99 Tabs offen: Vom Überlebenskampf zur Superkraft - Mein Weg mit ADHS
Timo Fuchs
Impressum © 2025 Timo Fuchs
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 99 Tabs offen: Vom Überlebenskampf zur Superkraft Mein Weg mit ADHSCopyright © 2025 Timo Fuchs c/o Impressumservice Dein-ImpressumStettiner Straße 41 | 35410 Hungen
[email protected]: Timo Fuchs ISNI: 0000-0005-2734-9330 ISBN Taschenbuch: 979-8-2860722-3-1ISBN Hardcover: 979-8-2861020-7-5 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Urhebers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert,
„When you grow up you tend to get told that the world is the way it is and your life is just to live your life inside the world. Try not to bash into the walls too much. Try to have a nice family life, have fun, save a little money. That's a very limited life. Life can be much broader once you discover one simple fact: Everything around you that you call life was made up by people that were no smarter than you. And you can change it, you can influence it, you can build your own things that other people can use. Once you learn that, you'll never be the same again.“
Steve Jobs | Co-Founder von Apple | (1955 – 2011)
Inhalt
Titelseite
Impressum
Epigraph
Über den Autor
Einleitung
Wichtiger Hinweis
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Teil II
Kapitel 3
Kapitel 4
Teil III
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil IV
Kapitel 7
Kapitel 8
Schluss
Recap
Nachwort
Danksagung
Literaturverzeichnis
Rezension
Kontakt
Das ADHS-Journal
Über den Autor
Timo Fuchs, geboren 1994 in Russland, fühlte sich
schon immer anders. Nach einer Ausbildung zum Restaurantfachmann und diversen beruflichen Stationen begann er mit 27 Jahren, sich mit dem Thema ADHS auseinanderzusetzen. Die Diagnose mit 30 Jahren brachte Klarheit. Da er selbst mühsam Strategien zuammentragen musste, schrieb er „99 Tabs offen: Vom Überlebenskampf zur Superkraft – Mein Weg mit ADHS“ – den Ratgeber, den er sich gewünscht hätte.
Einleitung
Wie ich versehentlich die Bedienungsanleitung für mein Gehirn fand
„Er ist verdammt intelligent, nur leider auch stinkend faul!“
Vermutlich gab es während meiner gesamten Schulzeit keine Aussage, die in meinen Beurteilungen öfter vorkam als diese. Auch außerhalb der Schule hieß es immer, ich sei einfach faul und würde mich vor unangenehmen Aufgaben drücken. Ich könnte ja alles sehr schnell und effektiv, wenn ich nur wollte.Jeder Erwachsene mit ADHS kann sich an dieses Gefühl erinnern: Man wird als „stinkend faul" bezeichnet, während das eigene Gehirn es einem nahezu unmöglich macht, bestimmte Aufgaben zu erledigen. Fragezeichen bilden sich im Kopf, und man hinterfragt sich bei jeder Kleinigkeit: Ist das wirklich Faulheit? Wieso kann ich es nicht einfach abstellen? Und wenn ich so faul bin – wieso kann ich ein Thema, für das andere Wochen brauchen, in einer Nacht vollständig erlernen? Wieso werde ich über Nacht zum Profi in Kameratechnik, schaffe es aber nicht, mein Zimmer aufzuräumen, weil sich allein bei dem Gedanken eine Blockade in meinem Kopf errichtet?
Was stimmt nicht mit mir?
Solche Gedanken und Aussagen sind weder förderlich noch gut für das Selbstwertgefühl. Man wächst konstant mit dem Gefühl auf, dass etwas nicht stimmt und alle anderen eine Lebensanleitung per E-Mail bekommen haben – man selbst aber versehentlich nicht im Verteiler war.So vergingen 27 Jahre meines Lebens voller Selbstzweifel und Versuche, mein Leben zu leben wie jeder andere auch. Schließlich können's die anderen ja auch, oder? Bis ich durch Zufall auf die Auflösung des Rätsels stieß.
Der Wendepunkt
Vor einigen Jahren lernte ich meine beste Freundin kennen, die einen wundervollen Sohn hat. Obwohl ich früher nie ein Fan von Kindern war, verstanden wir uns schnell sehr gut, und ich schloss ihn in mein Herz. Bei ihm wurde ziemlich frühzeitig ADHS diagnostiziert. Als guter Freund setzte ich mich natürlich intensiv mit der Thematik auseinander.Während meiner Recherchen erkannte ich mein jüngeres Ich in nahezu allen „Symptomen" wieder. Als ich erfuhr, dass die meisten Menschen mit ADHS auch als Erwachsene noch damit zu kämpfen haben, wurde ich umso neugieriger.Die ersten Artikel und Berichte zu ADHS bei Erwachsenen wollte ich noch nicht auf mich beziehen. Schließlich wissen wir alle, dass Dr. Google nie eine gute Idee ist – man schreibt sich schnell Symptome zu, die gar nicht da sind und aus einem leichten Halskratzen wird schnell selbst diagnostizierter Krebs – und das will man ja schließlich nicht. Je mehr seriöse Quellen ich jedoch durchforstete, desto sicherer wurde ich: Ich habe sehr wahscheinlich ADHS. Und so begann meine langwierige Reise zur lebensverändernden Diagnose. An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen: ADHS ist eine sehr komplexe Diagnose, die besonders bei Erwachsenen nicht leichtfertig gestellt werden kann. Es gehört eine umfassende Anamnese dazu, die von Spezialisten durchgeführt werden sollte. Dennoch kann man sich an den Symptomatiken und Erfahrungsberichten anderer orientieren und sich ein Urteil bilden, ob es auf einen selbst zutreffen könnte.
Warum dieses Buch?
Dieses Buch stellt keineswegs eine Diagnose dar oder soll einen Therapeuten ersetzen. Mein Ziel ist es, dir auf eine einfache und greifbare Art zu erklären:
▪ Wie ADHS funktioniert▪ Wie du es als deine persönliche Superkraft nutzt▪ Wie du die Schwächen ausgleichst, die es mit sich bringt▪ Wie du dein Umfeld dafür sensibilisierst▪ Wie du ein erfülltes Leben führen kannst, ohne dich ständig zu fragen, was mit dir nicht stimmt
Warum noch ein Buch über ADHS? Weil die meisten Ratgeber sich auf ADHS im Kindesalter beziehen – aber was, wenn man es erst im Erwachsenen-Alter merkt?
Ein weiterer Grund ist, dass ich mir selbst so ein Buch gewünscht hätte. Eines, das nicht klingt, als wäre es von einem Professor für Neuro-Gedöns geschrieben, der noch nie im echten Leben versucht hat, mit einem ADHS-Gehirn pünktlich zu sein oder eine Steuererklärung abzugeben. Oder noch schlimmer: ADHS als Störung und Krankheit darstellt anstatt als das, was es wirklich ist – eine NeuroDIVERGENZ. Ich mag das Wort Divergenz in diesem Zusammenhang sehr, da es ADHS (und auch Autismus) als das betitelt, was es eben ist: eine Andersartigkeit. Aber nur weil etwas anders ist, ist es nicht gleichzeitig schlechter oder besser als die Norm – es ist einfach…anders.Deshalb wollte ich ein Buch, das Klartext redet, das die Dinge beim Namen nennt – die unschönen genauso wie die tollen, das Mut macht und zeigt: Hey, du bist nicht allein, und dein Gehirn ist kein Fehler, sondern vielleicht einfach nur ein etwas exzentrisches, aber oft auch geniales Betriebssystem. Eins, das Potenzial hat, die Welt auf eine Art zu verändern, wie es sonst keiner kann!
Was dich in diesem Buch erwartet:
Dieses Buch ist eine Art Roadtrip durch die wunderbar chaotische Welt von ADHS im Erwachsenenalter. Du bekommst ehrliche Einblicke, brauchbare Tipps und hoffentlich ein paar Lacher.So, und jetzt genug der Vorrede! Schnall dich an, halt dich fest (oder auch nicht, wir sind da ja flexibel) – unsere gemeinsame Reise beginnt genau JETZT! Es wird turbulent, es wird ehrlich, es wird vielleicht auch mal emotional, aber ich verspreche dir: Es wird sich lohnen. Denn am Ende dieser Reise wartet nicht nur ein besseres Verständnis für dein ADHS, sondern vor allem ein besseres Verständnis für dich selbst. Und das ist unbezahlbar!
Wichtiger Hinweis
Ich bin kein Arzt, kein Therapeut und auch kein allwissender ADHS-Guru. Ich bin einfach nur jemand, der 27 Jahre lang versucht hat, die Bedienungsanleitung für sein eigenes Gehirn zu finden und dabei einige interessante Entdeckungen gemacht hat. Dieses Buch basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen, intensiven Recherchen und dem Austausch mit vielen anderen wunderbaren ADHS-Köpfen. Es soll dir Inspiration, Verständnis und praktische Anregungen geben. Es ersetzt aber auf keinen Fall eine professionelle Diagnose oder Behandlung durch Fachleute. Wenn du den Verdacht hast, ADHS zu haben, oder wenn du unter starken psychischen Belastungen leidest, suche dir bitte unbedingt professionelle Hilfe! (Mehr dazu auch in Kapitel 8).
Teil I
Das GedankenkarussellADHS endlich kapieren
Herzlichen Glückwunsch! Dass du dieses Buch in den Händen hältst bedeutet, du hast bereits einen riesigen Schritt gemacht. Einen Schritt weg von der Verwirrung, den Selbstzweifeln und dem Gefühl, ständig gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Du bist bereit, dich dem „Rätsel“ in deinem Kopf zu stellen, dieser permanenten Flut an Gedanken, Ideen, Impulsen und dem tiefsitzenden Gefühl, irgendwie anders zu ticken als die meisten Menschen um dich herum. Vielleicht hast du, so wie ich, jahrelang gehört, du seist „verdammt intelligent, aber leider auch stinkend faul“, oder du würdest dich „einfach nur vor unangenehmen Aufgaben drücken wollen“. Vielleicht kennst du das zermürbende Gefühl, dass dein Gehirn dir bei manchen Dingen schlichtweg einen Strich durch die Rechnung macht, egal wie sehr du dich anstrengst, egal wie oft du dir vornimmst, es „diesmal aber wirklich“ anders zu machen.Dieser erste Teil des Buches ist dazu da, Licht ins Dunkel zu bringen, die Nebelschwaden zu lichten, die sich oft um das Thema ADHS im Erwachsenenalter ranken. Wir werden gemeinsam verstehen, was es wirklich bedeutet, als Erwachsener mit dieser besonderen neurologischen Ausstattung zu leben – jenseits von Zappelphilipp-Klischees, veralteten Vorstellungen und gut gemeinten, aber oft wenig hilfreichen Ratschlägen. Es geht darum, endlich die Sprache deines Gehirns zu lernen, seine einzigartigen Eigenheiten und Bedürfnisse zu verstehen und die Grundlage dafür zu schaffen, nicht mehr gegen dich selbst zu kämpfen, sondern mit dir und deinem Gehirn im Team zu arbeiten. Denn eines kann ich dir versprechen: Dein Gehirn ist kein Fehler im System. Es ist vielleicht ein bisschen exzentrisch, ein bisschen lauter, ein bisschen sprunghafter als andere, aber es hat auch das Potenzial, absolut genial, kreativ und unglaublich leistungsfähig zu sein – wenn es die richtigen Bedingungen und das richtige Verständnis bekommt.Bist du bereit, ein paar große „Aha!“ -Momente zu erleben? Dann lass uns starten!
Kapitel 1
„Aha, das bin also ich!“ ADHS im Erwachsenenalter entmystifiziert
Dieser Moment, in dem du zum ersten Mal bewusst mit der Thematik ADHS bei Erwachsenen konfrontiert wirst und plötzlich unzählige Puzzleteile deines gesamten bisherigen Lebens anfangen, wie von Zauberhand Sinn zu ergeben – er ist unbeschreiblich und oft lebensverändernd. Es ist häufig eine Achterbahn der Gefühle: ein tiefer Schock der Erkenntnis, eine immense Erleichterung, weil das jahrelange Rätselraten und Hinterfragen „Wieso kriegen die Anderen das so einfach hin?” einen Namen bekommt, vielleicht auch eine aufkeimende Wut oder Trauer darüber, es nicht früher erkannt zu haben oder nicht verstanden worden zu sein. So ging es mir zumindest, als ich durch den Sohn meiner besten Freundin auf das Thema stieß und mich in fast allen beschriebenen „Symptomen“ mit einer fast schmerzhaften Deutlichkeit wiedererkannte. Es war, als hätte jemand heimlich mein Leben beobachtet und protokolliert.Aber was genau verbirgt sich hinter diesen vier Buchstaben – A-D-H-S – wenn wir das Kindesalter, die Schulzeit und vielleicht sogar schon die ersten Berufsjahre hinter uns gelassen haben? Wie zeigt sich dieses „Anderssein“ im komplexen Alltag eines Erwachsenen?
Die Symptome jenseits der Klischees
Wenn die meisten Menschen an ADHS denken, haben sie oft das Bild eines kleinen Jungen vor Augen, der nicht stillsitzen kann, ständig den Unterricht stört und seine Hausaufgaben vergisst. Oft weniger liebevoll als „Zappel-Philipp“ betitelt. Dieses Bild ist nicht nur stark vereinfacht und veraltet, sondern blendet auch komplett aus, wie sich ADHS bei Erwachsenen und insbesondere auch bei Mädchen und Frauen äußert – nämlich oft viel subtiler, nach innen gerichtet, aber nicht weniger herausfordernd und leidvoll. Die äußere, sichtbare Hyperaktivität weicht oft einer quälenden inneren Unruhe, die Konzentrationsprobleme werden durch komplexe Vermeidungsstrategien kaschiert, und die Impulsivität zeigt sich vielleicht weniger in körperlichen Ausbrüchen als in unüberlegten Entscheidungen oder verbalen Entgleisungen.Schauen wir uns die Kernbereiche einmal genauer an, aber in der „Erwachsenen-Version“, mit all ihren Facetten und Fallstricken:Unaufmerksamkeit – Der „Professor Tappsig“ -Modus oder das Gefühl, ständig Watte im Kopf zu haben: Es ist nicht so, dass du dich nicht konzentrieren willst. Oft versuchst du es verzweifelt, aber deine Gedanken scheinen ein Eigenleben zu führen, wie ein Rudel wilder Affen, die von Ast zu Ast springen. Du beginnst tausend Dinge mit anfänglicher Begeisterung, aber kaum etwas wird wirklich fertig. Dein Schreibtisch, deine Wohnung, vielleicht sogar dein digitaler Desktop sind ein Friedhof begonnener Projekte und guter Vorsätze (was übrigens auch der Grund ist, warum dieses Buch halb angefangen ewig in meiner Cloud gammelte). Du verlierst ständig Dinge des täglichen Bedarfs: Schlüssel, Handy, Geldbörse – manchmal sogar den Faden mitten im Satz oder den Grund, warum du gerade in einen anderen Raum gegangen bist oder den Drogerie-Markt betreten hast. Lange Meetings, Vorträge oder auch private Gespräche, die dich nicht zu 100 % fesseln, werden zur mentalen Qual. Deine Gedanken driften unaufhaltsam ab, obwohl du dich krampfhaft bemühst, bei der Sache zu bleiben, nickst und versuchst, interessiert zu wirken. Du machst ärgerliche Flüchtigkeitsfehler bei Aufgaben, die du eigentlich beherrschst, einfach weil deine Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment „Pause“ gemacht hat oder du Details übersehen hast. Das Lesen von Anleitungen, Verträgen oder längeren Texten ist oft ein Graus; du überfliegst sie, erfasst nur Bruchstücke und versuchst es lieber direkt nach dem Prinzip „Trial and Error“ – was oft zu Frustration, Fehlern und unnötigem Zeitaufwand und manchmal auch Kosten führt. Du hörst deinem Gegenüber scheinbar aufmerksam zu, nickst zustimmend, aber plötzlich merkst du mit Schrecken, dass du die letzten fünf Sätze überhaupt nicht mitbekommen hast. Peinlich und oft auch verletzend für dein Gegenüber. Und dann ist da noch die notorische Vergesslichkeit: Du vergisst Termine, Geburtstage, Rückrufe oder wichtige Zusagen, obwohl du es dir fest vorgenommen und vielleicht sogar mehrfach notiert hattest. Das führt zu Schuldgefühlen und dem Eindruck, unzuverlässig zu sein.Hyperaktivität – Der innere Motor, der niemals stillsteht, oder die Unfähigkeit, einfach mal „nichts“ zu tun: Das klassische Zappeln und Herumrennen, das man von Kindern mit ADHS kennt, kann bei Erwachsenen oft einer ständigen, quälenden inneren Unruhe und Getriebenheit weichen. Du fühlst dich, als stündest du permanent unter Strom, als müsstest du ständig etwas tun, etwas erledigen, etwas Neues anfangen. Langes Stillsitzen, zum Beispiel bei Vorträgen, in Meetings oder auch nur beim Essen mit Freunden, fühlt sich an wie Folter. Du wippst unbewusst mit dem Fuß, trommelst mit den Fingern, spielst mit einem Stift, räusperst dich ständig oder musst einfach aufstehen und dich bewegen. Du redest oft viel und schnell, manchmal ohne Punkt und Komma, springst von einem Thema zum nächsten und unterbrichst andere, ohne es böse zu meinen – die Gedanken sind einfach schneller als die soziale Etikette. Entspannen? Ein Fremdwort oder zumindest eine riesige Herausforderung! Selbst im Urlaub, am Strand oder beim Meditieren hast du das Gefühl, etwas Produktives tun zu müssen, oder dein Kopf rattert unaufhörlich weiter. Du hast oft viele verschiedene Hobbys und Interessen, stürzt dich mit Feuereifer in neue Projekte, verlierst aber schnell wieder das Interesse, sobald die erste Begeisterung nachlässt und Routine einkehrt. Das Ergebnis sind oft viele angefangene Projekte und ein Gefühl der Unstetigkeit.Impulsivität – Erst handeln, dann (manchmal) denken, oder der ständige Kampf gegen den inneren Schnellschuss-Revolverhelden: Deine Reaktionen kommen oft wie aus der Pistole geschossen. Du platzt mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt wurde, oder mit Kommentaren, die du im nächsten Moment schon bereust. Du triffst vorschnelle Entscheidungen, die weitreichende Konsequenzen haben können – sei es ein unüberlegter Spontankauf, eine impulsive Jobkündigung im Affekt oder das Eingehen einer Beziehung, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. Geduld ist definitiv nicht deine Stärke. Warten in der Schlange im Supermarkt, im Stau auf der Autobahn oder auf wichtige Ergebnisse treibt dich schier in den Wahnsinn und kann zu innerer Anspannung oder sogar Wut führen. Du unterbrichst andere häufig in Gesprächen oder drängst dich in Aktivitäten oder Spiele, weil du es kaum erwarten kannst, teilzunehmen oder deine Meinung kundzutun. Deine Stimmung kann extrem schnell wechseln, oft ausgelöst durch scheinbare Kleinigkeiten, die andere kaum wahrnehmen würden. Du gibst vielleicht zu viel Geld aus, weil der kurzfristige Reiz des Kaufens stärker ist als die langfristige Vernunft, isst ungesund aus einem plötzlichen Heißhungeranfall heraus oder gehst andere Risiken ein (im Straßenverkehr, bei Sportarten, im sozialen Umgang), weil der Impuls in diesem Moment stärker ist als die Fähigkeit, die Konsequenzen abzuwägen.Findest du dich in einigen dieser Beschreibungen wieder? Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht jeder mit ADHS alle Symptome im gleichen Ausmaß oder in der gleichen Kombination zeigt. ADHS ist ein Spektrum, und die Ausprägungen sind so individuell wie die Menschen selbst. Bei vielen Frauen äußert sich ADHS beispielsweise stärker durch Unaufmerksamkeit, Träumerei und eine tiefgreifende innere Zerrissenheit und Erschöpfung als durch nach außen sichtbare Hyperaktivität oder störende Impulsivität. Sie leiden oft im Stillen und werden fälschlicherweise als depressiv, ängstlich oder einfach nur „schusselig“ diagnostiziert.Hinzu kommt – besonders bei Erwachsenen – dass wir es uns aufgrund von negativen Erfahrungen in der Vergangenheit antrainieren, gewisse Aspekte zu kompensieren. So habe ich es mir angewöhnt, beim Verlassen der Wohnung meine Taschen mehrfach zu kontrollieren, bevor ich die Wohnungstür schließe. Impulskäufe werden nur über Shops getätigt, die sehr kulante und unkomplizierte Rückgaberichtlinien haben. Und es kommen immer weitere Methoden hinzu.
DIE DREI GESICHTER DES ADHS EINE BESONDERHEIT, DREI ERSCHEINUNGSBILDER
Um die Vielfalt von ADHS noch besser zu verstehen und dich vielleicht selbst klarer wiederzuerkennen, ist es hilfreich zu wissen, dass die Wissenschaft offiziell drei verschiedene Erscheinungsformen oder „Typen“ unterscheidet. Vielleicht wurde bei dir sogar einer dieser Typen diagnostiziert. Das Wissen darüber kann ein weiterer, befreiender „Aha!“-Moment sein, weil es die eigene Wahrnehmung bestätigt: Dein persönliches Erleben ist eine anerkannte Facette von ADHS – auch wenn sie nicht dem Klischee des lauten, zappeligen Jungen entspricht.Der vorwiegend unaufmerksame Typ (der „innere Chaot“)Hier steht die Unaufmerksamkeit im Vordergrund. Menschen dieses Typs wirken oft verträumt, geistesabwesend und haben massive Schwierigkeiten mit Organisation, Planung und dem Abschließen von Aufgaben. Das Chaos findet primär im Kopf und in der unmittelbaren Umgebung statt. Sie verlieren ständig Dinge, vergessen Termine, können Gesprächen nur schwer folgen und prokrastinieren bei Aufgaben, die mentale Anstrengung erfordern. Da die klassische, nach außen sichtbare Hyperaktivität fehlt, wird dieser Typ – egal bei welchem Geschlecht – oft übersehen, fehldiagnostiziert oder fälschlicherweise als Faulheit oder Desinteresse abgetan.Der vorwiegend hyperaktiv-impulsive Typ (der „innere Motor“)Bei diesem Typ dominieren die Hyperaktivität und die Impulsivität. Im Erwachsenenalter äußert sich die Hyperaktivität seltener durch ständiges Herumrennen, sondern vielmehr durch eine quälende innere Unruhe, Nervosität und das Gefühl, permanent „unter Strom“ zu stehen. Betroffene wippen mit den Füßen, trommeln mit den Fingern, reden oft schnell und viel und können nur schwer entspannen. Die Impulsivität zeigt sich in unüberlegten Entscheidungen, voreiligen Kommentaren und einer geringen Frustrationstoleranz.Der kombinierte Typ (der „Mischtyp“)Dies ist die häufigste Erscheinungsform bei Erwachsenen. Hier sind Merkmale aus beiden Bereichen – Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität – deutlich und in relevantem Ausmaß vorhanden. Das Leben mit diesem Typ kann sich besonders facettenreich und widersprüchlich anfühlen: Phasen intensiver Konzentration im Hyperfokus können sich mit Momenten totaler Zerstreutheit abwechseln, während eine tiefe innere Unruhe das Organisieren des Alltags zur ständigen Herausforderung macht.Egal, welcher Typ auf dich zutrifft – die zugrundeliegende Neurobiologie ist ähnlich. Das Verständnis deines persönlichen „Mixes“ ist der erste Schritt, um gezielte Strategien für dich zu entwickeln.
Dein Gehirn unter der Lupe: Dopamin, exekutive Funktionen und die besondere Reizverarbeitung bei ADHS.
Okay, jetzt wird es einen Hauch wissenschaftlich, aber keine Sorge, ich erkläre es so, dass wir alle mitkommen – ohne unverständliches „Neuro-Gedöns“. Stell dir vor, dein Gehirn hat ein etwas anderes Betriebssystem als das der meisten Menschen, mit eigenen Regeln, eigenen Vorlieben und eigenen Herausforderungen.Dopamin – Das „Haben-wollen-und-gut-fühlen“ -Molekül und dein ständiger Treibstoffmangel: Einer der Hauptdarsteller im ADHS-Gehirn ist der Neurotransmitter Dopamin. Dopamin spielt eine absolut Schlüsselrolle bei Motivation, Belohnungserleben, Aufmerksamkeit, Lernfähigkeit und der Regulation von Stimmung und Bewegung. Bei Menschen mit ADHS scheint dieses komplexe Dopamin-System etwas anders zu funktionieren als bei neurotypischen Menschen. Vereinfacht gesagt: Entweder wird von Natur aus zu wenig Dopamin produziert, es wird zu schnell wieder von den Nervenzellen aufgenommen und steht somit nicht lange genug zur Verfügung, oder die Rezeptoren, die das Dopamin an den Zielzellen empfangen sollen, sind nicht so zahlreich oder nicht so empfänglich. Das Ergebnis? Dein Gehirn ist ständig auf der Suche nach dem nächsten „Dopamin-Kick“, nach etwas, das interessant, neuartig, aufregend oder unmittelbar belohnend genug ist, um den Dopaminspiegel zu steigern und ein Gefühl der Befriedigung oder zumindest der Normalität zu erzeugen. Das erklärt, warum du für ein Thema, das dich brennend interessiert oder eine Tätigkeit, die dir Spaß macht, Nächte durchmachen und absolute Höchstleistungen erbringen kannst (Hallo Hyperfokus!), während alltägliche, als langweilig, repetitiv oder wenig stimulierend empfundene Aufgaben (Hallo, Steuererklärung, Haushalt oder das Ausfüllen von Anträgen!) sich anfühlen, als müsstest du einen riesigen, 90° steilen Berg erklimmen – es fehlt schlicht der innere Antrieb, der „Treibstoff“ Dopamin. Diese Aufgaben fühlen sich nicht nur mental anstrengend an, sondern oft auch körperlich unangenehm oder sogar schmerzhaft.Exekutive Funktionen – Der oft überforderte oder abgelenkte Manager in deinem Gehirn: Die exekutiven Funktionen sind quasi das hochentwickelte Management-Team deines Gehirns. Sie sitzen hauptsächlich im Stirnlappen (für die Nerds unter uns: „präfrontaler Kortex“) und sind für eine ganze Reihe von überlebenswichtigen kognitiven Prozessen zuständig. Dazu gehören vor allem die Fähigkeit zur Planung und Organisation von Handlungen, das Setzen von Prioritäten und das Treffen von Entscheidungen. Ebenso wichtig sind die Impulskontrolle, also die Fähigkeit, vorschnelle Reaktionen zu unterdrücken, und das Arbeitsgedächtnis, das es uns erlaubt, Informationen kurzfristig zu behalten und mental zu verarbeiten. Auch die Selbstmotivation, also die Fähigkeit, sich auch für nicht unmittelbar belohnende Aufgaben zu motivieren, und die emotionale Regulation, also der angemessene Umgang mit eigenen Gefühlen, sind wichtige exekutive Funktionen. Bei ADHS sind diese so wichtigen Management-Funktionen oft in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigt. Es ist nicht so, dass du nicht willst, sondern dass das „Wie“ – also die Planung, Initiierung, Durchführung und Kontrolle von Handlungen – eine ungleich größere Hürde darstellt. Du hast vielleicht geniale Ideen, aber die Umsetzung in konkrete, aufeinanderfolgende Schritte fällt dir unsagbar schwer. Dein innerer Manager ist vielleicht gerade im Kaffeepäuschen, von den vielen Reizen abgelenkt oder schlichtweg überfordert, wenn du ihn am dringendsten bräuchtest, um komplexe Aufgaben zu strukturieren oder dich vor impulsiven Fehlentscheidungen zu bewahren.Reizverarbeitung – Wenn der innere Filter fehlt oder ständig auf „Durchzug“ steht: Stell dir vor, dein Gehirn hat einen sehr feinen und normalerweise gut funktionierenden Reizfilter, der permanent Wichtiges von Unwichtigem trennt und unwesentliche Informationen ausblendet, damit du dich auf das Wesentliche konzentrieren kannst. Bei vielen Menschen mit ADHS ist dieser Filter entweder von Natur aus sehr durchlässig, arbeitet nicht zuverlässig oder ist situativ überlastet. Das bedeutet, du nimmst viel mehr Reize aus deiner Umgebung gleichzeitig und oft auch viel intensiver wahr – Geräusche, Gerüche, visuelle Eindrücke, Bewegungen, aber auch deine eigenen, inneren Gedanken und Körperempfindungen. Alles scheint gleich wichtig zu sein und um deine Aufmerksamkeit zu buhlen. Das kann unglaublich anstrengend sein und erklärt, warum du dich oft leicht ablenken lässt, dich in lauten, wuseligen Umgebungen (wie Großraumbüros, Einkaufszentren oder auf Partys) schnell überfordert, gestresst oder sogar panisch fühlst. Dein Gehirn versucht, diese Flut an Informationen zu verarbeiten, und das kostet enorm viel mentale Energie, was oft zu schneller Erschöpfung und dem Bedürfnis nach Rückzug führt. Manche ADHSler entwickeln auch spezifische sensorische Sensibilitäten, reagieren also überempfindlich auf bestimmte Geräusche, Lichtverhältnisse, Gerüche oder Berührungen.Es ist also keine Frage von Faulheit, mangelnder Intelligenz oder schlechtem Charakter, sondern eine Frage der Neurobiologie. Dein Gehirn ist einfach anders verdrahtet, es hat andere Stärken und andere Schwachstellen. Und das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach wie es ist. Der Schlüssel liegt darin, diese Andersartigkeit zu verstehen, anzunehmen und zu lernen, damit bestmöglich umzugehen – und die oft übersehenen Vorteile dieser besonderen Verdrahtung zu entdecken und zu nutzen, während du lernst, die Nachteile bestmöglich auszugleichen.Bevor wir uns weiter mit den verschiedenen Aspekten von ADHS beschäftigen, möchte ich an dieser Stelle erstmal mit den gängigsten Klischees und „Meinungen“ über unser divergentes Gehirn aufräumen.
Myth-Buster: Die häufigsten Irrtümer und Selbstvorwürfe
Über ADHS kursieren unzählige Mythen, Halbwahrheiten und Vorurteile, die nicht nur falsch sind, sondern auch unglaublich verletzend sein können und zu massiven Selbstzweifeln, Schamgefühlen und einer tiefen Verunsicherung führen. Zeit, ein für alle Mal mit diesen alten Kamellen aufzuräumen und ihnen Fakten entgegenzusetzen!Mythos 1: „ADHS ist eine reine Kinderkrankheit und wächst sich aus.“ Fakt: Das ist einer der hartnäckigsten Mythen, die auch schädlich sein können. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen eindeutig, dass bei einem Großteil der Betroffenen (Schätzungen gehen von ca. 50-65 %, manche Studien sogar von mehr) die Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Sie können sich zwar in ihrer Ausprägung und Erscheinungsform verändern – die offensichtliche motorische Hyperaktivität kann beispielsweise abnehmen und sich in eine quälende innere Unruhe, ständige Anspannung oder einen unstillbaren Rededrang verwandeln – aber die zugrundeliegenden neurobiologischen Unterschiede bleiben bestehen und beeinflussen weiterhin den Alltag, die Beziehungen und die berufliche Leistungsfähigkeit.Mythos 2: „ADHS ist nur eine Ausrede für Faulheit, mangelnde Disziplin und schlechtes Benehmen.“ Fakt: Wie wir gerade ausführlich besprochen haben, hat ADHS handfeste neurobiologische Ursachen, die vor allem das Dopamin-System und die exekutiven Funktionen betreffen. Es ist keine frei gewählte Charakterschwäche oder ein Mangel an Willenskraft. Im Gegenteil: Menschen mit ADHS müssen sich oft um ein Vielfaches mehr anstrengen und viel mehr Energie aufwenden, um alltägliche Dinge zu erledigen, die anderen neurotypischen Menschen leichtfallen. Wenn sie dann trotzdem scheitern, Aufgaben nicht erledigen oder sich „unangemessen“ verhalten, ist das sehr selten böser Wille oder Faulheit, sondern oft eine direkte Folge ihrer neurologischen Verfassung und der damit verbundenen Herausforderungen.Mythos 3: „Jeder hat heute ein bisschen ADHS, das ist doch ganz normal in unserer hektischen Zeit.“ Fakt: Es stimmt, dass viele Menschen in unserer modernen, schnelllebigen und reizüberfluteten Welt gelegentlich unter Stress, Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten oder innerer Unruhe leiden. Bei ADHS handelt es sich jedoch um eine tiefgreifende, oft genetisch mit-bedingte neurologische Entwicklungsanomalie, die die exekutiven Funktionen und die Selbstregulation erheblich und vor allem dauerhaft beeinträchtigt – und das meist schon seit der Kindheit. Die Symptome sind in ihrer Intensität, Häufigkeit und ihrem Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche nicht mit gelegentlicher Zerstreutheit oder Alltagsstress zu vergleichen. Für eine ADHS-Diagnose müssen klare Kriterien erfüllt sein, die eine deutliche Beeinträchtigung im Alltag belegen.Mythos 4: „Menschen mit ADHS können sich überhaupt nicht konzentrieren.“ Fakt: Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Menschen mit ADHS können sich sehr wohl konzentrieren – sogar extrem gut und ausdauernd! – wenn sie ein Thema brennend interessiert, eine Aufgabe sie fasziniert oder sie unter einem gewissen (positiven) Druck stehen (Stichwort: Hyperfokus). Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, die Aufmerksamkeit bewusst zu steuern, sie gezielt auf Dinge zu lenken, die als weniger stimulierend oder als langweilig empfunden werden, und sie trotz Ablenkungen aufrechtzuerhalten. Es ist also eher eine Störung der Aufmerksamkeitsregulation als ein generelles Aufmerksamkeitsdefizit.Mythos 5: „ADHS ist eine Mode-Diagnose, die von der Pharmaindustrie erfunden wurde, um Medikamente zu verkaufen.“ Fakt: ADHS ist keine Erfindung der modernen Zeit oder einer geldgierigen Industrie. Beschreibungen von Kindern und Erwachsenen mit ADHS-ähnlichen Symptomen und Verhaltensweisen gibt es schon seit Jahrhunderten in der medizinischen Literatur, lange bevor es spezifische Medikamente dafür gab. Dass heute häufiger darüber gesprochen wird und mehr Diagnosen gestellt werden, liegt an besserer wissenschaftlicher Aufklärung, verfeinerten Diagnoseverfahren, einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz und einer zunehmenden Entstigmatisierung psychischer Besonderheiten. Das bedeutet nicht, dass es „mehr“ ADHS gibt, sondern dass es häufiger und früher erkannt wird – was für die Betroffenen oft eine immense Erleichterung und der erste Schritt zu einem besseren Leben ist.Mythos 6: „Medikamente wie Ritalin machen aus ADHS-lern willenlose Zombies oder sind Drogen.“ Fakt: Stimulanzien, die häufig und oft sehr erfolgreich bei ADHS verschrieben werden (wie Methylphenidat, bekannt z.B. als Ritalin, oder Amphetamin-Präparate), wirken bei korrekter Diagnose und sorgfältiger ärztlicher Einstellung nicht sedierend oder persönlichkeitsverändernd im negativen Sinne. Im Gegenteil: Sie helfen, die Ungleichgewichte der Neurotransmitter (vor allem Dopamin und Noradrenalin) im Gehirn auszugleichen. Dadurch können sie die Konzentration und Aufmerksamkeit verbessern, Impulsivität und Hyperaktivität reduzieren und die innere Ruhe fördern, sodass Betroffene ihr eigentliches Potenzial besser entfalten und ihren Alltag besser bewältigen können. Sie sind jedoch kein Allheilmittel und sollten immer Teil eines umfassenden, multimodalen Behandlungsplans sein, der auch Psychoedukation, Verhaltenstherapie, Coaching und gegebenenfalls weitere Maßnahmen umfasst. (Mehr dazu auch in Kapitel 8).Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Wichtig ist: Glaube nicht alles, was du hörst oder liest, und vor allem: Sei nachsichtig und verständnisvoll mit dir selbst! Die alten, internalisierten Vorwürfe von Faulheit, Dummheit oder mangelnder Willenskraft haben in deinem Kopf nichts mehr zu suchen. Du bist nicht schuld an deiner ADHS.
Die Trauer um das verlorene Ich: Ein notwendiger Abschied
Neben der Erleichterung schwemmt die Erkenntnis oft noch etwas anderes an die Oberfläche, etwas Tiefes, Schweres und absolut Berechtigtes: Trauer. Es ist die Trauer um die Person, die du hättest sein können, wenn dein Anderssein früher erkannt und verstanden worden wäre. Es ist der Schmerz über die Jahre voller unnötiger Kämpfe, die verpassten Chancen in der Schule, im Studium oder im Beruf, die zerbrochenen Freundschaften, die du dir nicht erklären konntest. Es ist die Trauer um das Kind oder den jungen Erwachsenen in dir, der sich so oft gefragt hat: „Was stimmt nicht mit mir?“.Gib diesem Gefühl Raum. Du darfst trauern. Es ist keine Überreaktion oder Selbstmitleid. Es ist ein realer Verlust, den du betrauerst: der Verlust von Leichtigkeit, von Potenzial, das unter einem Berg von Missverständnissen und Selbstzweifeln begraben lag, und der Verlust von Jahren, in denen du versucht hast, nach einer Bedienungsanleitung zu leben, die nicht für dein Gehirn gemacht war.Eng mit der Trauer verbunden ist oft eine gewaltige Wut. Wut auf ein System, das dich nicht gesehen hat. Wut auf Lehrer, die dich als „intelligent, aber faul“ abgestempelt haben. Wut auf eine Gesellschaft, die Konformität über Individualität stellt. Vielleicht sogar Wut auf deine Familie, die es nicht besser wusste, oder auf dich selbst, weil du dich so lange gequält hast. Auch diese Wut ist okay. Sie ist die Energie, die entsteht, wenn man erkennt, wie viel Ungerechtigkeit einem widerfahren ist.Dieser Prozess des Trauerns und Wütendseins ist kein Rückschritt. Im Gegenteil, er ist ein fundamental wichtiger Teil der Heilung. Du musst diesen alten Schmerz anerkennen und fühlen, um ihn loslassen zu können. Es ist wie ein Abschied von dem Leben, das du unter falschen Vorzeichen geführt hast. Erst wenn du diesem Teil deiner Geschichte mit Mitgefühl begegnet bist, kannst du dich mit voller Kraft der Zukunft zuwenden – nicht als jemand, der einen „Defekt“ reparieren muss, sondern als jemand, der endlich das Handbuch für sein einzigartiges Betriebssystem gefunden hat und nun lernt, all die fantastischen, verborgenen Features zu entdecken.
All diese Gefühle sind absolut normal, menschlich und berechtigt. Gib dir die Zeit und den Raum, sie zuzulassen, sie zu spüren und sie zu verarbeiten. Es ist ein Prozess, kein Schalter, der einfach umgelegt wird.
Kapitel 2
Dein inneres Universum – Gedanken, Gefühle und die Kunst der Selbstregulation
Nachdem wir im ersten Kapitel ein wenig Licht ins Dunkel der ADHS-Diagnose und der neurobiologischen Hintergründe gebracht haben, tauchen wir jetzt tiefer ein – und zwar direkt in dein Oberstübchen, in das Epizentrum deines einzigartigen Erlebens. Denn wenn eines bei ADHS besonders ist, dann ist es das, was sich da oben abspielt: ein oft wildes, lautes, farbenfrohes und manchmal auch schmerzhaft überwältigendes inneres Universum.
---ENDE DER LESEPROBE---