefangen, ich habe Plots konstruiert, bis mir übel wurde. Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.