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Ewa Aukett

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Beschreibung

Kann eine Ehe auch ohne Liebe funktionieren ?  Kirsten und Jeff MacAllister führen eine scheinbar perfekte Ehe. Sie meistern gemeinsam den Alltag, verstehen sich gut und haben ein erfülltes Sexleben – nur von Liebe war dabei nie die Rede.  Doch nach Jahren voller unausgesprochener Worte beginnt die makellose Fassade zu bröckeln, bevor ihre heile Welt von heute auf morgen zertrümmert wird. All die Dinge, die zuvor wichtig erschienen, sind plötzlich nebensächlich. Für Kirsten beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Doch wie soll sie den Mut und die Kraft aufbringen, um zu kämpfen, wenn sich ihr komplettes Leben auf einmal trostlos und kalt anfühlt?  Auch für Jeff beginnt die schwerste Zeit seines Lebens, und beide müssen sich der Frage stellen, die sie jahrelang vermieden haben: Wie stark ist ihr Glaube an die Liebe?   Eine dramatische und tiefgründige Geschichte über Hoffnung und Liebe von Topautorin Ewa Aukett. Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des Bestsellers "Atem auf deiner Haut", der 2014 erschienen ist.

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A Breath Is All We Have

All We Have – Band 1

EWA AUKETT

Meiner großen Schwester …

für deinen Mut und deine Entschlossenheit,

niemals kampflos aufzugeben.

1

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das Haus in warmes, rotes Licht und glitten über jeden verborgenen Winkel der Mauern, wie die Finger eines zärtlichen Liebhabers über die weiche Haut seiner Angebeteten.

Während der Tag ging und die Grillen die Nacht begrüßten, stand Kirsten MacAllister am Panoramafenster ihres Ateliers und betrachtete schweigend das Naturschauspiel, das sich ihr bot.

Wenn die Sonne mit dem Horizont verschmolz und der Mond sich seinen Platz am Himmel eroberte, spürte sie deutlicher denn je die Einsamkeit, die sie in letzter Zeit immer öfter überkam. Sie schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen das kühle Glas.

Fünf Jahre!

Morgen in vier Wochen war ihr fünfter Hochzeitstag, und der Gedanke an die bevorstehenden Feierlichkeiten bereitete Kirsten zunehmende Übelkeit. Ihr Mann Jeff erwartete einen perfekten und von Anfang bis Ende gut durchplanten und funktionierenden Empfang – wie jedes Jahr. Allerdings war ihr im Augenblick weder nach Gästen noch nach irgendwelchen Feierlichkeiten … ganz zu schweigen von einer Begegnung mit Grace, Jeffs Tochter aus erster Ehe.

Kirsten hatte versucht, sich mit ihr anzufreunden, doch das Mädchen wies sie ab – jedes Mal. Sosehr Kirsten sich in der Vergangenheit auch bemüht hatte, die Distanz zwischen ihnen blieb. Es hatte nur einige wenige Tage gegeben, während eines Familienurlaubs vor fast fünf Jahren, da hatte sie gehofft, das Verhältnis zwischen ihnen würde sich bessern … einige wenige Tage, an denen alle Abneigung vergessen gewesen war. Doch danach hatte der Alltag sie wieder und Grace, war zurück in ihrer Antipathie gegenüber Kirsten.

Manchmal hatte sie das Gefühl, selbst nun, da Grace zu einer erwachsenen, jungen Frau heranreifte, schien sie immer noch nicht akzeptieren zu wollen, dass ihr Vater zum zweiten Mal verheiratet war.

Leise seufzend öffnete Kirsten die Augen und starrte blicklos geradeaus. So furchtbar sie diese Tatsache auch fand, war sie durchaus dankbar dafür, dass Grace die längste Zeit des Jahres am College war und nur in den Ferien ihren Vater besuchte. Dabei hätte Kirsten viel dafür gegeben, wenn es anders gewesen wäre … nicht nur das gespannte Verhältnis zu ihrer Stieftochter – auch das zu ihrem Ehemann.

Sie liebte Jeff.

Er war humorvoll und zärtlich, ein warmherziger Mann voller Energie und Elan, der sie zum Lachen brachte und ihr Augenblicke schenkte, in denen die Welt sich um sie zu drehen schien. Aber sie hatten nie über Gefühle gesprochen, … und weil er ihr nie sagte, was er empfand, wagte sie es nicht, sich ihm zu offenbaren. Sie war sich bewusst darüber, dass sein Herz einer anderen gehörte, und Kirsten war sich schon früh darüber klar geworden, dass sie in diesem Kampf niemals gewinnen konnte.

Mit einer Toten zu konkurrieren war schlichtweg aussichtslos, und seine Ehe mit der schönen Shannon, Graces leiblicher Mutter, hatte viel zu früh ein jähes Ende gefunden, als diese bei einem Autounfall vor fast achtzehn Jahren ums Leben gekommen war.

Jeder Besuch von Grace brachte auch die Erinnerung daran zurück, was er mit Shannon verloren hatte. So ähnlich die Achtzehnjährige in ihren Wesenszügen ihrem Vater sein mochte, so sehr glich sie ihrer Mutter in deren Äußerem. Grace war selbstbewusst und stark, und ihre verbalen Äußerungen konnten genauso verletzend sein wie der Blick ihrer schönen, blauen Augen. Hinter dem süßen Engelsgesicht mit dem blonden Haar verbarg sich eine wahre Furie, die zu fauchen begann, sobald Kirsten auch nur in ihre Nähe kam.

Dabei war es Jeff gewesen, der sie angesprochen hatte.

Als sie ihn kennenlernte, war sie ziemlich naiv und ahnungslos gewesen. Ein halbes Jahr zuvor waren ihre Eltern Jan und Maris bei einem Fährunglück gestorben, und Kirsten hatte in ihrer Verzweiflung ihre Koffer gepackt, Dänemark den Rücken gekehrt und war nach London geflohen. Hier hatte sie sich in das Kunststudium gestürzt, das ihre Mutter sich über Jahre vom Munde abgespart und von dem Kirsten sich sehnlichst erhofft hatte, es möge sie ablenken.

Aber sie war allein gewesen, einsam und gefangen in ihrer Trauer.

Es war ihr schwergefallen, Kontakte zu gleichaltrigen Studienkollegen zu knüpfen. Sie kam nicht klar mit der Unbeschwertheit und Leichtigkeit ihrer Generation. Sie war in einer liebevollen, warmherzigen Familie aufgewachsen, in der Kunst, Literatur und Musik ihren Alltag bestimmt hatten.

Ihr war nicht nach Party und Saufgelagen gewesen.

Infolgedessen hatte sie sich ein winziges, möbliertes Zimmer mit Bad im Londoner Stadtteil Hackney gemietet, um dem Trubel im Studentenwohnheim zu entkommen, und sich finanziert, indem sie eine Stelle als Reinigungskraft in der Tate Gallery ergattert hatte.

Der Lohn war okay gewesen und die Arbeit anstrengend, aber es hatte ihr auch die einmalige Gelegenheit geboten, die Räumlichkeiten zu Zeiten zu durchwandern, wenn sie nicht von lärmenden Besuchergruppen und aufgekratzten Schulklassen bevölkert wurden. Wenn Kirsten ihren Job erledigt hatte, war sie nachts oft allein durch die Ausstellungsräume geschlendert und hatte die Stille und die geradezu gespenstische Schönheit genossen.

In einer dieser Nächte hatte Jeff sie bei ihrem heimlichen Streifzug ertappt. Er war Gast von Museumsdirektor Smeller gewesen. Die beiden Männer hatten noch weit nach dem Feierabend des Direktors zusammengesessen und sich über ein von Jeff unterstütztes Förderprogramm unterhalten. Gerade als Jeff seinen Gastgeber und dessen Büro verlassen hatte, das sich oberhalb der Ausstellungshalle befand, in der Kirsten vor einem Bild von Paul Cézanne verharrt war, war er stehen geblieben und hatte sie beobachtet.

Rückblickend erzählte er immer wieder gern, dass er eigentlich nach Hause hatte gehen wollen, … aber als er sie dort mit ihrer Kittelschürze und dem Tuch im Haar hatte stehen sehen, sei er vor Schreck geradezu erstarrt gewesen.

In Wirklichkeit war er die Treppe hinabgestiegen und lautlos hinter sie getreten. Kirsten, ganz in Gedanken versunken, war zutiefst erschrocken, als er sie unvermutet angesprochen hatte. Sie war herumgewirbelt, hatte den Eimer umgeworfen und das schmutzige Putzwasser sich über den Marmorboden und Jeffs glänzende Lederschuhe ergossen.

Ihr war weder entgangen, wie ruiniert seine offensichtlich sehr teuren Schuhe plötzlich aussahen, noch, dass Direktor Smeller mit missbilligendem Gesichtsausdruck die Treppe heruntereilte. Mit brennenden Wangen und fast schon ängstlich hatte Kirsten sich überschwänglich entschuldigt und hastig begonnen, das Chaos zu beseitigen, das sie verursacht hatte.

Ihre Verlegenheit hatte sich vervielfacht, als der Fremde ihr kurzerhand den Putzlappen aus den Fingern nahm und an ihrer statt begann, das dreckige Wasser aufzuwischen. Sie hatte vor Scham kaum gewusst, wo sie hatte hinblicken sollen, aber als sie den Kopf hob und ihre Blicke ineinandertauchten, hatten diese warmen, grünen Augen sie nicht mehr losgelassen.

Danach ging alles sehr schnell … seine Einladung zum Kaffee, die schönen Stunden bis Mitternacht, die sie gemeinsam mit ihm in einem kleinen Diner verbracht hatte. Sie hatten ewig lang geredet, und es hatte so gutgetan, endlich jemandem sein Herz auszuschütten. Kirsten hatte über ihre Eltern und ihre Brüder gesprochen, über ihre Angst vor der Zukunft und die ständigen Zweifel, ob die Wahl ihres Studiums wirklich richtig gewesen sei. Sie hatte von ihrer Heimat geschwärmt, wie aufregend London sei, und ihrer Liebe zur Malerei.

Irgendwann hatte Jeff sie mit einem Taxi heimgefahren und sich vor der Tür zu ihrem Mietshaus mit einem flüchtigen Kuss verabschiedet. Gerade, als sie sich mit wildem Herzklopfen ins Bett legte, hatte das Telefon geläutet, und er hatte ihr eine gute Nacht gewünscht.

Kirsten hatte sich Hals über Kopf verliebt – zum ersten Mal in ihrem Leben.

Schon zehn Tage später hatte Jeff ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte Ja gesagt. Im Monat darauf, eine Woche vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, waren sie verheiratet gewesen, und obwohl er sie umworben und beteuert hatte, sie auf Händen tragen zu wollen, wurde sie das Gefühl nie los, dass irgendetwas zwischen ihnen unausgesprochen blieb.

Dass er sie in erster Linie als Ersatzmutter für die damals dreizehnjährige Grace wollte, hatte sie erst später begriffen. Sie hatte so hoch auf ihren rosa Wolken geschwebt, dass sie die dunklen Vorboten einfach ignorierte – und auch die Tatsache, dass er ihr gegenüber nie von Gefühlen sprach.

Jeff war ein großartiger Mann … liebevoll und leidenschaftlich. Ein Mann, der ihr alle Türen öffnete und ihr den Weg in eine rosige Zukunft ebnete. Sie hatte ihr Kunststudium ohne finanzielle Sorgen zu Ende bringen können und war nicht gezwungen gewesen, sich nach den sechs Semestern um ein Lehramt zu bemühen, sondern konnte sich stattdessen ganz auf ihre Leidenschaft für die Malerei konzentrieren.

Es war wie das gelebte Märchen von Aschenputtel.

Sie war von nichts zu allem gekommen, und sie hatte es genossen. Kirsten bewohnte ein wunderschönes Stadthaus im Londoner Stadtteil Camden, verfügte über eine Haushälterin, die ihr alle unangenehmen Arbeiten abnahm, und konnte sich fast ausschließlich ihren eigenen Interessen widmen. Abgesehen von den wenigen Tagen im Jahr, an denen sie die Vorzeigeehefrau und perfekte Gastgeberin mimen und ihr Organisationstalent unter Beweis stellen musste, hatte Jeff keine unerfüllbaren Ansprüche.

Ihre Ehe war im Großen und Ganzen völlig normal. Sie redeten viel und oft, hatten ihren Spaß miteinander und waren wohl eher so etwas wie ›Freunde mit gewissen Extras‹. Aber nach fast fünf Jahren fühlte Kirsten sich längst nicht mehr so geborgen in ihrer Wolke aus Illusionen wie zu Beginn ihrer Ehe.

Sie hatte nach etwas gesucht, das ihre Beziehung wieder vervollständigte und festigte – ihr die Sicherheit zurückgab, in der sie sich anfangs gewiegt hatte. Der Wunsch nach einer richtigen Familie war stetig größer geworden.

Da Kirsten aufgrund der Erkrankung mit Eierstockkrebs in ihrer Jugend nicht in der Lage war, Kinder zu bekommen, hatten Jeff und sie vor einem halben Jahr beschlossen, sich um eine Adoption zu bemühen. Wochenlang hatten sie unzählige Termine wahrgenommen, Gespräche mit Behörden geführt, zahllose Unterlagen ausgefüllt und sich den teilweise sehr unangenehmen und intimen Befragungen der Sozialarbeiterin Mrs. Pinkett und eines Psychiaters gestellt. Sie hatten deutlich gezeigt, dass sie fest entschlossen waren, sich als Adoptiveltern zu beweisen, und Kirsten wartete seither täglich auf einen Anruf, in dem Mrs. Pinkett ihnen die frohe Botschaft verkündete, dass es ein Kind für sie geben würde.

Doch je mehr Zeit ohne die ersehnte Nachricht verstrich, desto unruhiger wurde Kirsten. Mehr und mehr Bedenken nagten an ihr, und die Tatsache, dass Jeff seit ein paar Tagen ständig Überstunden machte und ihr aus dem Weg zu gehen schien, schürte ihr Unwohlsein zusätzlich. In die Sorgen über die möglicherweise scheiternde Adoption mischten sich nun auch noch Eifersucht und ein leises, aber stetig wachsendes Misstrauen.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken.

Auf dem Display war Jeffs Büronummer zu sehen. Kirsten spürte, wie sich alle Muskeln in ihrem Körper anspannten und in ihrem Magen ein harter Knoten entstand.

Als sie das Gespräch entgegennahm, hörte sie am anderen Ende gedämpftes Stimmengewirr und Musik – eindeutig die Geräusche einer ausgelassenen Party. Ihre bedrückte Laune verwandelte sich schlagartig in Ärger.

»Hallo?«

Sie horchte. Jemand rief, man solle die Musik leiser drehen, dann wurde eine Hand von der Sprechmuschel am anderen Ende genommen, und Jeff meldete sich.

»Kirsten, bist du dran?«

Er klang belegt. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass irgendetwas nicht stimmte. Immerhin war dies nicht der erste Anruf … in der vergangenen Woche hatte er sich fast jeden Abend entschuldigt und Überstunden vorgeschoben.

Als sie ihn darauf angesprochen hatte, welches Projekt so wichtig sei, war er ihr ausgewichen und hatte gemeint, es sei geheim, und er dürfe nicht darüber reden. Nicht dass so etwas in der Vergangenheit nicht tatsächlich schon vorgekommen wäre – immerhin war Allister-Airlines als Teile-Entwickler und Flugzeugingenieur für die britische Luftwaffe tätig gewesen – aber selbst dann hatte es Jeff nie davon abgehalten, ihr zumindest eine grobe Erklärung zu schenken, ohne ins Detail zu gehen.

Nur mühsam erinnerte sie sich an seine Frage, ob sie am Telefon sei.

»Ja«, erwiderte sie leise.

Er gab ein erleichtertes Lachen von sich.

»Hör zu, Süße. Ich habe noch geschäftlich zu tun, ich weiß nicht genau, wann ich nach Hause komme. Sag bitte Maggie Bescheid, dass sie mein Abendessen in den Kühlschrank stellen soll. Wir werden hier essen.«

Er log!

Er log immer, wenn er sie Süße nannte.

Kirsten biss sich enttäuscht auf die Unterlippe.

Was war los mit ihm? Sie waren immer ehrlich zueinander gewesen, aber die letzten Tage schien er sich weiter und weiter von ihr zu entfernen. Glaubte er wirklich, sie nahm ihm das ab? Sie hörte Partygeräusche und Musik – und er dachte ernsthaft, er könnte ihr erzählen, er habe noch geschäftlich zu tun?

Wut stieg wie überschäumende Milch in ihr auf, und sie war unfähig, auch nur einen ganzen Satz herauszubekommen, ohne ausfallend zu werden.

Was war in den letzten Wochen passiert, dass nun offenbar alles so schiefging? Sie hatte geglaubt, sie wären sich einig über ihre Zukunftspläne. Wie konnte sie sich so irren?

»Bist du noch dran, Kirsten?«

Sie brachte nur ein ersticktes Krächzen heraus.

»Ja.«

Einen Moment lang herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen. Nur der Lärm der Party schallte zu ihr herüber. Kirsten vernahm das laute, helle Gelächter einer Frau.

Ihr Magen verkrampfte sich noch mehr.

»Geht es dir gut, Schatz? Ist irgendwas?«

Sie schloss die Augen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Das war wieder der Jeff, den sie kannte, … der Mann, der ihr das Gefühl gab, geborgen und behütet zu sein und sich keine Sorgen machen zu müssen.

Der Mann, der ihr vor gar nicht allzu langer Zeit noch erzählt hatte, wie sehr ihm der Lebensstil und die ständig wechselnden Bekanntschaften seines jüngeren Bruders Ray missfielen. Der Jeff, der betonte, er selbst habe gar kein Interesse an anderen Frauen, weil Kirsten ihm alles gebe, was er brauchte.

Dennoch belog er sie innerhalb von Sekunden.

Warum?

»Nein, alles okay«, erwiderte sie. Ihr war durchaus bewusst, wie angespannt ihre Stimme klang.

»Ich versuche hier so schnell wie möglich fertig zu werden, Kirsten. Ich bin bald zu Hause.«

Er schien alarmiert. Fühlte er sich ertappt? Wut und Enttäuschung tobten in ihr.

»Nein.« Kirsten schüttelte den Kopf und schalt sich im Stillen selbst – er konnte sie doch gar nicht sehen. »Lass dir Zeit, ich sage Maggie, dass du ausbleibst. Viel Spaß noch.«

* * *

Bevor er zu einem weiteren Wort fähig war, hatte sie ohne Abschied aufgelegt. Jeff starrte einen Augenblick lang unschlüssig auf den Hörer in seiner Hand, als würde der ihm eine Antwort geben. Dann ließ er ihn mit leisem Klicken auf die Gabel fallen.

Unwillig drehte er sich um und betrachtete den Menschenauflauf in seinem Büro. Jemand hatte die selten genutzte Stereoanlage aufgedreht, leise Wortfetzen drangen zu ihm herüber, und neun Personen drängten sich um den Konferenztisch, auf dem zahllose Notizzettel mit Plänen und Ideen lagen. Sie redeten wild durcheinander.

Er fuhr sich mit einer Hand durch das dunkle Haar.

Jeffs Eltern und sein kleiner Bruder Ray, Jeffs bester Freund Stuart mit seiner Verlobten Carolyne, sowie Tjark und Morten – zwei von Kirstens acht Brüdern – waren mit ihren Frauen zu diesem geheimen Treffen erschienen.

Als hätte er seinen Blick bemerkt, wandte Ray den Kopf und sah ihn fragend an.

Jeff unterdrückte einen Seufzer.

Kirsten war sauer!

Und dank der herrschenden Lautstärke in seinem Büro nahm sie nun vermutlich an, er würde sich auswärts amüsieren, während sie daheim saß. Dabei war Jeff vor einem Monat noch überzeugt gewesen, diese Überraschungsparty zu ihrem dreißigsten Geburtstag wäre die beste Idee seines Lebens.

Er wollte mit ihr feiern und sich auf einen neuen Lebensabschnitt einstimmen. Immerhin hatten sie beschlossen, eine Familie zu gründen, – wenn auch anders als gedacht – und er wollte ihr die Warterei bis zu dem erlösenden Anruf der Sozialarbeiterin versüßen.

Also hatte er alle Freunde und Kirstens Geschäftskontakte instruiert, sie sollten Terminschwierigkeiten vorschieben und ihr absagen, wenn sie ihnen eine Einladung zu ihrem Ehrentag aussprechen wollte. Mit schlechtem Gewissen hatte er dabei zugesehen, wie sie in den letzten Tagen zunehmend missmutiger wurde, weil jeder ihre Einladung ausschlug.

Irgendwann hatte er gemeint, sie könnten sich diesen Tag ganz besonders gestalten – sie könnten nach Frankreich fliegen, die Oper besuchen und sich ein romantisches Wochenende machen. Kirsten hatte nur mit zusammengepressten Lippen genickt und sich wieder an die Vorbereitungen zu ihrem fünften Hochzeitstag gemacht.

Dass dazu alle zugesagt hatten, aber eine Woche später niemand zu ihrem dreißigsten Geburtstag erscheinen wollte, wurmte sie mehr, als sie zugab, und Jeff haderte zunehmend mit sich selbst, weil er ihr diese Lüge auftischte.

Allerdings redeten ihm seine Familie und auch Kirstens Brüder immer wieder gut zu, er solle standhaft bleiben. Diese Party würde eine wirkliche Überraschung werden, denn nach mehr als sechs Jahren wäre Kirstens Familie endlich wieder komplett. Selbst ihr zweitältester Bruder Sören, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Neuseeland lebte, hatte sein Kommen angekündigt.

Entschlossen straffte Jeff die Schultern und versuchte das schlechte Gewissen abzuschütteln, das ihn immer wieder einholte. Er konnte ihr die Situation noch nicht erklären, dann wäre alles verdorben – und zu viele Menschen waren involviert und bemüht, ihr eine Freude zu machen. Es gefiel ihm nicht, seine Frau belügen zu müssen, aber im Augenblick blieb ihm keine große Wahl.

Der unangenehme Druck, der sich allerdings in ihm ausbreitete, war trotzdem nicht zu leugnen. Er fühlte sich schuldig. Vor achtzehn Jahren hatte es schon einmal eine Frau in seinem Leben gegeben, die er verloren hatte, weil zu viel zwischen ihnen ungesagt geblieben war. Als Kirsten ihm vor fünf Jahren vor die Füße gestolpert war, hatte er sich geschworen, bei ihr nicht die gleichen Fehler zu machen.

Allerdings war sie auch nicht wie Shannon.

»Alles okay?«

Rays leise Stimme drang nur langsam in sein Bewusstsein.

Konsterniert hob Jeff den Kopf und begegnete dem eindringlichen Blick seines Bruders.

»Ja … mehr oder weniger«, erwiderte Jeff und zwang sich zu einem schiefen Lächeln. »Ich schätze, Kirsten ist etwas angefressen, nachdem ich ihr erzählt habe, ich müsse Überstunden machen, während sie im Hintergrund Gelächter und Musik hören konnte.«

Mit einem breiten Grinsen sah Ray sich in dem großzügig geschnittenen Raum um, fuhr sich mit einer Hand durch das blonde Haar und zuckte mit den Schultern.

»Entschuldige, war meine Idee«, bemerkte er leichthin und zwinkerte Jeff zu. »Hat sie dich mit Vorwürfen überschüttet?«

»Nein. Sie hat mir viel Spaß gewünscht und aufgelegt.«

Rays jungenhaftes Grinsen wurde noch ein bisschen breiter. »Okay, sie ist wirklich angefressen!« Seine Hand landete hart auf Jeffs Schulterblatt. »Halt dich wacker, Brüderchen. Sie wird die Wochen schon überstehen, und wenn sie erst mal sieht, was du für sie veranstaltest, wird sie sich bestimmt erkenntlich zeigen.«

Mit einem anzüglichen Lachen wich er Jeffs drohender Faust aus und ging zurück zu den anderen. Kopfschüttelnd folgte Jeff ihm und schluckte sein Missbehagen herunter. Er würde diese Party-Planungen zu einem guten Ende führen und danach einen romantischen Urlaub zu zweit einlegen.

* * *

Ihr Blick huschte zu dem Radiowecker hinüber, der auf dem Nachtschränkchen stand.

Es war vier Uhr früh!

Gerade hatte sie seinen Wagen vor dem Haus vorfahren hören, und der Ärger kroch wie bittere Galle in ihrer Kehle hoch. Nach seinem Anruf vor fast acht Stunden hatte sie der Haushälterin gesagt, dass Jeff nicht zum Abendessen erscheinen würde.

Maggie hatte geschimpft wie ein Rohrspatz, weil er nichts anderes mehr im Kopf hätte als seine Arbeit. Doch Kirsten konnte sich nur ein müdes Lächeln abringen. Sie ahnte, welche Arbeit das war, und im Grunde hatte sie immer befürchtet, dass es eines Tages dazu kommen musste. Er behauptete zwar stets, es gäbe für ihn keinen Grund zur Untreue, aber eine Garantie war das für Kirsten nicht.

Sie hatte sich kurz darauf auch bei Maggie entschuldigt und eine Magenverstimmung vorgeschoben. So leid es ihr tat, die Haushälterin auf diese Weise ebenfalls vor den Kopf zu stoßen – die nun mit einem zubereiteten Abendessen dastand, das niemand wollte –, so sehr hatte der Anruf ihr den Appetit verdorben.

Kirsten war geradezu in ihr Schlafzimmer geflüchtet und hatte sich auf das Bett geworfen. In der Nacht zuvor hatten sie sich noch in diesen Laken geliebt, und am Abend darauf rief er an und speiste sie mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede ab.

Von wegen geschäftlicher Termin!

Wütend verzog sie den Mund zu einem bösen Lächeln.

Geschäftlich!?

Genug hübsche weibliche Angestellte gab es schließlich in seiner Firma. Die machten sicher gern ein paar Überstunden für Jeff … oder mit ihm.

Sie hatte geschmollt, geweint und sich irgendwann wütend von einer Seite auf die andere gewälzt, während die Stunden sich endlos hinzogen. Fast war sie überzeugt gewesen, er würde gar nicht mehr heimkommen.

Der Motor erstarb, und sie hörte eine Tür zuschlagen. Dann verloren sich die Geräusche, als er das Haus betrat.

Kirsten drückte den Kopf tiefer in das weiche Kissen, schloss die Augen und zog die Decke fest um sich. Sie rutschte bis an den äußeren Rand des Bettes. Er sollte nicht merken, dass sie geweint hatte. Aber er brauchte auch nicht zu glauben, er könnte sich so einfach an sie heranmachen.

Trotzig schob sie die Unterlippe vor und war bereit, ihm die filmreife Darstellung eines schlummernden Dornröschens zu liefern. Unruhig lauschte sie in die Stille des Hauses und wartete mit klopfendem Herzen auf seine Ankunft.

Als sie die Augen aufschlug, blickte Kirsten sich irritiert um. Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Jalousien, und Staubkörnchen tanzten munter im Licht. Den Kopf wendend, bemerkte sie, dass Jeffs Seite des Bettes unberührt war.

In ihre Brust bohrte sich ein scharfer Schmerz. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, und er war nicht einmal heraufgekommen.

Hatte er in seinem Arbeitszimmer auf der Couch übernachtet?

Das hatte er noch nie getan.

Vielleicht war er auch wieder zu seiner heimlichen Geliebten gefahren … Sie presste die Lippen fest zusammen und kämpfte erneut gegen die Eifersucht an, die in ihr aufwallte.

Was sollte sie jetzt tun?

War das nicht ein deutliches Zeichen für das Ende ihrer Ehe? Er verbrachte die halbe Nacht irgendwo anders, und nun schlief er nicht einmal mehr mit ihr in einem Bett?

Die Tränen brannten in ihren Augen, aber Kirsten schluckte hart und schüttelte zornig den Kopf. Sie würde nicht noch einmal weinen. Entschlossen stand sie auf und stapfte in das angrenzende Badezimmer, wo ihr ein scheußliches Spiegelbild entgegensah. Die ohnehin schon blasse Haut mit den Sommersprossen war aschfahl, und dunkle Ringe lagen unter ihren Augen.

Na großartig, musste sie nun auch noch genauso aussehen, wie sie sich fühlte?

Sie wandte sich ab, ging zur Dusche hinüber und streifte unterwegs das Nachthemd von den Schultern. Kurzerhand drehte sie das kalte Wasser auf und stellte sich unter den harten Strahl. Es brannte wie tausend Nadelstiche, aber sie vertraute darauf, dass es ihr half, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Eine Stunde später betrat sie die Küche und blieb überrascht in der Tür stehen, als sie Grace gemeinsam mit Jeff am Frühstückstisch sitzen sah. Kirsten hatte die junge Frau nicht früher als in einer Woche erwartet.

Was tat sie hier?

Jeff hob den Blick von seiner Zeitung und sah Kirsten an.

»Guten Morgen, Schatz«, begrüßte er sie und nickte mit dem Kinn zu ihrem angestammten Platz. »Dein Frühstück steht schon bereit.«

Langsam kam sie näher, ging an Grace vorbei und ließ sich rechts von Jeff auf ihrem Stuhl nieder. Irgendwo in der Speisekammer hörte sie Maggie rumoren.

»Guten Morgen.« Kirstens Stimme klang seltsam rau, und sie räusperte sich umständlich, während sie nach der Kanne Kaffee griff, um sich eine Tasse einzuschenken. Unruhig sah sie zu Grace hinüber, die ihr gegenübersaß und sich einen Toast mit Butter beschmierte. »Ich wusste gar nicht, dass du heute schon kommst, Grace.«

Ihre Stieftochter hob den Blick, und ihre klaren, blauen Augen musterten Kirsten einen Moment lang scharf. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sie mit sich selbst zu hadern, und Kirsten war überzeugt, gleich würde sie wieder irgendeine spitze Bemerkung treffen. Stattdessen zuckte die junge Frau mit den Schultern und nahm sich ein Frühstücksei.

»Ich konnte eine Woche früher in die Ferien starten. Daddy hat mich gestern Nacht am Flughafen abgeholt, und wir haben noch ziemlich lang in einem Diner gesessen.«

Verblüfft starrte Kirsten sie an und vergaß für einen Moment, wo sie war. Er hatte Grace abgeholt und war mit ihr unterwegs gewesen? Scham überwältigte sie. Demnach hatte er nicht mit einer anderen im Bett gelegen, und Kirsten hatte ihn zu Unrecht verdächtigt.

Hitze stieg ihr ins Gesicht.

»Kirsten!«

Jeffs Stimme riss sie aus ihren wirren Gedanken, und im nächsten Augenblick registrierte sie, dass ihre Kaffeetasse überlief. Die weiße Tischdecke saugte sich in Bruchteilen von Sekunden mit der heißen, schwarzen Flüssigkeit voll. Hastig stellte sie die Kanne ab.

Maggie erschien wie aus dem Nichts und drückte mit einem belustigten Lächeln ein Geschirrhandtuch auf den Kaffeefleck.

»Das ist ja gerade noch mal gutgegangen«, bemerkte die Haushälterin gut gelaunt und warf Kirsten einen Seitenblick zu. Ihre fröhliche Stimme bekam einen ernsten Unterton. »Soll ich Ihnen lieber einen Tee machen, Liebes? Sie sehen blass aus.«

Unbehaglich schüttelte Kirsten den Kopf. »Nein, danke. Es geht mir gut.«

Maggie wirkte nicht überzeugt, als sie sich mit dem schmutzigen Tuch zur Spüle hinüberbegab. Gedankenverloren starrte Kirsten auf den tiefbraunen Schatten, der unter ihrer Tasse die Tischdecke verunstaltete.

»Hast du nicht geschlafen?«, wollte Jeff wissen. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Interpretierte sie zu viel in seinen scheinbar besorgten Blick hinein? Aber wenn er nichts zu verbergen hatte, warum log er sie dann an?

»Doch, nur nicht sehr viel«, erwiderte sie ausweichend.

Er faltete umständlich die Zeitung zusammen und legte sie neben seinem Teller ab. Eine Geste, die er immer dann zum Zeitgewinnen nutzte, wenn er einem unangenehmen Gespräch lieber aus dem Weg gegangen wäre. Kirsten fühlte sich elender denn je.

»Es ist gestern ziemlich spät geworden«, bemerkte Jeff und wirkte nun tatsächlich schuldbewusst, »ich habe auf dem Sofa übernachtet, weil ich dich nicht wecken wollte.«

Ein Hauch von Erleichterung machte sich in ihr breit. »Schon gut.«

Kirsten zog die übervolle Kaffeetasse zu sich herüber, um daran zu nippen und den Flüssigkeitspegel zu senken. Ihr Blick huschte flüchtig zu ihrer Stieftochter hinüber.

Vielleicht war Graces Aussage nichts anderes als ein vorgeschobenes Alibi für Jeff, schließlich hatte das Mädchen nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber Kirsten gemacht. Aber würde sie tatsächlich so weit gehen?

»Nach dem Frühstück fahre ich zu Onkel Ray«, sagte Grace plötzlich. Kirsten sah sie erstaunt an und fing ihren missmutigen Blick auf. »Nicht dass du meinst, ich wollte euch länger belästigen als nötig.«

Kirsten unterdrückte einen resignierten Seufzer. Es hätte sie auch gewundert, wenn die Ruhe länger angedauert hätte. Allerdings war sie längst über das Stadium hinaus, auf Graces Provokationen einzugehen. »Du bist hier zu Hause, Grace. Du bist niemandem eine Last.«

Für eine Sekunde musterte Grace sie deutlich zweifelnd, dann huschte ihr Blick zu Jeff, und sie runzelte die Stirn. Als sie Kirsten wieder ansah, lag eine seltsame Mischung aus Scham und Mitleid auf ihren hübschen Zügen, und Kirsten wappnete sich innerlich gegen die nächste Attacke.

»Okay.«

Eine unangenehme Kälte machte sich in Kirsten breit.

Graces Verhalten war seltsam. Normalerweise zeigte sie Kirsten gegenüber weder Mitgefühl noch Verständnis, von Schuldgefühlen ganz zu schweigen. Auch dass sie weitestgehend auf ihre sonst üblichen bissigen Sticheleien und spitzen Bemerkungen verzichtete, war neu.

Die Zweifel keimten abermals in Kirsten auf und fanden weitere Nahrung in ihrem überreizten Hirn. Vielleicht wusste Grace mehr, als sie zugeben wollte, und verspürte zum ersten Mal so etwas wie ein Gewissen.

Das war nicht fair.

Übelkeit stieg in Kirsten auf.

»Entschuldigt mich bitte«, murmelte sie, erhob sich und verließ langsam die Küche. Als sie den Korridor erreichte, lief sie – zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer. Hektisch stürzte sie sich in das Bad, wo sie gerade noch den Toilettendeckel öffnen konnte.

* * *

»War das nötig?«, fragte Jeff.

Grace sah ihn mit großen Augen an und ließ den Löffel mit dem Ei darauf sinken.

»Was denn?« Erstaunt hob sie die Schultern. »Ich habe doch gar nichts gemacht.«

»Du hast sie angesehen, als wäre sie ein widerwärtiges Insekt.«

Empört öffnete sie den Mund und schloss ihn in der nächsten Sekunde wieder. Dann legte sie den Löffel weg und nahm die Serviette von ihrem Schoß.

»Das habe ich nicht gemacht«, fauchte Grace ihren Vater an. »Ich bin nicht jedes Mal schuld, wenn sie aufsteht und den Raum verlässt.«

»Warum ist sie dann gegangen?«, fragte er ebenso laut zurück.

Fahrig warf sie die Serviette auf den Tisch und gestikulierte in die Richtung, in der Kirsten die Küche verlassen hatte.

»Hast du dir deine Frau mal genau angeschaut, Daddy? Sie sieht aus wie der Tod auf Urlaub, nachdem du die halbe Nacht nicht zu Hause gewesen bist. Was glaubst du, was in ihrem Schädel vor sich geht?«

Verblüfft schüttelte Jeff den Kopf. Der Vorwurf, der in ihren Worten mitschwang, ärgerte ihn maßlos, zumal Grace und er stundenlang in dem Diner gesessen und geredet hatten, in dem er damals seinen ersten Abend mit Kirsten verbracht hatte.

»Du bist bei mir gewesen, Grace. Du weißt, dass wir erst um vier Uhr früh hier waren. Ich wollte Kirsten nicht aufwecken.«

»Ja, das erzählst du, und natürlich weiß ich, wo du heute Nacht warst und mit wem. Aber bei ihr hinterlässt das offensichtlich keinen glaubwürdigen Eindruck.«

Zornig ballte er eine Hand zur Faust und zerknitterte dabei die Zeitung, die immer noch unter seinen Fingern lag.

»Du willst mir tatsächlich Vorwürfe machen, ich sei herzlos gegenüber Kirsten?«, wollte er wissen. »Vielleicht darf ich dich daran erinnern, wer sie seit Beginn unserer Ehe ablehnt. Du bist es, die sich seit Jahren unmöglich benimmt, und das nicht erst seit gestern.«

Grace stand auf und schob den Stuhl zurück.

»Ja, ich geb’s zu … ich habe sie oft ungerecht behandelt – und zwar wann immer ich konnte. Aber ich hatte jedes Recht dazu, nachdem du mir nach so langer Zeit plötzlich eine Ersatzmutter vor die Nase gesetzt hast. Es wäre nur fair gewesen, wenn du sie mir vorher schon mal vorgestellt hättest.«

»Ich habe dir erklärt, warum es nicht möglich war«, gab er zurück. Grace hob abwehrend die Hände.

»Ja, ich weiß. Ich habe nichts von dem vergessen, was du mir letzte Nacht erzählt hast, und ich finde immer noch, es hätte anders laufen müssen. Aber von mir ist Kirsten es gewohnt, dass ich mich danebenbenehme … von dir nicht. Denk mal nach, Daddy, … du täuschst Überstunden vor, kommst erst mitten in der Nacht heim und übernachtest dann auch noch in deinem Arbeitszimmer – und das nicht erst seit gestern«, äffte sie ihn nach.

Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte sie ärgerlich auf ihn hinab.

»Was meinst du, was für einen Eindruck das hinterlässt?«

»Wie kommt es, dass du plötzlich so viel Verständnis für sie aufbringst, wo du doch sonst ständig betonst, wie gleichgültig sie dir ist?«, brauste Jeff auf. Er fühlte sich zu Unrecht in die Ecke gedrängt.

Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, stützte Grace sich mit ihren Fäusten auf den Tisch. Ihre blauen Augen schimmerten verdächtig.

»Weil ich weiß, wie es sich anfühlt, belogen und betrogen zu werden. Wenn du eine andere hast, dann sei so fair und mach reinen Tisch.«

Überrascht schnappte Jeff nach Luft und erhob sich nun ebenfalls.

»Du unterstellst mir, ich würde Kirsten betrügen?« Aufgebracht griff er nach seiner leeren Kaffeetasse und warf sie an die gegenüberliegende Wand, wo sie in unzählige Stücke zersplitterte und einen feuchten Fleck hinterließ. Grace zuckte erschrocken zusammen, und auch Maggies Kopf tauchte kurz aus der Speisekammer auf, in die sie sich wieder verzogen hatte. »Ich bin ihr niemals untreu gewesen. Ich habe dir erzählt, warum ich in den letzten Tagen ständig abwesend bin. Wie kannst du mich auf diese Weise beschuldigen, wo du ihr selbst nie eine Chance gegeben hast?«

Grace schlug die Augen nieder und biss sich auf die Unterlippe, während Maggie genauso schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war.

»Ich weiß«, erwiderte seine Tochter leise und sank zurück auf ihren Stuhl. Jeff folgte ihrem Beispiel. »Aber ich kann nichts von dem ändern, was ich in den letzten Jahren verbockt habe.«

»Stimmt, aber du könntest versuchen, dich künftig anders zu verhalten.«

Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen. »Es fällt mir ein bisschen schwer, von heute auf morgen die beste Freundin zu mimen.«

»Das verlangt auch niemand von dir«, erwiderte Jeff. Müde fuhr er sich mit einer Hand über das Gesicht. »Aber ein bisschen Entgegenkommen wäre schon ein Anfang.«

Grace griff nach dem Frühstücksei und begann, die Schale abzulösen. Ihre Blicke trafen sich.

»Du hättest mir schon viel früher von dem erzählen müssen, was zwischen Mom und dir schiefgelaufen ist.«

Ausweichend zuckte Jeff mit den Schultern.

»Ja, ich weiß – aber ich dachte, du wärest zu jung, und ich wollte das Bild nicht zerstören, das du von Shannon hattest.«

Während seine Tochter auf ihrer Unterlippe herumkaute, zerbröselte sie die Eierschale zwischen ihren Fingern. Es war schwer für Grace zu akzeptieren, dass ihre leibliche Mutter nicht so perfekt gewesen war wie gedacht. Er hatte geahnt, dass die Wahrheit ihr nicht gefallen würde.

»Es fällt mir immer noch schwer, das alles zu glauben. Trotzdem hättest du mich zu einem deiner ersten Treffen mit Kirsten mitnehmen sollen, dann hätte es sich nicht angefühlt, als würde ich von ihr ausgestochen.«

»Das hat sie nie getan.«

»Ich habe gesagt, es hat sich so angefühlt«, zischte Grace und rollte mit den Augen. »Warum hört ihr Männer eigentlich nie richtig zu?«

Jeff musterte seine Tochter amüsiert.

»Vielleicht, weil ihr Frauen euch nicht kurz und präzise genug ausdrückt.«

2

Kirsten stand vor ihrer Staffelei und kaute nachdenklich an dem Pinselstiel herum, den sie zwischen die Finger geklemmt hatte. Sie sah allerdings weder das Bild noch die Farbe, die an ihren Händen klebte.

Noch knapp zwei Wochen bis zu ihrem Hochzeitstag.

Ihr Mann war während der letzten Tage ständig in Begleitung seiner Tochter anzutreffen gewesen, und Grace war auffallend zurückhaltend mit ihren spitzen Bemerkungen gegenüber Kirsten. Ein Umstand, der sie zunehmend irritierte.

Jeff hatte wieder und wieder an mehreren Abenden angerufen und sich damit entschuldigt, dass er länger arbeiten musste. Allerdings gab es keine weitere Nacht, die er auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer verbrachte. Selbst dass er sie tatsächlich zwischendurch aus dem Schlaf riss, nahm sie gern in Kauf, wenn sie ihn nur neben sich spürte.

Dennoch war sie sich bewusst darüber, dass Jeff nach wie vor ein Geheimnis hütete, und die Tatsache, dass Grace offenbar involviert war und sich so ausnehmend nett verhielt – zumindest für ihre Verhältnisse –, ließ Kirsten wilde Mutmaßungen anstellen.

Es war schon mehr als auffällig, dass alle Freunde, Bekannten und sogar Jeffs Familie ihr zwar eine Zusage zu der Hochzeitsfeier machten, aber angeblich niemand zu ihrem dreißigsten Geburtstag kommen konnte. Nachdem sie sich anfangs über die unzähligen Absagen geärgert hatte, war sie mittlerweile in ihren Überlegungen zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es vielleicht Hoffnung auf eine heimlich geplante Überraschungsparty gab.

Entsprechend entspannt hatte sie sich weiter um die Organisation zu ihrem fünften Jahrestag gekümmert. Alles war perfekt durchdacht und bis ins Detail vorbereitet. Das Einzige, worum sie sich noch Sorgen machen musste, war der Sitz ihrer widerspenstigen roten Locken und des Kleides, das sie sich extra für die Feier gekauft hatte.

Vermutlich würde sie nicht so gut darin aussehen wie vor drei Wochen. In den letzten Tagen kämpfte sie ständig mit immer wiederkehrender Übelkeit und Appetitlosigkeit. Daraus folgend hatte sie entsprechend an Gewicht verloren, und sie brauchte mittlerweile einen Gürtel, um ihre Hosen auf den Hüften zu halten.

Vermutlich war es schon lange überfällig, dass sie einen Arzt aufsuchte. Allerdings war sie immer schon sehr nachlässig gewesen, was gerade diese Dinge betraf. In der Regel war sie jemand, der die Meinung vertrat, was von allein kam, würde auch von allein wieder gehen – obwohl sie als Vierzehnjährige an Eierstockkrebs erkrankt war und dadurch wusste, dass nicht alles auf die leichte Schulter zu nehmen war.

So elend, wie sie sich mittlerweile an manchen Tagen fühlte, war sie auch nicht mehr so sicher, ob es tatsächlich von allein gehen würde. Vermutlich hatte sie sich irgendeinen hartnäckigen Virus eingefangen und diesen verschleppt.

Wie schlimm sollte es schon sein?

Kirsten ernährte sich schließlich gesund und trieb sogar ein bisschen Sport. Weder rauchte sie, noch trank sie. Also konnte sie wohl davon ausgehen, dass sie, was auch immer sie sich eingefangen hatte, schnell wieder loswürde. Wenn der Stress mit der Hochzeitsfeier hinter ihr lag, würde sie einen Termin bei ihrem Hausarzt machen und das abklären lassen.

Das Klingeln des Telefons ließ sie heftig zusammenzucken. Ihre Stieftochter war an diesem Sonntagabend mit ihrer besten Freundin zu einem Kinobesuch gestartet und seither außer Haus. Obwohl Kirsten auf eine Überraschung durch Jeff hoffte, bohrte trotzdem der Stachel der Eifersucht in ihr. Grace war nicht jeden Tag mit ihm gemeinsam unterwegs, und gerade diese Arbeitstage an den Wochenenden, die er im Alleingang bewältigte, gaben Kirstens Misstrauen immer wieder neue Nahrung.

Sie starrte auf den Apparat, der neben der Tür zum Korridor auf einem kleinen Tisch stand. Nach dem dritten Läuten brach der Ton ab, und sie ahnte, dass Maggie den Anruf in der Küche beantwortete.

Ihr kam eine Idee.

Rasch drückte sie den Pinsel auf die Ablage ihrer Staffelei, hastete ins Schlafzimmer hinüber und zog sich im Laufen ihre Arbeitskleidung aus. Schließlich riss sie die Türen des Kleiderschrankes auf und griff hinein.

Eilig zog sie sich um. In dunkle Hosen und ein langärmeliges, schwarzes Shirt gekleidet, grinste sie übermütig ihrem eigenen Spiegelbild zu, flocht das rotblonde Haar zu einem Zopf und schlüpfte in ein Paar dunkle Turnschuhe. Jetzt fehlte nur noch eine Skimaske mit Augenschlitzen, und in der Nachbarschaft würde man sie für einen Einbrecher halten, sobald sie das Haus verließ.

Als sie fertig war, durchquerte sie das Atelier, schlich auf den Korridor hinaus und die Treppe zum Foyer hinab.

Maggies schlechtgelaunte Stimme erklang aus der Küche.

»Ich bin damit nicht einverstanden, Mr. MacAllister«, wütete sie. Durch die halbgeöffnete Tür konnte Kirsten sehen, wie die Haushälterin das schnurlose Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmte und deutlich verärgert ein Bund Möhren mit dem Messer bearbeitete. »Wie soll ich Verständnis dafür haben? Seit Tagen essen Sie auswärts, und Ihre Frau ist für regelmäßige Mahlzeiten offenbar auch nicht mehr zu begeistern. Ich weiß nicht, wofür ich mich hier überhaupt noch an den Herd stelle, wenn ich sie höchstens morgens dazu bewegen kann, eine Scheibe Toast zu knabbern.«

Behutsam schlich Kirsten weiter bis zum Ende der Treppe und an die Küchentür heran. Erneut hob Maggie die Stimme, und Kirsten zuckte zusammen, als die ältere Frau mit Schwung das Küchenmesser auf die Arbeitsplatte knallte. Obwohl sie mit dem Rücken zu Kirsten stand, strahlte ihre ganze Haltung unübersehbaren Ärger aus.

»Was? Natürlich liegt es nicht an meinen Kochkünsten!« Sie klang empört. Kirsten nutzte den Augenblick, angelte sich so leise wie möglich ihren Schlüsselbund von dem Bord neben der Tür und ließ ihn lautlos in ihrer Hosentasche verschwinden. »Ich habe keine Ahnung, warum sie nicht isst. Sie spricht von Übelkeit und Magenschmerzen.« Einen Augenblick lang lauschte Maggie angestrengt in den Hörer, ehe sie einen leisen Seufzer von sich gab. »Warten Sie einen Moment, ich gehe und bringe ihr das Telefon.«

Hektisch wandte Kirsten sich um und hastete auf Zehenspitzen zu dem dunklen Wohnzimmer hinüber. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter den Glastüren verbergen, als Maggie auch schon mit dem Telefon in der Hand das Foyer betrat und die Treppe zum Obergeschoss emporstapfte.

Als Kirsten sah, wie die Haushälterin auf dem oberen Treppenabsatz verschwand, lief sie in die Küche, eilte hindurch und stürmte zur Hintertür hinaus. Erleichtert rannte sie durch den Garten und zu der Garage hinüber, wo sie sich hinter das Steuer ihres Wagens gleiten ließ.

Mit einem aufgekratzten Lachen steckte sie den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Vielleicht war ihr unüberlegter Plan völlig verrückt, aber sie wollte keine Sekunde länger in Ungewissheit verbringen. Ganz gleich, welche Konsequenzen es mit sich brachte … Wenn sie wissen wollte, was wirklich vor sich ging, musste sie ihn in flagranti ertappen.

Heute noch!

* * *

»Was soll das heißen: Sie ist nicht da?«

Besorgt lauschte Jeff seiner mittlerweile unüberhörbar wütenden Haushälterin, die ihrem Unmut nun Luft machte.

»Sie ist nicht zu Hause«, fauchte Maggie. »Wundert Sie das, Mr. MacAllister? Ich weiß, es geht mich nichts an, und natürlich war ich anfangs auch sehr begeistert von der Idee mit der Party, aber hätten Sie es nicht unauffälliger planen können? Welche Art von Überraschung ist das, wenn Ihre Frau annehmen muss, Sie würden sich anderweitig vergnügen?«

Genervt fuhr er sich mit einer Hand durch das Haar. Dass seine Angestellte ihn nun mit den gleichen Vorwürfen bombardierte, die Grace ihm vor nicht allzu langer Zeit an den Kopf geworfen hatte, machte seine Laune nicht gerade besser.

»Verdammt noch mal, Maggie! Ich tue nichts dergleichen, und Sie wissen, womit ich jeden Abend beschäftigt bin. Ich kann diese Planungen nicht während meiner normalen Arbeitszeit bewerkstelligen, ich habe schließlich auch noch einen Job zu erledigen.«

»Dann sorgen Sie dafür, dass Ihre Frau wieder isst und nicht auf eine Magersucht zusteuert. Guten Abend!«

Das Besetztzeichen des Telefons war ein passendes Ende für das unbefriedigende Gespräch mit Maggie. Jeff knallte den Hörer auf die Gabel und rieb sich über das Kinn.

Wo zum Teufel war seine Frau?

Und was war dran an Maggies Sorge über Kirstens Gesundheitszustand?

Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie in den letzten Wochen abgenommen hatte – aber er schob es auf den Stress mit den Vorbereitungen zu ihrem Hochzeitstag. Seit dem Streitgespräch mit Grace war ihm klar geworden, dass seine Frau sich vermutlich ihre eigenen Gedanken über sein ständiges Fernbleiben machte.

Allerdings hatte sie in den letzten Tagen so entspannt gewirkt, und er hatte gehofft, sie hätte sich schlichtweg mit der Situation arrangiert – zumal er nun, egal wie spät es wurde, immer zu ihr ins Bett geschlichen kam.

Dass sie heute allerdings, entgegen ihrer Gewohnheiten, an einem Sonntagabend das Haus verließ, ohne Maggie zu informieren, wohin sie ging, frustrierte ihn. Und es gab der Situation einen unangenehmen Beigeschmack, weil es ihn auf fatale Weise an das Fiasko seiner ersten Ehe erinnerte.

Shannon hatte sich kurz nach Graces Geburt einen Liebhaber gesucht. Dabei war diese Tatsache nur der letzte Anstoß gewesen, warum ihre Beziehung endgültig zerbrochen war – dennoch fragte Jeff sich immer wieder, ob er sie mit seinem eigenen Verhalten schon vorher von sich fortgetrieben hatte.

Sie hatte keine Kinder gewollt und keine Ketten, die sie an ihn banden. Sie war nicht bestimmt gewesen für diese Art von Beziehung, aber er hatte ihr seinen Willen aufgezwungen, und letztlich hatte eine lebenshungrige, schöne, junge Frau dafür mit ihrem Leben bezahlt … und ein kleines Mädchen seine Mutter verloren.

Leise seufzend strich er sich mit einer Hand über das Kinn.

Die Vergangenheit konnte niemand ändern, ganz gleich wie oft er sich wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können, um alles anders zu machen.

»Alles in Ordnung?«

Jeff wandte sich seinem jüngeren Bruder zu und verzog den Mund.

»Nichts ist in Ordnung«, gab er zurück. »Kirsten ist nicht zu Hause, und ich habe ein wirklich ungutes Gefühl im Bauch.«

»Meinst du, sie weiß etwas?«, wollte Ray wissen.

Schulterzuckend schob Jeff die Hände in die Hosentaschen und wanderte unruhig vor dem Schreibtisch auf und ab.

»Ich bezweifle, dass sie die Wahrheit kennt. Aber natürlich ahnt sie, dass etwas nicht stimmt. Das Problem ist, dass sie mir die Ausreden vermutlich schon lange nicht mehr abnimmt und trotzdem nichts sagt. Es widert mich an, dass ich sie ständig anlügen muss.«

»Wir sind so gut wie fertig. Du musst nicht einmal mehr zwei Wochen durchhalten«, bemerkte Ray. Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich überlege, was für einen Aufwand du wegen einer Frau betreibst, streiche ich die Möglichkeit einer monogamen Beziehung lieber ganz schnell aus meinen Zukunftsplänen.«

»Sag niemals nie«, erwiderte Jeff mit müdem Lächeln. »Nach Shannons Tod war ich mir sicher, ich würde kein zweites Mal heiraten, aber manchmal trifft es einen wie der Blitz aus heiterem Himmel … Und wo bin ich heute? Ich bekomme graue Haare wegen einer dämlichen Geburtstagsparty und muss damit rechnen, dass mir mein eifersüchtiges Eheweib an der nächsten Ecke mit einem Nudelholz auflauert.«

Ein Grinsen zuckte um Rays Mundwinkel. »Kirsten kann doch gar nicht kochen.«

»Das war als Metapher gemeint, du Idiot!« Mit beiden Händen gleichzeitig fuhr Jeff sich durch das dunkle Haar und nickte zu dem Konferenztisch hinüber. »Lass uns weitermachen, ich will endlich fertig werden.«

»Du hast es nicht dementiert«, stellte Ray mit unüberhörbarer Genugtuung fest.

Jeff musterte ihn eine Sekunde lang eindringlich, ehe er mit den Schultern zuckte. Kirstens nicht gerade hervorstechende Künste am heimischen Herd sorgten zwischen Ray und ihm stets für Neckereien. Eine Tatsache, mit der sein jüngerer Bruder ihn nur zu gern aufzog, weil Jeff in früheren Jahren nie müde geworden war zu betonen, wie wichtig ihm eine Frau sei, die gut kochen konnte.

Kirstens Talente lagen allerdings auf anderen Gebieten. Sie war eine großartige Künstlerin, eine warmherzige Ehefrau und eine leidenschaftliche Geliebte – Attribute, für die Jeff gern auf herausragende Kochkünste verzichtete.

Wenn er jedoch ehrlich war, zog er Maggies kulinarische Köstlichkeiten den angebratenen Eiern vor, die Kirsten ihm zu Beginn ihrer Ehe vorgesetzt und die er mit brennenden Augen heruntergewürgt hatte, weil sie ihm ein so treuherziges Lächeln schenkte.

Nein, er würde Rays Behauptung weder dementieren noch kommentieren. Seinen übermäßig charmanten und leider ausgesprochen gutaussehenden Bruder ging es nämlich gar nichts an, was Jeff so genau an Kirsten schätzte.

»Kümmern wir uns um die wichtigen Dinge im Leben.« Entschlossen schob er ihn zum Konferenztisch hinüber.

* * *

Nervös knabberte Kirsten an ihrem Daumennagel und ließ den Blick immer wieder zu dem Haupteingang des Bürogebäudes huschen, vor dem Jeffs dunkelgrüne Limousine stand. Sie hatte ihren eigenen Wagen in einer Seitenstraße geparkt und konnte sowohl den modernen Firmensitz von Allister-Airlines als auch den Parkplatz davor im Auge behalten, auf dem mitten in der Nacht noch ein knappes halbes Dutzend Autos standen.

Die Fensterfront in der oberen Etage des Gebäudes war hell erleuchtet. Offenbar war er tatsächlich noch im Büro.

Allerdings wartete sie vergeblich darauf, dass bei dieser Erkenntnis so etwas wie eine beruhigende Wirkung einsetzte. Die Firma ihres Mannes bot etwa dreihundert Menschen einen gut bezahlten Job, von denen zwei Drittel in diesem Bürogebäude arbeiteten und ungefähr die Hälfte aus weiblichen, oft sehr hübschen, jungen Mitarbeiterinnen bestand.

Für Kirsten war durchaus nachvollziehbar, warum manch bezaubernde Sekretärin ein paar Arbeitsstunden für den attraktiven Firmenchef opferte. Zähneknirschend drückte sie sich in die Polster ihres Sitzes und atmete tief durch.

Warum kämpfte sie ausgerechnet jetzt mit ihrer Eifersucht?

Es hatte sie früher nie gestört, wenn Jeff ein paar Tage lang Überstunden schob und nicht jeden Abend pünktlich nach Hause kam. Trotz allem funktionierte ihre Ehe ausgezeichnet.

Aber seit sie sich in diese Idee mit der Familienplanung verrannt hatte, schien er mehr und mehr Abstand zu suchen. Vielleicht wollte Jeff gar kein Kind, erst recht kein adoptiertes … vielleicht hatte er sich nur ihr zuliebe darauf eingelassen. Für einen Moment kniff sie die Augen zu und rieb mit den Fingern über ihre Schläfen.

Verdammt, ihr Kopf schwirrte von all den unbeantworteten Fragen und den chaotischen Gedanken. Früher hatten sie über alles reden können.

Warum wagte sie es jetzt nicht, ihn einfach zu fragen?

Hatte sie schlichtweg Angst davor, dass seine Antwort ihr nicht gefallen würde? Dass er sagen würde: ›Du hast recht, eigentlich will ich kein zweites Kind. Ich tu das nur, weil du mich darum gebeten hast.‹

Natürlich wollte sie solche Worte nicht aus seinem Mund hören, aber sie konnte diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Möglicherweise hatte Jeff nur aus Gefälligkeit ein Okay gegeben. Das war es wirklich nicht, was sie wollte. Ein Gefühl von tiefem Bedauern machte sich in ihr breit, als sie die Augen wieder öffnete und zu seinem Wagen hinüberstarrte.

Es war fast Mitternacht.

Dass sie hier wartete, um ihm aufzulauern, war wirklich kindisch und hatte sich nur im Eifer des ersten Augenblicks wie ein grandioses Abenteuer angefühlt. Sie sollte heimfahren, ausschlafen und morgen endlich das Gespräch mit Jeff suchen, um die Angelegenheit zu klären.

Seufzend setzte sie sich zurecht, und ihre Finger griffen suchend nach dem Zündschlüssel.

Gerade als sie den Wagen starten wollte, kam Leben in das Foyer von Allister-Airlines. Der diensthabende Nachtwächter schloss das Hauptportal auf, und Kirsten erkannte Jeff, der gemeinsam mit einer Handvoll anderer Menschen die Firma verließ.

Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen kroch.

Das sah nicht nach einer heißen Affäre aus, sondern nach dem Ende eines geschäftlichen Treffens. In der Dunkelheit auf dem Parkplatz konnte sie zwar keine Gesichter erkennen, aber eine Person vermeinte sie als Jeffs Bruder Ray auszumachen. Da er zudem Jeffs Anwalt war, bestärkte es die peinliche Erkenntnis, dass sie ihrem Mann nachspionierte, der nichts anderes tat, als sich um seinen Job zu kümmern. Dennoch konnte sie eine gewisse Erleichterung nicht verleugnen – er hatte also doch keine Affäre. Sie lächelte.

Der größte Teil der Gruppe verabschiedete sich mit kurzem Winken, steuerte auf die diversen Autos zu und verließ den Parkplatz schließlich in verschiedene Richtungen. Nur Jeff blieb mit Ray und einer jungen Frau neben seinem Auto stehen und war noch in ein Gespräch vertieft. Kirsten hatte trotz des schwachen Lichtkegels, der aus dem Foyer drang, Schwierigkeiten, etwas zu erkennen, war sich aber zunehmend sicher, dass der große, blonde Mann Jeffs Bruder war.

Die Frau, die neben ihm stand, war halb von ihm verdeckt, und Kirsten konnte nichts weiter ausmachen als langes, helles Haar, das sie zu einem dicken Zopf in ihrem Nacken gebunden trug. Als Ray ihr einen Arm um die Schultern legte und sie an sich drückte, schwand auch der letzte Rest Misstrauen in Kirsten und machte einem unangenehmen Gefühl von Scham Platz.

Das war peinlich.

Sie hätte nicht herkommen sollen.

Auf der anderen Seite hätte es noch viel unerfreulicher werden können, nämlich wenn sie hineingestürmt und Jeff unverdient eine Szene gemacht hätte. Kirsten verkniff sich ein überdrehtes Kichern und langte nach dem Sicherheitsgurt, um sich anzuschnallen.

Zeit, von hier zu verschwinden.

Ray verabschiedete sich von Jeff und ging zu dem roten Sportwagen hinüber, den Kirsten nun eindeutig als sein Auto identifizierte. Jeff hatte nach dem Kauf noch einige boshafte Witze gegenüber Ray gemacht, ob er damit seine schwindende Potenz kompensieren wolle, aber der hatte mit einem breiten Grinsen gemeint, Jeff sei bloß neidisch.

Zu Kirstens Verwunderung blieb die Frau mit dem blonden Haar vor Jeff stehen und winkte Ray zu, als dieser hupend an ihnen vorüberfuhr.

Der Lichtkegel seines Wagens huschte über Kirstens Mann und die Fremde, die ihm gegenüberstand.

Sehr hübsch, sehr blond und sehr jung.

Und sie sah aus wie die Frau auf dem Bild, das nach all den Jahren immer noch in der Bibliothek über dem Kamin hing. Für einen Moment hätte Kirsten geschworen, Shannon wäre auferstanden.

Sie spürte ihren eigenen Herzschlag in der Kehle klopfen und blickte wie erstarrt zu den beiden Menschen hinüber, die nun im Halbdunkel zusammenstanden und sich leise unterhielten.

»Bitte verabschiede dich von ihr und fahr nach Hause«, wisperte Kirsten tonlos.

Tatsächlich kam in diesem Augenblick Bewegung in die dunklen Umrisse. Jeff öffnete die Beifahrertür, ließ die junge Frau einsteigen und eilte um den Wagen herum, ehe er hinter das Steuer glitt.

Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor, während Kirsten das Lenkrad umklammert hielt. In ihren Ohren war ein sphärisches Rauschen, und ihr Blick löste sich auch nicht von dem Lexus, als dieser langsam den Parkplatz verließ. Ihr war kalt, und ihr Magen fühlte sich an, als hätte er sich gerade zweimal um sich selbst gedreht. Dennoch schnallte Kirsten sich an, startete den Wagen und folgte der Limousine ihres Mannes in einigem Abstand.

Vielleicht brachte er sie nur nach Hause … aber in ihrem Kopf entstanden ungewollt so viele Bilder von schwitzenden, vereinten Körpern und einem Ehemann, der von ihr die Scheidung verlangte, dass Kirsten hektisch an dem unangenehmen, bitteren Geschmack schluckte, der in ihr emporkroch.

Was war, wenn er sie verließ?

Wenn er eine Frau gefunden hatte, die ihn von den Haarspitzen bis zu den Zehen an Shannon erinnerte?

Vielleicht konnte sie sogar kochen … etwas, wofür Kirsten sich nie hatte begeistern können und was sie gern Maggie überließ.

Sie war ein Organisationstalent und ausgesprochen kreativ, aber ihre kulinarischen Künste waren die absolute Katastrophe. Alles, was sie konnte, war, sich ein Butterbrot zu schmieren und eine Dose aufzureißen, um deren Inhalt in der Mikrowelle zu erwärmen.

Das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter, und sie spürte, wie das Blut heiß durch ihre Adern pumpte. Feine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe, und die Übelkeit wurde geradezu unerträglich.

Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, welche Konsequenzen sie damit heraufbeschwor, trat sie das Gaspedal durch. Der kleine Hyundai schien sich einen Moment aufzubäumen, als sie mit quietschenden Reifen zu Jeffs Wagen aufholte und im Augenblick eines Wimpernschlages an ihm vorbeizog.

Sie spürte bis in die Fußspitzen, wie sie den Kotflügel des Lexus mit der hinteren Stoßstange ihres eigenen Autos streifte. Jeffs wütendes Gehupe verfolgte sie immer noch, als sie den Wagen um die nächste Ecke lenkte und zornig nach Hause fuhr.

Er konnte froh sein, dass sie ihm nicht ins Heck gefahren war … Wenn er nach Hause kam, könnte er was erleben.

* * *

Verärgert stellte Jeff den Motor des Wagens aus, zog den Schlüssel ab und stieg aus.

Diese Nacht war für ihn gelaufen. Eine geschlagene Stunde hatte er auf der Polizeiwache zugebracht, nur um sich anhören zu müssen, dass der Kratzer an seinem Auto ein Bagatellschaden sei und die Anzeige gegen Unbekannt vermutlich zu keinem großen Erfolg führen würde.

Dabei hatte Jeff ihnen sogar die Automarke des rücksichtslosen Rowdys nennen können. Ein kleiner, schwarzer Hyundai wie der von Kirsten. Carolyne, die mit ihm im Wagen gesessen hatte, war viel zu geschockt von dem Vorfall gewesen und hatte keine Aussage machen können. Es war fast halb zwei, als er sie endlich vor Stuarts Haus hatte absetzen können.

Müde warf er die Autotür ins Schloss, betätigte die Funkverriegelung und sah zu Kirstens Auto hinüber, das mit den Vorderrädern mitten in den Blumenrabatten stand.

Er stutzte.

Ein unübersehbarer, deutlicher Kratzer zeigte sich auf der linken Seite ihrer hinteren Stoßstange – genau in Höhe seines Kotflügels.

Nein!

Das konnte doch nicht wahr sein!

Ärger und Frustration machten sich in ihm breit, aber gleichzeitig fügten sich plötzlich die Puzzlestückchen zusammen.

Sie war nicht daheim gewesen.