A Light Is All We Have - Ewa Aukett - E-Book
SONDERANGEBOT

A Light Is All We Have E-Book

Ewa Aukett

5,0
0,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie können einander geben, was sie brauchen, aber sie wollen viel mehr als das …   "Ich brauche eine Ehefrau. Würden Sie mich heiraten?" Mit dieser Frage hat Carolyne Gregory nicht gerechnet. Vor allem, da sie den sechzehn Jahre älteren Stuart McNamara kaum kennt. Doch in diesem überraschenden Moment ergreift Carolyne die Chance, nach der sie sich immer gesehnt hat: ein Leben jenseits der Armut und die Verwirklichung ihres Traums von einer besseren Zukunft. Eine Vernunftehe ohne Gefühle scheint für beide genau das Richtige zu sein. Auch Stuarts Motive für den Antrag haben nichts mit Liebe zu tun. Doch was, wenn sich plötzlich echte Gefühle in diesen Business-Deal einschleichen? Ist Carolyne bereit, das Risiko einzugehen und um einen Mann zu kämpfen, dessen Herz einer anderen gehört?   In diesem fesselnden dritten Roman der "All we have"-Reihe von Bestseller-Autorin Ewa Aukett enthüllt Stuart endlich seine tiefsten Geheimnisse. Die Romane sind in sich abgeschlossen, aber durch wiederkehrende Figuren verbunden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
PetraB

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Eine Wahnsinns Geschichte. Toll!
00



A LIGHT IS ALL WE HAVE

ALL WE HAVE – BAND 3

EWA AUKETT

PROLOG

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Während er nervös durch das Zimmer schritt, nickte sie ihm mit diesem ihr eigenen zarten Lächeln zu, das er so sehr an ihr liebte. »Wenn du es nicht kannst, müssen wir jemand anderen finden.«

Er blieb stehen und betrachtete sie – sie sah traurig und müde aus.

Es schnürte ihm die Kehle zu, sie so zu sehen. Noch vor einem Jahr hätte er es niemals für möglich gehalten, sie so verändert erleben zu müssen – dem Tode näher als dem Leben. Ihre Haut war bleich und wächsern, regelrecht durchscheinend. Ihr einst so glänzendes Haar war stumpf geworden.

Aber dieser Ausdruck in ihren Augen war der gleiche wie früher: liebevoll, sanft und voller Zärtlichkeit. Es zerriss ihm das Herz, so unfähig zu sein, ihr helfen zu können.

War das wirklich der einzig mögliche Weg?

Wie konnte er ihr diesen einen Wunsch verwehren?

War er nicht von Egoismus fehlgeleitet, wenn er sich weigerte?

Er ging vor ihr in die Hocke und griff nach ihren Händen.

Sein Blick war eindringlich. »Liebling, ich verstehe deine Entscheidung, aber hältst du das wirklich für den richtigen Weg? Können wir nicht warten?«

Sie entzog ihm zögernd ihre Finger und legte sie auf sein Gesicht, sanft, kaum spürbar. Er atmete flach. Der Schmerz, der sich in ihn bohrte, raubte ihm die Luft. Er hatte nicht gewusst, wie grausam Liebe sein konnte.

»Du weißt, was der Doktor gesagt hat. Vielleicht sind es noch drei Wochen, höchstens ein Monat … Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich will mehr sein als ein sabberndes hilfloses Stück Fleisch, das sich nicht mehr artikulieren kann und allen zur Last fällt.«

Er ließ die Stirn auf ihre Knie sinken.

Wie sehr er es hasste, wenn sie so sprach.

»Sag das nicht, Amy.«

Er spürte ihre Finger in seinem Haar, während sie über seinen Hinterkopf strich. »Ich weiß, wovon ich rede, mein Schatz. Ich bin voller Metastasen. Sie sitzen in meiner Lunge, meiner Leber, meinem Gehirn, meinem Rückenmark … Ich will nicht so werden und dein Leben in eine Hölle verwandeln.«

Fast wütend hob er den Kopf. Sein Blick war verschleiert. Ihm war gleichgültig, dass sie seine Tränen nun doch sah. »Das tust du niemals!«

Ihr Lächeln war voller Sanftmut. »Ich weiß, Liebling. Ich weiß, dass du alles für mich tun und es bis zum Ende mit mir durchstehen würdest. Aber ich will das nicht. Ich will mich selbst nicht so erleben, mit dem letzten Rest meines Verstandes. Lass mir meine Würde, solange ich noch welche habe.« Sie hielt sein Kinn fest, als er sich abwenden wollte. »Sieh mich an, Darling. Ich wiege nur noch die Hälfte meines eigentlichen Gewichts. Selbst der Onkologe hat sich gestern gewundert, dass ich überhaupt noch laufen kann.«

»Vielleicht wirst du wieder gesund. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollen.«

Aus Amys Augenwinkel lösten sich zwei Tränen, die ihr über die Wange rollten. Stuart schluckte hart.

»Nein. Bitte … Ich spüre jeden einzelnen Knochen, jede Muskelfaser fühlt sich an, als würde sie langsam zerreißen. Alles in mir ist Schmerz. Ich vergesse immer mehr Dinge, verliere meine Erinnerungen … Ich kann nur noch undeutlich sehen und nichts mehr riechen. Ich erlebe diesen Verfall mit all meinen Sinnen und spüre, wie ich mich selbst verliere. Es wird Zeit.«

Er schloss die Augen. Tränen schmeckten salzig und bitter. Ihre Hitze brannte sich in seine Haut und verwandelte sich dort in Eis.

Mit einem Schluchzer kroch er näher an sie heran, schloss sie in seine Arme und hielt sie fest.

»Ich liebe dich, Amy.«

»Ich liebe dich, Stuart. Das ist nicht das Ende; wir sehen uns irgendwann wieder.«

»Ich weiß nicht, wie ich dieses Leben ohne dich ertragen soll.«

»Du wirst den Abschied überwinden, Liebling. Es wird schwer werden, aber du besitzt viel mehr Stärke, als du denkst. Du hast eine Familie, die dich liebt und der du wichtig bist. Du hast Freunde. Sie alle werden dich auffangen.«

»Aber du wirst nicht mehr bei mir sein.«

Sie rückte ein Stück von ihm ab und küsste seine Lippen. Dann legte sie ihm eine Hand aufs Herz. Ihre Blicke tauchten ineinander. »Ich bin dort drin und werde dich auf deinem Weg begleiten. Ich will dir dabei zusehen, wie du wieder glücklich wirst, wie du lachst, wie du dich verliebst und der Vater wirst, zu dem ich dich nicht habe machen können.«

»Ich kann das nicht.«

»Doch, du kannst, Stuart. Du kannst und du wirst! Die Zeit wird vergehen, und du wirst dein Herz wieder öffnen. Versprich es mir.«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht …« Sie an sich drückend, holte er tief Luft. Der Schmerz riss ihn in zwei Teile, und doch wusste er, dass er ihr diesen letzten Wunsch nicht verwehren würde.

Als er ihr in die Augen sah, las sie seinen Entschluss in seinem Blick. Ihr Lächeln war voller Erleichterung.

»Danke. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange«, wisperte sie.

»Es tut so verdammt weh.«

»Das ist mir klar.« Sie küsste ihn. »Lass uns jetzt nicht über das Morgen nachdenken, lass uns die Gegenwart auskosten, als würde sie niemals enden.«

Er bemühte sich um ein Lächeln, als er sie anschaute. In ihrem Blick sah er, dass sie ihn durchschaute. Es war Amys einziger Wunsch, und er wusste, dass er ihn ihr erfüllen würde.

Sie weinten gemeinsam.

1

Harbor Point Estates war ein wohlklingender Name für den Trailerpark am Wolf Lake von Chicago. Hier reihte sich Mobilheim an Mobilheim, und obwohl der neue Park-Manager bereits einen Teil der zu vermietenden Trailer gegen bessere Exemplare ausgetauscht hatte, lag immer noch dieser graue Hauch von Traurigkeit und Tristesse über allem.

Carolyne stieg von ihrem Fahrrad und schob es die letzten Meter bis zu ihrem eigenen Heim. Der einst weiße Trailer mit den größer werdenden Rostflecken besaß mittlerweile eine schmutzig gelbe Farbe, die nicht mehr sauber zu bekommen war. Daran änderte auch der Regen nichts, der an diesem ersten nebeligen Apriltag auf sie niederprasselte.

Wie lange würden sie hier noch wohnen können, bis der Manager die Preise so stark anhob, dass sie freiwillig gingen? Viele ihrer früheren Nachbarn waren inzwischen umgezogen und ihre Wohnwagen dem Erdboden gleichgemacht worden.

Carolyne wusste, dass ihr eigener Trailer dem Park-Manager schon lange ein Dorn im Auge war. Allerdings besaßen sie und ihre Mutter nicht die finanziellen Mittel, um in einen seiner neuen Trailer umzuziehen oder sich eine andere Wohnwagensiedlung zu suchen.

Wenn der Tag kommen würde, an dem sie die Miete für den Stellplatz nicht mehr aufbringen konnten, blieb ihnen nur noch die Option, in eine Gegend von Chicago zu ziehen, wo die Kriminalitätsrate so hoch war, dass sie die erste Woche wahrscheinlich nicht überleben würden.

Die Aussicht darauf war wenig verlockend.

Sie strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht, rückte ihre Kapuze zurecht und kettete das Fahrrad an das Metallgestänge des Trailers, ehe sie die Plane darüberzog. Dann fischte sie den Schlüssel aus der Hosentasche und ging die wenigen Stufen zur Haustür hinauf.

Sie ignorierte die schlechte Luft und den muffigen Geruch von alten Zigaretten, der ihr entgegenschlug, als sie den Wohnwagen betrat. Gleichgültig, wie oft sie ihre Mutter bat, wenigstens draußen zu rauchen, es änderte sich nichts.

Dorothy hatte ihren eigenen Kopf und war der Meinung, wenn der Krebs sie ohnehin auffraß, musste Carolyne nun nicht damit beginnen, ihr die Dinge zu verbieten, die sie so sehr mochte.

Immerhin hatte sie schon mit dem Tag ihrer Geburt das Leben ihrer Mutter ruiniert. Das bekam sie seit fünfundzwanzig Jahren jeden Tag zu hören.

Dorothys Stimme erklang: »Bist du das, Carolyne?«

Auch ohne ihre Mutter zu sehen, wusste Carolyne, dass sie betrunken auf dem Sofa lag – wie so oft in den letzten Wochen.

Resigniert warf sie ihren Schlüssel in die Schale auf der Kommode, streifte sich die Jacke von den Schultern und hängte sie an die Garderobe. Dieses Leben war so öde wie der graue Himmel über Chicago. Ein Tag reihte sich an den anderen wie die Wohnwagen in diesem Park; nichts änderte sich an dem Gefühl der Leere, wenn sie nach Hause kam.

»Ich bin da«, rief sie zurück und ging in die kleine Küche hinüber. Sie wusste, was Dorothy wollte, wenn sie im Wohnzimmer hockte und sich von irgendwelchen Gameshows berieseln ließ. Es war das stets gleiche Ritual, wenn Carolyne von ihrer Vormittagsschicht heimkam.

Sie nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete die Flasche und brachte sie ihrer Mutter. Dorothy musterte kurz ihr Kellnerinnenoutfit, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zuwandte.

»Hast du was zu essen mitgebracht?«

Carolyne schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum nicht?«

»Es gibt erst Ende der Woche Geld, Mom. Ich mache dir gleich ein Sandwich.«

»Tu mehr Mayonnaise drauf.«

»Der Doktor hat gesagt –«

»Mir ist scheißegal, was der Doktor sagt«, unterbrach Dorothy sie unwirsch. »Tu mehr Mayonnaise drauf. Es schmeckt beschissen, wenn das Brot so trocken ist.«

Carolyne presste kurz die Lippen aufeinander, ehe sie nickte. »Okay.«

Sie verzog sich wieder in die Küche und betrachtete das Chaos, das Dorothy nach einem halben Tag allein hier wieder hinterlassen hatte. Der Abwasch stapelte sich in der Spüle, leere Flaschen standen auf den Schränken herum. Irgendetwas war ihr in der Nähe der Mikrowelle umgekippt und ausgelaufen.

Wortlos begann Carolyne, das Chaos zu beseitigen. Als Dorothy zu nörgeln anfing, machte sie ihr ein Sandwich und brachte es ihr ans Sofa. Zwanzig Minuten später war die Küche wieder sauber, und obwohl Carolyne wusste, dass sie morgen um diese Zeit genauso aussehen würde wie zuvor, erfüllte es sie für den Moment mit ein wenig Zufriedenheit.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Dorothy auf dem Sofa eingeschlafen war, ging sie in ihr eigenes Zimmer hinüber. Eigentlich war es nur eine Kammer. In dem kleinen Raum hatten lediglich ein schmales Bett, eine Kommode und ein Tisch mit Stuhl Platz. Aber es war ihr Reich. Hier war sie allein mit ihren Büchern, ihren Zeichenutensilien und sich selbst. Hier verlangte niemand nach Bier oder etwas zu essen.

Sie entledigte sich rasch ihrer Berufsbekleidung, schlüpfte in Jogginghosen und ein T-Shirt und ließ sich auf das Bett sinken. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief durch.

Ein Jahr noch. Ein Jahr und sie würde endlich von hier weggehen können. Dann hatte sie genug zusammengespart, um die sechs Semester Kunstschule zu absolvieren und sich ein Zimmer in einer WG zu mieten.

Danach würde alles besser werden.

Das musste es einfach.

Sie wollte nicht wieder hierher zurückkehren.

Wenn sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, konnte sie sich einen Job und eine kleine, bezahlbare Wohnung suchen. Natürlich würde sie ihre Mutter finanziell unterstützen, dafür sorgen, dass jemand kam, der sich um sie kümmerte.

Carolyne schüttelte den Kopf.

Vielleicht waren das alles auch nur alberne Tagträume. Vielleicht würde sie dem Elend und der Armut niemals entkommen. Vielleicht war es, wie ihr Englischlehrer im letzten Jahr an der Highschool gesagt hatte: Manche Menschen wurden in die unterste Gesellschaftsschicht hineingeboren und fanden niemals den Weg hinaus.

Mit einem Seufzer griff sie nach ihrem Handy, stellte den Wecker und zog die Bettdecke über sich. Ihre nächste Schicht begann um halb sieben. Bis dahin konnte sie noch ein paar Stunden Schlaf nachholen und von einem besseren Leben träumen.

* * *

Carolyne hetzte die Treppe der Tiefgarage hinauf und wäre auf der letzten Stufe fast ins Straucheln geraten. Leise fluchend hielt sie sich am Geländer fest, schlüpfte zurück in den halb verlorenen Schuh und rannte weiter.

Sie war zu spät. Viel zu spät. Sie hatte das Klingeln des Weckers im Halbschlaf ignoriert und den Alarm aus- statt auf Wiederholung gestellt. Sie war wieder fest eingeschlafen und erst wach geworden, als sie schon auf dem Weg zur Arbeit hätte sein sollen.

Statt sich wie üblich in Ruhe vorzubereiten, war sie hektisch in ihre Kleidung geschlüpft und mit dem alten, klapprigen Auto ihrer Mutter durch Chicago gerast. Der Versuch, ihren Boss anzurufen und ihm Bescheid zu geben, dass sie bereits unterwegs war, war erfolglos gewesen.

Sie war fast eine Stunde zu spät, als sie endlich das Diner erreichte, in dem sie ihren täglichen Zweitjob für die Abendstunden antrat.

Der Blick, der sie traf, als sie in den Gastraum kam und sich hastig die Jacke von den Schultern streifte, hätte kaum giftiger sein können. Wenn Steve Philipps etwas nicht leiden konnte, dann Unpünktlichkeit. Ihr Boss sah demonstrativ auf seine Uhr, als sie hinter den Tresen schlüpfte.

»Tut mir leid«, wisperte sie im Vorbeigehen.

»Das passiert nicht wieder«, warnte er. »Kommst du nochmal zu spät, bist du raus.«

Sie schluckte. »Ja, Boss.«

Rasch stopfte sie ihre Jacke in den Schrank unter dem Tresen und stimmte sich hastig mit ihrer Kollegin Maria ab. Dann schnappte sie sich ihren Block und begrüßte die nächsten Gäste mit einem professionellen Lächeln, um deren Bestellungen entgegenzunehmen.

Die folgenden Stunden verliefen glücklicherweise ohne weitere Katastrophen. Der Strom an Laufkundschaft wollte an diesem Abend gar nicht abreißen, und der Gastraum leerte sich nur langsam, als es auf Mitternacht zuging.

In der hintersten Ecke, links von der Eingangstür, saß ein Mann. Er war gegen zehn hereingekommen, und Carolyne war davon überzeugt gewesen, dass er zu einem Date verabredet war. Doch nun, eine halbe Stunde bevor sie schlossen, hockte er immer noch einsam und allein an seinem Tisch.

Er war ihr bereits aufgefallen, als er das Lokal betreten hatte: groß und schlank, mit schwarzem Haar und angegrauten Schläfen. Er trug einen dunklen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine Krawatte. Der typische Geschäftsmann, eigentlich nicht weiter auffällig, und dennoch … Sie wusste nicht, woran es lag, aber irgendwie passte er nicht hier rein.

Er hatte eine Weile gebraucht, bis er sich zu einer Bestellung durchgerungen hatte – vielleicht war seine Verabredung geplatzt? Er hatte ein Pastrami-Sandwich mit Fritten und einen Caesar Salad bestellt und in der Zwischenzeit locker zwei Liter Eistee getrunken.

Carolyne räumte die nächsten beiden Tische ab und brachte das benutzte Geschirr in die Küche. Warum sie überhaupt einen Blick auf diesen Kerl geworfen hatte, konnte sie sich nicht wirklich erklären. Der Typ war eindeutig zu alt für sie, und außerdem hatte sie keine Zeit, um nach Männern Ausschau zu halten.

Zugegeben, er war attraktiv, sie war ja nicht blind. Das kantige Gesicht, das energische Kinn, eine sehr angenehm warme und doch männliche Stimme. Er hatte braune Augen – das war ihr aufgefallen, als sie seine Bestellung aufgenommen hatte. Augen, in denen ein tiefer, trauriger Ausdruck lag, der sich offenbar nicht zu verflüchtigen schien.

Vielleicht war es das, was sie so anzog. Dieser melancholische Blick und diese Aura von Verzweiflung, die ihn umgab. Vielleicht fühlten sich unzufriedene Menschen voneinander angezogen … Aber sie wollte das nicht. Ihr Leben war schon grässlich genug.

Die halbe Zeit hatte er zu den Schaufenstern hinausgeblickt, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg gewesen. Sie hatte ihn nicht einmal lächeln gesehen. Selbst dann nicht, als sie ihm zuletzt den Eisbecher und seinen Kaffee gebracht hatte.

Vor seiner zweiten Tasse Kaffee hockte er nun immer noch. Sicher war der mittlerweile kalt. Er war der letzte Gast im Diner und mit seinen Gedanken offenbar weit fort. Mit einem Seufzer zog sie los, um die restlichen leeren Tische aufzuräumen und zu säubern.

Ihr Boss war vor zehn Minuten gegangen; das machte er immer. Seine Angestellten waren dafür verantwortlich, dass das Diner wieder auf Hochglanz gebracht wurde, die Einnahmen ihren Weg in den Tresor fanden und man am nächsten Tag wieder von vorn beginnen konnte.

Glücklicherweise war das auch die Zeit, in der von allen ein wenig die Anspannung abfiel und das Arbeiten deutlich mehr Spaß machte, weil die Stimmung sich lockerte. Wenn Carolyne ehrlich war, war das die beste Zeit des Tages. Die letzte halbe Stunde bis Mitternacht verging meistens wie im Flug, und wenn der letzte Gast fort war, hatten sie das Diner in kürzester Zeit geputzt und in Ordnung gebracht.

Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, trat sie zu dem Fremden an den Tisch. »Soll ich Ihnen noch einen frischen Kaffee bringen?«

Er hob den Blick und schaute sie an. Für einen Moment wirkte er völlig desorientiert, dann schien er sich gefangen zu haben. »Nein, vielen Dank.« Er betrachtete sekundenlang die Tasse Kaffee vor sich. »Entschuldigen Sie, dass ich den stehen gelassen habe.«

Carolyne runzelte irritiert die Stirn. Noch nie hatte sich jemand bei ihr entschuldigt, weil er seinen Kaffee nicht ausgetrunken hatte. »Schon okay. Sie waren offenbar in Gedanken.«

»Ja, ich bin wohl nicht bei der Sache.«

»Schlimmen Tag gehabt?«

»Es hat eindeutig schon bessere gegeben.« Er sah sich um. »Sie schließen gleich, nehme ich an?«

Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Um Mitternacht. Sie haben noch eine Viertelstunde.«

Sein Lächeln war kaum wahrnehmbar, und doch veränderte es in diesem winzigen Augenblick so viel an ihm. Er nickte ihr zu. »Würden Sie mir die Rechnung bringen?«

»Natürlich.«

Sie zog mit ihren Putzutensilien zum Tresen hinüber und druckte die Rechnung aus. Maria trat neben sie und beäugte den Fremden neugierig. »Alles klar bei dir?«

»Alles bestens. Er zahlt jetzt. Wir können gleich loslegen mit dem Putzen und Feierabend machen.«

Maria senkte die Stimme. »Wird auch Zeit.«

Sie lächelten sich an, und Carolyne zog mit ihrer Rechnung los.

Als sie an seinen Tisch trat, war er dabei, seine Tasche zu packen. Ihr fiel erst jetzt auf, dass er offenbar hier gearbeitet hatte. Wieso war ihr das entgangen?

Sie legte ihm die Rechnung auf den Tisch. »Das macht dann fünfunddreißig Dollar und dreiundzwanzig Cent.«

Er reichte ihr einen Fünfzig-Dollar-Schein. »Stimmt so.«

Carolyne stutzte irritiert. »Das ist zu viel Trinkgeld, Sir.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht. Sie haben mich hier den ganzen Abend sitzen gelassen und mich nicht raugeworfen, obwohl Sie den Tisch sicher an zahlreiche andere Gäste hätten weitergeben können.«

Carolyne nahm das Geld und nickte ihm zu. »Dann bedanke ich mich recht herzlich.«

»Ich danke Ihnen.« Er verzog den Mund. »Ich bin froh, dass ich nicht allein in meinem Hotelzimmer sitzen musste.«

Nachdenklich räumte sie die Tasse mit dem kalten Kaffee und das restliche Geschirr auf ihr Tablett. Sie musterte ihn prüfend. »Sind Sie auf der Durchreise?«

»Auf einem Kongress. Ich bin im Maschinenbau-Segment tätig, und im September gibt es hier in Chicago immer eine große internationale Messe.«

»Stimmt, die IMTS. Messezeiten sind immer aufregend in Chicago.«

»Das glaube ich gern, aber wenn Sie von Stadt zu Stadt reisen, dann geht der Reiz irgendwann verloren, und die Zeit für die Vorbereitungen zieht sich zunehmend länger dahin.«

»Klingt, als wären Sie nicht besonders glücklich mit Ihrem Job.«

Er zuckte mit den Schultern. »Im Grunde schon. Mir liegt nur die Reiserei nicht mehr so.«

Carolyne nahm ihr Tablett und sah dabei zu, wie er seine Tasche schloss. »Sie sind nicht von hier, oder?«

Er sah sie an. Das sachte Lächeln ließ erahnen, dass er es schon lange nicht benutzt hatte. »Engländer.«

»Oh, wow! Da sind Sie aber ganz schön weit weg von zu Hause.«

»Ja, ziemlich.« Er richtete sich auf und nahm seine Tasche. Als er Carolyne ansah, lag ein Hauch von Unsicherheit in seinem Blick. »Erlauben Sie mir, dass ich morgen wiederkomme? Ich bin die ganze Woche hier, und … der Gedanke, abends allein in meinem Hotel zu sitzen, wo mir die Decke auf den Kopf fällt … deprimiert mich.«

Sie hob die Achseln und schaffte es, gleichzeitig zu nicken. »Natürlich können Sie wiederkommen. Wir haben täglich bis Mitternacht geöffnet. Außer sonntags.«

»Das ist okay. Wenn ich bis Samstag eine Zuflucht habe, bin ich zufrieden.« Er trat von dem Tisch weg und nickte ihr zu. »Gute Nacht und schönen Feierabend.«

»Gute Nacht«, wünschte sie. »Kommen Sie gut in Ihr Hotel.«

»Danke schön.«

Das leise Klingeln der Türglocke ertönte, und er verschwand in die Dunkelheit.

Ein seltsamer Mann. Aber irgendwie auch interessant.

Carolyne schüttelte den Kopf, wischte den Tisch ab und brachte ihr volles Tablett zu Maria. Dann begann sie sämtliche Stühle hochzustellen und den Boden zu wischen, während ihre Kollegin das Geschirr in die Küche brachte, wo Pablo und Josh werkelten.

Als sie um halb eins den Laden abschlossen, verabschiedeten die vier sich voneinander, und Carolyne eilte zur Tiefgarage, wo Moms Wagen stand. Die Temperaturen waren geradezu mild, und in der Luft lag ein Hauch von Frühling.

Von dem Regensturz und dem grauen Himmel, der am Nachmittag noch über Chicago gehangen hatte, war nichts mehr geblieben. Stattdessen begleitete eine sternenklare Nacht sie in ihren Feierabend.

* * *

Als sie am darauffolgenden Tag – diesmal pünktlich – ihren Dienst im Diner antrat, war der Fremde vorerst vergessen. Sie war nachts um kurz nach eins daheim angekommen und bereits von ihrer Mutter erwartet worden.

Dorothy war fuchsteufelswild gewesen, weil Carolyne den Wagen genommen hatte, ohne sie zu fragen. Auf ihren Einwurf, dass Dorothy doch ohnehin betrunken auf dem Sofa gelegen hatte, hatte sich eine wahre Flut an Vorwürfen und Beschimpfungen über sie ergossen, bis Carolyne schließlich genervt in ihr Zimmer gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Dorothy hatte noch bis halb zwei herumgetobt, ehe es endlich ruhiger geworden war und Carolyne ihre Chance bekam, ein wenig zu schlafen.

Sie hatte sich wie erschlagen gefühlt, als der Wecker um halb acht geklingelt und ihr den neuen Tag verkündet hatte. Alles war wie immer. Sie hatte geduscht, sich für die Arbeit fertiggemacht und sich ein kleines Frühstück gegönnt. Dann hatte sie Frühstück für Dorothy vorbereitet, ihr ihre Pillen hingelegt und ihre Mutter geweckt. Die war missmutig und schlecht gelaunt aufgestanden, hatte aber immerhin brav ihre Tabletten genommen und sich zum Frühstücken an den Tisch in der Küche gesetzt, während Carolyne sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte.

Nach der Schicht im Eleven Diner in East Side war sie am frühen Nachmittag wieder nach Hause gekommen. Sie hatte Dorothy etwas zu essen gemacht, sich drei Stunden schlafen gelegt und auf ihre nächste Schicht vorbereitet. Anderes Diner, andere Kellnerinnenkluft, gleiche Herausforderungen.

Die Stimmung war gelöst. Ihr Boss hatte gute Laune, und der Publikumsverkehr sorgte für ausreichend Einnahmen. Das machte das Arbeiten mit Steven ein wenig leichter. Weniger schön war der unangekündigte Kindergeburtstag, der spontan und ohne Anmeldung bei ihnen auftauchte.

Ein Dutzend aufgedrehte Sechs- bis Siebenjährige, die genauso durcheinanderschnatterten wie der Haufen Mütter, der sie begleitete. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Carolyne alle Bestellungen aufgenommen hatte, und natürlich war irgendwas vergessen worden, was die Fütterung der kleinen Raubtiere deutlich verzögerte. Als alle mit Sandwiches und zuckriger Limonade versorgt waren und Ruhe einkehrte, stand den Müttern die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Wenn Kinder so anstrengend waren, wie es manchmal schien, wollte Carolyne sich daran eindeutig nicht beteiligen.

Die ganze Crew atmete auf, als Mütter und Kinder zwei Stunden später das Feld räumten und der größte Stress sich auflöste. Das war der Moment, in dem Carolyne nach ihm Ausschau hielt.

Es war halb elf, als er das Diner betrat.

Er sah abgekämpft aus. Sie brachte ihm ungefragt einen Kaffee, wofür sie sogar ein schwaches Lächeln erntete. Er bestellte die Tagessuppe und ein halbes Sandwich und arbeitete dann an seinem Laptop.

Als Carolyne an diesem Abend mit der U-Bahn heimfuhr, hatte sie neben einem weiteren saftigen Trinkgeld auch ein erneutes Lächeln bekommen.

Sie hatten sich über das Wetter und Chicago unterhalten, bevor sie Feierabend gemacht hatten. Er war ein wenig gelöster gewesen und hatte sich für den nächsten Abend erneut angekündigt.

Der Donnerstag hatte früh am Morgen mit einem Gewitter begonnen.

Carolyne zögerte, mit dem Rad zu ihrem Vormittagsjob zu fahren, und fragte stattdessen ihre Mutter, ob sie sie vielleicht mit dem Auto zur Arbeit bringen könnte? Etwas, worum sie Dorothy nur selten bat, weil diese oft genug schon am frühen Morgen trank. Zu ihrer Überraschung sagte ihre Mom jedoch zu. Die Fahrt verlief schweigend. Das Radio spielte, und Dorothys Finger trommelten im Takt der Musik auf dem Lenkrad herum. Sie wirkte nicht nur ungewohnt nüchtern, sondern auch weniger griesgrämig als sonst. Carolyne warf ihr nicht zum ersten Mal einen prüfenden Blick zu. Ob es damit zusammenhing, dass sie gestern Abend aus gewesen war?

»Bist du okay?«, wollte sie wissen.

Dorothy nickte, hielt den Blick auf die Straße gerichtet und schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Carolyne rechnete schon gar nicht mehr mit einer Reaktion, als ihre Mutter plötzlich sagte: »Ich habe jemanden kennengelernt.«

Irritiert runzelte sie die Stirn. Das war normalerweise nichts, worüber sie miteinander redeten. Carolyne wollte weder Details zu irgendwelchen Bettgeschichten ihrer Mom hören noch irgendwen kennenlernen, mit dem angeblich ›alles besser‹ werden würde. Zu oft waren die Männerbekanntschaften, die Dorothy mit nach Hause gebracht hatte, ihr zu nahe gekommen und hatten gemeint, Carolyne wäre im Gesamtpaket enthalten.

»Freut mich«, murmelte sie unbewegt.

»Er ist anders«, stellte Dorothy fest.

Carolyne wandte den Blick zum Seitenfenster und verkniff es sich, mit den Augen zu rollen. Wie oft hatte sie das schon gehört? Jeder Typ, in den Mom sich neu verliebte, war angeblich anders und nicht so ein Arschloch wie all die anderen.

»Hörst du mir zu?«

Sie unterdrückte einen Seufzer und wandte sich Dorothy zu. »Ja, natürlich.«

»Mikey wird mich für ein paar Tage mitnehmen.« Ein glückliches Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Carolyne presste die Lippen aufeinander. Manchmal hatte sie einen schwachen Eindruck davon, wie ihre Mom früher gewesen war, in ihrem Alter – unbeschwerter, zufriedener. Dorothy war keine hässliche Frau, im Gegenteil, und Carolyne konnte sich ganz schwach daran erinnern, wie ihre Mom sie auf den Armen getragen und ihr was vorgesungen hatte. Das war wie ein kaum noch greifbarer Traum aus einem längst vergangenen Leben.

Irgendwann hatte sich alles geändert. Ihre Mutter war abweisend geworden, hatte begonnen zu trinken und Carolyne mehr und mehr abgelehnt. Sie hatte sich so oft danach gesehnt, dass ihre Mom ein solches Lächeln auf ihren Lippen haben würde, wenn sie ihre Tochter ansah. Sie hatte sich so sehr bemüht sie stolz zu machen, ihr irgendeinen Grund abzuringen, Zuneigung für sie zu zeigen, doch weder die guten Noten noch ihre anderen Bemühungen hatten etwas an Dorothys unstillbarer Missbilligung ändern können.

»Wer ist Mikey?« Sie wusste, dass Dorothy erwartete, dass sie fragen würde, auch wenn Carolyne es gar nicht wissen will.

»Mein neuer Freund. Ich habe ihn vor ein paar Tagen kennengelernt.«

Carolyne nickte. »Wie schön. Wie lang bleibst du weg?«

»Vermutlich bis Samstag, aber meld mich nicht gleich bei den Bullen als vermisst, wenn ich mir Zeit lasse.« Sie kicherte und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich lass dir den Wagen da. Tanken musst du schon selbst, aber du darfst ihn benutzen, wenn du zur Arbeit willst.«

Wie großzügig. »Danke.«

Als sie Carolyne am Hintereingang des Diners absetzte und die Beifahrertür hinter ihr ins Schloss fiel, brauste Dorothy davon, ohne ihre Tochter noch eines Blickes zu würdigen. Mit einem Gefühl aus Resignation und Ohnmacht betrat sie das Geschäft und stürzte sich in die Arbeit.

Es war ein stressiger Vormittag, mit vielen schlechtgelaunten Gästen, die zum Teil ziemlich auf Krawall gebürstet waren. Einer Schlägerei konnten Carolyne und ihr Team gerade noch vorbeugen, indem sie frühzeitig die Polizei anriefen, die die Raufbolde nach draußen beförderte. Als sie nach der Arbeit heimkehrte, hing der Zettel am Kühlschrank. In der Schrift ihrer Mutter war darauf gekritzelt, dass sie wohl doch erst am Sonntag wieder zurückkehren würde. Der Autoschlüssel lag auf der Schale neben der Eingangstür, und Carolyne war erleichtert, ein paar Tage den Wohnwagen für sich allein zu haben.

Als sie am Nachmittag zur Arbeit fuhr, war sie froh, auf diese Weise dem Gedränge und dem Schweißgeruch in der U-Bahn entgehen zu können. Im Diner war die Stimmung deutlich entspannter, und der Kundenverkehr hielt sich zu ihrer Erleichterung in Grenzen. Bereits gegen neun tauchte ihr mysteriöser Gast auf, bestellte – wie zuvor – die Tagessuppe und ein halbes Sandwich, dazu Eistee und einen Brownie. Er war offenbar ein echtes Gewohnheitstier. Nachdem sie ihm sein Essen und das Getränk gebracht hatte, sah sie ihn den Laptop auspacken und darauf herumtippen. Ob dieser Mann sich auch mal Freizeit gönnte?

Immerhin wirkte er nicht mehr ganz so abgekämpft wie gestern noch.

Als Steven gegen halb zwölf den Laden verließ, brachte Carolyne ihrem neuen Stammgast seinen letzten Kaffee. Sie schenkte ihm ein Lächeln, als er sie ansah. »Wenn ich das mal so sagen darf: Sie sehen heute entspannter aus als die letzten beiden Tage.«

Sein eigenes Lächeln war wie immer kaum wahrnehmbar, aber doch da. »Das liegt daran, dass ich mich hier so wohlfühle.«

»Das freut uns. Kann ich Ihnen noch irgendwas bringen?«

Er zögerte, schüttelte dann den Kopf und hob eine Hand, ehe sie verschwinden konnte. »Nein, aber … würden Sie sich einen Moment zu mir setzen?« Sein Blick glitt über ihr Namensschild. »Carolyne?«

Sie musterte ihn überrascht. Ein wenig unsicher sah sie zu Maria hinüber, die hinter dem Tresen stand und normalerweise mit Adleraugen darauf achtete, dass niemand ihr zu nahe kam. Heute nickte sie ihr lediglich zu und gab ihr ein Zeichen, die Einladung anzunehmen. Carolyne zuckte mit den Schultern, stellte die leere Kanne auf dem Tisch ab und nahm dem Fremden gegenüber Platz.

Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, wie gut dieser Mann aussah. Natürlich hatte sie das schon bei seinem ersten Auftauchen bemerkt, bislang aber stets Distanz gewahrt.

Er war so normal, einfach nur nett und sympathisch und keiner dieser Machos, die meinten, sie könnten mit ihren widerlichen, zotigen Witzen bei ihr landen.

»Geht es Ihnen gut?«

Er nickte. Schließlich reichte er ihr über den Tisch hinweg die Hand. »Ich bin Stuart. Ich finde, wenn ich den Rest der Woche hier verbringe, ist es nur höflich, dass ich mich Ihnen vorstelle.«

Es war seltsam, wie sehr sie sich insgeheim darüber freute, dass sie ihn bis zum Ende seiner Geschäftsreise hier würde begrüßen können. Irritiert über sich selbst nahm sie seine Hand und schüttelte sie. Ein angenehmer Händedruck, fest und doch sanft. Es war Kraft in seinen Fingern, aber er versuchte nicht, sie auf unangemessene Weise ihr gegenüber zu demonstrieren.

Sie deutete auf ihr Namensschild. »Wie ich heiße, wissen Sie ja schon.«

Er nickte bedächtig. »Ja, das war nicht zu übersehen.«

Sie erwiderte sein warmes Lächeln und war auf seltsame Weise froh, dass er deutlich gelöster wirkte. Stuart ließ ihre Finger los.

»Ich möchte Ihnen ein Lob aussprechen, Carolyne.«

»Wofür?«

»Sie haben hier einen harten Job – Sie und Ihre Kollegen –, und trotzdem sind Sie immer gleichbleibend freundlich und hilfsbereit zu jedem. Selbst der nervigste Kunde kann Sie nicht aus der Bahn werfen. Das bewundere ich.«

Ein warmes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Diese Wertschätzung fühlte sich sogar besser an als sein großzügiges Trinkgeld. »Danke schön.«

»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«

Sie hob die Schultern. »Ja, ich denke schon.«

»Sie müssen nicht antworten, wenn es Ihnen unangenehm ist.«

»Okay.«

»Wie alt sind Sie?«

Das war deutlich unspektakulärer, als sie erwartet hatte. Dennoch beschleunigte sich ihr Herzschlag. »Fünfundzwanzig.«

»Wo sehen Sie sich selbst in fünf Jahren?«

Überrascht runzelte sie die Stirn. Sie hatte mit einer irgendwie intimeren Frage gerechnet – so was wie: ›Sind Sie Single?‹ – das war nun wirklich harmlos.

»Na ja, ich will nicht ewig hier arbeiten«, erwiderte sie freimütig. »Ich mache diesen Job gern, ich habe tolle Kollegen, aber ich möchte nicht die nächsten vierzig Jahre kellnern. Ich spare mir gerade mein Anfangskapital zusammen, um mir ein Studium zur Grafikdesignerin finanzieren zu können.«

Seine Augenbrauen hoben sich überrascht. »Grafikdesign?«

»Ja, das ist mein Traum. Ich möchte später gern im Bereich Coverdesign und Illustrationen tätig werden. Es gibt viele aufstrebende Künstler und Start-ups, da ergeben sich jede Menge großartige Möglichkeiten.«

»Das ist toll. Ich bin sicher, Sie schaffen das.«

»Danke.« Carolyne musterte ihn aufmerksam. »Wieso fragen Sie?«

»Nun, es gibt ein Förderprogramm in dem Unternehmen, für das ich tätig bin. Jedes Jahr nutzen wir es, um einer Handvoll junger Menschen einen Start in eine neue Zukunft zu ermöglichen. Es gibt noch einen Platz, der frei ist. Ich habe überlegt, Sie dafür vorzuschlagen.«

Verblüfft riss sie die Augen auf. »Mich?«

»Ja, wieso nicht? Sie sind intelligent und integer. Sie wissen, was harte Arbeit bedeutet, und nach dem, was Sie mir gerade erzählt haben, sind Sie zudem ehrgeizig und verfolgen Ihren Weg beharrlich, um Ihr Ziel zu erreichen. Sie sind genau die Art von Kandidatin, zu der dieses Förderprogramm passen würde.«

»Wow!« Für einen Moment fühlte sie sich überrumpelt und lehnte sich gegen die Polster in ihrem Rücken. Das klang zu gut, um wahr zu sein. »Ich weiß nicht … Ich meine, das ist natürlich toll, und ich freue mich riesig, dass Sie mich in Betracht ziehen, aber da gibt es sicher eine Vielzahl anderer junger Menschen, die diese Chance viel eher gebrauchen können.«

»Ich denke, Sie haben diese Gelegenheit genauso verdient.«

»Ja, vielleicht.« Nervös erhob sich Carolyne. Ein Förderprogramm klang aufregend, allerdings kam das auch total unerwartet. Menschen wie sie, die keinen glänzenden sozialen Background hatten, wurden normalerweise nicht mit so was wie einem Lottogewinn belohnt, und danach fühlte sich das an. Die ganze Sache hatte sicher auch einen Haken. »Ich muss das überdenken … Kann ich mich darüber irgendwo informieren?«

»Natürlich.« Er reichte ihr eine Visitenkarte – McNamara-Enterprises. »Über das Menü und den Unterpunkt Karriere können Sie sich näher informieren. Aber warten Sie nicht zu lang mit Ihrer Entscheidung.«

Sie wandte sich gerade zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu ihm um. »Darf ich Sie auch etwas fragen?«

»Sicher.«

»Wie alt sind Sie?«

Seine Augenbrauen hoben sich überrascht. »Einundvierzig.«

Carolyne nickte und musterte ihn flüchtig. »Sie sehen jünger aus.«

»Danke.«

Sie gab sich einen Ruck. »Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?«

Stuart presste kurz die Lippen aufeinander und wich ihrem Blick aus. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Als er sie ansah, war erneut dieser traurige, endgültige Ausdruck in seinen Augen. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Sie spürte, dass hinter dieser ausweichenden Antwort sehr viel mehr steckte, als sie auch nur erahnen konnte. Eine Woge aus Verlegenheit rollte über sie hinweg, weil sie das Gefühl nicht loswurde, eine Grenze überschritten zu haben. »Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

»Schon okay.«

Plötzlich fühlte sich dieses Frage-Antwort-Spiel gar nicht mehr gut an. Carolyne deutete mit dem Daumen hinter sich. »Ich … geh dann mal wieder an die Arbeit.«

»Ja, natürlich. Danke für Ihre Zeit.«

Sie nickte ihm zu und verschwand fast schon übereilt.

Marias neugierigen Fragen wich sie aus, indem sie ihr Tablett abstellte, sich Eimer und Lappen griff und begann, die Tische zu säubern und aufzuräumen. Sie brauchte ein wenig Zeit zum Nachdenken.

Stuart. Ein schöner Name. So ernst und ruhig – wie sein Träger.

Einundvierzig.

Sie musste zugeben, sein Alter hatte sie doch überrascht. Er war gerade mal zwei Jahre jünger als ihre Mutter. Sie hätte ihn höchstens auf Mitte dreißig geschätzt. Das war ein ziemlicher Altersunterschied.

WAS geht dir da durch den Kopf?

Sie spürte, wie sie rot wurde, während sie die ersten Tische abwischte. Wieso machte sie sich überhaupt Gedanken darüber, dass er sechzehn Jahre älter war als sie? Das war völlig irrelevant.

Er war nur ein Gast. Jemand, den sie gar nicht wirklich kannte.

Das Angebot, das er ihr gemacht hatte, klang durchaus interessant und war sicher nett gemeint, aber es hinterließ auch ein banges Echo in ihr. Inwieweit band sie sich mit einem solchen Förderprogramm an die Firma, für die er arbeitete?

Sie wollte keine Verpflichtungen eingehen. Sie wollte frei entscheiden können, wann und wo sie ihre Arbeit machte. Sie wollte sich nicht an irgendeinen Konzern binden.

Vielleicht sollte sie nochmal in Ruhe mit ihm reden.

Morgen oder so … wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hatte.

* * *

Der Freitag war nebelig, aber immerhin trocken.

Carolyne genoss die Zeit ohne Dorothy. Diese Zeit, in der sie nicht jeden Tag die gesamte Wohnung putzen und das Chaos in der Küche beseitigen musste. Diese Zeit, in der sie keine Sandwiches schmieren, keine leeren Bierflaschen wegschaffen und sich nicht all den Vorwürfen aussetzen musste, die ihre Mutter ihr ständig machte.

Sie genoss es, weil sie wusste, dass diese Zeit begrenzt war. Sobald Dorothy heimkam, kehrte auch der Stress in Carolynes Leben zurück.

Sie hatte gut gelaunt ihren Vormittagsdienst hinter sich gebracht, die Mittagszeit für ein Nickerchen genutzt und war schließlich früher als sonst zu Steve’s Diner aufgebrochen.

Stuart war gegen acht aufgetaucht. Er bestellte wie üblich die Tagessuppe und sein Sandwich, dazu Kaffee und Eistee. Er sah überarbeitet und müde aus, auf eine Weise, die ihr näherging, als es sollte.

Als sie Essen und Getränke vor ihm abstellte, reagierte er so langsam, dass sie schon befürchtete, er wäre vor seinem Laptop eingeschlafen.

»Alles okay?«, wollte sie wissen.

Er nickte abgeschlagen. »Ja, es ist nur … sehr anstrengend im Moment.«

Über die Schulter warf sie einen Blick zu ihrem Boss, aber der war anderweitig beschäftigt. Sie wollte das, worüber sie gestern mit Stuart gesprochen hatte, nicht noch länger hinauszögern und schaute den Mann am Tisch wieder an.

»Wegen Ihres Angebotes von gestern …«

»Ja?« Er warf ihr einen aufmerksam fragenden Blick zu, und das Unwohlsein in ihrem Bauch verstärkte sich.

Wieso fühlte es sich so falsch an, abzulehnen?

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich dafür in Betracht gezogen haben. Trotzdem denke ich, dass das nicht der richtige Weg für mich ist.«

»Oh. Okay.« Er zwang sich zu einem Lächeln, dennoch war ihm anzusehen, dass er enttäuscht war. »Ich akzeptiere Ihre Entscheidung natürlich.«

Carolyne nickte ihm zu. »Danke schön.«

Er griff nach dem Glas mit Tee und nahm einen Schluck. Sie hatte sich schon halb abgewandt, um sich den nächsten Gästen zu widmen, als sie zögerte und sich nochmal zu ihm umdrehte. »Geht es Ihnen wirklich gut?«

Der sanfte Blick, mit dem er sie bedachte, verursachte ein warmes Flattern in ihrer Brust. »Keine Sorge. Ich bin nur überarbeitet, und die letzte Nacht war einfach zu kurz.«

»Wie lang läuft dieser Kongress noch?«

»Morgen ist der letzte Tag.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich habe sogar überlegt, Chicago noch ein bisschen auf eigene Faust zu erkunden, bevor mein Flug am Montag mich zurück nach Europa bringt. Bisher habe ich nicht viel von der Stadt zu sehen bekommen.«

Carolyne runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist.«

»Was meinen Sie?«

»Nehmen Sie sich einen Guide für Ihre Sightseeing-Tour. Chicago ist … Wenn Sie hier das falsche Viertel erwischen, verlassen Sie es vielleicht nicht mehr.«

»Oh.« Er nickte. »Das klingt nach einem vernünftigen Vorschlag – ich werde mich im Hotel erkundigen.«

»Tun Sie das.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Und lassen Sie es sich schmecken.«

»Wie immer«, versprach er mit einem Zwinkern. Als Steve um halb zwölf aufbrach, verabschiedete sich auch Stuart früher als sonst. Er wirkte abgekämpft, und Carolyne war mit leisen Schuldgefühlen nach Hause gefahren. Irgendwie fühlte sie sich mitverantwortlich für seine schlechte Verfassung.

Daheim empfing sie eine ungewohnte Ruhe.

Die Nacht war still. Kein Regen, der auf das Dach trommelte. Kein Gewitter, das über die Stadt tobte.

Sie lag stundenlang schlaflos in ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie machte sich Sorgen um Stuart und fragte sich, ob er heute Nacht wieder so unruhig schlief.

Stöhnend warf sie sich auf die Seite und verfluchte sich selbst, weil sie sich zu viele Gedanken um einen Mann machte, der in wenigen Tagen aus ihrem Leben verschwinden würde. Es war völlig irrsinnig, sich seinetwegen den Kopf zu zerbrechen.

Als Carolyne endlich einschlief, träumte sie von ihm.

Sie stand an einer Klippe. Unter ihr tobte das Meer, und die Brandung brach sich an scharfkantigen Felsen. Sie war in ein langes weißes Kleid gehüllt und hatte Blumen im Haar. Stuart trat zu ihr. Er lächelte sie an, auf diese unnachahmliche, zärtliche Weise – und im nächsten Augenblick fiel sie.

Dann war sie aufgewacht.

An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen, also hatte sie die Zeit genutzt und angefangen, den Trailer zu putzen. Immerhin war es ihr freies Wochenende bei Eleven Diner, und so hatte sie aufgeräumt, die Wäsche gemacht und die Betten frisch bezogen.

Es war ein schöner Samstag. Tatsächlich brach sogar die dicke graue Wolkendecke auf, und die Sonne kam hervorgekrochen.

Von ihrem letzten Geld kaufte sie Brot, Kaffee und Milch, und weil Dorothy nicht da war, verprasste sie die letzten fünf Dollar für eine Packung Weintrauben und ein Stück Camembert – etwas, das sie sich sonst nie gönnte.

Sie machte es sich im Wolf Lake Memorial Park auf einer Bank gemütlich und verspeiste ihr dekadentes Frühstück. Ganz allein. Zusammen mit einer Flasche Kirschlimonade und ein paar Crackern.

Es war ein ausgesprochen entspannter Vormittag, trotz der Hausarbeit und des Einkaufs.

Als sie abends in Steve`s Diner eintraf, saß Stuart bereits an seinem Stammtisch. Er sah viel besser aus als gestern. Ausgeruht und nicht mehr so abgekämpft.

»Sie sind schon da«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. Er stand tatsächlich auf, als sie an seinen Tisch trat.

»Hi. Ja, der Kongress ist vorbei, und ich dachte, ich lasse den Abend ganz gemütlich hier ausklingen.«

»Das Gleiche wie immer?«

»Ich glaube, heute versuche ich einen Ihrer Burger. Ich habe gehört, die sollen hervorragend sein.«

Carolynes Lächeln vertiefte sich. »Ich kann sie nur empfehlen. Dazu Pommes Frites und Salat?«

»Sehr gern.«

»Kommt in zehn Minuten. Eistee und Kaffee sind vorher da.«

Als sie sich auf den Weg zum Tresen machen wollte, hielt seine Stimme sie auf: »Carolyne?«

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ja?«