8 Minuten und 19 Sekunden - Georgi Gospodinov - E-Book

8 Minuten und 19 Sekunden E-Book

Georgi Gospodinov

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Beschreibung

Menschenliebe, Schlitzohrigkeit und Weltuntergang: neue Erzählungen des bulgarischen Melancholikers: In Georgi Gospodinovs Erzählungen begegnen wir hinterwäldlerischen Dorfbewohnern auf dem südlichen Balkan, einem Kind, das nacheinander verschiedene Väter adoptiert, einem Autor, der ganz Lissabon nach einer unbekannten Schönen absucht, und zahlreichen simplen oder auch raffinierten Ehebrüchen; einige Geschichten werfen Blicke in die kommunistische Vergangenheit des Landes und andere in die Zukunft der Menschheit. Wie in der Titelgeschichte die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht, gerade das bisschen Zeit ist, die der Autor dem Leser zur Lektüre des Textes einräumt, so lauern in vielen Texten Gospodinovs Weltuntergangsgedanken, Sorgen und Trauer um die Unzuverlässigkeit der Menschen. Verspielt, elegant und mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen, breitet Gospodinov eine Welt vor uns aus, wie wir sie aus seinen beiden Romanen schon kennen – eine Welt, die zwar detailgenau und oft sehr komisch diesseitig ist, aber dennoch mehr den Einfällen und Eskapaden der Phantasie als den Gesetzen der Realität folgt.

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Seitenzahl: 180

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Georgi Gospodinov

8 Minuten und 19 Sekunden

Erzählungen

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

Literaturverlag Droschl

8 Minuten und 19 Sekunden

In der Minute, in der du diesen Text zu lesen beginnst, kann die Sonne bereits erloschen sein, du weißt es nur noch nicht. Dir bleiben noch 8 Minuten und 19 Sekunden, bis dich die Nachricht von ihrem Tod erreicht. So lange braucht das Licht auf seinem Weg. Danach wird es dunkel. Bis hier sind 9 Sekunden vergangen. Was kannst du tun? Schnell, pack die wichtigsten Dinge zusammen, Telefon, Geld, Pass. Warte mal, willst du verreisen? Vergiss das Gepäck. Ruf deine Familie und Freunde an, sie wissen es noch nicht. Verkünde das Ende der Welt und erzähl von den geschenkten (mittlerweile weniger als 7) Minuten, von denen sie nichts ahnen. Sag ihnen, sie sollen sich sofort auf den Weg machen, wenn sie in der Nähe sind … wohin … einfach zusammen sein … keine Chance in 7 Minuten. Sie sollen bleiben, wo sie sind, und sich unter dem Tisch verstecken. Alles Quatsch. Ich habe keine Erfahrung mit dem Erlöschen der Sonne. Das ist nicht so, wie wenn der Strom ausfällt. Sag ihnen, dass du sie liebst und ihr euch auch im Dunkeln finden werdet. Was noch? Du würdest gern deine Lieblingsspeisen ein letztes Mal probieren, aber die Zeit reicht nur noch für ein Löffelchen Kirschkonfitüre aus dem Kühlschrank. Die Katze hat sich irgendwo verkrochen. Sie weiß es auch. Du öffnest das Fenster. Draußen vergeuden die Menschen die letzten Minuten Sonnenlicht. Du würdest am liebsten schreien. Verflucht, seht ihr denn nicht, dass das Licht nicht mehr dasselbe ist?! Du tust es nicht. Und was dann? Stieben die Planeten auseinander, laufen die Ozeane über, bricht ein ewiger arktischer Winter herein? Und passiert es sofort, oder haben wir noch ein bisschen Zeit? Noch ein paar Minuten, eine Stunde in undurchdringlicher Dunkelheit? Bist du noch hier? Lass uns zusammen die letzten Sekunden herunterzählen – dreizehn, zwölf, elf (ich schreibe sie absichtlich aus, um es in die Länge zu ziehen), zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei (halt dich fest und leb wohl, falls wir uns danach nicht wiedersehen), zwei, eins –

Wenn du den nächsten Satz liest, heißt das, die Sonne ist nicht erloschen. Nicht diesmal. Wann dann? Wir werden es genau 8 Minuten und 19 Sekunden später erfahren. Jetzt sind es schon weniger. Nachdem du bereits eine Apokalypse überlebt hast, kannst du es dir erlauben, die Sekunden Sonnenschein zu zählen. Und in den übrigen acht Minuten ein Auge auf diese Geschichte zu werfen. Ich habe sie so geschrieben, dass sie rechtzeitig zu Ende ist.

Eine Wolke verdeckte langsam den Himmel. Würde es Regen geben, oder war das das Ende? Diese präapokalyptischen Tage waren unbeschreiblich. Chaos, Getöse, umherirrende Tagediebe, Familien, die ihre Sachen packen, als könnten sie irgendwohin. Ein sonderbarer Jahrmarkt der Eitelkeiten, ein Bild wie aus dem vorletzten Jahrhundert, Thackeray, Dickens, Schreie, Verkehr, Stimmengewirr, echte Belebung vor der bevorstehenden Friedhofsruhe. Und trotz der vorangegangenen, nicht eingetretenen Vorhersagen (ganze zwei erfolglose Anläufe für eine Apokalypse) schien jetzt alles immer überzeugender dorthin zu führen, zum Ende. Man konnte es auch nicht mehr verheimlichen. Sogar der Auftritt zweier globaler Veteranen, des bereits ergrauten Mister Obama und Frau Merkels, dieser eisernen Alten, brachte keine merkliche Veränderung. Beide versprachen, das Ende der Welt würde möglichst lange kontrolliert aufgeschoben werden. »Ein kontrolliertes Ende der Welt«, lächerlich. Apokalypse tröpfchenweise.

Alles erwartete den Sonnenuntergang des letzten Tages, so hatte ihn die Straße getauft. Es hieß, der Sonnenuntergang selbst sei von unmenschlicher Schönheit, wie Euthanasie, eine Narkose, nach der das Ende kommt. Es gab natürlich auch Skeptiker, die bereits einige aufgeschobene Apokalypsen überlebt hatten. Leute, die eher gelangweilt waren von der Unendlichkeit, die sich so in die Länge zog. Im Großen und Ganzen hatte man langsam die Nase voll, und das Leben auf der Erde war auch nicht mehr so verlockend. Wie dem auch sei, am vorhergesagten Tag hatte sich jeder, ob aus Gewohnheit oder aufgrund eines noch vorhandenen Instinkts, die Mühe gemacht, sich in einem Luftschutzraum aus dem vorigen Jahrhundert zu verstecken oder zumindest im Keller einzusperren. Die Reichen in speziellen Kapseln unter der Erde.

D. J. hatte beschlossen, im Städtchen Z. auf das Ende zu warten. Er kam früher, um noch ein bisschen durch die alten Straßen zu streifen, sich ein wenig an dem Tohuwabohu zu ergötzen. Sein ganzes Leben lang hatte er mit Sonnenuntergängen gearbeitet. Ich versilbere ihr Gold, wie er (immer seltener) bei den immer sporadischeren Treffen mit Freunden scherzte. Sonnenuntergängen verdankte er seinen Lebensunterhalt, seinen Tabak und seinen Ruhm. Er war ein Fotograf, der es verstand zu schreiben, eine eher seltene Kombination in diesem Metier, und die guten Blätter hatten ihn sich schon früh geschnappt. Doch gerade im Städtchen Z. begann vor vielen Jahren seine Karriere als Experte für das Taxieren von Sonnenuntergängen. Ja, den Beruf gab es wirklich, und er hatte ihn erfunden. In gewissem Sinne war es Zufall. Man hatte ihn nach Z. geschickt, um einen Voralpensee und seine schwindende Population von Blässhühnern zu fotografieren. Er war mit der Arbeit schnell fertig, doch seine Hauswirte bestanden darauf, dass er bis zum Abend blieb, wegen des »weltdrittschönsten Sonnenuntergangs«. Später fragte er sich, wieso er eingewilligt hatte, er war damals knapp über zwanzig, hatte andere Ambitionen als Blässhühner und Sonnenuntergänge. Vielleicht forderte ihn dieses »drittschönster Sonnenuntergang« heraus, was für ein Unsinn. Er fragte, welche denn auf den ersten beiden Plätzen lägen. Sie wussten es nicht. Ihnen reichte auch der dritte, schließlich war Z. nicht die Copacabana. Der Sonnenuntergang war eine kostenlose Attraktion, die das Städtchen in Umsatz umzumünzen gelernt hatte. Ein spezielles Boot fuhr zum doppelten Tarif während des Sonnenuntergangs zwischen den Ufern des Sees hin und her. Die Tourismusbroschüren zeigten sich ebenfalls nicht verlegen, den dritten Platz im Ranking vermeintlich augenzwinkernd zu vermerken. Zum Teufel, wer bestimmt bei diesen Rankings, fluchte D. J. leise. Und im selben Moment fiel ihm ein, dass er derjenige sein könnte. Es gab natürlich Experten für Wasser, Luft, Öl und Bodenschätze, dort war das große Geld, aber sieh da, einen Experten für Sonnenuntergänge gab es nicht. Und jeder konnte sich nach Belieben einen Titel zulegen. Er fasste den Entschluss eher zum Spaß, warum sollte er es nicht versuchen? Aber ja. Jemand musste diese Rankings managen. Herumfahren, vergleichen, sich Kriterien ausdenken, eine Nomenklatur der Sonnenuntergänge. Price Sunset House, Qualitätsmanagement und Consulting …

Er hatte nicht erwartet, dass es so einfach sein würde, fast ein Kinderspiel. Die Städte rissen sich darum, ihn einzuladen, damit er ihren Sonnenuntergang beurteilte. Sie überwiesen ihm Summen unter der Hand. Er verteilte Punkte, bestimmte Ratings und konnte nicht glauben, dass ein lokaler Sonnenuntergang imstande war, so viele Leidenschaften zu wecken. Der örtliche Tourismus, Patriotismus und die Wirtschaft warfen sich ins Zeug, für jeden gab es etwas zu holen. Er fragte sich, wie weit er gehen könne, und versuchte vermeintlich nur, die Grenzen des Scherzes auszuloten, traf aber immer ins Schwarze. Besonders, als er die Europameisterschaft im Sonnenuntergang ausrief. War es möglich, dass sie auf so einen Unsinn hereinfielen? Sofort wurden aus beiden Amerikas und Afrika Unsummen für die Lizenz hingeblättert. Und bald wurde daraus eine Weltmeisterschaft. Ehe er sichs versah, hatte das Business all seine Erwartungen übertroffen und auch seine Wünsche. Er gab keine Interviews mehr, Schlagzeilen wie »Der Magnat der Sonnenuntergänge«, »Das Reich, in dem die Sonne immer untergeht«, »Der Scheich des roten Goldes«, »Der himmlische D. J.« und andere Blödheiten begannen, ihn zu ärgern. Er beschloss, dass es an der Zeit sei, aufzuhören, überschrieb alles an zwei Freunde und zog sich zurück. Unmerklich waren 20 Jahre vergangen. Die Welt hatte angefangen, vor die Hunde zu gehen, wie ein Greis, der trotz aller plastischer Operationen das fortgeschrittene Stadium seiner Krankheit nicht mehr länger verbergen kann.

Jetzt ging er durch die Straßen von Z., der Stadt, in der er begonnen hatte, Sonnenuntergänge zu Geld zu machen. Heute war der Tag, und wenn es geschehen sollte, dann wollte er den letzten Sonnenuntergang hier sehen. Er hatte noch ein paar Stunden, die Straßen waren fast leer. Ein Mann in einem Taucheranzug versuchte zu rennen, wobei er mit den Flossen über den Gehsteig patschte. Sicher war er nur ein wenig ausgegangen und fürchtete, die Sintflut könnte ihn auf der Straße überraschen. Für alle Fälle hatte er eine Harpune dabei. Weiter oben, auf einem kleinen Platz am Fuße des Hügels, redete einer der Propheten des Sonnenuntergangs der letzten Tage unzusammenhängendes Zeug und rief den immer seltener werdenden Passanten, die nur schnell nach Hause wollten, nach:

»Wohin so eilig, ihr armen Fledermäuse? Wovor lauft ihr davon … Fürchtet ihr etwa die Sonne? Kommt zu den himmlischen Illuminationen, ihr Feiglinge! Das gibt es nur ein Mal … Und ihr könnt es auch nicht in euren Scheißfernsehern sehen. Habt ihr’s nicht begriffen, ihr Einfaltspinsel, jeder Sonnenuntergang ist ein Gleichnis der Apokalypse … Von wegen Kitsch, ihr Snobs, ein Postkartenmotiv, was? Aber jetzt werden keine Farben, nein, jetzt wird Blut aus den Wolken tropfen, weil das Opferlamm geschlachtet ist, so wie es geschrieben steht, ihr Trottel in den Einkaufszentren. Jeden Abend blutet dort oben die Heilige Jungfrau, das ist Jungfräulichkeit, ihr Perversen. Es gibt keine Unschuldigen unter euch. Wo habt ihr euch versteckt? Das Opferlamm ist schon geschlachtet, und sein Blut fließt in sieben Flüssen. He, was starrst du mich so an …«

D. J. lächelte unwillkürlich, denn er war es, den der Prophet anschrie …

»Grins nicht so blöd, du wirst die Apokalypse in der Hauptsendezeit sehen, in der Prime Time, du Schwachkopf …«

Er ging langsam bergauf. Dass er kein Heiliger war, wusste er selbst. Er hatte Geld mit etwas gemacht, das ihm nicht gehörte. Aber was war so schlimm daran, mehr Menschen dazu zu bringen, sich Sonnenuntergänge anzusehen? Besser so, als dumm vor dem Fernseher zu sitzen, da hatte der schon Recht. Die Werbekunden hassten ihn sicher, er nahm ihnen ziemlich viel Publikum weg. Es entstand eine ganze Bewegung von Sonnenuntergangsbetrachtern. Sunset gazing. Manche nannten sie »Sonnenesser«. Andere riefen sie geringschätzig »Glotzer«. Man erzählte, sie ernährten sich vornehmlich von Sonnenlicht, und das sei gerade bei Sonnenuntergang am nahrhaftesten. Der Sonnenuntergang als Bioprodukt.

Er erreichte den Hügel, von dem aus man die letzte Sonne am besten sehen würde. Auf der Welt waren nur noch sehr wenige Orte übrig, an denen man einen richtigen Sonnenuntergang beobachten konnte – langsam sich entfaltend, mit dem ganzen restlichen Nachgeschmack, den Schatten und Widerscheinen. Freien Blick auf ihn zu haben und eine gute Fernsicht ohne Aerosole in der Luft, das war bereits eine absolute Seltenheit. Er war am richtigen Ort und im richtigen Alter, dachte er bei sich, um endlich in Ruhe einen Sonnenuntergang zu genießen, ihn bis auf den letzten Schluck auszutrinken und zu würdigen, nach all denen, die er im Vorübergehen gekostet hatte. Er hatte seinen Fotoapparat mitgenommen und sogar ein kleines Opernglas. Als ginge ich zu einer Premiere und nicht zum Saisonabschluss, sagte er sich. Er sah sich um, entgegen seinen Erwartungen war er nicht allein, noch ein paar andere Furchtlose hatten sich über den Hügel verteilt. Eine kleine Gruppe von »Sonnenessern« verneigte sich oben in Richtung Sonne. Ohne sie, dachte er sich, erwartet euch der Hungertod.

Er erinnerte sich, wie ihn sein Vater auf dem Weg zur Schule an der Hand hielt und ihm von jenen 8 Minuten und 19 Sekunden erzählte, die uns noch bleiben, nachdem die Sonne erloschen ist. Die schrecklichste und tröstlichste Sache der Welt.

Einen Augenblick, nachdem der Sonnenuntergang alles überflutete, ging ein kaum merkliches Flackern über den monitorblauen Himmel. Es kam ihm so vor, als wäre das Licht nicht mehr dasselbe.

Die Farben waren irgendwie blass, er nahm das Opernglas, und selbst bei dieser lächerlichen Vergrößerung konnten seine Augen es erkennen … das Raster. Plötzlich zogen Wolken auf, die gleichsam mit riesigen, flauschigen Buchstaben schrieben: »Drittschönste Apokalypse der Welt«.

Wer, zum Teufel, bestimmt das, dachte sich D. J. und schloss die Augen.

Vor dem Hotel »Bulgaria«

»Halt still, ich werde dir noch das Ohr abschneiden!« Und die Schere schnipp, schnapp, schnipp, schnapp, schnipp, schnapp saust um mein Ohr herum. Ich-rüh-re-mich-nicht. Ich klammere mich mit aller Kraft an den braunen Lederstuhl, meine Hände schwitzen, ich kneife die Augen zu. Schnipp, schnapp. Die Schere kommt immer näher. Jeden Moment erwarte ich, schnipp, schnapp, dass das Ohr davonfliegt und ein warmes Rinnsal Blut meinen Rücken hinunterkriecht.

Ich bin sieben, was soll ich ein Leben lang ohne Ohr machen? Und mein Vater, der steht neben dem Herrenfriseur, tut nichts, unterhält sich mit ihm. Männergeschichten. Mit meiner Mutter spricht er nicht über solche Sachen. Bestimmt werden sie mir deshalb das Ohr abschneiden. Damit ich sie nicht belausche und ihre Geschichten ausplaudere.

Ich weiß, worüber sie sprechen.

Über … Frauen sprechen sie. Und warum es in den Geschäften kein Klopapier und kein Öl gibt. Und über den Nachbarn, von dem alle wissen, dass er die Leute belauscht, und über seine Frau, die sei nämlich eine stadtbekannte … Hier habe ich das Wort nicht verstanden, oder sie haben es irgendwie genuschelt …

Wann das war? Vor, vor … vor 53 Jahren. Genau dort, ganz dahinten war es … der Salon für Haarschnitte und Rasuren des Hotels »Bulgaria«. Meinen Vater und den Herrenfriseur gibt es schon lang nicht mehr, ihre Bärte wachsen irgendwo nach Herzenslust. Auch die Frauen, über die sie sprachen, gibt es nicht mehr. Lange Jahre sah ich später zu, wie ich bei jedem Haareschneiden auf dem Friseurstuhl älter wurde. Zwischen den Haarbüscheln, die zu Boden fielen, tauchten zuerst einzelne weiße Haare auf, später wurden es immer mehr. Um meinen Vierziger herum hatte das Weiß bereits die Oberhand gewonnen. Frisiersalons sind unser Waterloo. Die Haarbüschel, immer weißer, immer spärlicher, liegen auf dem Boden herum. Die Schlacht ist verloren.

Damals jedoch … Jeden ersten Sonntag im Monat sind wir hier, in diesem Salon. Der Stuhl ist riesig, sein braunes Leder ist hier und da ein wenig abgenutzt. Zuerst setzt sich mein Vater hin, später, wenn ich an der Reihe bin, legen sie mir ein Holzbrett unter, damit ich nicht versinke. Und die Folter beginnt.

Wir können nur hierher kommen, weil mein Vater und der Herrenfriseur irgendwann einmal zusammen in der Kaserne gewesen sind. Das ist fürs ganze Leben. Brüder können sich zerstreiten, der Staat kann zusammenbrechen, aber bist du mit einem in der Kaserne gewesen – Schluss, aus, das ist für immer.

Eigentlich war der Herrenfriseur kein schlechter Mensch. Das weiß ich jetzt. Damals jedoch war es jedes Mal, wenn wir den Frisiersalon des Hotels verließen, so, als würde ich auferstehen. Und mehrfach betastete ich meine Ohren, um zu sehen, ob sie noch da waren. Dieser Herrenfriseur sei ein großer Meister, sagte man. Er könne dir die Ohren abschnippeln, ohne dass du es mitbekommst. Und erst wenn du den Kopf bewegst, fallen sie dir in den Schoß.

Ich hasse es, zu spät zu kommen … Zu Verabredungen komme ich immer früher. Ich bin schon ewig nicht mehr hier gewesen, im Foyer des Hotels. Der alte Marmorboden, die Café-Konditorei (auch sie heißt natürlich »Bulgaria«), das Restaurant für Hochzeiten – ebenfalls »Bulgaria«. Und auf der Rückseite, der beste Konzertsaal – der Saal »Bulgaria«. Damit du auch weißt, wo du dich befindest. Diese Hotels sind immer im Zentrum, immer luxuriös. Jedenfalls luxuriöser als der Staat, nach dem sie benannt sind.

Während ich darauf wartete, an die Reihe zu kommen, immer nach meinem Vater, konnte ich die Hotelgäste beobachten, die ein und aus gingen. Es waren die 60er Jahre. Sie kamen aus einer anderen Welt, die meisten sprachen unbekannte Sprachen. Ihre Frauen waren schön, jaaa, das konnte ich mit meiner Erfahrung als Siebenjähriger sagen. Luxusweiber, wie die Männer im Frisiersalon sagten. Die ältesten von ihnen erinnerten sich noch an das Vorgängerhotel, das fünfzig Schritte weiter unten auf dem Boulevard gestanden hatte. Dort seien alle Schauspielerinnen des deutschen Vorkriegskinos abgestiegen, professionelle russische Revolutionäre aus der Zeit vor der Revolution trieben sich hier herum, um Waffen zu kaufen, Schaljapin höchstpersönlich mietete einen Monat lang die Suite mit dem Balkon und trat gegen Abend hinaus, um der Menge unten zuzuwinken. Hier, heißt es, habe fast ganzjährig der Reporter der »Times«, James Bourchier, gewohnt. Hier starb er auch in seinem Zimmer im Jahre 1920. Es wird viel gestorben in Hotels, aber darüber spricht niemand.

Der Herrenfriseur erzählte einmal, er habe einige Male den … (und hier zeigte er mit dem Finger zur Decke) höchstpersönlich rasiert, aber es war, als verstünden alle, wer gemeint war. »Ach, warum hast du ihm dann nicht …«, meldete sich eines der Großväterchen und brachte den Satz wieder nicht zu Ende, sondern fuhr sich nur mit dem Finger über die Gurgel. Ich kannte diese konspirative Sprache, wir befanden uns mitten im Sozialismus. Den Alten, der sich unvorsichtigerweise einen Scherz erlaubt hatte, habe ich jedenfalls nie wieder gesehen. Ich fragte meinen Vater, was wohl mit ihm geschehen sein mochte, und er führte nur die Finger vor dem Gesicht zusammen und drehte sie herum als Zeichen dafür, dass ich meinen Mund geschlossen halten sollte. So unterhielten sich die Menschen zu jener Zeit.

Noch fünf Minuten und es ist zwölf. War die Verabredung wirklich um zwölf, nicht vielleicht um elf? Nein, nein, wir haben uns auf genau zu Mittag geeinigt. Genau zu Mittag hat immer zwölf Uhr bedeutet. Und ich treibe mich hier auch schon seit mindestens einer Stunde herum. Wir können uns nicht verpasst haben. Ich gehe wie ein überfressenes Pferd auf den gelben Pflastersteinen auf und ab. Die gelben Pflastersteine – der Stolz der Stadt. Als man sie vor hundert und irgendwas Jahren herbrachte, zur Hochzeit des Zaren, bestanden alle anderen Straßen aus Dreck und Pfützen. Und nur hier, die ganze Straße und der kleine Platz vor dem Schloss – gelbe Keramikplatten. Und so was von beständig. Zwei Staaten haben sich seither zerschlagen, aber die gelbe Keramik ist immer noch da. Erst verjagte man den Zaren, der die Platten herangeschafft hatte, danach fiel auch das Zarenreich. Später erwies sich dann der Kommunismus als brüchig, aber die Pflastersteine sind immer noch dieselben.

Es ist schon zehn nach zwölf … Niemand steigt im Hotel seiner eigenen Stadt ab. Außer in außergewöhnlichen Fällen, wenn du dich mit deiner Frau streitest und die Tür hinter dir zuknallst. Aber auch dann gehst du nicht ins Hotel. Du betrinkst dich in der letzten noch offenen Kneipe, und wenn sie dich dort gegen drei rausschmeißen, machst du dich auf den Weg zum Bahnhof oder wachst zusammengerollt auf einer Parkbank auf, steif von der morgendlichen Kälte.

Einmal, nur ein Mal, verbrachte ich eine Nacht im Hotel »Bulgaria«. Ich stehe nicht im Gästebuch. Ich war illegal hier, sozusagen.

Am 5. August 1968, abends, vierter Stock, das Personalzimmer ohne Nummer, neben dem Aufzug, mit dem Bettzeug, der Seife und den Besen. Ich war nicht allein. Ich verbrachte die Nacht mit einer Person weiblichen Geschlechts, Helma Laakkonen, einer neunzehnjährigen Finnin aus Helsinki, Jungmitglied der Kommunistischen Partei Finnlands. Was wir in dieser Nacht taten? Wir diskutierten die Herausforderungen für die progressive linke Jugend im Kampf mit den Provokationen des Imperialismus. So antwortete ich, als man mich zwei Tage später ins Polizeigebäude bestellte. Ich weiß nicht, wie sie es herausgefunden hatten. Sie hätten mich damals fertigmachen können. Ich kam dank des Herrenfriseurs davon, der dem Vorsitzenden die Haare geschnitten hatte und sich für mich einsetzte.

Helma Laakkonen. Die erste Frau in meinem Leben, mit der ich eine ganze Nacht verbracht habe, illegal, im Zentrum von Sofia, ungefähr hundert Meter von der Parteizentrale entfernt. Und wir sprachen nicht über die internationale Lage.

Wir hatten diese eine Nacht, die erste und letzte, am nächsten Tag endete das Festival, sie reiste ab. Finnland war eine andere Welt, und ich konnte nur davon träumen, mich einmal seinen Ufern zu nähern. Aber wir hatten eine ganze Nacht. Der Sohn des Herrenfriseurs, mein bester Freund, arbeitete als Elektriker im Hotel. Er schleuste uns hinein, es war auch für ihn ein Risiko. Wir durften nur ja kein Licht machen, und gegen fünf Uhr morgens mussten wir das Zimmer räumen.

Wir saßen im Dunkeln zwischen den Bergen von frisch gewaschenen Leintüchern. Niemals werde ich jenen Geruch nach Seife und Sauberkeit vergessen.

Alles in meinem Leben ereignete sich später genau so, wie wir es damals auf die Schnelle in jenem Servicezimmer im vierten Stock skizzierten. Wir werden auseinandergehen, und jeder wird die ihm vorherbestimmte Zeit mit einem anderen Menschen zusammenleben. Es wird ausreichend Zeit sein, um sich in sie zu verlieben, sagte sie, um euch an euren Kindern zu erfreuen, einander überdrüssig zu werden, in getrennten Zimmern zu schlafen, die Kinder werden groß werden und euch verlassen, ihr werdet euch leise trennen … Und bei dir, fragte ich. Sie zögerte ihre Antwort einige Sekunden hinaus, schließlich antwortete sie: Dasselbe, es ist immer dasselbe. Geben wir uns vierzig Jahre, und dann treffen wir uns wieder hier … Wir werden sechzig sein … Das Glück wird schon ein wenig aufgebraucht sein, man wird den Bodensatz sehen, so sagte sie, eines Morgens wird der Wecker klingeln und auf einmal werden wir uns erinnern …

Gut, also der 5. August 2008, im Foyer des Hotels oder davor, wenn es nicht regnet. (Ob ich es in jenem Augenblick nur im Scherz sagte oder wirklich daran glaubte …?) Um wieviel Uhr? Na, zu Mittag, genau zu Mittag. Bis dahin werden wir einander nicht kontaktieren. Wir gehen zu dieser Tür hinaus, leben und sehen uns 40 Jahre später wieder. Und wenn wir es vergessen, wenn wir nicht daran denken, fragte ich. Werden wir nicht, sagte sie.

Wenn du zwanzig bist, kannst du alles versprechen. Vierzig Jahre sind eine Ewigkeit, aber mit zwanzig bist du praktisch unsterblich …