9 für Santa Claus - Iris Brandt - E-Book

9 für Santa Claus E-Book

Iris Brandt

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Beschreibung

Das Training am 1. Advent ist für die Rentiere des Weihnachtsmannes ein besonderer Tag, und obwohl es immer wieder Streitereien im Team gibt, sind sie auf die große Nacht gut vorbereitet - bis der Weihnachtsmann plötzlich verschwindet. Eine rasante Suche beginnt, und Tänzer, Sauser, Fuchs, Rudolf, Stolzer, Komet, Amor, Donner und Blitz werden nicht nur mit magischen Wesen und fiesen Gangstern konfrontiert, sondern entdecken auch, dass sie ihre eigenen Schwächen überwinden und als Team zusammenwachsen müssen, um Santa und Weihnachten zu retten.

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9 für

Santa Claus

 

 

 

 

von Iris Fitzner

 

 

 

 

 

Teil 1

 

 

 

Tänzers schwerer Atem ging im Rauschen des Windes unter, gegen den er sich stemmte, seine Augen waren verklebt vom Schnee, und nur noch mit Mühe konnte er das rote Leuchten an ihrer Spitze ausmachen, das ihm die Richtung wies. Die ledernen Riemen des Geschirrs zerrten an seinem Brustkorb, und mehr als einmal brachte ihn eine plötzliche Böe aus dem Tritt. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber der Wind blies seine Bemühungen fort wie die Schneeflocken, die ihn umwirbelten. Er keuchte, doch plötzlich spürte er Komets Gabe auf sich wirken, einen starken Schub, der ihm das Vertrauen zurückgab. Er war hier nicht allein, die anderen Rentiere würden ihn mit den Kräften unterstützen, die Santa ihnen verliehen hatte. Sie waren ein Team.

Er warf sich noch einmal mit seinem ganzen Gewicht nach vorn und hielt die Formation, griff kraftvoll aus und preschte wie von unsichtbaren Energien angetrieben durch den Sturm. Dankbar für Komets Beistand lenkte er seine eigene Kraft in Sausers Richtung, der mit tränenden Augen links von ihm dahinraste, zum allerersten Mal dem eisigen Wind in seiner ganzen urgewaltigen Stärke ausgesetzt. Sausers an Panik grenzendes Dahinhetzen gewann an Sicherheit, als Tänzers Energie zu ihm strömte, seine schlanken Beine bewegten sich koordinierter und die Gruppe legte an Geschwindigkeit zu. Tänzer hörte, wie Fuchs hinter ihm auflachte, und auch ihn begann die Euphorie der Fahrt zu ergreifen, als sie endlich ihren Rhythmus gefunden hatten und in vollkommener Einheit über den Himmel jagten. Sein Herz glühte wie das Licht, dem er folgte, und er spürte, wie die Wolken um sie herum sich verformten, einen Tunnel bildeten aus brodelndem Weiß, in dessen Mitte sie dahinrasten auf einer Straße aus purer, gleißender Hingabe. Ein belebendes Kribbeln durchfuhr ihn, wie jedes Mal, wenn der Pfad sich öffnete – die magische Brücke jenseits der sogenannten Realität, in der sich Inspiration und Tat in grenzenloser Klarheit zu einem Weg verbanden, der alle Hindernisse in Bedeutungslosigkeit versinken ließ. Er liebte dieses Gefühl!

Sie durchbrachen mit triumphierendem Jubeln die Wand des Windes, die sie nun nicht länger zurückhalten konnte, und glitten in einer sanften Kurve zurück zum Landeplatz neben der Hütte. Tänzer spürte Donners Warnung ein klein wenig zu spät und die Landung wurde etwas holperig, auf einem Dach hätten sie so vermutlich mehr als eine Lichterkette abgerissen, aber Tänzer war in Gedanken noch zu sehr bei dem Flug, um darauf zu achten. Rudolf jedoch drehte sich missbilligend um, als sie zum Stehen gekommen waren, und warf mit hochgezogener Augenbraue einen Blick in die Runde. Tänzer sah sich ebenfalls um, und sei es nur, um nicht als erster in den Fokus zu geraten. Sauser hatte die Augen geschlossen und schien sich nicht recht entscheiden zu können, ob er lieber über beide Ohren grinsen oder in Ohnmacht fallen sollte. Er entschied sich dafür, die anderen erschöpft, aber glücklich anzusehen, und streifte Tänzer mit einem stolzen Lächeln. Tänzer nickte ihm kurz zu und warf dann einen Blick hinter sich. Fuchs schüttelte gerade die restlichen Schneeflocken ab und sah natürlich wieder einmal hinreißend dabei aus, und Stolzer wirkte zwar ebenfalls wie gepudert, rührte aber keinen Muskel, sondern antwortete auf Sausers Grinsen nur mit einem abschätzigen Blick. Tänzer hoffte sehr, dass sich die Situation zwischen den beiden bald entspannen würde. Er wusste nicht, wie lange das Team diese unterschwellige Missgunst noch aushalten konnte.

Er wurde in seinem Rundblick unterbrochen, als Santa aus dem Schlitten kletterte und sich den Schnee abklopfte. Er sah natürlich kein bisschen müde aus, sondern nur wie immer freundlich und auch durchaus zufrieden mit der Fahrt. „So...“, begann Santa, während er sich so schräg vor sie stellte, dass ihn alle gut sehen konnten, „...das war schon sehr gut. Saubere Führung, Rudolf.“ Rudolf nickte, mehr brauchte es für ihn nicht. „Sauser, du hast dich wacker geschlagen, weiter so. Wir haben da ein ordentliches Tempo vorgelegt.“ Sauser richtete sich stolz auf. Er war immer noch einigermaßen aus der Puste, aber sein Gesicht strahlte vor Freude. „Die Landung kriegen wir nächstes mal noch eleganter hin, aber der Pfad war sehr schön, Tänzer.“ Tänzer fühlte sich durch die Kritik nicht angegriffen, die Landung war wirklich nicht optimal gewesen. Er war schon glücklich darüber, dass sie es beim ersten Versuch in den Pfad geschafft hatten. Das war zwar eine Gemeinschaftsleistung, aber Tänzers Gespür für das Schöne hatte auch in den anderen einen viel stärkeren Widerhall ausgelöst, als es der Anblick der magischen Brücke allein vermocht hätte. Aus diesem Moment würden sie viel für das weitere Training ziehen können. Santa fuhr derweil fort, jeden Einzelnen für seinen speziellen Einsatz zu loben und Kritikpunkte anzubringen. Sie kannten das bereits und alle hörten aufmerksam zu, bis er geendet hatte. Auch wenn manche sicher schon darauf brannten, die Geschirre abzuwerfen und sich über ihre eigenen Erkenntnisse auszutauschen, war es für alle am besten, wenn Santa ihnen seine Beobachtungen mitteilte. Er hatte schließlich am meisten Ahnung davon, und von seiner Erfahrung konnte das Team nur profitieren.

Jedes Jahr war die Trainingszeit eine Zeit der Entwicklung, und es gab immer etwas Neues zu lernen, das war einer von Santas Grundsätzen, die auch die Rentiere verinnerlicht hatten. Santa war schon länger für Weihnachten verantwortlich, als sich jedes Rentier erinnern konnte, wahrscheinlich schon länger, als man Weihnachten überhaupt als Weihnachten kannte. Und er machte seine Sache gut. Doch nicht nur zum Fest selbst galt es fleißig zu sein, das ganze Jahr über entwickelte Santa ihre Arbeit weiter, und er fand jedes Jahr etwas, das er noch verbessern konnte. Das galt natürlich auch für die Aufgaben der Rentiere. Immer zum ersten Advent überließ Santa die so gut wie abgeschlossene Spielzeugproduktion den Elfen und zog mit den Rentieren und der Hauselfe Mini in die halb magische, halb reale Hütte an der Bergstraße um. Die wilde Landschaft, die dennoch nicht allzu weit von der großen Stadt entfernt war, war die perfekte Umgebung, um sich weit südlich von ihrem Zuhause, dem Nordpol, an die neuen Winde und die Nähe der Menschen zu gewöhnen, ihre Flugtechniken durchzuarbeiten und als Gruppe zusammenzuwachsen. Dieses Jahr hatte Sausers Aufnahme einigen Wirbel verursacht, und sie mussten sich erst wieder aufeinander einstimmen. Aber wenn sie miteinander flogen, erweckte Santa alleine durch seine Anwesenheit und sein absolutes Vertrauen in ihre Fähigkeiten eine Klarheit in ihnen, die sie sämtliche Diskrepanzen vergessen ließ, und jeder gab sein Bestes, um seine Aufgabe zu erfüllen und seinen Teil beizutragen. Und sie konnten auf keinen verzichten, wenn der Flug in der großen Nacht ein Erfolg werden sollte. Sauser brachte die Geschwindigkeit, Tänzer die Präzision und Eleganz, Stolzer das Selbstbewusstsein, ohne dass man nicht fliegen kann, Fuchs die Leidenschaft, die sie abheben und durch die Wolken jagen ließ, Komet die Energie und den Schub, Amor den Zusammenhalt, Donner die Kraft und Blitz die Wendigkeit. Und Rudolf, das einsame Rentier, das immer wegen seiner leuchtenden Nase gehänselt worden war, bis Santa seine Qualitäten erkannte, war ihr Anführer.

Als Santa seine Ausführungen beendet hatte, kam Mini aus dem Haus mit einem Tablett auf dem Kopf, das mindestens doppelt so groß war wie sie, und auf dem elf Tassen heiße Schokolade standen, für jedes der neun Rentiere, Santa und sie selbst eine. Die rundliche Elfe platzierte das Tablett auf dem nächsten Baumstumpf und begann, die Heißgetränke an die Rentiere auszuteilen, die einer nach dem anderen ihre Gestalt wechselten, um die Tassen auch halten zu können. Denn auch wenn hier eine sehr rentierfreundliche Umgebung für sie aufgebaut worden war, Kakaotassen mit huftauglichen Henkeln mussten erst noch erfunden werden. Auch Tänzer begab sich in seine menschliche Form, nahm das Zuggeschirr ab und ließ sich dankbar von Mini eine der dampfenden Tassen reichen. Blitz hatte sich natürlich eine der ersten geholt und reichte gerade eine weitere an ihren Bruder Donner, der noch dabei war, sich ausgiebig zu strecken. Sauser hatte sich mit seinem Getränk auf den umgestürzten Baum neben der Hütte gesetzt, Amor saß mal wieder neben ihm und unterhielt sich mit ihm – wahrscheinlich über die Erfahrungen seines ersten Eisfluges. Rudolf stand mit Stolzer bei Santa und gestikulierte heftig, aber Santa drückte beiden erstmal eine Tasse in die Hand und winkte ihnen dann, sich mit ihm in die Hütte zu begeben. Tänzer nickte zufrieden. Wahrscheinlich sprachen sie über Stolzers Einstellung zu Sauser. Rudolf war bestimmt nicht zufrieden gewesen mit dem Teamgeist heute, auch wenn es am Ende gestimmt hatte. Gut, dass Santa sich der Sache annahm.

Komet saß neben Mini und beide tranken schweigend ihren Kakao. Tänzer fand es schön, dass sich die beiden so gut verstanden, obwohl Elfen und Rentiere sonst nicht so viel miteinander zu tun hatten. Tänzer selbst hatte nichts gegen diese kleinen Wesen, aber er brauchte den Wind im Fell und die Luft unter den Hufen. Wie sie immer nur im Haus zu sein wäre nichts für ihn. Komet aber war nicht nur einfach viel drinnen, er blieb auch meistens in seiner menschlichen Form und hatte sogar eine Brille. Tänzer hatte versucht zu verstehen, warum Komet nicht Santa bat, den Sehfehler zu korrigieren, aber es war ihm nicht gelungen. Allerdings war Komet auch regelrecht vernarrt in die Menschen und ihre Kinkerlitzchen. Wenn es nach ihm ginge, würde er wahrscheinlich das ganze Jahr unter ihnen verbringen. Warum also sollte er nicht auch wie sie eine Sehhilfe benutzen?

Fuchs setzte sich neben ihn. Er hatte sich absichtlich nicht nach ihr umgesehen, aber sein Herz machte einen kleinen Sprung, als sie bei ihm auftauchte. „Puh, ich bin froh, dass es doch noch geklappt hat. Ich dachte schon, wir kommen gar nicht mehr in die richtige Stimmung.“ Sie lachte ihr goldenes Lachen und warf ihre Menschenmähne zurück, die wie ein rubindurchwirktes Tuch durch die Luft flatterte. Tänzer hätte am liebsten seine Nase in diese Haare gesteckt. Menschenfell war ja sonst nicht so seins, aber bei Fuchs wirkte sowohl ihr langes Menschenhaar als auch das vergleichsweise kurze Rentierfell einfach wunderbar. Er nahm eine Hand von der Tasse und fuhr sich durch seine eigenen, nussbraunen Haare. Amor meinte zwar, er sehe für einen Menschen sehr gut aus, aber er mochte es lieber, als Rentier unterwegs zu sein. So hatte nun mal jeder seine Vorlieben. Fuchs stupste ihn an. „Was denkst du?“, fragte sie mit einem schelmischen Blitzen im Auge. Tänzer wurde sich bewusst, dass er wahrscheinlich auf ihren Kommentar von zuvor hätte antworten sollen, holte Luft und meinte stirnrunzelnd: „Dass ich mir wahrscheinlich zu viele Gedanken über Menschen mache.“ Fuchs lachte. Dann sagte sie mit einem genüsslichen Blick in ihre Tasse: „Ich mag Menschen. Sie haben die Schokolade erfunden.“ Tänzer schmunzelte. „Ich dachte, die Elfen hätten die Schokolade erfunden.“ Fuchs blickte ihn an, dann die Tasse, legte den Kopf schief und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Hm... das kann auch sein. Mini?!“, rief sie und sprang auf. Tänzer verfluchte sich innerlich dafür, die Frage aufgebracht zu haben. Das wäre die Gelegenheit gewesen, einfach ihre Anwesenheit zu genießen. Nun, es half ja nichts. Er seufzte und gesellte sich zu Fuchs, die bei Mini und Komet stand und sie offenbar gerade zur Erfindung der Schokolade befragte. Da war sie jedenfalls an der richtigen Adresse: wenn jemand über sowas Bescheid wusste, dann diese beiden.

Tänzer warf einen Blick zur Hütte. Er hätte gerne gewusst, was Santa mit Rudolf und Stolzer besprach, aber er würde es wohl auch so mitbekommen, spätestens wenn Amor ihre Antennen ausgefahren und alle Details herausgefunden hatte. Normalerweise war sie es, die den Teamzusammenhalt stärkte, aber da Sauser erst seit Kurzem dabei war, nahm sich Santa persönlich der Probleme an. „Hast du gehört, Tänzer?“, fragte Fuchs in seinen Gedankengang, und er warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie sagte nicht ‚dachte ich mir‘ aber es war deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen, und sie wiederholte die Information: „Die Menschen haben die Schokolade erfunden, aber die Elfen haben sie perfektioniert.“ „Na dann sind wir ja mal wieder schlauer geworden“, erwiderte Tänzer – wie es seine Art war, ohne Sarkasmus – und prostete Mini mit seiner Tasse zu.

 

Die Tür der Hütte wurde aufgestoßen und Rudolf stapfte mit wütenden Tritten heraus. „Ich hab euer Geplänkel satt!“, polterte er. Stolzer, dem der Ausbruch galt, marschierte mit kühlem Blick hinter ihm aus der Hütte. Er zog seinen wie immer längst tadellos sitzenden Anzug zurecht und erwiderte eisig: „Du kennst meine Antwort. Schmeiß ihn raus, und es ist alles bestens.“ Sauser, der noch immer neben Amor auf dem Baumstamm saß, zuckte zusammen. Einen Moment lang schien er nicht zu wissen, wohin mit seinen Händen, dann griff er nach Amors Arm und zog sie hoch. Mit lachender, ein wenig zu lauter Stimme begann er ein völlig neues Thema und spazierte mit ihr davon. Tänzer spürte, wie sein Gesicht einen besorgten Ausdruck annahm, ihm wurde es trotz der heißen Schokolade ungemütlich zumute. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er die Lage entschärfen konnte, während Rudolf sich mit verschränkten Armen vor Stolzer aufbaute. „Er bleibt. Santa hat ihn zu einem seiner Rentiere gemacht, also gehört er zu uns.“ Stolzers Kiefer mahlten, aber er wagte nicht, etwas dagegen einzuwenden. Für ihn – für sie alle, aber für ihn besonders – war Santas Wort Gesetz. Stolzers Familie war schon immer mit dem Weihnachtsmann geflogen, und Stolzer respektierte ihn wie kein zweiter. Was nichts daran änderte, dass er Sauser nicht leiden konnte. Eigentlich kein Wunder, schließlich war es für Stolzer die heilige Pflicht und seit jeher das Privileg der Rentiere gewesen, mit Santa zu fliegen. Und Sauser war nun mal ein Zebra.

Tänzer warf einen Blick auf die anderen. Komet und Mini ignorierten den Schlagabtausch gekonnt, während Fuchs das Ganze interessiert verfolgte und ab und zu an ihrer Tasse nippte. Blitz und Donner waren nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich waren sie längst wieder als Rentiere unterwegs und erschreckten Schneefüchse. Sie waren schon eine seltsame Truppe, aber es funktionierte. Santa wusste eben, was er tat. Wie sehr sie sich auch in der flauschigen Wolle hatten, er brachte sie wieder zusammen. Ohne ihn wären sie wahrscheinlich längst in alle Winde verstreut. Tänzer schüttelte den Gedanken ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Szene.

Einige Sekunden standen sich die beiden gegenüber, Rudolf sah Stolzer noch immer herausfordernd an, und schließlich senkte dieser den Blick. Für den Moment war klar, wer den Oberhuf hatte, aber die Flechte war noch nicht zu Ende gekaut, wie das Rentier sagt. Rudolf schnaubte und stapfte zu Tänzer und den anderen hinüber. „Möchtest du noch ein Tässchen Schokolade, mein Lieber?“, fragte Mini, und Rudolf blinzelte. „Nein, danke“, sagte er, gerade beherrscht genug, um Mini nicht anzufahren. Er war jetzt auf Konflikt gepolt, allein der Respekt der Elfe gegenüber verhinderte, dass er schroff wurde – und dass sie ihm wahrscheinlich die Hölle heiß gemacht und seine Mahlzeiten gestrichen hätte, aber das hätte er nie zugegeben. Tänzer versuchte, der Anspannung entgegenzuwirken, und setzte ein anerkennendes Lächeln auf. „Das war heute wirklich sehr gut geführt von dir. Wir werden sicher einen erfolgreichen Flug haben in der großen Nacht.“ Rudolf warf einen Seitenblick zu Stolzer, der sich gestrafft hatte und sich nun mit sichtlicher Mühe, die Türe nicht zuzuknallen, in die Hütte zurückzog. „Na hoffentlich“, grummelte er. Er stieß entnervt die Luft aus. „Ich bin nun wirklich der letzte, der Santas Entscheidungen in Frage stellt, ich habe ja am eigenen Leib erfahren, dass er das Potenzial eines Rentiers zu erkennen weiß – aber wenn er nun mal kein Rentier ist! Irgendwo versteh ich auch, dass Stolzer sich ärgert. Mit dem alten Sauser gab es solche Probleme nicht...“ Tänzer fand es schwierig, sich zu dem Thema zu äußern. Jedes Rentier musste früher oder später ersetzt werden, es war unumgänglich, dass die Truppe funktionierte, und obwohl die Magie ihnen ein längeres Leben verlieh, wurde es irgendwann Zeit, dass jemand Neues den Platz einnahm und den Namen wieder mit Kraft erfüllte. Rudolf wusste das, aber Tänzer glaubte nicht, dass er gerade daran dachte. Im Moment wollte er wahrscheinlich einfach seinem Unmut Ausdruck verleihen, wie unpassend es auch war. Tänzer hatte den alten Sauser zwar gekannt, er war neben ihm geflogen, aber fand nicht, dass man da einen Vergleich ziehen konnte. Sicher, der alte Sauser war Stolzer kein solcher Dorn im Auge gewesen, aber er hatte sich mehr als einmal seinen alten Rücken verrenkt, weil er das Fliegen nicht lassen wollte. Doch als dieses Zebra auf der Bildfläche erschien, von der langen Reise erschöpft und vor Kälte schlotternd, aber mit dem festen Entschluss, ein Rentier des Weihnachtsmannes zu werden, da hatte auch der alte Sauser Respekt gehabt. Einen Respekt, den er Stolzer nie entgegengebracht hatte, was diesen sicher umso schlimmer getroffen hatte. Tänzer bemerkte, dass er sich schon wieder in seinen Gedanken verlor, und hob an, sie möglichst diplomatisch zu formulieren, als Fuchs mit einem Lachen dazwischenfuhr: „Papperlapapp, der alte Sauser war mindestens genauso schwierig. Und du weißt bestimmt noch, wie er sich über dich lustig gemacht hat, bevor Santa entschieden hat, dich aufzunehmen.“ Rudolfs Gesicht zuckte. Er hatte es ganz sicher nicht vergessen. Fuchs fuhr ungeniert fort: „Es schmeckt dir bloß nicht, dass du dein Team nicht im Griff hast“, stichelte sie, und Tänzer hob beschwichtigend die Hände. „Stolzer wird Sauser in Ruhe lassen, dafür hat Rudolf doch gerade gesorgt. Und wenn es erst einmal Weihnachten ist, sind wir wieder so eingespielt wie sonst auch, und machen viele Kinder glücklich.“ Fuchs schmunzelte und verdrehte in gespielter Genervtheit die Augen. „Ach, die Bälger haben doch schon den ganzen Weihnachtsrummel, eigentlich ist es völlig übertrieben, dass wir uns auch noch für sie abrackern“, frotzelte sie. Rudolf warf ihr einen strafenden Blick zu, aber in seinen Augen blitzte es. Eigentlich war er selbst dieser Meinung. Doch es war ihre Bestimmung, den Weihnachtsmann bei seiner Aufgabe zu unterstützen, und welche Details ihnen auch immer missfallen mochten, diese Tatsache erfüllte jedes Rentier mit Stolz und Freude.

Rudolf stieß erneut die Luft aus und winkte ab. „Schluss für heute“, meinte er und rollte seine Schultern, dass es knackte. „Macht Feierabend, wir machen morgen mit dem Training weiter.“ Mini warf ihm einen Blick zu, der so viel sagte wie ‚pff, denkst du!‘, und schwebte in die Küche zurück. Sie nahm von einem Rentier keine Befehle entgegen, und ihr Pensum für heute war noch längst nicht erfüllt, zumindest behauptete sie das jedes Mal. Tänzer vermutete, dass sie es einfach liebte, für Santa und auch für die Rentiere zu kochen. Vielleicht gab es heute noch ein paar gebratene Flechten mit Rosmarin? Tänzer lief das Wasser im Mund zusammen. Fuchs murmelte ein kicherndes „Traumtänzer“, während sie an ihm vorbei auf die Hütte zurauschte. Er hatte nicht bemerkt, dass die anderen sich bereits zerstreut hatten. Einen Moment lang überlegte er, Fuchs nach drinnen zu folgen, aber sie würde sich wahrscheinlich vor den Fernseher setzen, den Komet für sie zurechtgebastelt hatte, und sich den Krimi reinziehen, von dem sie schon den halben Tag schwärmte. Tänzer verstand nicht, was so interessant daran war, den Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig umbrachten. Fuchs hatte ihm zwar schonmal erklärt, dass noch mehr dahinter steckte, aber als er einen Blick nach Westen warf, wo die Abendsonne sich ihren Weg unter den Wolken hindurchstrahlend Richtung Horizont bahnte, war ihm klar, was er heute wesentlich lieber tun würde, als Tote und die dazugehörigen Ermittler zu beobachten. Er ließ seine menschliche Gestalt fallen und trabte über den frischen Schnee.

 

•••

 

Feierabend. Tänzer lief leichthufig durch den lichten Wald, seine schlanken Läufe griffen weit aus und trugen ihn wie einen Vogel im Wind über die Hügel. Er spürte die Brise in seinem Fell und den Geruch des Neuschnees in seinen Nüstern, und nichts war zu hören außer seinem kraftvollen Atem und dem gedämpften Schlag seiner Schritte. Er genoss es, draußen zu sein – ein Rentier zu sein! – und lebte seine Natur ohne Bedenken aus. Die Sonne war trotz ihrer bereits merklichen winterlichen Blässe in einem furiosen Spektakel aus Farben hinter dem Horizont verschwunden, und nun brachte der Mond den weißen Boden zum Glitzern. Tänzer machte seinem Namen alle Ehre und sprang elegant über die makellosen Flächen, eine Spur wie aus einem Traum auf dem Boden hinterlassend. Nach einer Weile wurde er langsamer, lief genüsslich aus und hielt schließlich ganz an. Mit geschlossenen Augen sog er die klare Luft ein und fühlte das Leben durch jede Faser seines Körpers pulsieren. Er ließ seinen Blick nach oben schweifen, wo die Sterne sich zu zeigen begonnen hatten, und stellte sich vor, wie weit entfernt sie waren und wie wenig er von ihrer tatsächlichen Beschaffenheit erkennen konnte. Er fühlte sich klein, und das tat gut, weil sich alles um ihn herum relativierte, einen winzigen Platz einnahm im großen Ganzen. Sein Atem bildete weiße Wolken vor seinem Gesicht, und er beobachtete, wie sie sich wenige Augenblicke später auflösten. Wie ein Kalb, das etwas Neues zum Spielen gefunden hat, hauchte er in die kalte Luft, mal stärker, mal schwächer, nur um zu sehen, was passierte. Dann stieß er ein Lachen aus und jagte erneut los, raste über die schneebedeckten Wiesen, dass der Schnee nur so aufstiebte, und ließ sich im vollen Lauf in eine Schneewehe purzeln. Atemlos richtete er sich auf und schüttelte mit dem Schnee die Ausgelassenheit ab, sodass nur noch eine reine Klarheit blieb. Mit einem Lächeln trabte er weiter.

Da zog sich plötzlich über ihm etwas über den Himmel: ein Nordlicht. Tänzer hielt an und blickte verwirrt nach oben. Nicht dass es hier kein natürliches Nordlicht gegeben hätte, doch er kannte diese Form sich windender Farben. Bisher hatte er sie nur in den Notfalltrainings gesehen, die bisher immer angekündigt gewesen waren. Doch heute war nichts dergleichen geplant gewesen und dennoch zog sich die leuchtende Spur über den Himmel. Das konnte nur eins bedeuten: etwas war passiert. Etwas Schlimmes.

Tänzer machte unverzüglich kehrt und rannte zurück zur Hütte. Aus der Entfernung sah er Blitz und Donner den Hang herunterrasen. Für einen Moment war er sich sicher, dass Donner jeden Augenblick stolpern und seine massige Gestalt sich überschlagen würde, bis erst Blitz, dann die Hütte, und schließlich sie alle von einer Lawine aus Eis und Geröll verschluckt würden. Es geschah nicht, aber Tänzers Herz zog sich allein bei dem Gedanken fröstelnd zusammen. Er schüttelte das Bild ab und lief schneller. Atemlos erreichte er die Hütte, ließ seine Rentiergestalt fallen und stolperte als Mensch über die Türschwelle. Im Wohnraum der Hütte herrschte Chaos.

Blitz und Donner hatten sich Sauser geschnappt und bestürmten ihn mit Fragen, aber seinem Gesichtsausdruck nach war er viel zu durcheinander um zu antworten. Komet und Stolzer standen grübelnd und mit verschränkten Armen in einer Ecke. Es hätte lächerlich ausgesehen, wenn der Ernst in ihren Gesichtern nicht mit einem Erschrecken durchsetzt gewesen wäre, das den Raum in ein düsteres Licht zu tauchen schien. Rudolf ging im Zimmer auf und ab, während er wild gestikulierend auf Fuchs einredete, die energisch den Kopf schüttelte und in kaum freundlicherem Tonfall antwortete. Er konnte nicht einmal genau verstehen, was sie sagten, die Worte stürmten durch den Raum wie eine Herde Rentiere, in deren Mitte ein Schuss gefallen war. Dazwischen vernahm Tänzer die Stimme von Amor, die neben einem Stuhl kniete, auf dem eine vollkommen aufgelöste Mini saß. Normalerweise vermochte es Amor, dem Raum allein durch ihre Präsenz Ruhe und Fokus zu geben, eine unterstützende Atmosphäre zu schaffen, aber nun fügte sie nur ein weiteres Geräusch dem verwirrenden Tumult hinzu, der Tänzers Sinne gefangen hielt, während das Blut ihm in den Ohren rauschte und das sonst so behagliche Feuer des Kamins zuckende Schatten über die Wände warf.

Rudolf ließ seine Faust auf den Tisch krachen, dass alle Anwesenden zusammenzuckten. „Schluss jetzt, Ruhe sag ich!“, befahl er, und die Rentiere verstummten augenblicklich, nur Minis verhaltenes Schluchzen und ein tröstendes „Schhhh“ von Amor war zu hören. Alle Augen richteten sich auf Rudolf, der sich die wirren Haare zurückstrich und hörbar ausatmete. „Nochmal von vorne. Was. Ist. Passiert.“ Seine Augen schienen Mini zu durchbohren, aber Tänzer spürte, dass der Blick nicht ihr galt, sondern der Situation. Was war geschehen, dass Rudolf – sie alle – so außer sich waren?